Über das Buch

Lars Gustafsson und seine Frau Agneta Blomqvist haben ein persönliches und zugleich nützliches Reisebuch über Schweden geschrieben. Vom äußersten Süden bis hinauf nach Norrland führt ihre Reise, von den schonischen Bauern bis zu den Lappen. Der Schwerpunkt aber liegt dort, wo sie zu Hause sind: an einem Fjord in Bohuslän, in Västmanland, am Mälarsee und in Stockholm. So vielseitig wie ihre Interessen, so abwechslungsreich sind ihre Ausflüge — in die schwedische Geschichte und in eine berühmte Bäckerei, in die Wälder und Moore, zum Beeren und Pilze sammeln, zu Elchen und Wölfen, zu Strindberg und an das Grab von Tucholsky. Kenntnisreich, liebevoll und poetisch — ein MUST HAVE für alle Schweden-Fans.

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Lars Gustafsson
Agneta Blomqvist

Das Lächeln
der Mittsommernacht

Bilder aus Schweden

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Schweden auf der Karte

Der schwedische Süden

Die Beeren der Moore

Die geometrische Stadt

Jönköping

Ein Held im Inland von Bohuslän

Das Leben an einem Fjord

Wölfe

Vorfrühling

Das Lächeln der Mittsommernacht

Das Ostschweden, das verschwand

Eine Fahrt mit der Buslinie zwei

Die Geräusche der Stadt

Was machen die Schweden?

Der Nockebytorg meiner Kindheit

Prinzessinnengebäck

Der Ulmenkampf

Eine Fahrt über den Mälaren

Feuchtgebiete

Die Landschaft der Poeten

Die alten Straßen

Das Wetter in Schweden

Ängelsberg — Västerås — Stockholm

Norberg

Bei Elinors Bäckerei in Norberg

Sankta Lucia

Schwedens Wälder

Elche

Die Seen ohne Segel

Europas stiller Dachboden

Schweden auf der Karte

Es kann manchmal so scheinen, als sei dieses Land ein wenig zu lang. In den Schulbüchern unserer Kindheit wurde eine Art Normalschweden dargestellt, wo Bäume tatsächlich Äpfel und Pflaumen hervorbrachten, was oben im nördlichsten Schweden nicht der Fall ist, und da gab es Flüsse, die man selbstverständlich auf Befehl des Fräulein Lehrerin herunterleiern konnte: Ätran, Nissan, Lagan, Viskan. Wir waren sicher schon über dreißig, bis wir, Verfasser dieses eigenwilligen Buches, meist auf Grund unserer eigenen Erfahrungen erkannten, dass es im hohen Norden Flüsse gibt, breit wie die Donau, breiter als die Loire und kraftvoll wie der Rhein, welche die Standardflüsse der Geographiebücher auf angenehme kleine Gewässer reduzieren, geeignet für friedliche Rudertouren und das Angeln mit Würmern.

Dasselbe lässt sich über die Seen sagen, und davon gibt es viele: Der Mälaren oder der Hjälmaren sind an einem Sommertag voll von weißen Segeln, Betonschiffen, Motorbooten. Stora Lulevatten oder Torne träsk hingegen zeigen an einem ähnlichen Tag kaum ein einziges Segel, keine Kielwasserspur.

Das Land ist so bemerkenswert, dass nicht einmal seine eigenen Einwohner es besonders gut kennen. Als Carl von Linné an einem schönen Frühsommermorgen im Jahr 1732 in königlichem Auftrag seine lappländische Reise antrat, war es tatsächlich eine Forschungsreise in ein unbekanntes Land — im Prinzip von der gleichen Art wie Peter Forsskåls und Anders Sparrmans Erkundungen in fremden Erdteilen.

Es ist nicht wie in Linnés Tagen — aber es gibt für den allein Reisenden noch viel zu entdecken, und die Verfasser dieses Buches sind die ersten, zuzugeben, dass das auch für sie gilt. Solche historischen und geographischen Studien sind eine viel zu große Aufgabe für ein einziges Leben. Und auch für zwei, wie bei uns.

Wir beschränken uns darauf, von dem zu erzählen, was wir selbst erlebt haben. Das gilt auch für die Bücher, die wir gelesen, und die Gespräche, die wir geführt haben. Wir haben uns entschlossen, nicht zu sagen, wer was geschrieben hat, und die Route führt vom schwedischen Süden bis in den allerhöchsten Norden, mit ausgiebigen Exkursen nach Osten und Westen und in die schwedische Literatur. Wir hoffen, dass der Leser sich mit uns auf der Fahrt durch Schweden wohlfühlt.

Es sollte deutlich werden, dass wir nicht hier leben würden, wenn wir nicht fänden, dass Schweden ein inspirierendes Land ist.

Agneta Blomqvist und Lars Gustafsson
Säms Herrgård in der Gemeinde Tanum
am
3. August 2012

Der schwedische Süden

Wie ein Netz von schwarzen Spinnenweben

hängen die nassen Äste des Baums.

In der stillen Februarnacht

singt sacht, schwebt, klingt

aus den Spuren und Steinen des Tals

das Rauschen einer Wasserquelle.

In der stillen Februarnacht

weint der Himmel sacht.

Vilhelm Ekelund, 1880—1937

Die südlichen Landschaften, Schonen, Halland und Blekinge, die dem Königreich Schweden spät in der Geschichte — beim Frieden von Roskilde 1658 — einverleibt wurden und noch lange danach umstritten blieben, sind uns, die wir von den Landschaften rings um den Mälarsee kommen, auf subtile Art fremd geworden. Vielleicht noch mehr als die Landschaften im Norden.

Während die Februarnacht bei uns normalerweise sehr dunkel, sehr kalt und jedes Feld von trockenem Schnee bedeckt ist, den der Wind in tückischen Wirbeln vor sich hertreibt, kurz gesagt, das Nifelheim, durch das die alten Nordländer die für ihre Zwecke viel zu angenehm warme Hölle ersetzt haben, befindet sich die schonische Ebene manches Jahr in der Februarnacht unter dem stillen Weinen der Wolken.

Doch es ist nicht immer so. Das Flachland zwischen Skanör und Lund ist im Januar bis Anfang Februar zuweilen ein Inferno von Schneestürmen. Zur Geburt können die Frauen nur mit Raupenfahrzeugen in die Entbindungskliniken gelangen, abgelegene Höfe müssen tagelang darauf warten, dass ihre Straßen zwischen meterhohen Pflugwällen wieder passierbar gemacht werden. Schneewälle einer Art, die man sonst zur gleichen Jahreszeit nur in Kiruna oder möglicherweise in Umeå zu sehen bekommt.

Dann kommt der Frühling. Das Flugzeug von Bromma zieht beim Anflug jäh hoch, um einem Adler auszuweichen, wie der Kapitän verkündet. Nach der Landung sieht man eine V-Formation von Wildgänsen auf dem Weg nach Norden. Hier und da liegen noch Flecken von Schnee, während die Buchenwälder schon dabei sind, die Farbe zu wechseln.

Nach Schonen zu kommen hatte in meiner Jugend immer etwas von einer Auslandsreise. Statt der Hasen hüpfen Wildkaninchen munter in der Gegend herum. Buchenwälder statt Kiefern und Tannen, weiße Häuser statt falurote, Schlösser statt Herrenhäuser, opulente Mahlzeiten im Vergleich zu den asketischen Gewohnheiten in den philosophischen Kreisen um 1958, kontinentale Philosophie statt der aus Cambridge, Oxford und Chicago. Im Lund der fünfziger Jahre fanden die Post-Seminare in der Bar des prachtvollen alten Hotell Grand statt. In Uppsala war es in »Kajsas Kaffezimmer« in der Drottninggatan.

Blekinge und Halland sehen im Sommer über lange Strecken wie Gärten aus, im Gegensatz zu dem ernsten und manchmal ungeheuer monotonen nordeuropäischen Waldgürtel. Hier gibt es angenehme Sandstrände, Badeorte wie Torekov und Båstad mit idyllischen Sommerhäusern, meist im Besitz einer wohlhabenden Oberklasse.

Im schwedischen Süden sind die sozialen Unterschiede stark ausgeprägt. Hier gibt es große Landwirtschaftsbetriebe wie Värnanäs oder Simonstorp, nicht selten um ein prachtvolles Schloss aus der Großmachtzeit herum gruppiert, und stille Fischerdörfer wie Borrby und Torekov. Aber auch verwahrloste und sozial isolierte Einwandererslums wie Malmös Rosengård mit all den in ähnlichen europäischen Stadtteilen wohlbekannten Problemen. Entwurzelte Jugendliche, Sprachverwirrung.

Die alten strohgedeckten Höfe in quadratischer Form und mit einem Hofbrunnen in der Mitte sind zu einer Art Symbol für diese Landschaft geworden. Man sollte jedoch nicht erwarten, dass all diese Höfe von Schonen bewohnt sind. Bereits in den sechziger Jahren waren sie bei den Stockholmern beliebt. Dag Hammarskjölds Backåkra ist ein Beispiel für diesen Lebensstil. Hierher zog sich der zweite Generalsekretär der UN, bekanntlich eine kontemplative Persönlichkeit, aus dem UN-Hauptquartier zurück.

Südschweden hat etwas von einer eigenen literarischen Tradition, die um die vorletzte Jahrhundertwende sichtbar wurde. Als August Strindberg aus Paris flieht, wo unbekannte Mächte sein Leben zu bedrohen und zu lenken scheinen, landet er bei einem Freund in Lund und spürt plötzlich den Frieden der fleißigen kleinen Stadt. Die stillen Einwohner scheinen ganz und gar mit ihren eigenen Tätigkeiten beschäftigt. Niemand will etwas von ihm, und das ist es, was er in diesem Augenblick braucht.

»Das akademische Bauerndorf« ist zu der Zeit von Vilhelm Ekelund ein ziemlich gebräuchlicher Ausdruck für diese Stadt. Etwas vom Milieu dieses alten Lund kann man auch an einem Sommerabend in unserem neuen Jahrtausend erleben. Die Gartenkugel im romantischen Garten von Bischof Agardh neben dem einzigartigen Museum »Kulturen« spiegelt das Grün der alten Ulmen wider. Die Straßen schlängeln sich zwischen Fachwerkhäusern und gewöhnlichen Häusern durch. Von Maggies Dachwohnung aus sehen die verschieden geneigten Dächer der historischen Stadtteile aus wie dunkle Kristallflächen. Das Hotell Grand, denkwürdiger Ort zahlloser Feste und Punschabende, strebt mit seinem neugotischen Turm zum Himmel. Und die meist verspäteten Fernzüge nach Kopenhagen auf der anderen Seite des Parks können das immer gleichermaßen hoffnungsvolle Gemurmel an der Bar kaum stören.

Es gibt allerdings noch ein anderes Lund. Die Stadt ist reich; die Häuserpreise im historischen Zentrum sind beträchtlich. Die großen Erfinderindustrien, herangewachsen aus den Tiefen der Universitätslabore, blockieren viele Ausblicke auf die Ebene. Arzneimittelfirmen, Softwareunternehmen, und nicht zuletzt das weltbeherrschende Hauptquartier des Milchpakets: Tetrapak.

Aber im Herzen, in dem Hain, der tatsächlich ein Hain ist und vermutlich einst ein Opferhain war, an dessen Quelle der Hochaltar errichtet wurde, erhebt sich der mächtige romanische Dom. Wovor der zufällige Besucher natürlich zuerst stehenbleibt, ist die astronomische Uhr der Fassade, nicht nur ein Monument einer genialen, komplizierten Mechanik aus der Zeit Fibonaccis und Cardanos, sondern auch des gleichbleibend widerspenstigen Problems, eine mathematische Zeitrechnung mit dem eigentümlich diffusen Jahresumlauf des Planeten in Übereinstimmung zu bringen. Und wie in allen kunstvollen Uhren gibt es hier — genau wie in vielen Rathäusern und Kathedralen des europäischen Kontinents — eine tägliche Prozession biblischer Gestalten, die steif und mit erhobenen Trompeten vorüberstolzieren, gezogen von dem mächtigen Bleilot der Uhr. Was ist die Federuhr mit ihrem launischen Gang, dazu verurteilt, ständig durch kegelförmige Geschwindigkeitsregulatoren korrigiert zu werden, verglichen mit dem sicheren, unveränderlichen Gang des Luchses, der nur von der Schwerkraft gelenkt wird, der grauesten, phantasielosesten und greifbarsten aller vier Kräfte der Natur.

Mich fasziniert jedoch vor allem der Brunnen. Dieser tiefe, dunkle Brunnen, der sich schon lange vor der christlichen Zeit dort befunden haben muss und also für immer einen Kultplatz markiert hat, einen heiligen Hain.

Was befindet sich da unten in der Dunkelheit?

Organismen, antwortet eine gelehrte kleine Broschüre, die man heute nur noch in den umliegenden Antiquariaten und in der mächtigen Universitätsbibliothek finden kann: »Das Pflanzen- und Tierleben im Dom von Lund«. Nichts anderes als Organismen.

Die Beeren der Moore

In einer Kultur wirklich heimisch zu sein heißt, genau zu wissen, was in ihrer Landschaft genießbar und was ungenießbar ist. Sauerampfer und Löwenzahnblätter, Geißfuß und Fichtennadeln.

Es gibt eine sehr frühe Einübung in die Wirklichkeit, wenn man die Dinge ebenso schmeckt, wie man sie ertastet und betrachtet. Man entdeckt bald, dass die dunkle, tiefblaue Beere der Schlehe, die so schön an den Mälarstränden blüht, im Mund ein Unding ist, das ihn zusammenzieht wie einen kleinen, an der Innenseite gefältelten Geldbeutel.

Eine besondere Erinnerung rufen die Moore wach. Der Duft wie in alten Apotheken, aus Mädesüß und Moosen, das leise Rauschen der Winde in den vereinzelten Bäumen, die Langeweile beim Sitzen auf einem Moorbeerenbüschel, während die Eltern pflückten.

Die Moorbeeren, spärlich wachsend, waren nicht leicht zu ernten. Zu säuerlich im Mund, falls sie noch nicht der erste Frost gezwickt hatte, so spröde, dass sie oft schon im Korb aufplatzten, waren sie doch der Grundstoff für das wunderbarste Kompott. Ideal zu Wild, aber davon gab es nicht viel in den vierziger Jahren, als meine Eltern Pilze und Beeren sammelten und im Norra Nadden Plötzen fischten. Es war eine Notzeit, in der die Natur so weit wie irgend möglich in Anspruch genommen wurde.

Dass diese Überlebensmittel, mühsam auf Weiden, Meilerböden und draußen auf den schwankenden Mooren gesammelt, auch Delikatessen waren — wie die Moltebeeren und die Moorbeeren nach dem ersten Frost —, sollte ich erst viel später im Leben begreifen. Die Rauschbeere hat eine betäubende Wirkung. Nimmt man mehr zu sich als, sagen wir, zehn, schläft man ein. Ein Gelee aus Rauschbeeren, vorschlagsweise zu einem gegrillten Waldvogel serviert, würde ein dekadentes Kochbuch zieren.

Als ich da auf den Büscheln saß, klein, mürrisch und mit meinen sieben Jahren unergründlich brütend, waren es die Rauschbeeren, die mich am meisten fesselten. Mit ihren größeren, dunkelblauen Beeren so viel geheimnisvoller als die Blaubeeren, die in einer nordischen Flora nicht so richtig heimisch schienen. Der Duft von Mädesüß und Moosen, immer vermischt mit dem Geruch des schwarzen Humuswassers, und der Geschmack, der immer etwas Fremdes, ein wenig Beunruhigendes hatte.

Ungefähr wie die Ruhe in einem japanischen Felsgarten. Der fremde, etwas herbe, träumerische Geschmack kann die Gedanken zu den Geheimnissen des Taoismus führen:

Sie waren achtsam, wie jemand, der zur Winterzeit über einen Fluss gehen will, oder einer, der seine Nachbarn fürchtet; würdevoll wie ein Gast; ungreifbar wie schmelzendes Eis; wie unbearbeitetes Holz waren sie in ihrer einfachen Natürlichkeit; wie ein Tal waren sie in ihrer Leere; wie trübes Wasser waren sie in ihrer Undurchsichtigkeit.

Aus dem Tao Te King über die Meister der Vorzeit

Die geometrische Stadt

Ende des 17. Jahrhunderts: welch eigentümliche Mischung aus Brutalität und frisch erwachter, neugieriger Rationalität! Monsieur Descartes findet ein Gitternetz, das es ermöglicht, die gesamte Mathematik in sichtbarer Form abzubilden, studiert heimlich die platonischen Körper — fünf reguläre konvexe Vielecke mit gleichwertigen Flächen — und entdeckt, dass die Summe der Seiten und Ecken minus der Anzahl der Kanten immer das Resultat 2 ergibt. Der Raum hat verborgene Eigenschaften, die nur hervortreten, wenn man Falten und Faltungen gründlich bedenkt. Newton und Leibniz führen die Differentialrechnung ein, und dieses ganze Unternehmen gleicht einem Segelschiff, das sich scheinbar lebensgefährlich in einem schwingenden Raum zur Seite neigt. Überhaupt wird in dieser Zeit geneigt, gefaltet, gebogen und gewendet.

Es ist eine Zeit, die sich viel zutraut. Die Dampfmaschine wartet um die Ecke, Polhem transportiert bei der letzten Schlacht Karls XI. Kanonenschaluppen durch den Wald nach Svinesund; es ist der sinnlose Feldzug gegen Norwegen. Neue Erfindungen wie die Aufschlepphelling für Schiffe und die Schleuse scheinen den Unterschied zwischen Wasser und Land herauszufordern. Sir Isaac Newton wird Vorsteher von The Royal Mint und führt die kleinen vertikalen Streifen an jedem Sovereign ein, die schonungslos enthüllen, wenn jemand Silberspäne für eigene Zwecke abgefeilt hat. Es ist die Zeit der Sextanten, Chronometer und der großen Turmuhren.

Karl XI. hatte verfügt, dass dieser Ort die Basis der schwedischen Marine werden sollte. Deutsche Handwerker — so viele, dass sie bald eine eigene deutsche Gemeinde bilden würden —, Seeleute und Steinmetze, wurden hierher geholt. Das ist nicht der einzige Anknüpfungspunkt an die deutsche Kultur. Als das Zentrum von Karlskrona nach dem letzten großen Stadtbrand in den 1890er Jahren wieder aufgebaut wird, geschieht das in dem gleichen eklektischen Berliner Stil, der sich in Stockholms Stadtteil Östermalm wiederfindet.

Im Licht des Sommerabends wird die alte Stadt zu einer Bühne für geheimnisvolle Schauspiele wie bei Chirico. Der überdimensionale Marktplatz mit der Fassade der Trefaldighetskyrkan ist beinahe menschenleer. Eine Opernbühne, auf der noch niemand aufgetreten ist, oder eine, auf der alle gerade abgetreten sind. Der Glockenturm der Admiralität mit seiner feierlichen Geometrie erinnert an ein Zeitalter, in dem Chronographen, Sextanten und Logarithmen die Tür zu einer neuen Welt geöffnet haben. Im Jahr 1686 ging das erste Linienschiff in der Werft vom Stapel. 1690, im Jahr des Stadtbrands, wurde die Pommern mit sechzig Kanonen fertiggestellt. Es ist die Zeit der Mathematiker. Und der Kriegsschiffe. Dies ist ein Kriegshafen aus den Tagen Karls XI.

Als die Eisenbahn von Kalmar und Växjö gebaut wurde, machte man Karlskrona zur Endstation. Der Eindruck ist noch immer derselbe, wie Fredrik Böök ihn von einer Reise Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt: Man kommt aus dem dichten, struppigen Kiefernwald von Småland heraus und in eine freundliche, gartenähnliche Laubwaldlandschaft hinein. Alle Bäche und Seen bewegen sich in die Richtung des Reisenden: zum Meer hin. Und draußen an einem Hafenpier auf der zentralen Insel, Trossön, befindet sich der Bahnhof. Die Stadt liegt auf der innersten einer Gruppe von Inseln, leicht zu verteidigen und ein idealer Versammlungsort für eine Kriegsflotte. Und als solcher ist er seitdem in Gebrauch, heute allerdings nur mit den schnellen Schiffen der Küstenwache an den Kais.

In dem großen Marinemuseum unten am Hafen kann man eine Menge über Linienschiffe lernen, über schwere Zusammenstöße beim Ausweichmanöver im Svensksund, über das blutige Chaos auf dem Batteriedeck beim Aufprall, über Schiffsbau und Tauwerk. Das altertümliche Werkzeug, bestimmt für Arbeiten in härtestem Eichenholz, wirkt wie ein Riesenspielzeug. Die Knoten rennen wild, in immer komplizierteren Polynomen. Die Hanffasern verdichten sich in hierarchischen Schritten von Kardeel zu Trosse, bis sie Haltekabel für die Linienschifffahrt werden.

Eine Formel für das alles wäre eine, die ein Zeichen für die Grausamkeit dieser Epoche mit einem Zeichen für ihren Erfindungsreichtum vereint.

Der Besucher geht von einer Insel zur nächsten und merkt kaum, dass er sich über Inseln bewegt. Alles ist mit Brücken und Aufschüttungen zu einer Einheit verbunden, die etwas von einer marinemilitärischen Utopie hat. Kraftvolle Verteidigung nach außen, große innere Ordnung. Etwas von der Sonnenstadt Tommaso Campanellas. Viele ähnliche befestigte marine Städte entstanden in dieser Zeit rings um die Ostsee herum: Sveaborg und Cronstadt, alle haben sie etwas von dieser ins Meereslicht getauchten, hellen Geometrie. Wem es erlaubt ist, sich für eine Weile auf der Terrasse der Residenz niederzulassen — was gar nicht unmöglich ist, denn Blekinge hat einen freundlichen und großzügigen Regierungspräsidenten, welcher der Meinung ist, dass alle Bürger den größtmöglichen Zugang zu ihren eigenen Prachtbauten haben sollen (hier werden in Zusammenarbeit mit der Technischen Hochschule von Karlskrona im Sommer Konzerte und Lyriklesungen veranstaltet) —, kann an einem schönen Sommertag nicht umhin, einen Hauch von Mittelmeer zu spüren. Jachten auf dem Weg hinaus und herein zwischen den Inseln, Sonnenglitzern und der eine oder andere mächtige Schiffsrumpf am Horizont.

Wie viele seltsame Blätter wendet nicht die Ostsee in ihrem Buch zwischen den kargen Küsten des Bottnischen Meerbusens und diesem grünen Blekinge!

Jönköping

Die Stadt Jönköping liegt schön an dem geheimnisvollen blauen Vättern, nach dem Vänern der See mit der größten Oberfläche in Schweden. Vättern bedeutet ganz einfach »Wasser«. Er ist tief (bis zu 128 m) und lang (135 km) und ungewöhnlich kalt. Wenn er eisbedeckt ist, was in den letzten fünfzehn Jahren nur dreimal vorgekommen ist, hat man eine tiefe Sicht, was sowohl Langstreckenschlittschuhläufer wie Aalraupenfischer in ihren kleinen Zelten auf dem Eis bestätigen können. In dem See kann man bestenfalls im späten Juli baden, aber verfrorenen Menschen wird das Baden erst im August empfohlen.

Wie seltsam — da hat Jönköping die ganze Zeit am Ufer des Vättern gelegen, diese Stadt, die als Junaköping schon in den 1270er Jahren erwähnt wird. Der erste Teil enthält vermutlich den alten Namen des Junebäcken, und »köping« deutet darauf hin, dass der Ort ein Handelsplatz ist. Ja, da hat die Stadt gelegen und ist im Lauf der Geschichte umwälzenden Ereignissen ausgesetzt gewesen — alles ohne mein Wissen und meine Erlaubnis!

Als ich schließlich die Stadt besuchte, entstand etwas, worauf ich tatsächlich überhaupt nicht vorbereitet war: Ich habe mich nämlich augenblicklich in sie verliebt. Hoffentlich war es gegenseitig. Wenn man sich ihr nähert, in unserem Fall von Westen, sieht man die Stadt wie eine Fata Morgana an dem blauen Vättern liegen. Wir wollten zuerst in das Stora Hotel, L. hatte abends ein Gespräch in der Kristinekyrkan, aber wir hatten uns nicht einmal bemüht, herauszufinden, wo die Kirche oder das Hotel lag, sondern fuhren einfach drauflos — und siehe da, unsere Intuition führte uns direkt dahin, wo wir hinwollten, ohne dass man die Karte oder einen Einwohner um Rat fragen musste. Das deutete natürlich darauf hin, dass die Stadt uns wohlgesonnen war! Oder dass es eine — ich möchte sagen natürliche — Art gibt, auf die eine schwedische Stadt entstanden und geplant worden ist!

Jönköping liegt in dem sogenannten »Bibelgürtel«, einem inoffiziellen soziogeographischen Begriff, der Ende des 19. Jahrhunderts entstand — die freikirchlichen Liberalen in Jönköping und Umgebung wollten sich von den, wie sie es empfanden, geistig beschränkteren Menschen im Stift von Växjö und der Provinz Kronoberg distanzieren, von denen man sprach, als kämen sie aus dem »dunkelsten Småland«.