Weiches Begräbnis

Über Fang Fang

Foto: © Wu Baojian

Fang Fang ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas. Sie wurde 1955 geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. Sie hat Romane, Novellen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Stets spielten die Armen und Entrechteten in ihren Werken eine große Rolle. 2016 veröffentlichte sie den von der Kritik gefeierten Roman Weiches Begräbnis, für den sie mit dem renommierten Lu-Yao-Preis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien von ihr auf Deutsch bei Hoffmann und Campe der Spiegel-Bestseller Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt.

 

Der Übersetzer

Michael Kahn-Ackermann, Jahrgang 1946, studierte Sinologie an der LMU München und in Peking. 1988 war er Gründungsdirektor des Goethe-Instituts Peking. Er lebt in Nanjing. Übersetzung diverser chinesischer Werke, zuletzt Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel und Fang Fangs Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt (Hoffmann und Campe 2020).

Fußnoten

19661976

Provinz im Südwesten Chinas

Stadtviertel in Wuhan

Roman von Cao Xueqin (17151763), Höhepunkt klassischer chinesischer Prosaliteratur. Die weibliche Hauptfigur heißt Lin Daiyu.

Xiao (, »klein«, in Verbindung mit dem Familien- oder Vornamen, ist eine häufig verwendete persönliche Bezeichnung oder Anrede für dem Sprecher nahestehende oder untergeordnete jüngere Personen. Das Gegenstück für ältere oder höhergestellte Personen ist lao (), »alt«. Über das tatsächliche Alter der Person sagt die Bezeichnung nichts aus.

Ein Fabeltier, Symbol des unbestechlichen und rechtschaffenen Beamten

Im Chinesischen steht der Familienname vor dem Eigennamen. Die Zahl der Familiennamen ist begrenzt, der Eigenname wird von den Eltern frei gewählt.

See im Stadtgebiet Wuhans, exklusive Wohngegend

Ein Kosename, etwa »Schätzchen«

»Tante«, »Onkel«, »Großvater«, »Großmutter«, »Schwester«, »Bruder« werden häufig als respektvolle und zugleich Nähe ausdrückende Anreden verwendet, sie bezeichnen hier kein Verwandtschaftsverhältnis.

Auf Chinesisch fazaishu, etwa »Bäumchen, schüttel dich«

In der Porzellanbemalung häufig verwendetes Motiv, illustriert die Geschichte des Weisen Guiguzi aus der Zeit der Streitenden Reiche (475221 v. Chr.), der seine Eremitenhöhle verlässt, um einen Schüler zu retten. Traditionell wird sein Wagen von einem Tiger und einem Leoparden gezogen.

Figur eines Propagandafilms aus dem Jahr 1974, Prototyp des ausbeuterischen, brutalen Großgrundbesitzers, der mit dem Satz »Hu Hansan ist wieder da« die aufrührerische Landbevölkerung seiner Heimat einschüchtert. Der Satz ist in die heutige Internetsprache eingegangen.

Das Zeichen »cha« (), »Tee«, ist zugleich ein Familienname.

»Er Niang« (), »Zweite Mutter«, Anrede für die (Haupt-)Konkubine des Vaters

Verfilmung des historischen Romans Die Drei Reiche, Autor: Luo Guanzhong (), ca. 1330–ca. 1400 n. Chr.

Berühmter und teurer chinesischer Hirse-Schnaps

Eine besondere Art von Nudeln aus der Provinz Shanxi in Nordwest-China, die mit einem Messer vom Nudelteig abgehobelt werden

In Teilen der Provinz lebte die bäuerliche Bevölkerung traditionell in höhlenartigen Wohnungen, die in den Lößboden gegraben werden.

Wortspiel: Die alte Bezeichnung für die Provinz Shanxi »Jin« () ist gleichlautend mit dem Zeichen »Jin« (), »voranschreiten«. Das Wort »Lao« (), »alt«, bedeutet zugleich »ständig«. Siehe Anm. S. 32.

19501953

Hauptstadt der Provinz Shanxi

In den sechziger Jahren wurden wichtige Fabriken aus Angst vor einem sowjetischen Angriff ins chinesische Hinterland verlegt, an die sog. Dritte Front.

Stadt im äußersten Süden Chinas, an Hongkong angrenzend

Flughafen von Wuhan

Während es im Chinesischen nur eine begrenzte Zahl von Familiennamen gibt, werden Vornamen von den Eltern nach Gutdünken erfunden.

Das »wu« () in Wuhan bedeutet »Waffe«.

Umgangssprachliche Bezeichnung für Yuan

Auf amtlichen Formularen wird neben dem Geburtsort auch der Herkunftsort der Familie angegeben.

Anspielung auf die Herkunft des Affenkönigs Su Wukong, Held des populären klassischen Romans Die Reise nach dem Westen

420589 n. Chr., Xie Tiao (, 464499 n. Chr.)

RMB, offizielle Bezeichnung der chinesischen Währung

Hauptstadt der Provinz Sichuan

Verse aus einem berühmten Gedicht Li Jings (916961 n. Chr.), des zweiten Kaisers der Südlichen Tang-Dynastie (937975 n. Chr.), aus der Periode der »Fünf Dynastien« (907979 n. Chr.)

Gleiche Bedeutung wie »Er Niang«, Bezeichnung der (Haupt-)Konkubine des Vaters

Im chinesischen volksreligiösen Buddhismus besteht die Unterwelt/Hölle aus achtzehn Ebenen und wird von einem »Höllenfürsten« () regiert.

Offizielle Bezeichnung für die öffentliche Demütigung, Folterung und anschließende Liquidierung von sog. Großgrundbesitzern und »reichen Bauern« einschließlich ihrer Familienangehörigen im Rahmen der »Bodenreform« (194851) durch die »armen und unteren Mittelbauern«. Diese Veranstaltungen wurden von sog. Arbeitsgruppen unter Führung kommunistischer Funktionäre und sog. Aktivisten organisiert und geleitet.

Anspielung auf ein Gedicht des großen klassischen Poeten Li Bai (Li Taipeh (), 701762), der angeblich ein entfernter Verwandter der gleichnamigen kaiserlichen Familie der Tang-Dynastie war, es aber vorzog, daraus keinen Nutzen zu ziehen

19111949, die Zeit zwischen dem Sturz der letzten kaiserlichen Dynastie und der Machtergreifung der Kommunisten

Mauer, die versetzt zum Haupteingang eines Anwesens steht und bösen Geistern den Zutritt verwehren soll

Provinzen im Westen, Nordwesten und Südwesten Chinas

Altes chinesisches Längenmaß, ca. 500 m

Offizielle Bezeichnung für die Machtübernahme durch die Kommunisten 1949

Chinesischer Politiker 19041997, »Vater« der chinesischen Politik der Öffnung und Reform nach der »Kulturrevolution«

Feldzug in Mittelchina von Juni 1948 bis Januar 1949, bei dem die kommunistische Rote Armee die Armeen der Nationalregierung entscheidend besiegte

Das Wort für »Hütte« (»lu«, ) ist gleichlautend mit »Ofen« (»lu«,).

1911 wurde in der Xinhai-Revolution die letzte kaiserliche Dynastie der Qin gestürzt, China wurde eine Republik.

Chinesisches Flächenmaß, 1 Mu = 666 qm

Eine auf den Bekämpfungsversammlungen gebräuchliche Foltermethode: Das Opfer wird mit ölgetränkten Tüchern eingewickelt und angezündet.

Während der »Kulturrevolution« wurden zwischen 1968 und 1976 nahezu sämtliche städtischen Jugendlichen mit Abschluss der Mittelschule unbefristet in entlegene ländliche Regionen zur »Umerziehung durch die arme Bauernschaft« verschickt.

Zum Neujahrsfest kleben viele Familien zwei rote Papierstreifen mit einem glückverheißenden Verspaar an die Haus-/Wohnungstür.

Pinsel, Tusche, Reispapier, Reibstein

Chinesisch: Jiang Jieshi (18871975), 19271949 Präsident der Republik China, 19491975 Präsident Taiwans

Die Grenzregionen zwischen der Provinz Sichuan und den heutigen Provinzen Hubei, Hunan und Guizhou

Tao () bedeutet »Pfirsich«.

Shi Yang (18891923), Ling Xiangqian (18921923), kommunistische Aktivisten, die 1923 als Führer eines Eisenbahnerstreiks in Wuhan hingerichtet wurden

Gemeint ist die »Kulturrevolution«.

Es gibt im Chinesischen nur eine sehr begrenzte Anzahl von Familiennamen. Der Familienname hilft daher kaum, eine Person ausfindig zu machen.

Koseform von Daiyun

Kleinste chinesische Münze

Name einer Volksgruppe und eines Königreichs auf dem heutigen Gebiet der Provinz Hubei (ca. 1000 v. Chr.–223 n. Chr.) mit Wuhan als Hauptstadt

Chongqing war für seine weit auskragenden »fliegenden Dächer« berühmt, die ein architektonisches Merkmal der Stadt bildeten. Die dazugehörigen Gebäude wurden in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts nahezu vollständig abgerissen.

Verszeile aus einem Gedicht des letzen Kaisers der Südlichen Tang-Dynastie, Li Yu (937978 n. Chr.)

Überraschendes Niesen deutet im Volksglauben auf Heimweh bzw. Sehnsucht nach einer nahen Person.

Enganliegendes Kleid mit seitlichem Schlitz

Berg in der Nähe Wuhans mit berühmter Friedhofsanlage

Wichtigster chinesischer Literaturpreis

Dass solche die historische Wirklichkeit verzerrenden Bezeichnungen auch bei uns zur Anwendung kommen, zeigt das Beispiel des in westlichen Medien stereotyp verwendeten »Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens«. Tatsächlich schoss die Armee beim Vorrücken in die Pekinger Innenstadt mehrere Kilometer vom »Platz des Himmlischen Friedens« entfernt auf Demonstranten. Auf dem Platz selbst wurde nicht geschossen.

. Abschnitt

Die Frau befand sich in ständigem Kampf mit sich selbst.

Sie war schon alt, sehr alt. Schlaff hing die Haut an ihr herab, nicht einmal eine ordentliche Runzel fand darauf Halt. Gesicht und Hals waren übersät von feinen Narben. Auf der kreideweißen Haut wirkten sie nicht wie von der Zeit gekerbt, sondern eher wie mit einem dünnen Pinsel Strich um Strich aufgetragen. Ihre Augen waren bereits trübe, doch wenn sie sich unverhofft weit öffneten, konnte man noch immer ein Funkeln darin entdecken.

Gewöhnlich starrte sie stumpf auf einen Fleck, als sei sie in Gedanken versunken und zugleich völlig teilnahmslos. Gelegentlich fühlten sich Passanten veranlasst, sie neugierig anzusprechen: »Großmütterchen, woran denken Sie?«

In solchen Momenten malte sich Verwirrung auf ihrem Gesicht, den Passanten anblickend, murmelte sie ein paar unverständliche Satzfetzen. Sie selbst hätte weder sagen können, was sie da vor sich hin gemurmelt, noch, ob sie überhaupt an irgendetwas gedacht hatte. Sie hatte nur die Empfindung, seltsame Dinge wollten mit Gewalt aus ihr hervorbrechen, als zerre etwas an ihrem Gedächtnis, womit sie um keinen Preis in Berührung kommen wollte. Sie leistete erbitterten Widerstand. Ihr Widerstand glich einem engmaschigen, undurchlässigen Netz, das Horden von Dämonen umschloss und fesselte, die jederzeit auszubrechen drohten. Ein Leben lang hatte sie gegen sie gekämpft, ein Leben lang dieses Netz mit sich herumgeschleppt.

Sie hatte seinen Rat befolgt und sich Tag für Tag auf Trab gehalten. Tatsächlich ging sie keiner bezahlten Arbeit nach, sondern beschränkte sich auf die Aufgaben einer Hausfrau. Sie putzte und wischte unermüdlich, kein Körnchen Staub war in der Wohnung zu sehen. Wer immer ihre Wohnung betrat, konnte sein Erstaunen nicht unterdrücken: »Mein Gott, bei euch ist es aber sauber!« Ihr Mann, ein Arzt, war mächtig stolz darauf gewesen.

Auf diese Weise war ihr Leben allmählich in geregelte Bahnen geraten.

So verging die Zeit. Wie Jahresringe aus einer undurchlässigen Folie legte sie sich Schicht um Schicht um ihre verdrängten Erinnerungen und deckte sie zu. Die Schicht wuchs Jahr um Jahr, wurde dicker und dicker und erstarrte zu einer festen Wand. Die in der Tiefe ihres Bewusstseins verborgenen Dämonen blieben fest dahinter eingesperrt.

Welcher Art waren sie? Sie hatte keine Ahnung.

Eines Tages, viele Jahre später, war ihr Mann aus der Klinik nach Hause gekommen und hatte mit ernster Miene von der »Großen Kulturrevolution«1 geredet. Im Krankenhaus hatte eine Versammlung die andere gejagt, Leute hatten Wandzeitungen über ihn verfasst, worauf stand, in seinem Lebenslauf gäbe es dunkle Flecken. Von Angst gepackt, begriff sie die Bedeutung dessen, was er ihr berichtete, nicht. Bis er ihr irgendwann plötzlich erklärte, sie habe nichts zu befürchten. Er werde sie beschützen. Es sei für sie am besten, sich nie mehr an die Vergangenheit zu erinnern. Ihre schlimmsten Feinde seien nicht die Leute da draußen, sondern all die Dinge, an die sie sich nicht erinnere. Würde man sie fragen, solle sie sagen, sie wisse von nichts, so sei es am besten.

Sie hatte nicht begriffen, dass seine Worte als Trost und Ermahnung gemeint waren, sie hatten vielmehr Angstschauer in ihr ausgelöst. Ihr schien, als besäße er die Kontrolle über die in ihrem Inneren verborgenen und nahezu verschwundenen Todfeinde. Worum ging es bei alldem? Wusste er etwas, was sie nicht wusste? Bei diesem Gedanken schlug ihr ein eisiger Schreckenshauch entgegen. Und die Quelle des Schreckens befand sich an ihrer Seite. Tag und Nacht, Minute um Minute, Sekunde um Sekunde.

Sie begriff, dass sie während all dieser Jahre den Mann, den sie innig liebte, zugleich zutiefst fürchtete.

Aber warum nur? Woher kam diese Empfindung, die sie mit Unruhe erfüllte und die sie nicht begriff? Verscheuchen ließ sich die Empfindung jedenfalls nicht.

Als man sie aus der reißenden Strömung des Flusses herauszog, hatte sie nichts am Leibe. Ihr Körper war vom Kopf bis zu den Füßen mit Wunden übersät. Der Mann, der sie gerettet hatte, erklärte, das Wasser habe sie vollständig gebleicht, nur das Haar sei schwarz geblieben, auf den ersten Blick seien die Wunden nicht zu erkennen gewesen. Zum Glück befanden sich mehrere Militärärzte zu Hausbesuchen im benachbarten Dorf, man brachte sie unverzüglich dorthin. Nach den ersten Notfallmaßnahmen schafften die Ärzte sie umgehend in die Klinik.

Erst über einen halben Monat später erwachte sie dort aus dem Koma. Als sie nach dem Aufwachen versuchte, auf die Fragen der Leute zu antworten, wurde ihr Blick plötzlich stumpf.

Woher sie käme? Aus welchem Dorf sie stamme? Wie alt sie sei? Wer zu ihrer Familie gehöre? Wie sie in den Fluss gestürzt sei? Ob das Boot gekentert sei? Oder ob irgendein schmutziger Kerl sie hineingeworfen habe? Ob sie im Wasser die Einzige gewesen sei? Die Fragen prasselten auf sie ein, mal klangen die Stimmen der Frager warmherzig und mitfühlend, mal schneidend und bohrend. Ihr Inneres wurde plötzlich von einem rasenden Schmerz erfasst. Sie krümmte sich auf dem Bett zu einem Knäuel. Stimmt, woher komme ich?, dachte sie bei sich. Wo bin ich zu Hause? Wie heiße ich? Wie bin ich in den Fluss gefallen? Keinerlei Eindrücke, keinerlei Erinnerung. Wieso kann ich mich nicht erinnern? Nicht einmal daran, wer ich bin? Sie begann zu schluchzen. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte sie.

Sie erinnerte sich wirklich nicht.

»Denk nach«, drängten sie die Leute. »Denk gründlich nach. Du wurdest aus dem Fluss gezogen. Fang damit an, vielleicht kommt dann die Erinnerung.«

Einer der Ärzte namens Wu untersagte mit Strenge den Leuten ihre Neugier. Sie habe vermutlich ein Trauma erlitten. Statt sie weiter mit Erinnerung zu peinigen, sollten sie lieber dafür sorgen, dass sie wieder zu Kräften komme.

Daraufhin hörten die Leute auf, sie mit Fragen zu quälen, sie redeten nur mal offen, mal hinter ihrem Rücken in mitleidigem Ton über sie.

Es war ein herrlicher Frühling.

Die Bäume vor dem Fenster waren übersät mit rosafarbenen Blüten. Die Blüten der Aprikosenbäume entlang der Außenmauer bildeten eine von Weiß überquellende Reihe, die ins Weiße des Mauerputzes überging, sodass, aus der Ferne gesehen, Blüten und Mauerwerk miteinander verschmolzen. In noch weiterer Ferne bewegten ein paar Ginkgo-Bäume ihre tiefgrünen Blätter, ihre kräftigen Stämme verrieten nicht mehr, wann sie gepflanzt worden waren. Die Jasminsträucher in den Ecken des Gartens begannen zu verblühen, doch noch verströmten die gelben Blüten strahlenden Glanz. Die ganze Farbenpracht drang mit Macht in ihr Auge und überwältigte sie. Trotz der noch immer kühlen Winde zwitscherten die mit dem wiedergekehrten Frühling zu frischem Leben erwachten Vögel aus voller Kehle. Inmitten dieser Szenerie und eingehüllt von diesen Tönen fand sie allmählich zu innerer Ruhe.

Später hatte ihr der Chor der Krankenschwestern, die sich immer wieder gegenseitig ins Wort fielen, den gesamten Ablauf ihrer Rettung und Heilung berichtet. Sie erzählten, dass niemand geglaubt habe, sie würde überleben, als die Ärzte sie in die Klinik brachten. Einmal sei sie von mindestens drei Ärzten für tot erklärt worden, die Leichenträger hätten sie bereits zum Ausgang transportiert. Nur der aufmerksame Doktor Wu habe bemerkt, dass sich ihr Mittelfinger leicht bewegte, und darauf bestanden, sie zur weiteren Beobachtung in der Klinik zu behalten. Und tatsächlich sei sie ein paar Tage darauf aus dem Koma erwacht. Die Erzählungen bewirkten, dass sich der Vorgang ihrer Wiederauferstehung tief in ihr Gedächtnis einprägte.

Eine Person hatte im Ablauf der Geschehnisse eine Sonderrolle gespielt, und zwar Doktor Wu. Ihm verdankte sie ihr Leben. Ihre Wiedererweckung vom Tode und die Existenz dieser Person reichten aus, ihr den Geschmack am Leben wiederzugeben. In dieser kurzen Episode waren sämtliche Gefühls- und Geschmacksregungen vereint, das Saure, das Süße, das Bittere und das Scharfe. Das, so dachte sie, genügte ihr als Lebensbeginn.

Und so hatte sie alles, was ihrem Gedächtnis entfallen war, die Vergangenheit, an die sich zu erinnern sie mit unerträglichem körperlichen Schmerz peinigte, gründlich aus ihrem Leben verbannt.

Der Verzicht auf Erinnerung ist nicht unbedingt ein Verrat an sich selbst, man vergisst oft, um weiterleben zu können. Das hatte Doktor Wu zu ihr gesagt.

Verglichen mit anderen Personen vorgerückten Alters, die täglich in den Parks spazieren gingen oder sich an Gruppentänzen auf öffentlichen Plätzen beteiligten, hatte ihr die Zeit allzu gnadenlos zugesetzt. Gemäß ihrem Eintrag im Melderegister war sie nun Anfang siebzig. Doktor Wu hatte das Formular damals für sie ausgefüllt und ihr Alter anhand ihres Aussehens geschätzt. Als Geburtstag hatte er der Einfachheit halber den Tag ihrer Rettung aus dem Fluss eingetragen. Diese Daten begleiteten ihr späteres Leben.

Ihrem Aussehen nach wirkte sie weit älter als andere Frauen in diesem Alter. Sie selbst hatte, wenn sie in den Spiegel blickte, das Gefühl, eine von Sorgen und Kummer ausgezehrte Person zu sehen. An den abendlichen Gemeinschaftstänzen nahm sie nicht teil, und sie mied den Umgang mit Außenstehenden. Das untätige Alleinsein ohne Abwechslung und der Mangel an menschlicher Nähe waren ihr zur Gewohnheit geworden. Sie hatte weder Verwandte noch Freunde. Gelegentlich versuchten die alten Frauen der Nachbarschaft, von sich aus Kontakt mit ihr aufzunehmen, und kamen vorbei, um sie zu einem gemeinsamen Spaziergang zu überreden, ein bisschen Bewegung sei ein Garant für ein langes Leben. Sie lehnte ab.

Nicht dass ihr die Vorstellung eines langen Lebens unangenehm gewesen wäre, es war vielmehr das Gefühl einer Bedrückung, die so schwer auf ihrer Seele lastete, dass sie den Wunsch aufzustehen überdeckte. Sie zog es vor, in schweigsamer Einsamkeit sitzen zu bleiben. Bei klarem, sonnigem Wetter saß sie auf den Stufen gegenüber der katholischen Kirche des Huayuanshan-Viertels3. Hob sie den Blick, sah sie auf die graue Masse

Unterwegs erzählte ihr Mann immer von merkwürdigen Begebenheiten. Eine davon betraf auch die »Kirche des Herrn«. Er erklärte ihr, dass das Herrscherhaus der Qing-Dynastie den Bau von Kirchen in China ablehnte. Aber die Ausländer seien ganz versessen darauf gewesen und extra aus weiter Ferne hierhergekommen, um Kirchen zu errichten. Als sie nicht mehr ein noch aus wussten, habe ihnen ein Chinese einen hilfreichen Tipp gegeben. Er habe ihnen empfohlen, den Bau einer »Tempelhalle des Großen Königs« () zu beantragen. Nach erfolgter Genehmigung sollten sie einfach im Dokument dem Zeichen »groß« () einen horizontalen Strich und dem Zeichen »König« () einen Punkt aufsetzen, dann würde daraus eine »Kirche des Herrn« (). Die Ausländer hätten die Idee mit Begeisterung aufgenommen und den Bau einer »Halle des Großen Königs« beantragt. Angesicht der Tatsache, dass es sich nicht um einen Kirchenbau handelte, habe der kaiserliche Hof umstandslos die Bewilligung erteilt. Nach Erhalt des Dokuments hätten die Ausländer die beiden Zeichen entsprechend geändert. Als die lokalen Behörden die Angelegenheit überprüfen wollten, stand auf dem Bewilligungsdokument unmissverständlich »Kirche des Herrn«, und auch das kaiserliche Siegel fehlte nicht. Sie hätten sich sehr gewundert, die Sache aber auf sich beruhen lassen. Dass man sie hinterging, waren sie gewohnt, da sei es auf dieses eine Mal mehr nicht angekommen. Die Geschichte

Dass sie jetzt hier saß, hatte jedoch mit der Geschichte nichts zu tun, sondern mit der von einer Sträucherhecke umgebenen Statue der Madonna von Lourdes auf der Spitze eines aus Steinbrocken errichteten kleinen Hügels. Sie zu betrachten bereitete ihr Freude. Auf ihrem Gesicht spielte stets ein reines und stilles Lächeln. Bei jedem ihrer Spaziergänge waren sie zu ihr hingegangen und hatten eine Weile dort verweilt, um sie zu betrachten. Beim ersten Mal hatte sie gefragt: »Wer ist sie?« Dasselbe hätten die Leute die Madonna bei ihrem Erscheinen damals auch gefragt, hatte ihr Mann geantwortet, und sie habe geantwortet: »Ich bin die von der Erbsünde Unbefleckte.« Sie verstand nicht, was das bedeuten sollte. Ihr Mann hatte mit seinem Zeigefinger die Zeichen in ihre Handfläche geschrieben. »Was bedeutet das?«, hatte sie gefragt. Und er hatte geantwortet: »Das bedeutet, frei von der Erbsünde zu sein.«

Sie verstand ihn nicht, aber seine Worte hallten in ihrem Herzen nach. Erst als sie die Kirche hinter sich gelassen hatten und gemächlich ein Stück weiter spaziert waren, hatte er hinzugefügt: »Es muss uns immer bewusst sein, dass wir auf dieser Welt zu denen gehören, die von der Erbsünde unbefleckt sind. Du und ich.«

Sie begriff nach wie vor nicht. Schließlich sagte er: »Merk dir einfach, dass es sich um die Madonna von Lourdes handelt, das genügt. Sie kann deinem Herzen Ruhe schenken.«

Bis heute verstand sie nicht, was ihr Mann damit hatte sagen wollen. Doch seither genügte der Anblick der Madonna, um in ihrem Herzen tatsächlich so etwas wie ein Gefühl der Ruhe aufkommen zu lassen, sogar ein Gefühl des Wohlbehagens, das sich in ihrem Körper ausbreitete. Was bedeutet nur ›von der Erbsünde unbefleckt‹?, dachte sie.

Eine hanffarbene Katze mit dem fratzenhaften Gesicht eines kleinen Kobolds kam, jedes Mal, wenn sie hier saß, herbei, um

In diesem Augenblick saß sie im Sonnenlicht am Straßenrand, einen Flechtkorb zu ihren Füßen. Aufgeschichtet im Korb lagen mit Mandarin-Enten oder Lotosblumen bestickte Einlegesohlen, Stickereien, die sie eigenhändig angefertigt hatte. Warum sie das konnte, verstand sie selbst nicht. Sie erinnerte sich nicht, es je gelernt zu haben. Aber als sie die Einlagen in die Hand genommen hatte, hatte sie sofort gewusst, was damit zu tun war. Sie hatte vordem als Haus- und Kindermädchen in der Familie eines Professor Ma gearbeitet. Einmal im Winter hatte ihr die Hausfrau ein Paar getragene Baumwollschuhe geschenkt. Sie waren ihr zu groß, deshalb hatte sie sich ein Paar Einlegesohlen genäht. Ohne nachzudenken, selbst ohne auf den Faden zu achten, war unter ihren Händen die Stickerei einer Begonienblüte entstanden. Professor Mas Frau hatte die Einlagen hin und her gewendet und am Ende bemerkt: »Du hast geschickte Hände. Hast du das gelernt? Du hast eine künstlerische Ader.«

Statt sich darüber zu freuen, hatte dieses Lob sie mit der Wucht eines Steinwurfs getroffen und bis ins Mark erschreckt. Eine unerklärliche Panik hatte sie überfallen. An sämtlichen Orten, die sich ihrem Blick entzogen, witterte sie Gefahren. Ein fremdes Gesicht, ein unbekannter Laut ließen sie vor Angst zittern. Seit Jahren begleitete sie dieses Gefühl. Sie hatte danach keine Nadel mehr angerührt. Viele Jahre verbrachte sie im Hause Ma. Erst

Ihr Sohn hieß Qinglin.

4. Kapitel

Ursprünglich hatte sie mit Qinglin in einem Mietshaus in einer schmalen Seitengasse der Tanhualin-Straße im Bezirk Wuchang gewohnt. Die Wohnung war ihnen zu Lebzeiten ihres Mannes zugewiesen worden. Viele Jahre verbrachten sie dort. Ihr Mann war jener Doktor Wu, der sie damals, als man sie aus dem Wasser zog, gerettet hatte. Sie liebte ihn über alles, er war nicht nur ihr Ehemann, er war zugleich ihr Lebensretter. Als sie aus dem Koma erwachte, war er die erste Person gewesen, die sie erblickt hatte. Der erste Mensch, den sie in ihrem neuen Gedächtnis gespeichert hatte.

Sie überlegte oft, wann genau sie sich in ihn verliebt hatte. War es beim ersten Anblick, oder geschah es, als sie sein Büro betrat? Sie wusste nicht mehr, aus welchem Grund sie dorthin gegangen war. Sie erinnerte sich nur, dass auf seinem Schreibtisch eine Ausgabe des Romans Traum der roten Kammer4 lag, die sie unwillkürlich in die Hand nahm, um darin zu blättern. Ohne sich dessen gewahr zu werden, murmelte sie dabei »Daiyu«. Die beiden Silben versetzten sie für einen Moment in Unruhe. Genau in diesem Moment betrat Doktor Wu das Büro. Als er sie im Buch blättern sah, trat auf sein Gesicht tiefes Erstaunen. Er nahm ihr den Roman aus der Hand, sah sie starr an, schien einen

Sie verstand nicht recht, was er meinte, aber sie behielt seine Worte im Gedächtnis. Denn der Schrecken, den sie in ihr hervorgerufen hatten, verwandelte sich auf der Stelle in ein Gefühl von Wärme.

Wenige Tage später empfahl Doktor Wu sie der Familie von Herrn Liu, dem Politkommissar des Militärbezirks, als Kindermädchen und Haushälterin. Der Politkommissar Liu war ein verdienter Revolutionär, auch seine Frau arbeitete als Funktionärin. Doktor Wu begleitete sie bis zur Kreuzung an der Hauptstraße und sagte dort mit bedeutungsschwerem Nachdruck zu ihr: »Ich denke, dort zu arbeiten ist das Beste für dich, es macht alles einfacher und wird dir womöglich auf deinem Lebensweg helfen.« Wieder verspürte sie den Anflug innerer Wärme, und mit einem Mal begriff sie, dass Doktor Wus Worte eine für sie außergewöhnlich bedeutsame Botschaft enthielten. Zugleich lag in dieser Botschaft aber auch etwas, das sie als bedrohlich empfand.

Von Liebe zwischen ihnen konnte damals keine Rede sein.

Es vergingen viele Jahre, doch er und der Klang seiner Stimme blieben ihr unauslöschlich im Gedächtnis. Als der Politkommissar befördert und daraufhin versetzt wurde, zog sie mit der gesamten Familie nach Wuhan. Frau Peng, die Frau des Politkommissars, behandelte sie gut, ein so perfektes Hausmädchen habe sie noch nie gehabt, sagte sie. Sie kochte Essen für die Kinder, putzte die Wohnung und führte ein Leben ohne besondere Ereignisse, einfach und friedlich. Weder trat sie eine andere Stelle an, noch dachte sie an einen Ortswechsel, auch eine Ehe kam ihr nicht in den Sinn. Wechselten ihre Arbeitgeber den Ort, folgte sie ihnen, sie hatte keine anderen Erwartungen an das Leben.

Sie war tief bewegt, ohne zu verstehen, warum. Mit einem Zittern in der Stimme sagte sie: »Mir geht es gut, und das verdanke ich Ihnen.« Er sah ihr fest und lange in die Augen. Sie erkannte an seinem Blick, dass zwischen ihnen ein Geheimnis existierte, von dem nur sie beide wussten. Worin es bestand, wusste sie nicht, doch ihr Herz begann auf einmal heftig zu schlagen.

Doktor Wu aß an diesem Tag mit der Familie des Politkommissars zu Abend. Auf dem Tisch standen Speisen, die sie mit höchster Sorgfalt zubereitet hatte. Im Verlauf der Unterhaltung während des Essens überraschte Doktor Wu die Familie mit der Nachricht, dass seine Frau an einer Krankheit gestorben war. Frau Peng legte ihre Stäbchen beiseite und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie hatte zu Xiao Yan5, seiner Frau, in einer besonderen, geradezu schwesterlichen Beziehung gestanden, sie hatten einst gemeinsam eine lebensgefährliche Situation durchlebt.

Sie stand an der Seite und spürte, wie ihr Herz bei dieser Nachricht wild pochte.

Politkommissar Liu seufzte eine Weile, dann fragte er: »Und du bist jetzt allein?«

»Ja, allein.«

»Und du willst nicht wieder heiraten?«

»Hör mal, du, ein ausgewachsenes Mannsbild, wie soll das angehen?«, sagte Politkommissar Liu. Dabei fiel sein Blick auf sie, und unwillkürlich deutete er auf sie: »Na, dann muss ich wohl den Heiratsvermittler spielen. Ihr seid doch alte Bekannte, und vom Alter her passt es auch.«

Doktor Wus Blick war dem Zeigefinger des Politkommissars gefolgt. Sie geriet in Panik und hätte sich am liebsten in ein Erdloch verkrochen, er dagegen sah sie mit einem Lächeln an. Und dieses Lächeln verriet ihr, dass ihm der Vorschlag gefiel.

So kam es, dass sie im gleichen Jahr die Familie des Politkommissars Liu verließ. Die drei Kinder der Familie, die sie großgezogen hatte, standen gemeinsam in der Tür und blickten ihr voller Wehmut nach, die Jüngste kämpfte mit den Tränen.

Sie wandte sich nicht um. Als sie auf den Arm des Doktors gestützt über die Schwelle ihrer Wohnung trat, war ihr erster Satz: »Warum wolltest du mich heiraten?«

Er lachte leise und sagte: »Ich hätte mir um dich Sorgen gemacht, wenn du einen anderen geheiratet hättest.«

Sie verstand, dass sich hinter seiner Antwort etwas verbarg, ohne recht zu begreifen, was er sagen wollte. Sie dachte einen Moment nach, dann entschlüpfte ihr unwillkürlich: »Das stimmt, hätte ich einen anderen geheiratet, wäre es mir genauso gegangen.«

Sie hatte kaum geendet, als eine unbestimmbare Angst in ihr aufstieg. Das Grau des Abends ging in Nachtschwärze über, mit zunehmender Dunkelheit verstärkte sich die Angst. Sie selbst hätte nicht sagen können, wovor sie sich fürchtete, aber die Angst wich nicht. Als Doktor Wu sie in die Arme schloss und sein Körper sich an ihren schmiegte, begann sie, am ganzen Körper zu zittern. Doktor Wu streichelte sie und flüsterte ihr zu: »Ich weiß. Ich weiß. Ich verstehe, ja, ich verstehe. Keine Angst, es ist alles gut.«

In der Nacht hatte sie einen so entsetzlichen Albtraum, dass sie vor Schreck aufwachte. Am nächsten Morgen stand sie in aller Herrgottsfrühe auf. Doktor Wu beobachtete sie vom Bett aus und sagte: »Beunruhige dich nicht. Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich werde dich beschützen. Ich habe dich geheiratet und hierhergebracht, weil ich weiß, wie du gerettet wurdest. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der deine Gefühle versteht. Du musst vor nichts Angst haben.«

Ein Tränenstrom brach aus ihr hervor, überwältigt von Gefühlen stürzte sie sich in seine Arme. Doch zur gleichen Zeit hatte sie ein Gefühl, als säße ihr ein feiner Stachel, scharf und vergiftet, im Rücken. Er folgte ihr, wohin immer sie ging, sie vergaß nie, auf der Hut zu sein, aus Angst, er könnte sie eines Tages stechen.

Von diesem Tag an hatte sie eine eigene Familie. Ihr Eheleben war voller Wärme und Glück, auch wenn sie eine ständige Unruhe begleitete, die sie nie verließ. Aber sie war nun keine Hausangestellte mehr, sondern eine Ehefrau in allen Ehren. Eine Rolle, die sie mit großer Befriedigung erfüllte.

Diese Gemütslage bestimmte ihr Alltagsleben. Sie stand täglich frühmorgens auf und bereitete ihm das Frühstück, sah ihm nach, wenn er die Wohnung verließ, um zur Arbeit zu gehen; wenn er zur Mittagspause aus der Klinik heimkehrte, stand das Mittagessen bereits auf dem Tisch; kehrte er nach dem Mittagsschlaf in die Klinik zurück, begann sie allmählich mit der Vorbereitung des Abendessens und wartete dann auf seine Rückkehr. Sie sorgte mit großer Aufmerksamkeit für ihn, achtete auf jede Kleinigkeit, die ihn betraf. Kleine Freuden mehrten sich in ihrem Herzen und begannen, die Unruhe daraus zu vertreiben. Vielleicht könnte ihr künftiges Leben so aussehen, dachte sie.

Sie wurde bald schwanger. Doktor Wu war überglücklich, und auch sie empfand eine freudige Erregung. Doch sobald sie allein

Doktor Wu unternahm täglich mit ihr einen Spaziergang zur Kirche, sie standen vor der Madonna von Lourdes. »Schau der Madonna in die Augen«, sagte er zu ihr. »Sie sagt dir: ›Keine Angst. Beunruhige dich nicht. Es ist alles in Ordnung mit dir.‹«

Der Blick der Madonna übertrug sich auf sie, und ihre Unruhe milderte sich. Doch sobald sie nach Hause zurückkehrte, stellte sie sich wieder ein. In seiner Ratlosigkeit brachte Doktor Wu sie zu einem Psychologen, den er über ihren Erinnerungsverlust informiert hatte. Der Psychologe vermutete, dass sie in der Vergangenheit einem extremen Trauma ausgesetzt gewesen sei. Um die Fessel zu lösen, müsse sie zunächst angezogen werden; wenn es ihr gelänge, sich zu erinnern, würde sich das Problem möglicherweise im Kern lösen.

Doch sie widerstand instinktiv der Erinnerung, denn sobald sie begann, nach Erinnerungen zu forschen, ergriff ihren Körper

Doktor Wu verfiel eine ganze Nacht lang in Schweigen. Sie wusste, dass er die Nacht schlaflos verbracht hatte. Am nächsten Morgen sagte er: »Lassen wir’s. Wahrscheinlich ist komplettes Vergessen die beste Lösung.«

Und so kam es, dass sie unter ständigen Angstattacken ihren Sohn gebar. Am Tag der Geburt hatte sie das Gefühl, die im Hinterhalt verborgenen Dämonen wollten hervorbrechen. Sie starrten sie unbewegt an, während sie unaufhörlich zitterte. Den Krankenschwestern, die sie beruhigen wollten, wurde die Sache zu viel, sie riefen Doktor Wu herbei. Man gestattete ihm, neben ihrem Bett zu sitzen. In ihrer Benommenheit überkam sie das Gefühl, dass Doktor Wu selbst ein Dämon sei, und ihre Angst steigerte sich in blankes Entsetzen. Mit schriller Stimme schrie sie auf ihn ein: »Hau ab! Verschwinde!« Hörbar für alle erwiderte er: »Nur keine Angst, es macht mir nichts aus, ich habe keine Familie außer dir. Ich liebe dich.« Sie schien ihn nicht zu hören, es war, als sei sie bereits vom Blick des Dämons behext. Ihr hysterisches Schreien schallte durchs ganze Klinikgebäude. Der geburtshelfende Arzt und die Krankenschwestern begriffen nichts und sahen sie ratlos an. Eine der Schwestern sagte: »Was ist mit dir los, alle Gebärenden wünschen sich doch sehnlichst, dass ihr Mann neben ihnen ist?« Sie keuchte und beachtete sie nicht.

Kaum hatte Doktor Wu den Raum verlassen, kam ihr Sohn ohne Komplikationen auf die Welt.

Als er das Klinikzimmer wieder betrat, war Doktor Wu tief bewegt, in seinen Augen schimmerten Tränen. Er streichelte ihr Gesicht und sagte: »Ein wunderhübscher Sohn, dank dir. Danke,

Ihr fehlte die Kraft zu antworten, Doktor Wu fuhr fort: »Du sollst verstehen, wie es in mir aussieht. Ich habe dich geheiratet, damit du in Ruhe und Frieden leben kannst. Solange ich da bin, brauchst du nichts zu fürchten.«

Vielleicht hatte dieser Trost eine außergewöhnliche Wirkung, jedenfalls ließ sich der Dämon, dessen Hervorbrechen sie ständig gefürchtet hatte, nicht mehr blicken. Der Sohn wuchs und gedieh von Tag zu Tag. Seine strahlenden Augen und sein kindlich unbefangenes Lachen leisteten den größten Beitrag zu ihrer inneren Ruhe. Sie hätte gern noch eine Tochter geboren, aber eine neue Schwangerschaft endete nach zwei Monaten mit einer Fehlgeburt, was beide sehr traurig machte. Wieder tröstete sie Doktor Wu: »Das macht nichts, ein Sohn ist genug für uns. Solange er gesund aufwächst, sind wir glücklich und zufrieden.«

Langsam verfloss die Zeit, nichts von dem, was sie befürchtet hatte, trat ein, der Dämon schien sich allmählich zu verflüchtigen.

5. Kapitel

Es trat etwas ein, womit sie nie gerechnet hatte: Ihr Doktor Wu würde sie nicht in ein gemeinsames Alter begleiten. Er starb unterwegs, als er die Wohnung verlassen hatte, um etwas zu erledigen.

Ein öffentlicher Bus aus Hankou wurde frontal von einem Zug angefahren, der die Stadt durchquerte. Die Kreuzung färbte sich rot von Blut. Unglücklicherweise befand sich auch Doktor Wu in diesem Bus. Als sie die Nachricht erhielt, erreichte sie, ihren Sohn im Schlepptau, nach mehrfachem Umsteigen die Unfallstelle. Im

Qinglin begann zu weinen und nach Kräften an ihr zu zerren: »Mama, steh auf! Steh doch auf!«

In einem Moment panischer Anstrengung richtete sie ihren Oberkörper auf und schrie den Rettungskräften entgegen: »Kein weiches Begräbnis! Er soll kein weiches Begräbnis haben!« Nach diesem Aufschrei hatte sie das Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten.

Qinglin umklammerte ihre Hand und zerrte an ihr, er begriff nicht, was sie da schrie. Nach der Beerdigung fragte er vorsichtig: »Mama, was ist ein weiches Begräbnis?« Sie sah ihn verständnislos an und antwortete kurz angebunden: »Weiches Begräbnis? Was für ein weiches Begräbnis?« Im Anschluss versank sie in völlige Abwesenheit.

Ihr war, als schwebten die beiden Worte hoch über ihr am Himmel. Auf ungreifbare Weise waren sie nah und zugleich unendlich weit entfernt. Dort in der Ferne sprach jemand laut, mit einer zugleich dröhnenden und greisenhaften Stimme. Sobald ihr Klang an ihr Ohr drang, überfiel sie der rasende Schmerz von unzähligen Stichen am ganzen Körper und raubte ihr die Kraft, Qinglin zu antworten.

Im Verlauf weniger Tage war ihr Doktor Wu, Vater ihres Kindes, aus einem quicklebendigen Menschen zu Asche verglüht, die in eine Urne aus Porzellan verpackt an einem Berghang begraben wurde. Von ihrem gemeinsamen Leben zeugte nur eine gerahmte Fotografie an der Wand, aus der herab er wie zu seinen Lebzeiten lächelnd und liebevoll auf sie sah. Wenn Qinglin außer Haus war,

Eines Tages entdeckte sie beim Abwischen der Fotografie überrascht, dass die Angst, die sich in ihrem Inneren festgesetzt hatte, verschwunden war. Die lauernden Dämonen, die ihr überallhin folgten, waren, zugleich mit dem giftigen Stachel in ihrem Rücken, vom Mann, der ihr täglich Trost gespendet hatte, mit sich fortgenommen worden. Als habe Doktor Wus Tod gleich einem Windstoß alles fortgeweht, was ihr Angst eingeflößt hatte. Ihr Herz wurde ruhig wie ein spiegelglattes Meer. Von da an glich ihr Leben einer weithin offenen und friedvollen Landschaft.

Sie war verwirrt. Sie begriff nicht, wieso der Weggang des Menschen, der sie geliebt und den sie geliebt hatte, ihrem Inneren unendlichen Frieden gebracht hatte.

6. Kapitel

Nach der Beerdigung ihres Mannes versank sie in einen dreitägigen festen Schlaf. Sie war erfüllt von einem tiefen Wohlbehagen und hatte das Gefühl, seit langer, langer Zeit nicht mehr so gut geschlafen zu haben. Es war bereits Mittag, als sie aufstand. Sie zog die Vorhänge auf, strahlendes Sonnenlicht strömte ins Zimmer, der Glanz drang durchs Fenster bis in ihr Inneres. Die Helligkeit kam unerwartet, überfiel sie mit einem Schlag, sie spürte, wie sie sich im Nu in ihr ausbreitete. Sie hatte plötzlich die Empfindung, ihr Leben werde von nun an glatt und ohne Hindernisse verlaufen. Dieses Gefühl gab ihr mehr Sicherheit und Selbstbewusstsein, als Doktor Wu es je vermocht hatte.

Qinglin war noch klein, das Leben musste weitergehen. Im gleichen Jahr verdingte sie sich wieder als Hausangestellte und Kindermädchen, etwas anderes hatte sie nicht gelernt. Zunächst

Qinglin bestand die Aufnahmeprüfung der Universität und ging nach Shanghai. Er studierte Architektur. Ihr Einkommen erlaubte es nicht, ihrem Sohn ein sorgenfreies Studium zu ermöglichen. Sie vermietete daher ihre Wohnung und ermöglichte ihm mit Hilfe ihres Lohns und der Mieteinnahme ein einigermaßen auskömmliches Studium. Qinglin war sich bewusst, was seine Mutter für ihn tat. Er arbeitete hart und schrieb ihr, er werde in Zukunft viel Geld verdienen und ihr eine große Wohnung kaufen. Sie freute sich über seine Absicht, ohne von der Aussicht auf eine große Wohnung sonderlich berührt zu sein. Sie war zufrieden, wenn es ihm gut ging.

Nach Abschluss des Studiums kehrte Qinglin nicht zu ihr zurück, weil ihr altes Wohnhaus abgerissen worden war und sie keine Möglichkeit gehabt hätten, zusammenzuwohnen. Außerdem hatte er den Ehrgeiz, Geld zu verdienen. Er entschloss sich, in den Süden zu gehen. Dort gebe es mehr Möglichkeiten, erklärte er seiner Mutter. Für sie wog jedes Wort ihres Sohnes schwer wie Gold. »Kümmere dich nicht um mich«, gab sie zurück. »Deine Mutter schämt sich, dass sie nicht für dich sorgen kann, mir genügt es, wenn du anständig lebst.«

Professor Mas Frau starb an Krebs. Sie war in ihren schwersten Stunden an ihrer Seite, auch im Moment ihres Todes. Am Tag des Begräbnisses war Qinglin eilig nach Hause zurückgekehrt. Er mietete im Huayuanshan-Viertel eine winzige Wohnung und sagte zu ihr: »Mama, du musst dich nicht mehr abplagen, ich kann dich jetzt unterhalten. Aber um dir eine Wohnung zu kaufen, reicht mein Geld noch nicht. Ein paar Jahre musst du noch durchhalten. Jetzt kommst du erst mal hier unter.« Und er fügte hinzu: »Warte, bis ich zu Geld gekommen bin, dann kriegst du von mir eine perfekte Wohnung.«

Ihr war es völlig gleichgültig, ob er zu Geld kam oder nicht, sie bemerkte lediglich, dass er abgemagert war, sich auf seiner Stirn erste Falten zeigten und sein Gesichtsausdruck dem seines Vaters zu ähneln begann. Das machte sie traurig.

Qinglins Aufenthalt war kurz. Seine Lebenserfahrung hatte ihn gelehrt, praktisch zu denken und zu handeln.

Sie blieb allein in ihrer kleinen Wohnung zurück. Wenn