Über das Buch

Schweden, 1940: Das Kriegsgeschehen rückt näher, die Bedrohung durch die Deutschen wächst. Während über Stockholm ein eiskalter Winter hereinbricht, arbeiten Signe, Elisabeth und Iris fieberhaft daran, verschlüsselte Nachrichten der Deutschen nach versteckten Botschaften zu durchsuchen. Doch dann erkrankt Signe schwer und muss befürchten, ihre Stelle zu verlieren. Iris setzt alles daran, um ihren kleinen Söhnen nach der Flucht aus Estland ein behütetes Leben in Stockholm zu ermöglichen. Sie hat jedoch über ihre Vergangenheit nicht die ganze Wahrheit gesagt, und das droht sie nun einzuholen. Die selbstbewusste Elisabeth gerät bei einer Abendgesellschaft mit zwei Deutschen aneinander. Als die beiden ihr tags darauf auflauern, ahnt sie noch nicht, was sie losgetreten hat …

Über Denise Rudberg

Denise Rudberg, 1971 in Stockholm geboren, studierte Filmwissenschaft und Dramaturgie in New York. Zusammen mit Camilla Läckberg moderierte sie im schwedischen Fernsehen eine Kultur- und Literatursendung. In Schweden ist sie eine absolute Bestsellerautorin. Im Aufbau Taschenbuch ist bereits der erste Band der Reihe „Der Stockholm-Code. Die erste Begegnung“ erschienen.

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Denise Rudberg

Der Stockholm-Code - Die zweite Botschaft

Roman

Aus dem Schwedischen von Leena Flegler

Prolog

Stockholm, Juni 1940

Iris versuchte, die Hände stillzuhalten, indem sie sie auf die Oberschenkel presste, trotzdem zitterten sie unaufhörlich. Sie nötigte sich, tief durchzuatmen, spürte jedoch, wie ihr Puls weiter raste.

»Bitte, Sie müssen mir erlauben, zu meinen Kindern zurückzukehren.«

Der blonde Mann auf der anderen Seite des Tischs lächelte bloß.

»Vielleicht erzählen Sie uns erst einmal, wie Sie hier gelandet sind? In Schweden?«

»Wie ich hier gelandet bin? Aber das wissen Sie doch! Ich habe in einem Boot aus Tallinn übergesetzt. Es wurde doch alles dokumentiert, als wir an Land gegangen sind!«

Der Blonde lächelte immer noch.

»Sicher. Aber wir wüssten zu gern, wie es überhaupt dazu kam, dass Sie so Hals über Kopf geflohen sind. Ist dies wirklich Ihr richtiger Name?«

Inzwischen zitterte Iris am ganzen Leib. Die Kälte drang durch ihre dünne Kleidung. Die kahlen Wände erinnerten sie an die Waschräume im Flüchtlingslager.

»Ich heiße Iris, und meine Kinder heißen Jan und Josef. Wo mein Mann sich derzeit befindet, weiß ich nicht – er wurde am selben Tag verhaftet, als wir Tallinn verließen.«

»Und Ihr Mann heißt …?«

Iris schluckte.

»Juhan Lepik.«

»Wissen Sie was? Ich glaube Ihnen kein Wort. Meinen Papieren zufolge heißt Ihr Mann nämlich Rudolf Nauen.«

Iris schüttelte den Kopf.

»Bitte hören Sie damit auf. Ich will einfach nur nach Hause zu meinen Kindern.«

»Selbstredend wollen Sie zu Ihren Kindern zurück. Aber erst müssen wir wissen, wer von den beiden tatsächlich Ihr Mann ist. Die Antwort kann doch nicht so schwer sein.«

Iris presste die Hände zusammen, so fest sie nur konnte.

»Mein Ehemann heißt Rudolf Nauen …«

»Warum haben Sie dann gelogen? Das war doch wirklich nicht nötig, wo wir es hier doch so schön gemütlich haben.«

Iris schluchzte auf.

»Ich lüge nur deshalb, weil mein Mann jüdischer Abstammung ist – und somit auch unsere Söhne! Er wurde von den Deutschen verhaftet, während ich und die Jungen entkommen konnten.«

»Und dieser Juhan Lepik … Was hat der arme Tropf verbrochen?«

»Den habe ich geheiratet, um an neue Papiere für mich und die Kinder zu kommen. Er ist ein Freund meiner Eltern. Seit Kriegsausbruch waren wir gezwungen, unter falscher Identität zu leben, um nicht aufgespürt zu werden. Estland folgt, was jüdische Mitbürger angeht, der deutschen Gesetzgebung und hat schon früh stolz verkündet, ›judenfrei‹ zu sein. Mithilfe von Kontakten meines Vaters zur Universität, an der mein Mann gelehrt hatte, blieben wir eine Zeit lang unbehelligt, aber irgendjemand muss uns verraten haben. Ich war gerade mit Jan, unserem jüngsten Sohn, einkaufen, als unser Haus gestürmt wurde. Mein Mann konnte Josef, unseren Älteren, gerade noch verstecken, ist aber selbst inhaftiert worden. Als ich nach Hause kam, fand ich Josef in einer Nische in unserer Speisekammer. Wir schlugen uns zu meinen Eltern durch, die uns neue Papiere verschafften … indem sie mich erneut verheirateten.«

»Da haben Sie aber schnell Nägel mit Köpfen gemacht.«

»Anschließend bekamen wir einen Platz auf einem Fischerboot, das noch am selben Abend übersetzen sollte.«

»Ihr Mann wurde also inhaftiert, Sie selbst gingen eine Scheinehe ein und nahmen ein Boot nach Schweden – und das innerhalb eines Tages?«

»In weniger als zwölf Stunden. Wenn wir nicht sofort abgereist wären, hätten sie uns doch auch abgeholt! Oder direkt hingerichtet …«

»Wir hätten noch diverse Fragen zu Ihrer Familie. Uns ist nämlich zu Ohren gekommen, dass Ihre Schwester Kati jüngst ebenfalls in Schweden gelandet ist. Allerdings in einem Privatflugzeug direkt aus Deutschland. Es ist doch eher ungewöhnlich, dass Privatleuten eine Landeerlaubnis erteilt wird. Wie kam das zustande?«

»Meine Schwester ist mit einem deutschen Piloten verlobt. Sie war in den letzten Jahren oft bei ihm in Deutschland, deshalb hatten wir auch bloß sporadisch Kontakt.«

»Aber jetzt scheinen Sie den Kontakt wieder aufgenommen zu haben. Oder warum ist Ihre Schwester jetzt hier in Schweden?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Ihre Eltern – können Sie uns über die ein bisschen mehr erzählen? Sind die auch jüdischer Abstammung?«

»Nein, sie gehören dem orthodoxen Glauben an. Mein Vater stammt ursprünglich aus Sankt Petersburg, ist aber im Zuge der Revolution 1917 nach Estland geflüchtet. Zuvor hatte er meine Mutter kennengelernt – sie war die Tochter eines schwedischen Botschaftsattachés in Moskau.«

»Das sind ja spannende Verhältnisse! Und was hielten die beiden – mal abgesehen von der Religion – von Ihrer Ehe?«

»Mein Mann hat ja nun bei meinem Vater studiert …«

»Und doch sitzen Sie jetzt hier. Wo ist Ihr Ehemann im Augenblick?«

»Ich weiß es nicht! Wir haben nichts mehr von ihm gehört – und auch nicht von meinen Eltern.«

»Und noch eine Sache würde uns interessieren. Karl-Fredrik Ritter – woher kannten Sie ihn?«

»Er war ein Freund der Familie. Meine Mutter war schon als kleines Mädchen mit seiner Mutter befreundet. Unsere Sommerhäuser standen nebeneinander, und wir haben dort von klein auf miteinander gespielt.«

»Ein Freund der Familie? Aber dann haben Sie sich entzweit?«

Iris runzelte die Stirn.

»Überhaupt nicht! Leider ist Karl-Fredrik vor zwei Jahren ums Leben gekommen.«

»Sind Sie sich sicher?«

Iris sah den blonden Mann verständnislos an.

»Natürlich. Ich war seine Tischdame während einer Feier. Als er etwas von seinem Boot holen ging, explodierte es unmittelbar darauf.«

Der Blonde musterte sie eine Weile.

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Was meinen Sie?«

»Haben Sie die Leiche gesehen?«

»Nein, das ist mir erspart geblieben. Aber wir wissen, dass er gestorben ist – vom Boot war ja nichts mehr übrig. Und wir waren alle bei seiner Beerdigung.«

»Eine Beerdigung, bei der vermutlich ein leerer Sarg vor Ihnen stand. Wir haben guten Grund zu der Annahme, dass Karl-Fredrik Ritter immer noch am Leben ist. Allerdings sprechen gewisse Anzeichen dafür, dass er sich zu verstecken scheint. Und da fragen wir uns natürlich, warum.«

»Was soll das heißen? Damit habe ich nichts zu tun, ich weiß nicht, was …«

Der Mann schob ein Foto über den Tisch: Karl-Fredrik Ritter, der eine Straße entlangschlenderte. Im Hintergrund waren Zeitungsplakate zu erkennen. Der Mann beugte sich über den Tisch und tippte auf eine der Schlagzeilen.

»Wenn Sie genau hinsehen, können Sie vielleicht lesen, was da steht.«

Iris beugte sich vor und las laut vor: »Schwedische Helden eilen Finnland zu Hilfe.«

Der Mann lächelte sie an.

»Wie Sie sehen können, stammt die Zeitung aus dem November 1939. Das war vor einem Jahr. Wie kann es da sein, dass Sie ihn 1938 beerdigt haben? Schon eigenartig, nicht wahr?«

Iris starrte das Foto an. Sie verstand die Welt nicht mehr.

Elisabeth

Dezember 1940

Elisabeth stapfte durch den kniehohen Neuschnee. Seit dem Vortag waren die Temperaturen neuerlich gesunken und hatten den Zeitungen zufolge ein Rekordtief erreicht – nicht nur in Stockholm, sondern landesweit. Ihre abgetretenen Schuhe würde sie allmählich entsorgen müssen, und sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie kein zweites Paar Socken angezogen hatte. Auf dem Stureplan standen die Straßenbahnen und Oberleitungsbusse still, weil dort der Schnee nicht geräumt worden war. Auf der Linnégatan, durch die immer starker Wind wehte, peitschten Schneeverwehungen auf, und sie musste ihre Kapuze festhalten, damit ihr kein Schnee in den Kragen geriet. Sie war froh, als sie auf die Styrmansgatan abbiegen konnte, an der sie die Weihnachtsdekoration bei Augusta Jansson gerade so vor sich sehen konnte: Weihnachtswichtel und allerhand Leckereien reihten sich auf dem Verkaufstresen und lockten Kundschaft ins Geschäft.

Endlich hatte sie das Ende der Straße erreicht, überquerte die Kommendörsgatan, schlüpfte durch die Tür zum Karlaplan 4 und marschierte über den Innenhof zum Hinterhaus. Dort klopfte sie sich grob den Schnee von den Schuhen, ehe sie die Treppe in den ersten Stock hinaufeilte. Auf dem Namensschild stand »Jakobsson«, allerdings war von einem Jakobsson hinter der Tür keine Spur.

Elisabeth schob die Tür auf, und das Klappern von Schreibmaschinen und Telegraphiegeräten schlug ihr entgegen. Sie befreite sich von ihrem langen Schal und hängte ihn mitsamt ihrem Mantel an einen Haken.

»Ach, das Fräulein Herrman ist auch schon da? Haben wir heute früh ein bisschen mehr Schlaf gebraucht?«

Elisabeth wirbelte herum und sah Fräulein Andersson lächelnd ins Gesicht.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Die Straßen waren nicht geräumt.«

Fräulein Andersson schürzte die Lippen und setzte zu einer ausholenden Geste an.

»Das hat Ihre Kolleginnen aber nicht daran gehindert, rechtzeitig vor Schichtbeginn da zu sein. Es ist schon bemerkenswert, dass ausgerechnet Sie, Fräulein Herrman, die sogar ganz in der Nähe wohnen, am häufigsten zu spät dran sind.«

»Kommt nicht wieder vor.«

Sobald sie Fräulein Andersson den Rücken gekehrt hatte, verzog sie den Mund. Sie brauchte noch einen Schluck heißen Kaffee, wenn noch welcher da war, bevor sie sich an die Arbeit machen konnte.

Mit einem Lächeln im Gesicht hielt Iris ihr einen Becher hin.

»Ich habe dir welchen aufgehoben. War sie sehr wütend?«

Elisabeth zuckte die Achseln und kippte den sogenannten Ersatzkaffee in sich hinein – eine traurige Alternative, die sie hier am Karlaplan lieber gar nicht Kaffee nennen wollten. Es handelte sich um eine Mischung aus echtem Kaffee und geröstetem Roggen. Der Geschmack war entsprechend, trotzdem wollte Elisabeth sich nicht beklagen, solange das Getränk nur ordentlich heiß war.

»Wie immer. Es ist fast, als würde sie mir hinter der Tür auflauern.«

Iris lächelte.

»Ja, da steht sie wie ein Wachhund.«

Elisabeth ließ den Blick über die knapp dreißig jungen Frauen schweifen, die emsig vor sich hin arbeiteten.

»Irgendwas Neues?«

Iris schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich bin gerade die Nachrichten von gestern Nacht durchgegangen, aber es scheint, als herrschte derzeit Ruhe. Anscheinend will Svartström sich um neun mit uns zusammenstellen, hat Fräulein Andersson zu einem der Mädchen aus dem Archiv gesagt.«

Das Archiv war der Raum, in dem sie die eingehenden Nachrichten sammelten, die zuvor sortiert und auf große Papierbogen geklebt worden waren.

Elisabeth nahm einen letzten Schluck. Inzwischen fühlte sie sich besser imstande, ihr Tagwerk in Angriff zu nehmen.

Iris beugte sich zu ihr vor und flüsterte: »Bremer ist übrigens auf dem Kriegspfad. Anscheinend ist er mit einem der Ericsson-Ingenieure in Streit geraten. In der Nacht hat es zwischen den beiden wohl heftig gekracht.«

Elisabeth pfiff leise durch die Zähne und spähte in Richtung Arbeitszimmer. Professor Arvid Bremer war in sein kariertes Notizbüchlein vertieft, das er immer bei sich trug.

»Oh, da halten wir uns wohl besser fern.«

Vom anderen Ende des Raums sah Fräulein Andersson in ihre Richtung, und eilig huschten sie an ihre Plätze.

Elisabeth raunte Iris zu, die eine Reihe vor ihr saß: »Dieser Drachen! Am liebsten würde ich ihr Arsen in die Brotdose streuen!«

Fräulein Andersson schlenderte auf Elisabeth zu und nickte.

»Kann ich irgendwie helfen, Fräulein Herrman? Wenn nicht, hoffe ich, dass Sie sich zumindest an die Regeln halten und Ihre Arbeit ab sofort stillschweigend verrichten.«

Elisabeth sah starr auf das Papier hinab, das sie eben erst in die Schreibmaschine eingelegt hatte. Sie hatte nicht vor, unnötigerweise auch nur einen Hauch Energie auf Fräulein Andersson zu verschwenden.

Stunden verstrichen, ohne dass eine von ihnen auch nur aufgeblickt hätte. Es waren diverse Nachrichten abgefangen worden, und sie gaben ihr Bestes, um darin Informationen aufzuspüren. In seinem Arbeitszimmer beugte sich Professor Bremer noch immer über seine Notizen.

Elisabeth flüsterte in Iris’ Richtung: »Wie läuft es für ihn? Er hat sich hoffentlich nicht vollends festgefahren?«

Unauffällig drehte sich Iris nach hinten um und machte eine resignierte Geste. Allen war klar, dass das Schicksal unzähliger Menschen nur mehr davon abhing, dass Bremer endlich eine Vorrichtung entwickelte, mit deren Hilfe sie die Nachrichten der Deutschen decodieren konnten. Es würde ihre Arbeit mit einem Schlag einfacher und sicherer machen – doch noch traten sie auf der Stelle. Keiner von ihnen war bislang nennenswert weit gekommen.

Um kurz vor elf betrat Professor Nils Svartström den Raum, dicht gefolgt von Signe, die ursprünglich als sein Dienstmädchen angestellt worden war, inzwischen aber ebenfalls am Karlaplan arbeitete. Er nahm seinen Hut ab und reichte Signe seinen Mantel, ehe er eilends auf Bremer zuhielt und die Tür hinter sich zumachte. Im nächsten Moment war leises Gemurmel zu hören. Elisabeth bemühte sich nach Kräften, irgendetwas aufzuschnappen – vergebens.

Nach knapp dreißig Minuten ging die Tür wieder auf, und Svartström trat an die Schwelle.

»Ich möchte Sie alle um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Und wenn jemand so freundlich wäre, die Kräfte aus dem zweiten Stock zu bitten, sich ebenfalls einzufinden? Wo sind überhaupt Petrén und Dahlén? Die brauchen wir auch. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Während Fräulein Andersson loslief, um den Kollegen Bescheid zu geben, wartete der Rest von ihnen schweigend ab. Im Handumdrehen hatten sich alle eingefunden und den Blick erwartungsvoll auf Svartström gerichtet. Er machte ein ernstes Gesicht.

»Verehrte Mitarbeiter, ich habe soeben erfahren, dass dem Karlaplan 4 zusätzliche Mittel bewilligt wurden, um den steigenden Anforderungen vonseiten des Verteidigungsstabs gerecht zu werden. In den nächsten Tagen bekommen wir an den Maschinen Verstärkung durch fünfzehn Damen. Grund ist die erhöhte Aktivität um uns herum – Schweden hat Deutschland heute einen historischen Handelsvertrag vorgelegt, und ein weiteres, vergleichbares Abkommen wird derzeit mit den Sowjets verhandelt. In England gehen über London Bomben nieder – nicht mehr lange, und die Stadt liegt in Schutt und Asche. Unsere Nachbarländer Norwegen und Dänemark waren, wie Sie wissen, bereits zur Kapitulation gezwungen, und das Schicksal Finnlands steht in den Sternen. Um unseren nationalen Interessen bestmöglich Rechnung zu tragen, ist unsere Arbeit hier wichtiger denn je. Nur so können wir die nächsten Schritte sämtlicher anderen Akteure voraussehen. Auch wir mobilisieren jetzt – allerdings ohne dass unsere Umgebung davon erfährt. Nicht mal unsere nächste Umgebung – nichts dringt von hier nach außen. Die Arbeit, die wir hier gemeinsam verrichten, wird über das Schicksal unseres Landes entscheiden. Was wir tun, hier und heute, ist von enormer Bedeutsamkeit. Ich hoffe, Sie alle verstehen den Ernst der Lage und die Relevanz Ihrer Aufgaben. Aufgaben, die auf den ersten Blick banal erscheinen mögen. Dabei sind sie alles andere als das. Ich möchte, dass jeder Einzelne von Ihnen die Arbeit, die Ihnen anvertraut wird, mit größtem Ernst erfüllt. Unsere Nation und unsere Zukunft liegen in Ihren Händen.«

Professor Nils Svartström verstummte und senkte den Blick. Dann nickte er knapp und verschwand im Büro. Schweigend wechselten die Kollegen Blicke. Was war passiert? Worauf hatte er angespielt? Drohte Schweden in den Krieg hineingezogen zu werden?

Fräulein Andersson klatschte scharf in die Hände.

»Also, Sie haben gehört, was Professor Svartström gesagt hat. Jeder von uns trägt Verantwortung. Es liegt an uns allein und an unserem Engagement, die vor uns liegenden Aufgaben bestmöglich zu meistern. Zurück an die Arbeit, Mädchen!«

In der folgenden Stunde war kein Mucks zu hören. Erst als Fräulein Andersson den Raum verließ, um in der Verwaltung die Reparatur einer Schreibmaschine anzuleiten, war leises Murmeln zu hören.

»Wovon hat er gesprochen? Tritt Schweden jetzt in den Krieg ein?«

Elisabeth saß stumm an ihrem Telegraphiegerät. Iris drehte sich halb zu ihr um, und sie nickten einander zu. Die Lage war ernster denn je. Doch keine von ihnen ahnte, was das tatsächlich bedeutete.

Signe

Als Signe von der Toilette zurückkam, blickte Iris auf.

»Wie geht es dir, Signe? Du siehst erschöpft aus.«

Signe erschauderte sichtlich.

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Aber ich bin die ganze Zeit schrecklich müde. Vielleicht ist es das Wetter? Und dass wir uns so viel drinnen aufhalten? Ich bin es eher gewöhnt, draußen an der frischen Luft zu sein. Hier in der Großstadt ist alles so anders …«

Iris lächelte.

»Daran gewöhnst du dich, warte nur. Die Jungs haben erzählt, dass du Korinthenplätzchen gebacken hast – sie waren ganz selig! Sie können sich wirklich glücklich schätzen, dass sie dich als Nachbarin haben, erst recht weil ihre Mutter von Backen nicht die geringste Ahnung hat.«

»Deine Jungs sind solche Goldstücke! Du musst ungeheuer stolz auf sie sein. Professor Svartström meint das übrigens auch – dass es echt feine Kerle sind.«

»Danke. Du, trink einen Tee mit Honig. Meine Mutter hat immer gesagt, das hilft gegen alles.«

Selbst nachdem Svartström sie in den Feierabend entlassen hatte, blieben Elisabeth und Iris noch eine Weile an ihren Schreibtischen sitzen. Er selbst hatte ein paar abendliche Besprechungen, die er jedoch telefonisch abhalten wollte. Signe hingegen atmete dankbar die klare Abendluft ein, sobald sie hinaus auf die Straße trat und sich auf den Heimweg machte. In den letzten Stunden hatte sie kaum noch die Augen aufhalten können, obwohl sie sogar eine zusätzliche Tasse Kaffee getrunken hatte. Es wäre ein Segen, nach Hause zu kommen und das Abendbrot vorzubereiten. Es war ihr noch immer ein Rätsel, was mit ihr los war. So müde zu sein – das war doch nicht normal!

Elisabeth

Elisabeth nickte Iris zu.

»Geh nach Hause, ich kümmere mich um den Rest. Die Jungs machen sich sonst noch Sorgen.«

»Danke, das ist nett von dir. Mach das aber bitte nicht jeden Tag! Auch wenn zu Hause keine Kinder auf dich warten, brauchst du trotzdem hier und da ein bisschen Freizeit.«

Elisabeth schüttelte schmunzelnd den Kopf.

»Für mich ist das hier erholsamer, als mit meinen Eltern zu Hause zu sitzen. Sie gehen mir im Augenblick mächtig auf die Nerven. Du tust mir insofern einen Gefallen, indem du mich hier sitzen lässt.«

Mit einem dankbaren Lächeln knöpfte sich Iris den Mantel zu.

»Bleib trotzdem nicht allzu lange. Auch du musst dich mal entspannen.«

Elisabeth ackerte den hohen Stapel am Nachmittag abgefangener Nachrichten durch und sortierte alles ordentlich auf ihrem Schreibtisch. Wenn in der Nacht noch mehr hereinkäme, würden die neuen Mädchen sich darum kümmern müssen, bis Elisabeth wieder da wäre.

Sie rollte die Schultern und musterte sich im Spiegel, während sie sich die dicke Strickmütze auf dem Kopf zurechtschob. Sie war mit einer Freundin im Kino verabredet und würde gerade rechtzeitig zur Spätvorstellung von Wir drei kommen. Ihrer Freundin zufolge spielten sowohl Sture Lagerwall als auch Signe Hasso mit, und Elisabeth hatte gelesen, dass Stig Järrel in seiner Rolle glänzte. Außerdem lief der Film im Astoria an der Nybrogatan – gerade mal zwei Straßenzüge von zu Hause entfernt. Sie hoffte, dass sie auf dem Weg dorthin an einer Würstchenbude noch etwas zu essen bekäme – sofern der Würstchenverkäufer am Östermalmstorg trotz Winterwetter noch da war.

Signe

Signe kniff die Augen zusammen, damit sie sich auf das schummrige Licht einstellen konnten. Ganz hinten in der Vorratskammer stand die Blechdose mit dem letzten Kaffee. Professor Svartström hatte versprochen, mithilfe seiner »Kontakte« neuen zu besorgen, aber noch war nichts passiert. Wenn Signe unpässlich war, halfen ihr nur mehr das bittere Schmerzpulver und ein starker Kaffee. Der zunehmende Druck im Oberbauch weckte in ihr die Befürchtung, dass es in diesem Monat besonders schlimm werden könnte. Zu Hause auf dem Hof hatte sie sich leichter zurückziehen können, wenn sie ihre Tage hatte, doch hier auf ihrer neuen Stelle bei Professor Svartström wollte sie keine Belastung darstellen. Stattdessen gab sie sich umso mehr Mühe, auch um sich selbst vorzugaukeln, die Situation und ihren Körper im Griff zu haben.

Seit Signe erstmals ihre Tage bekommen hatte, litt sie darunter. Ihre Mutter hatte ihr weisgemacht, dass es nichts sei, worüber man sich beklagen dürfe, und dass jeder sein Päckchen zu tragen habe. Doch Signe wollte immer nur, dass es schleunigst vorbeiginge.

Sie kratzte den letzten Rest des schwarzen Goldes aus der Dose zusammen. Langsam breitete sich der angenehme Duft in der beißend kalten Küche aus. Signe hielt die steifen Finger an den flackernden Ofen und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Wie schön es gewesen wäre, im Bett unter der Decke liegen zu bleiben … mit einer Wärmflasche gegen die Schmerzen … und den Tag einfach zu verschlafen.

Ein zögerliches Räuspern holte sie in die Realität zurück, und sie riss sich zusammen.

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken, Signe. Ich bin zu einer unchristlichen Zeit wach geworden. Die Kälte muss mich geweckt haben – draußen sind es sicher minus sieben Grad. Und es schneit weiter, wie es scheint. Die Leute werden Probleme kriegen, zur Arbeit zu kommen.«

»Ich habe eben erst beobachtet, wie sie versucht haben, ihre Türen freizuschaufeln. Hoffentlich schaffen es die Jungs heute zur Schule, auch wenn es nicht weit ist. Draußen auf dem Land sind wir mit Schnee irgendwie besser klargekommen. Möchte der Herr Professor in der Bibliothek frühstücken?«

»Nein, lieber in meinem Arbeitszimmer, glaube ich. Ich habe den Kamin eingeheizt, inzwischen ist es dort warm. Ich müsste Sie überdies um einen Gefallen bitten … Ich habe heute einen Besuch geplant – einen recht heiklen.«

»Natürlich, Herr Professor. Sagen Sie einfach Bescheid, wann Sie losmüssen, und ich sorge dafür, dass alles rechtzeitig vorbereitet ist.«

»Nein, heute brauche ich Ihre Hilfe nicht. Ich werde abgeholt, aber ich fürchte, es könnte spät werden, bis ich wieder zu Hause bin. Vielleicht muss ich sogar außer Haus übernachten. Dürfte ich Sie ganz frech bitten, heute einen Ihrer freien Tage zu nehmen?«

Signe spürte, wie sie von Kopf bis Fuß schier erbebte bei der Aussicht, zurück ins Bett schlüpfen und sich erholen zu können.

»Selbstverständlich, Herr Professor«, erwiderte sie sofort. »Für den Fall, dass Sie hungrig sind, wenn Sie heimkommen, bereite ich trotzdem ein Abendessen vor.«

Professor Svartström schenkte ihr ein Lächeln, nickte und zog sich annähernd lautlos zurück. Signe stellte sein Frühstück zusammen, machte sich mit dem Haferbrei besonders Mühe und gab einen Klecks Butter hinein. Daneben kam ein Schälchen Apfelmus – sie wusste, dass er das gern aß.

Eine knappe Stunde später klingelte es an der Tür, und zwei Männer in Uniform nickten Signe förmlich zu, ehe Svartström sich dazugesellte und ihnen nach draußen folgte.

Die Stille, die sich an diesem eiskalten Dezemberfreitag in der Wohnung ausbreitete, war Balsam für ihre Seele. Signe nötigte sich, ordentlich zu frühstücken; das brauchte sie an Tagen, an denen sie das Pulver zu sich nahm. Obwohl sie es insgeheim vermessen fand, gönnte sie sich den gleichen Luxus, den sie zuvor dem Professor hatte angedeihen lassen, und nahm auch sich selbst einen Klecks Butter und Apfelmus. Sie befüllte die Wärmflasche neu, riss sich regelrecht die Arbeitskleidung vom Leib und schlüpfte in ihr dickes Flanellnachthemd, das sich sanft um ihren wehen Körper schmiegte. Sie nahm sich eine neue Binde und weichte die alte ein. Wider besseres Wissen nahm sie noch ein Tütchen des bitteren Pulvers und verzog das Gesicht angesichts des Geschmacks. Vor dem Fenster zum Hof hing bloß der dünne Vorhang, und am liebsten hätte sie alles Tageslicht ausgesperrt. In der kurzen Zeit, da sie auf den Beinen gewesen war, war das Bett zwar ausgekühlt, doch dank ihrer Körperwärme und einer zusätzlichen Decke im Handumdrehen wieder aufgewärmt. Mit Haferbrei und Pulver im Magen, das sie von den Schmerzen hoffentlich schnell befreien würde, schloss sie die Augen und presste sich die Wärmflasche auf den Bauch. Ausnahmsweise waren ihre Gebete erhört worden.

Elisabeth

Nach dem langen Arbeitstag war Elisabeth müde. Sie alle hatten sich nach Professor Svartströms Ansprache mächtig ins Zeug gelegt. Auch wenn seit Kriegsbeginn die Lage dauerhaft ernst gewesen war, war sie nun erstmals zutiefst beunruhigt. Sie und ihre Familie hatten es gut, sie waren finanziell abgesichert, und bislang hatten sie sich um die immer strengeren Rationierungen kaum je Sorgen zu machen brauchen, weil sie gute Kontakte hatten, die ihnen hier und da etwas zukommen ließen. Anfang Dezember waren die Auflagen erneut verschärft und es war verlautbart worden, dass Einkäufe auf dem Schwarzmarkt fortan hart geahndet würden. Elisabeth war klar, dass es ihre Familie nicht ernsthaft treffen würde – doch nicht ihresgleichen. Aber abgesehen davon hatte der Krieg neue Ausmaße angenommen, und für sie persönlich hieß das nun mal auch, dass sie eine Arbeitsstelle innehatte, die einer jungen Frau unter anderen Vorzeichen kaum angeboten worden wäre. Die Arbeit hatte dazu geführt, dass sie neue Kontakte geknüpft und Menschen kennengelernt hatte, denen sie sonst nie begegnet wäre.

Im Frühsommer war Elisabeth beispielsweise General Carl Munch vorgestellt worden. Munch war mit Vivian von Geijer verheiratet, der einst gefeierten Schauspielerin – und derselben Frau, die auch mit Professor Svartström verheiratet gewesen war, den sie aber verlassen hatte, als er erblindet war.

Elisabeth und Munch hatten zunächst nur ein bisschen geflirtet, doch im Frühherbst hatte sich ihre Verbindung intensiviert. Munch war gefangen in einer unglücklichen Ehe, doch aufgrund zweier Kinder stand die Scheidung außer Frage.

Im Laufe des Herbstes waren ihre Begegnungen seltener geworden: einerseits, weil es immer weniger Orte gab, an denen man sich treffen konnte, andererseits aber auch, weil Elisabeth der Form ihrer Treffen zusehends leid gewesen war.

Heute hatte Munch sie zum Abendessen ins Cecil eingeladen – was nicht mehr allzu häufig vorkam. Aus naheliegenden Gründen trafen sie sich kaum je an einem öffentlichen Ort.

Elisabeth trampelte sich den Schnee von den Schuhen, ehe sie zu Hause über die Schwelle trat, und obwohl sie nicht weit gegangen war, waren sogar ihre Strickfäustlinge vereist. Ihre Eltern würden an diesem Abend Bridge bei Freunden spielen, die gleich auch Elisabeths Bruder Arne und dessen Frau Gullan eingeladen hatten. Folglich hatte Elisabeth sturmfrei. Trotzdem hatte sie nicht vor, Munch zu sich nach Hause zu bitten. Es wäre ihr schlicht und ergreifend zu anstrengend.

Ihr blieben lediglich zwanzig Minuten, um sich umzuziehen, und missmutig betrachtete sie den Inhalt ihres Kleiderschranks. Auch wenn sie schlecht behaupten konnte, dass sie keine Kleidung besaß, entdeckte sie auf Anhieb nichts, was für den Abend geeignet gewesen wäre. Nach einigem Hin und Her entschied sie sich für ein schwarzes Kleid mit Stehkragen und langen Ärmeln. Ihr war immer noch kalt, und auf etwas Schickeres hatte sie keine Lust, obwohl ihr bewusst war, dass Munch einen eher glamourösen Stil bevorzugte. Das nächste Problem war, eine intakte Strumpfhose zu finden; sie hatten alle Laufmaschen, und wütend schleuderte sie sie aufs Bett. Dann schlich sie in das Schlafzimmer ihrer Eltern. In der Kommode ihrer Mutter würde ein verpacktes Paar Strumpfhosen liegen. Elisabeth hoffte nur, sie würde daran denken, ihren Raubzug zu gestehen.

Sie bürstete sich das schulterlange rote Haar glatt und steckte es an den Seiten mit Spangen hoch. Der neue graue Mantel war eigentlich zu dünn, jetzt, da es so kalt geworden war, aber nachdem sie nur ein paar Straßenzüge weit gehen würde, wäre das schon in Ordnung.

Draußen auf der Birger Jarlsgatan strömten die Kinobesucher aus dem Spegeln. In den Zeitungen hatten sie sich über den neuen Film überschlagen und debattiert, ob Swing it, Pauker zu frivol für die Jugend sei.

Sie bog auf die Mäster Samuelsgatan und dann unmittelbar in die Biblioteksgatan ein. Munch wartete bereits vor dem Lokal. Er sah verärgert aus. Elisabeth eilte lächelnd auf ihn zu.

»Du bist ja verrückt, dass du hier stehst und frierst! Warum bist du nicht rein ins Warme gegangen?«

Munch verzog missmutig das Gesicht und schnippte seine glühende Zigarette weg. Seine Stimme klang eisig, als er sie anfauchte: »Weil es sich für einen Gentleman gehört, auf seine Gesellschaft zu warten. Bist du eigentlich jemals im Leben pünktlich gewesen?«

Elisabeth verdrehte die Augen und ging vorneweg. Drinnen hieß der Oberkellner sie mit einem warmen Lächeln willkommen.

»Fräulein Herrman, wie schön. Leider haben Sie Direktor Lagerman verpasst, er ist soeben gegangen.«

»Ach, Dinty war hier? Das ist ja typisch!«

»Wirklich«, murmelte Munch und schob sich an ihr vorbei. »Ich habe einen Tisch für zwei reserviert – den besten, wie mir zugesichert wurde.«

»Natürlich. Auf welchen Namen?«

Elisabeth konnte Munch ansehen, dass er zusehends kochte. Durch die zusammengebissenen Zähne presste er hervor: »General Munch.«

Der Oberkellner verneigte sich.

»Natürlich. Bitte folgen Sie mir.«

Munch schien selbst die banalste Etikette – Ladies first – vergessen zu haben und ließ Elisabeth stehen, so dass sie ihm nacheilen musste.

»Ihr Tisch, wenn es recht ist? Möchten Sie vor dem Essen einen Aperitif zu sich nehmen? Vielleicht ein Glas Champagner für das Fräulein Herrman?«

Munch schüttelte den Kopf.

»Nein danke. Wir brauchen keinen Schampus. Wein mit Kohlensäure – völlig überbewertet. Aber ich hätte gern einen Whisky.«

Elisabeth setzte sich und lächelte den Kellner an.

»Ich hätte gern einen Campari.«

Der Kellner zog sich zurück, und Munch schnaubte.

»Ich bin diese überkandidelten Restaurants dermaßen leid! Die versuchen doch, selbst den teuersten Mist zu Mondpreisen zu verkaufen. Andererseits habe ich Champagner immer schon für überbewertet gehalten.«

Statt zu antworten, zückte Elisabeth ihr Zigarettenetui. Munch beugte sich vor.

»Ich nehme auch eine. Hab gerade meine letzte geraucht.«

Elisabeth nahm wortlos zur Kenntnis, dass er ihr nicht einmal Feuer gab, sondern nur seine eigene Zigarette anzündete.

Nach dem ersten tiefen Zug fragte sie: »Also, wie war dein Tag?«

»Grässlich! Eine Stabsbesprechung nach der anderen – und es geht nur um Nichtigkeiten! Ich scheine mich inzwischen nur noch mit unwichtigen Sachen zu beschäftigen. So langsam sollte ich mit meinen Vorgesetzten ein ernstes Wörtchen sprechen. Es ist doch Ressourcenverschwendung, dass sie mich auf diesen Posten gesetzt haben und nicht mein volles Potenzial ausschöpfen! Und das ist einzig Nordengrens Schuld. Er scheint es als seine Aufgabe anzusehen, mir das Leben madig zu machen.«

»Oh, das klingt ärgerlich.«

Ohne sie auch nur anzusehen, fuhr Munch fort: »Und dann komme ich heim, und Vivian hat einen hysterischen Anfall. Schreit und keift die Haushälterin an, die damit gedroht hat zu kündigen. Die Kinder sind krank und schlecht gelaunt. Und Vivian keift weiter, schimpft auf unsere Möbel, dass wir annähernd das komplette Erdgeschoss umgestalten müssten, es sei alles aus der Mode gekommen – aber wie kann das sein? Wir haben die Sachen doch gerade erst vor ein paar Jahren gekauft? Möbel kommen doch so schnell nicht aus der Mode? Und es wird noch schlimmer. Ich habe ihre jüngste Rechnung im Kaufhaus NK infrage gestellt – aber ich kann doch nicht einfach hinnehmen, dass ein Mensch derartige Summen für ein bisschen Kleiderstoff ausgibt!«

Dankbar lächelte Elisabeth den Kellner an, der ihnen die Drinks brachte. Sie stießen miteinander an, und Munch verzog das Gesicht. Dann knallte er mit solcher Wucht das Glas auf den Tisch, dass der Whisky überschwappte.

»Was ist das denn für ein Gesöff? Behaupten Sie ja nicht, das wäre meine Bestellung! Das ist bestenfalls Azeton! Bringen Sie mir jetzt bitte den Whisky, den ich bestellt habe. Dieses Zeug hier können Sie als Anzünder verwenden!«

Elisabeth konnte sehen, wie sich die Gäste an den Nachbartischen schon neugierig die Hälse verrenkten. Sie lächelte einem Paar zu und verdrehte diskret die Augen.

Der neue Whisky kam, und Munch kippte das halbe Glas auf einmal in sich hinein. Unterdessen lehnte Elisabeth sich zurück und studierte die Speisekarte.

»Wonach steht dir denn heute der Sinn? Ich glaube, ich nehme den Fisch. Ich habe schon lang keinen Fisch mehr gegessen.«

Munch schüttelte den Kopf.

»Nein, der Fisch ist genauso überteuert wie alles andere. Ich bin nicht mehr bereit, solche Wucherpreise zu zahlen. Das Tagesgericht reicht vollkommen. Darf ich im Übrigen fragen, was du da angezogen hast? Ich wusste gar nicht, dass wir noch auf eine Beerdigung gehen! Wäre nicht etwas Freundlicheres angemessen gewesen, jetzt, da wir zwei endlich wieder zusammensitzen?«

Elisabeth behielt noch kurz die Speisekarte in der Hand. Dann legte sie sie beiseite.

»Ich gehe jetzt nach Hause. Und du – fahr zur Hölle.«

Sie nahm all ihren Mut zusammen, stand auf und steuerte die Garderobe an, um ihren Mantel zu holen. Beunruhigt kam der Oberkellner auf sie zu.

»Ist alles in Ordnung, Fräulein Herrman?«

»Aber natürlich. Besser denn je.«

Dann zwinkerte sie ihm zu. Sie war froh, dass die Luft draußen so kalt und klar war – so leicht war ihr das Atmen schon länger nicht mehr gefallen.

Iris

Iris schlich zum Zimmer ihrer Söhne und stellte erleichtert fest, dass sie endlich eingeschlafen waren. Jan war den ganzen Abend aufgedreht gewesen, weil er für die Bandy-Mannschaft seiner Schule ausgewählt worden war, sprich: Er würde mit zu Spielen in ganz Stockholm fahren und Gleichaltrige aus anderen Schulen treffen. Josef hatte irgendwann aufgestöhnt und seinen Bruder gebeten, sich wieder zu beruhigen. Alberne Sachen wie Bandy seien nicht weiter erwähnenswert. Iris hatte ihrem sonst so vernünftigen Sohn die Meinung geigen müssen und erklärt, dass Sport ebenso wichtig wie Mathematik sei und es ihm nicht gut zu Gesicht stehe, die Leidenschaft und das Interesse seiner Mitmenschen auf solche Weise kleinzureden. Mittlerweile schliefen sie beide, Josef zusammengerollt und Jan mit über dem Kopf ausgestreckten Armen. Wie schon immer. Man konnte ihnen die Persönlichkeit regelrecht an der Schlafposition ansehen.

Kati hatte angerufen und mitgeteilt, dass sie später am Abend vorbeikommen wolle, allerdings erst, wenn die Jungen im Bett seien. Es gehe um etwas Heikles.

Auf das Wort hatte Iris sofort reagiert. Für Kati war sonst nur wenig heikel. Empfindlich war sie doch eher nicht?

Iris hatte gerade das Abendbrotgeschirr gespült, als sie es leise anklopfen hörte. Zitternd vor Kälte stand Kati vor der Tür.

»Was für schreckliche Temperaturen! Da mag man ja kaum aus dem Haus gehen!«

Und das, obwohl Kati einen dicken Pelzmantel und eine Pelzmütze trug, unter der sie kaum zu erkennen war. Mit einem Lächeln bat Iris sie herein.

»Du musst mehr essen. Wenn man zu dünn ist, dann friert man.«

Kati schnaubte und streifte den Pelzmantel ab.

»Da erfriere ich lieber. Besser tot als zu dick!«

Iris lachte, obwohl ihr klar war, dass ihre Schwester es ernst damit meinte. Dass ein paar Kilo zu viel einer Todsünde gleichkamen, hatten sie von ihrer Mutter gelernt. In ihrer beider Jugend war ihnen eingebläut worden, dass nur ungebildete und arme Menschen dick seien. Dünn zu sein – an der Grenze zu mager – sei indessen ein unbedingt aufrechtzuerhaltendes Privileg.

Kati betrat die Küche und zog die Tür zur Speisekammer auf.

»Wein? Irgendwas Alkoholisches? Etwas musst du doch dahaben!«

Mit einem Lächeln auf den Lippen beugte sich Iris vor und zog aus der hintersten Ecke eine Flasche Sherry hervor.

Kati verzog das Gesicht.

»Das trinkst du also heutzutage?«

Achselzuckend entkorkte Iris die Flasche.

»Heutzutage trinke ich überhaupt kaum noch etwas. Allein dazusitzen ist einfach nicht lustig.«

Kati nickte in Richtung Obergeschoss.

»Und deine Freunde dort oben? Sitzt ihr nie zusammen?«

Iris ahnte, dass Kati damit Signe und Professor Svartström meinte.

»Schon, aber meist bin ich abends mit den Jungs zusammen und helfe ihnen bei den Hausaufgaben. Nachdem ich das Abendessen gekocht und die Wäsche gewaschen habe.«

Kati stöhnte, wandte sich zum Wohnzimmer um und ließ sich dort aufs Sofa fallen.

»Oh, du tust mir leid. Was ist nur aus dir geworden! Weißt du noch – vor ein paar Jahren? Da hattet ihr alles, was ihr euch nur wünschen konntet.«

Schlagartig war Iris am ganzen Leib angespannt.

»Das ist Geschichte. Wichtig ist nur, dass wir hier in Sicherheit und am Leben sind. Ich bin froh, eine Arbeit zu haben und mich nützlich zu machen. Und natürlich hoffe ich von ganzem Herzen, dass es Rudolf gut geht – wo immer er gerade steckt.«

»Meine liebe Schwester, lass zur Abwechslung die Noblesse sein und gib wenigstens zu, dass du dein altes Leben zumindest in Teilen vermisst! Ich glaube dir keine Sekunde lang, dass dir das Kochen und Wäschewaschen Spaß macht.«

»Doch, es ist wirklich so. Auch wenn dir das fremd ist. Ich würde sogar sagen, dass ich es genieße.«

Kati verdrehte die Augen.

»Du bist ja zu komisch!«

Iris nippte an dem Sherry, den Elisabeth ihr geschenkt hatte.

»Als wir telefoniert haben, meintest du, du hättest etwas auf dem Herzen. Worum geht es?«