0.1

Meinen Vater bringen sie zuerst um.

Ihre glänzenden Stiefel poltern auf der Treppe. Sie kommen in unsere Zelle, stellen sich zu viert nebeneinander in einer perfekten Reihe auf. Ausdruckslose Gesichter und makellose Haut, mattgraue Pistolen in roten, roten Händen. Ein wunderschöner Mann mit goldenem Haar sagt, sie seien gekommen, um uns hinzurichten. Keine Erklärungen. Keine Entschuldigungen.

Vater dreht sich zu uns um, das Entsetzen in seinen Augen bricht mir das Herz. Ich öffne den Mund, will ihm etwas sagen, aber ich weiß nicht, was.

Die Kugeln treffen ihn im Rücken, Blut zeigt sich in roten Blüten auf seiner Brust. Meine Schwestern schreien, die Pistolenmündungen blitzen auf, Schatten tanzen und es ist so laut, dass ich befürchte, nie wieder etwas zu hören. Mutter streckt die Hände nach Vater aus, als wollte sie seinen Sturz auffangen, und der Schuss, der ihre Schläfe küsst, malt mein Gesicht rot. Ich schmecke Salz und Kupfer und milchweißen Rauch.

Dann ist alles still.

»Es ist besser, in der Hölle zu herrschen«, sagt der schöne Mann lächelnd, »als im Himmel zu dienen.«

Die Worte hängen in der Luft, mitten im Lied ferner Explosionen und der Hymne zertrümmerter Maschinen. Eine Frau mit mattgrauen Augen berührt die Hand des schönen Mannes, und ohne ein Wort zu sagen, drehen sich alle vier um und verlassen den Raum.

Mein Bruder kriecht auf unseren toten Vater zu, meine Schwestern schreien immer noch. Mir klebt die Zunge am Gaumen, das Blut meiner Mutter fühlt sich warm an auf meinen Lippen, und ich kann an nichts denken, keinen anderen Gedanken fassen als den, wie grausam sie doch sind, uns einen solchen Moment zu bescheren – einen winzigen, zerbrechlichen Moment, in dem wir beten, dass alles doch endlich vorbei sein möge. In dem wir uns fragen, ob in diesen Hüllen, die wir bis an den Rand gefüllt haben, noch ein Rest von Loyalität oder Mitgefühl übrig ist. Und in dem wir hoffen, dass sie vielleicht keine Kinder umbringen.

Das Schreien lässt schließlich nach, der Rauch verzieht sich langsam.

Dann hören wir wieder die glänzenden Stiefel auf der Treppe.

1.1

OFFENBARUNG

Fast alle nannten sie Eve.

Auf den ersten Blick konnte man sie fast übersehen. Was ihr nicht viel ausgemacht hätte. Auf dem Rücken eines Metallriesen kauernd, war sie kaum mehr als eine Silhouette im Schein zischend aufstiebender, summender Funken. Dabei war sie hochgewachsen, fast schlaksig. Sie trug zu große Stiefel und zu enge Cargohosen, und das von der Sonne gebleichte Haar war zu einem eindrucksvollen Undercut plus Fake-Iro geschnitten. Die schmutzigen Fettschlieren auf ihren kantigen Wangenknochen glänzten im Schein des Schneidbrenners, den sie in den Händen hielt. Sie war siebzehn Jahre alt, sah aber älter aus. So wie alles um sie herum.

An der Stelle ihres rechten Auges befand sich eine schwarze Metallkugel. Hinter ihrem rechten Ohr steckten sechs Silizium-Chips und von der Schläfe bis zur Schädelbasis verlief ein längliches Oval aus künstlicher Haut. Das Implantat war offensichtlich nicht für sie angefertigt worden, denn die Hautfarbe war eine Spur zu hell für ihren Teint.

Es hatte genau die Form einer hässlichen Austrittswunde.

»Test, Test … hört ihr mich da draußen?«

Das Mädchen, das von allen Eve genannt wurde, klemmte sich einen Schraubenzieher zwischen die Zähne und warf einen Blick auf die Monitore auf der anderen Seite ihrer Werkstattgrube. Ein hochauflösendes Bild zeigte die Arena über ihr: dreihundert Meter Durchmesser, übersät mit verkohlten Barrikaden und den rostenden Überresten ehemaliger Konkurrenten. Die EmCee stand mit Pailletten-Jackett und passender Melone im Rampenlicht. Ein Mikro war nicht nötig. Die Implantate in ihren Zähnen übertrugen ihre Stimme direkt in die Lautsprecher.

»Liebe Jungs und Mädels«, rief sie. »Hochverehrte Szene-Dudes und Lohnsklaven, herzlich willkommen … in der KampfKuppel!«

Die Menge tobte. Tausende Zuschauer klammerten sich wie Kletten an die Gitterstäbe der Kuppel, brüllten vor Begeisterung und trampelten mit den Füßen. Die meisten hatten bereits ordentlich Stims oder Selbstgebrannten konsumiert und die Aussicht auf das bevorstehende Gemetzel berauschte sie noch mehr. Die Vibrationen drangen bis in Eves Knochen und sie musste unwillkürlich lächeln. Sie schmeckte ihre Angst auf der Zunge, aber sie schluckte sie einfach runter.

»Showtime«, flüsterte sie.

»In der blauen Zone«, schrie die EmCee, »haben wir die Verurteilten! Einen Durchknaller, frisch von der Grenze zum Glas, den Mörder von zweiundsiebzig amtlich beglaubigten Bürgern. Wir haben ihn heute Abend hier, um ihm ein bisschen Old-School-Gerechtigkeit zu verpassen! Einen herzlichen Applaus für diesen Fug, bitte. Macht mal ein bisschen Lärm, Leute … für GL-417!«

Blaue Scheinwerfer kurvten über das Nordende der Kuppel, die Bodenplatten glitten beiseite. Unter ohrenbetäubendem Gejohle und einem Regen aus Spucke fuhr eine Furcht einflößende Masse brutaler Robotik in das Rund der Arena herauf. Bei dem Bild, das sich auf ihrem Monitor bot, wurde es Eve flau im Magen, ihre Eingeweide fühlten sich mit einem Mal eiskalt an. Der Schneidbrenner in ihrer Hand wackelte hin und her.

So ganz ohne Spucke lässt sich die Angst schlecht runterschlucken, was?

Der Roboter in der blauen Zone ragte zehn Meter in die Höhe. Ein Koloss wie ein Schlachtschiff, der aussah wie der Zusammenstoß einer Planierraupe mit einem Ritter in voller Rüstung aus der Geschichts-VR. Es handelte sich um ein schweres Kampfmodell der Goliath-Klasse, und der Gedanke an einen Kampf gegen einen derartig todbringenden Bot hier unter den Lichtern der Kuppel ließ die Wetter noch tiefer in den Taschen wühlen und die Buchmacher nach ihren Tablets greifen.

Alle machten sich auf einen sensationellen Kampf gefasst.

»Mach dich auf ein Massaker gefasst«, sagte eine blecherne Stimme in Eves linkem Ohr.

Ohne auf die Warnung einzugehen, schweißte sie zu Ende, die dunkle Schutzbrille über ihrem guten Auge oder was sie dafür hielt. In Wahrheit sah sie mit dem glänzenden schwarzen Implantat anstelle ihres rechten Ausgucks wesentlich besser als mit ihrem richtigen Auge, schließlich war es mit Helligkeitsunterdrückung, teleskopischem Zoom sowie mit Restlichtverstärker und einem Wärmebildsensor ausgestattet. Aber es bescherte ihr regelmäßig Kopfschmerzen. Und es surrte, wenn sie blinzelte. Und es juckte, wenn sie schreiend aus ihren Albträumen erwachte.

»Wie sieht’s aus, Cricket?«, rief sie.

»Zielvorrichtung leider nur 13,7 Prozent Verbesserung.«

Cricket schielte mit seinen ungleichen Augen aus dem Pilotensitz zu ihr herüber. Das Gesicht des kleinen Roboters war nicht für unterschiedliche Mimik vorgesehen, aber er wackelte mit den Metallstreifen, die als Augenbrauen durchgingen, um ihr seine Aufregung zu signalisieren. Er war ein aus Ersatzteilen bestehender Homunkulus, vierzig Zentimeter groß und rostfarben. Nichts, aber auch gar nichts an ihm war auch nur irgendwie symmetrisch. Seine Sehvorrichtung war zu groß für den Kopf und der Kopf war zu groß für den restlichen Körper. Die Kühlrippen auf seinem Rücken und seinem Schädel sahen wie die Stacheln eines Urtieres aus den alten Geschichts-VRs aus. Stachelschweine hießen die damals.

»Also, es geht jetzt gleich los, deshalb muss es ausreichen«, erwiderte Eve. »Dieser Goliath ist so groß wie ein Haus und dürfte eigentlich nicht zu verfehlen sein.«

»Hört sich vielleicht bescheuert an, Eve, aber du kannst immer noch einen Rückzieher machen.«

»Aha. Und wie kommst du darauf, dass sich der Gedanke so bescheuert anhört, Crick?«

»Du musst das nicht tun.« Cricket stieg auf den Boden herab. »Du solltest überhaupt nicht hier in der Kuppel antreten. Wenn Großvater das wüsste, würde ihm eine Kopfdichtung rausfliegen.«

»Was glaubst du denn, wer mir beigebracht hat, Bots zu bauen?«

»Dein Gegner ist weit über deiner Gewichtsklasse. Du verhältst dich völlig idiotisch, wie ein verdammter Vollpfosten.«

»Großvater versohlt dir den Hintern, wenn er dich so fluchen hört.«

Cricket legte in ironischer Ernsthaftigkeit eine Hand auf die Brust. »Ich bin so, wie mich mein Schöpfer gewollt hat.«

Eve lachte und kletterte hinüber zum Cockpit. Sie passte genau hinein. Ihre Machina war nur sechs Meter hoch, es gab kaum Platz für sie zwischen den Sichtschirmen und den Steuerstulpen. Die meisten Machina, die bei Kuppelkämpfen eingesetzt wurden, waren irgendwo geborgene Infanteriemodelle, aber Eves Baby gehörte zur Heuschrecken-Klasse – während der Kriege zwischen den KonzernStaaten eigens für blitzschnelle Angriffe auf befestigte Anlagen entworfene Modelle. Seine humanoide Gestalt war weniger auf Masse denn auf Geschwindigkeit ausgelegt und mit den scharfzackigen Klauen der linken und der durch Düsen unterstützten Spitzhacke an der rechten Hand auf die Zerstörung von Bots angelegt. Die Außenhaut war mit einer brachialen Tarnbemalung aus Schwarz und grellem Pink lackiert.

Eve ließ sich in den Pilotensitz fallen und rief hinunter zu Cricket: »Sieht mein Hintern in dem Ding fett aus?«

»Willst du die Wahrheit hören?«, erwiderte der kleine Bot.

»Willst du, dass ich deine Sprachbox wieder abschalte?«

»Ganz im Ernst, Eve, du solltest nicht dort hinauf

»Es ist ein Eröffnungskampf, Crick. Und wir brauchen die Kohle. Dringend.«

»Schon mal darüber nachgedacht, wieso du den Aufschlag gegen einen so großen Bot angeboten bekommen hast?«

»Schon mal darüber nachgedacht, warum ich dich immer für paranoid halte?«

Cricket legte wieder die Hand auf die Brust. »Ich bin so, wie mich mein Schöpfer –«

»Schon gut, schon gut.« Eve lächelte schief und fuhr das Programm hoch. »Mach dich an die Monitore, ja? Ich brauche deine Augen, wenn wir auf die Bühne gehen.«

Eve staunte immer wieder darüber, wie überzeugend der kleine Roboter seufzte, jedenfalls wenn man bedachte, dass er keine Lungen zum Ausatmen hatte.

»Keine Angst, Crick.« Sie klopfte zuversichtlich auf die Hülle ihrer Machina. »So ein wunderschöner Bot lässt sich niemals von einem Durchknaller fertigmachen. Nicht, solange ich ihn steuere.«

Die Stimme meldete sich quäkend in Eves Ohr. »Genau. Ohne Selbstvertrauen geht’s nicht, du kleiner Fug.«

»Ah, danke, Lem.« Eve lächelte.

»Keine Ursache. Wenn du draufgehst, krieg ich doch deine Sachen, oder?«

Die Maschinen erwachten summend zum Leben und die viertausend PS unter dem Chassis ihrer Machina ließen Eves Grinsen noch breiter werden. Sie legte die Gurte an und schon hallte die Stimme der EmCee wieder durch die KampfKuppel über ihr.

»Und jetzt – auf in die rote Zone!« Lautes Gebrüll aus dem Publikum. »Eine Handvoll pure Gewalt, hier in Dregs liebevoll zusammengeschraubt. In acht üblen Kämpfen bis jetzt ungeschlagen und heute Abend als Justitias ausführender Schlagarm – schreit euch die Seele aus dem Leib für Fräulein Blechmix!«

Die Decke über Eves Kopf öffnete sich gähnend weit. Sie zwinkerte Cricket zu, spuckte den Schraubenzieher aus und zog das Cockpit mit lautem Scheppern zu. Als sie Hände und Füße in die Steuerstulpen schob, leuchtete ein halbes Dutzend Monitore auf. Hydraulik zischte und das leise Dröhnen von Motoren drang durch die Cockpit-Wände, als sie auf die Ladeplattform der KampfKuppel-Arena hinaustrat.

Kaum war sie in Sicht, brach die Menge in begeistertes Brüllen aus. Eve bewegte die Beine und ihre Machina stapfte hinaus in die Arena des Todes. Gyroskope summten, statische Aufladungen knisterten an ihren Armen herauf. Sie hob eine Hand in ihrem Steuerärmel und Fräulein Blechmix grüßte militärisch. Als die Menge zur Antwort aufschrie, zeigte Eve auf die beiden Worte, die in verschnörkelter Schrift auf den Hintern ihrer Machina gesprüht waren:

HIER LECKEN.

Eves Gegner stand stumm da, die Mikrosolarzellen in seiner Tarnfarbe schimmerten gespenstisch. Im Gegensatz zu ihrer Machina war der Goliath ein Logika – ein nicht von menschlicher Kontrolle, sondern von einer internen Intelligenz gesteuerter Bot. Wäre in der Welt alles zum Besten bestellt, würde das erste Robotergesetz jeden Bot daran hindern, auch nur einen Finger gegen einen Menschen zu erheben. Das Problem war jedoch, dass der Goliath irgendwann einmal durchgeknallt war und draußen nicht weit vom Glas einen Haufen Siedler verabschiedet hatte. Was nicht zum ersten Mal passiert war. Immer mehr Bots schienen da draußen in der Einöde nicht mehr richtig zu funktionieren. Vielleicht lag es an der Strahlung. Oder an der Abgeschiedenheit. Wer wusste das schon? Inzwischen waren Bot-Kämpfe jedenfalls ein großes Geschäft und Exekutionskämpfe zogen besonders viele Leute an. Eve hatte kein Problem damit, irgendeinen Durchknaller fertigzumachen, wenn sie damit ein paar Credits verdienen konnte.

Eigentlich machte es ihr sogar Spaß.

Trotz allen Draufgängertums summte Crickets Warnung noch in ihrem Kopf, als sie den Goliath genauer betrachtete. Er war eindeutig der größte Bot, gegen den sie je angetreten war, wahrscheinlich so an die achtzig Tonnen schwer. Sie kaute an ihrer Lippe und versuchte, die Schmetterlinge im Bauch zu verjagen. Das optische Implantat surrte leise. Die künstliche Haut an ihrer Schläfe war die einzige Stelle an ihr, die nicht mit Schweiß bedeckt war.

Wenn ich dieses Preisgeld nicht so dringend brauchen würde …

»Noch mal kurz für die Nichteingeweihten«, krähte die EmCee. »Bei unseren Kuppelkämpfen halten wir’s immer ganz einfach: Der verurteilte Logika kämpft so lange, bis er AB ist – das heißt ›außer Betrieb‹. Geht stattdessen der erste edle Ritter AB, tritt ein weiterer Ritter in den Ring. Meine Lieben, ihr habt jetzt genau noch sechzig Sekunden, um eure Wetten zu platzieren. Wir erinnern euch daran, dass die heutige Exekution von den stylishen Entwicklern von BioMaas Incorporated und den Visionären von Daedalus Technologies gesponsert wird.«

Die EmCee zeigte mit einem koketten Lächeln auf ihre zweifarbigen optischen Implantate. »Wir bauen das Morgen schon heute.«

Logos tanzten über die Bildschirme über dem Kopf der EmCee. Eve musterte den großen Bot auf ihren Monitoren und überlegte sich die beste erste Aktion gegen ihn. Die blecherne Stimme in ihrem Ohr meldete sich wieder – die Stimme eines Mädchens, voller Knistern und Rückkopplungen.

»Ich hab hier einen Buchmacher, bei dem steht es vier zu eins gegen dich, Riotgrrl.«

Eve tippte gegen ihr Mikro. »Vier zu eins? Ist ja geil. Leg noch was drauf, Lemon.«

»Wie viel willst du aus deinen viel zu engen Taschen springen lassen, Zuckerpüppchen?«

»Fünfhundert.«

»Spinnst du? Das ist unsere ganze Reserve. Wenn du verlierst –«

»Ich hab achtmal hintereinander gewonnen, Lemon. Warum sollte ich jetzt verlieren? Außerdem brauchen wir die Knete. Es sei denn, du kannst Großvaters Meds anders herzaubern.«

»Da wüsste ich schon was.«

»Etwas, wo ich nicht auf unangenehme Tuchfühlung mit irgendeinem mittelalten Lohnsklaven gehen muss?«

»Tja, dann eben nicht.«

»Setz die Knete. Fünfhundert.«

»Tststs«, lautete die Antwort. »Aber du bist der Boss.«

»Und lass dir einen Beleg geben, ja?«

»He, das ist mir nur ein einziges Mal passiert …«

»Noch dreißig Sekunden für die letzten Einsätze!«, schrie die EmCee.

Eve schaute auf ihre Anzeigen und sagte ins Headset: »Cricket, verstehst du mich?«

»Nein, ich verstehe dich nicht«, kam es knackend aus dem Kopfhörer. »Aber ich höre dich, wenn du das meinst.«

»Sehr lustig. Hat Großvater deine Humor-Software wieder mal nachjustiert?«

»Ich werde ständig verbessert.«

»Ich sag ihm, dass er dranbleiben soll.« Sie starrte den Goliath auf ihren Monitoren an. »Ich fang mal mit einem Rechtsausleger an und ziele auf die Optik, klar?«

»Klar bis in die Knochen.«

»Du hast keine Knochen, Crick.«

»Ich bin so, wie mich mein Schöpfer gewollt hat.« Ein metallischer Seufzer. »Der alte Drecksack …«

Lemons Stimme knisterte in Eves Ohr. »Alles klar. Siehst du meinen hübschen Hintern? Ich bin beim NeoMeatTM-Stand.«

Eve ließ den Blick rasch über die Menge schweifen. Fast alles Schrottsammler und Einheimische, die nach einer anstrengenden Arbeitswoche Dampf ablassen wollten. Sie sah eine Schar von der Bruderschaft, sechs Typen in ihren altmodischen roten Soutanen, die inmitten des tosenden Lärms der Kuppel laut von genetischer Reinheit und den Übeln der Kybernetik predigten. Auf ihrem scharlachroten Banner prangte ein großes schwarzes X – ein X von der Sorte, an die sie gerne Leute nagelten, wenn das Gesetz nicht hinsah.

Weiter unten, am Rand der Arena, erblickte Eve ein schmächtiges Mädchen in einer alten, viel zu großen Lederjacke. Ein strubbeliger, kirschroter Haarschopf, darunter jede Menge Sommersprossen, auf der Stirn eine Schutzbrille und um den Hals ein eng anliegendes Halsband. Eine kleine Hand in einem fingerlosen Handschuh winkte ihr durch die Gitterstäbe der KampfKuppel zu.

»Hab dich«, antwortete Eve.

Die unnachahmliche Lemon Fresh hüpfte aufgeregt auf und ab und stieß die Hände mit dem Hörnerzeichen in die Luft.

»Okay, die Wette läuft, meine Allerbeste«, gab sie durch. »Fünf Hunnis bei vier zu eins. Hoffen wir mal, dass du deinen Wumms nicht in der anderen Hose gelassen hast.«

»Hast du die Quittung?«

»Es ist ein einziges Mal passiert, Evie …«

Eve richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihren Gegner. Ihre Finger huschten in den Handschuhen über die Umgebungssteuerung. Sie kannte das Gerücht, dass die Kuppelkämpfe in den großen Arenen auf dem Festland alle virtuell seien, aber hier in Dregs ging es bei diesen Veranstaltungen noch streng altmodisch zu: recycelt, aufgemotzt und umfunktioniert. Wie alles andere auf der Insel. Die Bestätigung, dass die Umgebungssteuerung mit ihrer Konsole verbunden war, flackerte über Eves Display. Sie kippte den Boden unter dem Goliath ein wenig an, nur zum Testen.

Der große Bot stolperte, als sich die Platten unter seinen Füßen bewegten. Eve fragte sich, was wohl in seinem Computerhirn vor sich ging. Ob er wusste, dass er heute Abend sterben würde? Ob es ihm überhaupt etwas ausmachte, wenn er nicht darauf programmiert war?

Die Menge schrie auf, als der Boden sich neigte und die miteinander verbundenen Stahlplatten durch Eves Fingerübungen in eine wellenartige Bewegung versetzt wurden. Die EmCee hatte sich in die Beobachtungskabine über dem Schlachtfeld zurückgezogen, aber ihre Stimme tönte immer noch aus den Lautsprechern.

»Wie ihr seht, ist die Umgebungssteuerung an den ersten Ritter übergeben worden. Nach den üblichen Regeln der KampfKuppel darf unsere Kämpferin somit fünf Abrissbirnen einsetzen, plus Oberflächenmodulation. Für die Frischlinge da draußen: Das bedeutet … Ach, frag doch deinen Papi, was es bedeutet, wenn ich ihn morgen früh wieder nach Hause schicke. Noch zehn Sekunden, dann geht’s zur Sache!«

Auf den Bildschirmen wurde ein Countdown eingeblendet, in den Ecken drehten sich die Logos von Daedalus Tech und BioMaas Inc. Das Publikum zählte laut mit, schwitzende Handflächen umklammerten rostige Gitterstäbe.

»Fünf …«

Eve kniff die Augen zusammen, ihr Lächeln war jetzt schmal wie eine Rasierklinge.

»Vier …«

Fräulein Blechmix kauerte sich wie ein Sprinter auf dem Startblock zusammen.

»Drei …«

Der Goliath stand immer noch reglos wie ein Stein da.

»Zwei …«

»Zusammen stark«, flüsterte Lemon.

»Eins …«

»Auf immer zusammen«, erwiderte Eve.

»KRIEG

Eve ließ ihre Heuschrecke losstürmen und kippte mit der Umgebungssteuerung den Boden an, sodass er zu einer Rampe wurde, von der sich ihre Machina mit dem Aufbrüllen von viertausend PS abstieß. Der Goliath hob eine Dreitonnenfaust, um die Heuschrecke zu zerschmettern, aber auf Eves Befehl hin kippte der Boden unter seinen Füßen wieder. Der große Logika stolperte, seine Füße rutschten über die Bodenplatten und Fräulein Blechmix landete auf seiner Schulter. Kompressoren jaulten auf, dann stieß Eve ihre Spitzhacke so heftig durch die rechte Optik des Goliaths, dass sie auf der Rückseite des Schädels wieder herauskam.

»Der erste Treffer geht an Fräulein Blechmix!«, schrie die EmCee. »Tod von ooooben!«

Die Menge tobte. Eves Lächeln wurde breiter, sie spürte, wie ihr die Zuneigung des Publikums von den Fingerspitzen aus den ganzen Arm heraufkroch. Als sie die Hacke aus dem Schädel des Goliaths herauszog, schloss sich die Faust des großen Logikas um Fräulein Blechmix’ Unterarm und zerdrückte die Panzerung wie Papier.

»Er hat dich!«, kreischte Cricket auf. »Mach dich los!«

Eve spürte den Druck durch ihren Steuerärmel, doch die Servodämpfer sprangen an, bevor der Schmerz spürbar wurde. Sie schlug mit ihren Krallen zu und riss die Schulter des Goliaths auf, dann wurden Eve und ihre Heuschrecke unter metallischem Kreischen quer durch die Kuppel geschleudert. Fräulein Blechmix prallte gegen das Gitter und zerquetschte dabei ein paar Finger, die nicht rechtzeitig losgelassen hatten. Eve biss sich auf die Zunge, ihr Kopf krachte gegen den Pilotensitz. Den Rest konnte sie gut abfangen und kam gerade noch rechtzeitig auf die Beine, als der Goliath zum Angriff überging.

»Alles klar bei dir?«, erkundigte sich Lemon.

»Alles in Butter …« Sie zuckte kurz zusammen.

»Umgebungssteuerung!«

Auf Eves Monitoren scrollten die Schadensmeldungen mit hundert Buchstaben pro Sekunde herein. Sie ließ den Boden weiterhin schwanken, um die Attacke des Goliaths zu stören, während ihre Finger über die Steuerung rasten und die erste der ihr zustehenden Abrissbirnen auslösten. Eine gewaltige Kugel aus rostigem Eisen schwang von der Decke und der große Bot bremste schliddernd ab, um ihr auszuweichen. Fräulein Blechmix war wieder auf den Beinen und rannte zum Rand der Kuppel, während Eve eine weitere Kugel schräg hinter dem Goliath auslöste, dort, wo er mittlerweile blind war. Die rostige Kugel erwischte ihn an der Schulter und riss zur Freude der Zuschauer die mit Einsatzstahl verstärkte Panzerung auf. Der große Logika duckte sich tief hinab und wich damit einer dritten Kugel aus. Eve schmeckte Blut im Mund, während ihre Finger fieberhaft im Steuerhandschuh tanzten. Sie hielt sich den Goliath so weit vom Leib, dass sie selbst genug Spielraum bekam.

Dann gab sie Fräulein Blechmix die Sporen, brachte sie in Schlagdistanz. Wieder ließ sie den Boden seitlich wegkippen, erwischte den großen Logika auf dem falschen Fuß und schlug ihm die Klauen in die aufgerissene Schulter. Der Gegenschlag des Goliaths verfehlte sie wegen des schwankenden Bodens um einiges, und Eve wich den Abrissbirnen elegant aus.

»Sie hat ihr Pulver noch nicht verschossen, Leute!«, verkündete die EmCee.

Ein tiefes Grollen entstieg dem Publikum. Der rechte Arm des Goliaths hing schlaff an der Seite herunter und ein rascher Scan bestätigte, dass seine Schulterhydraulik Schrott war.

»Guter Schlag«, knisterte Lemons Stimme in Eves Ohr. »Mir ist schon ganz kribbelig in meinen Pantalons.«

»Den hab ich mir von alten Kickboxing-VRs abgeguckt«, erwiderte Eve.

»Ich dachte, die guckst du dir wegen der Sixpacks und der superkurzen Shorts an.«

»Na ja, das eine schließt das andere ja nicht aus.«

»Werd bloß nicht übermütig, Evie!«, ertönte Crickets warnende Stimme. »Du musst Druck machen, solange du kannst! Dieser Goliath hat dich gleich analysiert!«

Eve wischte sich die Stirn an der Schulter ab. Jetzt bestand sie nur noch aus Adrenalin und einem breiten Grinsen.

»Ganz ruhig, Crick. Ich hab jetzt die ID-Nummer von dem Kerl.«

Der Goliath hatte sich zur Bestandsaufnahme ein Stück zurückgezogen, zwischen ihm und Fräulein Blechmix lag eine Barriere aus verbogenem Metall. Aus seinem rechten Arm blutete Kühlmittel, aus dem Loch in seiner Augenhöhle sprühten hellblaue Funken. Da mittlerweile drei Abrissbirnen hin und her schaukelten und er nur noch eine funktionierende Optik hatte, wusste Eve, dass es dem großen Bot schwerfallen würde, die Ziele im Auge zu behalten. Sie musste nur noch von seiner blinden Seite aus zuschlagen und dabei nie so lange stillstehen, dass er sie direkt erwischen konnte.

»Na gut, dann schicken wir diesen BadBot mal in die Wiederverwertung.«

Eves Fingerspitzen drückten eine Taste, die letzten beiden Abrissbirnen lösten sich von der Decke und hielten direkt auf den Kopf des Goliaths zu. Aber dann sprang der riesige Bot zum großen Erstaunen der Menge auf eine Barrikade und schnappte sich eine der schaukelnden Ketten. Er riss die Abrissbirne aus ihrer Verankerung in der Kuppeldecke und sprang wieder hinab, die verrosteten Kettenglieder fest um die Fingerknöchel gewickelt. Dann holte er mit seinem gewaltigen Arm aus.

»Ein unerwarteter Zug von diesem Goliath, Leute! Sieht aus, als wäre er ein echter Straßenkämpfer!«

»Pass auf!«, rief Cricket.

Zehn Tonnen kugelförmigen Eisens flogen auf sie zu – genug, um ihre Heuschrecke in einen Haufen Schrott zu verwandeln. Eve wich zur Seite aus, kippte den Boden und sprang mit ausgestreckten Klauen in die Luft. Sie packte eine über ihr vorbeisausende Abrissbirne, segelte über den ausgestreckten Arm des Goliaths hinweg und ließ sich in einem perfekten Bogen direkt auf den Kopf des großen Logikas fallen. Die Zeit dehnte sich, jede Sekunde kam ihr vor wie ein ganzer Tag. Begeistertes, ohrenbetäubendes Brüllen der Menge. Die leuchtende Optik richtete sich auf sie, als der Goliath seine massige Faust nach hinten zog. Mit Lemons Kampfschrei im Ohr und Crickets knisternder Warnung im Kopf dachte sie an zweitausend saubere Credits in ihren schmutzigen Händen und an die vielen schönen Dinge, die man damit kaufen konnte.

Dann stieß sie einen heiseren Schrei aus und holte mit ihrer Spitzhacke aus. Das Blut rauschte ihr vor Mordlust durch die pochenden Adern, während ihre Finger der Umgebungssteuerung den entschlossenen Befehl gaben, den Boden abermals zu neigen, damit der Goliath direkt in ihren Todesstoß taumelte.

Aber es passierte – nichts.

Die Platten unter dem Goliath bewegten sich keinen Zentimeter. Eves Kampfschrei verwandelte sich in ein schrilles Krächzen, sie hämmerte noch einmal auf der Steuerung herum, die Spitzhacke sauste ohne jede Wirkung herab, dann erwischte sie der Goliath mit einem gewaltigen Hieb.

Die Erschütterung war ohrenbetäubend und riss Eve in ihren Gurten so brutal nach vorne, dass ihr die Zähne im Schädel klapperten. Ihre Machina flog nach hinten durch die Kuppel, grelle Funken sprühten und kaputte Teile regneten von ihr herab. Fräulein Blechmix landete krachend auf dem Boden der Arena und rutschte dort mit metallischem Kreischen und Splittern weiter.

»Oh, Blechmix ist AB, schrie die EmCee. »Startschuss für den zweiten Ritter!«

Erstickender schwarzer Rauch im Cockpit. Eves Anzeigen waren tot, alles war tot. Schmale Lichtstreifen drangen durch die kaputten Nähte ihrer Machina. Eve hatte das Gefühl, jeder Zentimeter ihrer Haut wäre zerschrammt, jeder Knochen im Leib gebrochen.

»Steh auf, Riotgrrl!«, ertönte Lemons Stimme in ihrem Ohr. »Sonst holt dich der BadBot!«

Eve hörte das Poltern schwerer, rasch näher kommender Schritte. Sie drückte auf den EJECT-Knopf, die Hydraulik jaulte leise und das Cockpit sprang auf. Keuchend und Blut spuckend versuchte sie sich aus dem Wrack zu befreien und dabei das Geräusch des herannahenden Goliaths zu ignorieren. Ihr Kopf dröhnte noch von der Wucht des Treffers. Kühlmittel, verschmorte Elektrik, Blut. Der Logika stapfte mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

Was hatte er verdammt noch mal vor? Der zweite Ritter war bereits auf dem Weg nach oben. Der Goliath müsste sich umdrehen, um sich seinem nächsten Gegner zu stellen. Stattdessen beugte er sich über sie und hob die Faust. Als wollte er …

»Raus da, Riotgrrl!«, schrie Lemon.

Als wollte er.

Eve versuchte sich frei zustrampeln, aber ihr Fuß hing im Steuerstiefel fest. Lemon kreischte. Die Menge japste förmlich vor Aufregung. Eve blickte nach oben in die kristallblaue Optik direkt über ihr und sah dem Tod ins Auge, einem achtzig Tonnen schweren Tod. Angst und Zorn stiegen in ihr auf, brannten in ihrer Brust und ihrer Kehle.

Sie wollte nicht zurückweichen. Sie wollte sich nicht abwenden. Schließlich war sie dem Tod schon einmal begegnet. Hatte ihm ins Gesicht gespuckt. Und sich mit Zähnen, Klauen und Tritten aus der schwarzen Stille bis hierher zurückgekämpft.

Das hier ist nicht mein Ende,

sondern bloß ein weiterer Feind.

Statische Entladungen tanzten auf ihrer Haut. Alles in ihr bäumte sich auf, rohe Gewalt pulsierte in ihren Schläfen, als die Faust des Goliaths niederfuhr. Kalte Wut stieg in ihr auf und kam zwischen ihren Lippen hervor, als sie die Hand hob und schrie. Sie schrie.

UND SCHRIE.

Und der Goliath erstarrte.

Dann fasste er sich an den Kopf, als verspürte er Schmerzen.

Aus seinen Augenhöhlen stoben Funken, regneten auf seine Brust herab. Der große Bot fing an zu zittern. Und mit einem grauenvollen metallischen Stöhnen, dem Zischen schmorender Relais und dem fiesen Knistern und Knacken durchbrennender Schaltkreise kippte er nach hinten, fiel wie abgeschaltet zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Als er aufschlug, zuckte Eve zusammen, der Gestank brennenden Plastiks mischte sich mit dem Blutgeschmack auf ihrer Zunge. Die Menge war verstummt und starrte wie gelähmt auf das magere, ölverschmierte Mädchen, das noch immer in seiner Machina gefangen saß. Eve hielt den Arm immer noch lang ausgestreckt mit zitternden Fingern nach oben.

Bildeten sie sich das alles nur ein? Waren sie auf schlechten Drogen? Oder hatte dieses Mädel gerade mit einer einfachen Handbewegung einem Logika von achtzig Tonnen den Strom ausgeknipst?

»Evie«, meldete sich Lemons Stimme in ihrem Ohr. »Bist du okay, Evie?«

Eve musterte benommen die verstummte Menge rings um sie herum.

Die rauchenden Überreste des Goliaths.

Ihre ausgestreckten Finger.

»Ich glaube, von okay bin ich meilenweit entfernt, Lem …«