Verliebt, verlernt, vergeben

 

 

 

Lisa Summer

 

Inhalt

Lieblings Mentor? Nicht wirklich!

Pubertiere und weitere Hindernisse

Unsere zukünftige Elite

Trautes Heim, Glück allein

Wer mag schon Umzüge?

Chaos ist mein halbes Leben

Vom Baum geküsst

M&M’s esse ich lieber

Ein Date zu fünft

Ich sollte nicht lauschen

Geschichte to go

Ein Sturm zieht auf

Vom Frosch geküsst

Nachbarschaftstratsch

Kaffeeklatsch

Ich hasse Ausreden

Noch mehr Tratsch

Missverständnisse

Epilog ohne Champagner für Lena

Lesetipp: Swedish Kisses

XXL-Leseprobe zu Swedish Kisses

Kapitel 1

Clara

Clara

Kapitel 2

Thore

Clara

Kapitel 3

Thore

Newsletter

Impressum

 

Lieblings Mentor? Nicht wirklich!

 

Mein Blick schweifte über die glücklichen Gesichter auf dem Schulhof. Lächelnde Kinder, so hatte ich mir das vorgestellt. Die morgendliche Sonne schien über das neue Schulgebäude hinweg und ein leichter Wind ließ meinen Pferdeschwanz tanzen. Jetzt musste ich nur noch wissen, wo ich hinmusste. Bisher hatte ich mit dem Direktor lediglich telefoniert. Ich sah mich um und suchte den richtigen Eingang.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Eine Frau in den Vierzigern sah mich an, als hätte sie mich bei irgendetwas Verbotenem ertappt.

»Ich bin Jana Claßen, die neue Referendarin, und habe gleich einen Termin bei Herrn Brandfach.«

Die Frau mit den kurzen braunen Haaren nickte wissend und reichte mir die Hand. »Ah ja, ich bin Sabine. Wir bleiben doch beim Du, oder?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter. »Komm mit, ich lass dich ins Sekretariatsgebäude. Kennst du die Schule schon?«

Ich schüttelte den Kopf, während sie an einem Stück weitersprach. »Wir haben im Grunde fünf Gebäude, die alle irgendwie miteinander verbunden sind. Dort ist das Sekretariat mit dem Lehrerzimmer und den Leitungsbüros, da die Turnhalle, daneben die Mensa, dann das Unterstufen-Gebäude und dahinter das für die Oberstufe und gegenüber im Altbau die Räume für die Naturwissenschaften und Informatik.«

Ich blickte ihrer Hand, die auf die einzelnen Gebäude wies, hinterher und versuchte, mir irgendwie alles zu merken.

»So, jetzt muss ich nur noch diesen blöden Schlüssel finden. Bei meinem Glück liegt er wieder ganz unten.« Sabine kramte in ihrer ledernen Umhängetasche, die bis oben hin vollgestopft schien. Brauchte ich auch so viel Zeug? Ich hatte für heute nur meinen Collageblock, etwas zum Schreiben, Essen und Trinken in meinem alten Unirucksack mit. Vielleicht sollte ich mir auch eine schicke Lehrertasche besorgen. Mit dem Rucksack kam ich mir nun, wo ich mich umsah, vor, als wäre ich selbst eine der Schülerinnen.

Meine neue Kollegin hatte den Schlüssel endlich gefunden und ließ mich rein. »Hier vorne ist das Sekretariat und gleich dahinter das Direktorat. Das Lehrerzimmer befindet sich oben und dort hinten ums Eck stehen die Drucker. Kaffee und Tee gibt’s im Lehrerzimmer.« Sie zwinkerte mir zu. »Dann hab einen schönen ersten Tag. Falls du es schaffst, ich hab in der großen Pause Aufsicht in der Mensa.«

»Klingt gut. Vielleicht sehen wir uns nachher. Dankeschön.« Sie nickte mir zu, dann drehte sie sich auch schon um und stapfte in die Mitte des Schulhofes, um zwei Jungs auseinander zu bringen, die aussahen, als würden sie sich jeden Moment prügeln.

Meine erste Kollegin war schon mal nett, hoffentlich kam ich auch mit den anderen gut klar.

Durchatmen. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Den Termin hatte ich erst in zehn Minuten, aber hier so lange rumstehen wollte ich auch nicht. Vielleicht war es besser, dass wenn ich schon eher kam, ich mich erst im Sekretariat anmeldete. Dort war um diese Uhrzeit sicherlich jemand.

Ich klopfte kurz und trat ein. Die Sekretärin nickte mir zu, dann legte sie den Zeigefinger auf ihre rosa angepinselten Lippen. Sie telefonierte. Gut, dann eben warten.

In den fünf Minuten, in denen ich mich im Raum umsah, klingelte es alle paar Sekunden an der Tür zum Gebäude, weil ein Kind reinwollte, um das Klassenbuch zu holen.

Endlich legte die Dame auf. »Sie sind die neue Referendarin«, stellte sie fest, noch bevor ich etwas sagen konnte.

Ich runzelte die Stirn und sie lachte. »Ich habe eben erst ihren Steckbrief kopiert und ins Lehrerzimmer gehängt. Herr Brandfach kommt gleich. Sie können das hier so lange ausfüllen.« Sie reichte mir einen Personalbogen und Datenschutzformulare.

Als ich gerade mit dem Ausfüllen fertig war, ging die Tür zum Nebenraum auf und ich erkannte den Direktor. Der Mann war sicherlich schon um die sechzig. Lange hatte er jedenfalls nicht mehr bis zur Pension.

»Ahh, Sie müssen Frau Claßen sein. Kommen Sie bitte herein. Herr Müller müsste auch gleich da sein.«

Ich folgte dem Direktor und setzte mich ihm gegenüber, an seinen halbrunden Schreibtisch, hin.

»Konnten Sie sich die Schule schon etwas ansehen?« Herr Brandfach trug definitiv ein Toupet. Dessen war ich mir sicher, und es war gar nicht so leicht, nicht ständig hingucken zu müssen, weil es leicht verrutscht schien.

»Nur von außen«, sagte ich und versuchte, ihm in die Augen statt auf den Kopf zu gucken. Ich verkniff mir das Grinsen und sprach leiser als gewohnt. Irgendwie war ich viel schüchterner, als ich vorhatte.

Der Direx nickte. Dann klopfte es und ein weiterer Lehrer kam herein. Ich stand instinktiv auf, da Herr Brandfach es ebenso tat.

»Morgen allerseits. Ist sie das?«

Ich schob die Augenbrauen zusammen. Der Mann musterte mich, als wäre ich eine Strafgefangene, die man auf der Straße aufgegabelt hatte. Hoffentlich war der Kerl nicht mein Mentor.

»Ähm, ja. Herr Müller, das ist Frau Claßen, die neue Referendarin. Frau Claßen, dies ist Ihr Mentor. Herr Müller hat ebenfalls Deutsch und Geschichte studiert. Er wird Sie die nächsten Monate begleiten und stellt sich in allen Ansprechfragen Ihnen zur Verfügung.«

Für einen kurzen Augenblick zuckte so etwas wie ein Lächeln über Herrn Müllers Lippen und ließ ihn gar nicht mal so schlecht aussehen. Doch dann strich er sich kurz über den Drei-Tage-Bart und sah wieder so genervt wie vor zehn Sekunden aus.

Der Direktor bot uns an, sich wieder hinzusetzen und legte mit seinem Monolog über die Schulphilosophie seiner Gesamtschule, meinen Rechten und Pflichten, dem Organisatorischen, und so weiter, los. Anschließend war Herr ›Arrogant und Dauergenervt‹ dran und erzählte mir etwas über die Klassen, in denen ich unterrichten sollte.

Eineinhalb Jahre. So lange musste ich es mit ihm aushalten. Langsam verstand ich, was alle immer damit meinten, dass der Stress im Referendariat mit den Mentoren und Seminarleitern stand und fiel. Und so genervt, wie der liebe Herr Müller nach einer Stunde im selben Raum mit mir tat, war ich mir sicher, dass die Zeit an dieser Schule noch ein Horror für mich werden würde. Warum hatte er sich überhaupt als Mentor gemeldet, wenn er offenbar keinen Bock auf mich hatte? Ich betete, dass er nur einen schlechten Tag hatte und bloß heute Morgen den Bus verpasst hatte oder so.

»Dann kommen Sie mal mit, ich zeig Ihnen alles. Mein Tag geht eigentlich erst nach der kleinen Pause um halb elf los, also haben wir noch ein bisschen Zeit.« Okay. Vielleicht war es das, meinetwegen konnte der Herr nicht ausschlafen.

Ich folgte ihm aus dem Büro und die Schulführung begann. Immerhin wirkte er jetzt etwas redseliger als vorhin und nicht mehr ganz so genervt. Mit etwas Glück hielt ich es die kommenden Monate mit ihm aus. Mir blieb sowieso nichts anderes übrig. Ich musste mich mit diesem Mann guthalten. Schließlich musste er seine Beurteilungen über mich an den Schulleiter weitergeben, der maßgeblich an meiner zweiten Examensnote beteilig sein würde.

Ich schaffte das schon ... Irgendwie.

 

Pubertiere und weitere Hindernisse

 

»Und, wie war es?« Lena blickte mir fragend ins Gesicht, während ich lieber meine Hände dabei beobachtete, wie sie gedankenverloren mit einem Stift spielten. Wir saßen auf einer Parkbank vor der Urft in der Sonne und ich hatte mir gerade als sie kam ein paar Termine in den Lehrerplaner geschrieben. Für Anfang November war es angenehm warm, vor allem, wenn ich an den letzten Winter dachte. So viel Schnee wie damals hatten wir ewig nicht mehr gehabt. Aber noch sah es nicht so aus, als würde es bald schneien.

Der heutige Tag löste gemischte Gefühle bei mir aus. Die Kinder waren wirklich toll gewesen. Gar keine Frage! Aber mein Mentor machte mir zu schaffen. Ich konnte ihn einfach nicht einschätzen.

»Keine Ahnung«, sagte ich.

Lena runzelte die Stirn.

»Na ja, schon schön und aufregend, aber auch komisch. Die Kids sind nett, ich habe eine sechste, eine achte und eine neunte. Die Pubertiere sind wohl manchmal etwas schwierig, aber irgendwie kriege ich das schon hin. Nur mein Mentor ist etwas − sagen wir − anstrengend. Ja ... das trifft es ganz gut. Erst hat er mich behandelt wie ein lästiges Anhängsel und gegen Mittag wurde er dann plötzlich recht freundlich. Vielleicht hatte er nur Hunger.«

»Hmm, das klingt nicht so pralle. Nimm nächstes Mal ein Snickers mit und drück es ihm in die Hand, wenn er stresst.« Lena grinste. Wahrscheinlich war das nicht einmal ihre schlechteste Idee.

»Und, wie war dein Tag? Konntet ihr euch auf ein Logo einigen?«, fragte ich. Sie und unsere beste Freundin Nina hatten erst vor ein paar Monaten beschlossen, eine gemeinsame Eventagentur zu gründen und so langsam kam alles ins Rollen.

»Jap, und ich liebe es.« Lena zog ihr neues Smartphone aus der Tasche, wischte ein paar Mal über das Display und hielt es mir hin.

»Verspielt und doch elegant«, antwortete ich, während ich das Logo mit dem Halbkreis drum betrachtete. »Gefällt mir.«

»Dankeschön. Wir überlegen bloß, ob wir bei der violetten Schrift bleiben. Mal schauen. Ein paar Wochen haben wir schließlich noch bis zum offiziellen Start.«

»Ich freue mich schon drauf. Ich finde es klasse, dass ihr zusammen etwas großzieht.«

»Ja, geht mir auch so. Und wie geht es bei dir jetzt weiter? Musstest du schon unterrichten?«

»Heute?« Ich lachte. »Nein, so schnell lässt man uns nicht auf die Kinder los. Ich soll aktuell nur hospitieren − und wenn mein Herr Mentor sich dazu herablässt, seine Stunden mit ihm besprechen und schauen, was ich mir davon mitnehmen kann.«

»Ist er denn zu den Schülern genauso arschig wie zu dir?«

Ich seufzte. »Ein Heiliger ist er jedenfalls nicht. Aber im Grunde ist sein Unterricht okay. Er ist halt sehr streng und wirkt dauergestresst, aber die Kinder scheinen damit gut zurechtzukommen. Fachlich schien er auch kompetent zu sein und er hat die Klasse gut mit einbezogen. Ich denke schon, dass ich etwas von ihm lernen kann und vielleicht habe ich ja Glück, und er war nur heute so mies drauf.«

Lena nickte. »Ich drücke dir die Daumen. Wollen wir dann jetzt in die Stadt gehen? Ich brauche neue Sportklamotten, vielleicht finden wir etwas«, wechselte sie das Thema.

Wir waren in Gemünd. Nicht unbedingt ein Hot Spot zum Shoppen, aber nah genug an unseren Wohnungen dran.

***

Ich stand in der Umkleide bei Peters, dem Sportgeschäft, und probierte ein paar Laufhosen, Shirts und Schuhe an.

Lenas Stimme drang von außen zu mir: »Wie schaut es eigentlich mit der neuen Wohnung aus? Steht der Termin für Samstag noch?«

Ich lugte aus der Umkleidekabine und trat einen Schritt hinaus. »Was sagst du?«

Lena begutachtete mit kritischer Miene meine Waden und den Allerwertesten. »Steht dir. Also, Samstag?«

»Sollte klappen«, sagte ich mit einem Schulterzucken. »Am Freitag bekomme ich die Schlüssel, dann will ich gleich die ersten Kisten rüberbringen und fix das Wohnzimmer streichen. Das hat ein ganz grausames Gelb, da bekommt man Kopfschmerzen. Ich hoffe, dass die Farbe dann bis Samstag trocken ist. Sonst müssen wir alles erst einmal in den anderen Räumen stapeln.« Ich verschwand zurück in die Umkleide. »Weißt du, ob Nina auch kann? Sie hat noch gar nicht geantwortet«, fragte ich hinterm Vorhang.

»Bestimmt, ich frage sie morgen, wenn wir uns im neuen Büro sehen.«

Ich zog ein anderes Sportshirt an und trat erneut hinaus. »Dankeschön«, sagte ich. »Und das hier?« Ich zeigte auf das Shirt.

»Steht dir. Sitzt auch gut, oder?«

Ich nickte, und trat ganz aus der Umkleide. »Kannst du kurz hier bei meinen Sachen bleiben? Ich möchte schauen, wie die Hose und die Schuhe auf dem Laufband sitzen.«

»Na klar, bis gleich.«

Ich drängelte mich an ihr vorbei und drehte eine kurze Runde auf dem Laufband. Ich war ewig nicht mehr Joggen. Irgendwie fehlte mir in den Ferien die Lust. Jetzt schnaufte ich schon nach zwei Minuten auf dem Band. Es wurde wirklich Zeit, dass ich wieder etwas für meinen Körper tat.

Beim Laufen dachte ich an die neue Wohnung. Noch vier Mal schlafen und ich hatte ein neues Schlafzimmer. Eine ganz neue Bleibe. Es war ein komisches Gefühl zu wissen, dass ich bald alleine wohnen würde. Ich mochte die WG. Aber der Eigentümer hatte Eigenbedarf angemeldet und nun mussten wir raus. Meine beiden Mitbewohner zog es nach Köln, ganz in die Nähe der Uni. Ich war die erste von uns, die das Studium beendet hatte, daher kam ich nicht mit.

Es hatte zwar einige Wochen gedauert, doch nun hatte ich eine süße kleine Drei-Zimmer-Dachgeschoß-Wohnung in einem alten Fachwerkhaus mitten in Kommern gefunden. Obwohl das Haus unter Denkmalschutz stand, war der Dachboden wunderschön ausgebaut worden, inklusiver neuer Fenster. Trotzdem graute es mir ein wenig vor den besonders heißen Sommer- und kalten Wintertagen.

Mit einem Hops sprang ich vom Laufband, als ich fertig war und ging zurück. »Ich nehme die Sachen«, sagte ich zu Lena, als ich an der Umkleide war, hängte die restlichen Klamotten an die Rückgabestange und zog mich um.

»Und jetzt? Ein Eis?« Lena sah mich mit funkelnden Augen an.

Sie erinnerte mich an früher, als ich noch ein Kind war. Auf der einen Seite kam es mir vor, als wäre das erst gestern gewesen und gleichzeitig fühlte ich mich mit einem Mal unendlich alt, dabei war ich gerade erst vierundzwanzig und hatte frisch den Master of Education in der Hand. Plötzlich geschah alles so schnell: Abschluss, Referendariat, eigene Wohnung ... »Eis klingt ausgezeichnet«, trällerte ich.

Wir liefen die Straße runter bis zu unserer Lieblingseisdiele und ich bestellte mir einen großen Becher mit Walnuss, Malaga und Stracciatella Eis, Sahne durfte heute auch nicht fehlen. Jetzt wo die neuen Sportsachen an meinem Handgelenk in der Tasche baumelten, kam ich mir gleich fünf Kilo leichter vor. Da war ein dickes Eis locker drin. Heute Abend würde ich es wieder abtrainieren. Ganz bestimmt ...

»Wirst du die anderen vermissen?«

»Tina und Philipp?« Ich blickte runter von der Brücke, auf der wir standen. Hier mündete die Olef in die Urft. Dann zuckte ich mit den Schultern. »Ja, irgendwie schon ... Wobei sie zusammen in den letzten Monaten ziemlich anstrengend waren. Dieses ständige hin und her zwischen ihnen. Mal waren sie getrennt, dann hörte man sie mitten in der Nacht miteinander vögeln und dann war wieder Funkstille zwischen ihnen. Aber ja, irgendwie werden sie mir fehlen. Es ist schön, zu wissen, dass jemand da ist, mit dem man abends einfach mal quatschen kann.«

»Ich wohne ja nicht weit weg«, sagte Lena mit einem Zwinkern und leckte einmal um ihr Eis herum, damit nichts runtertropfte. Anders als ich war sie ein Hörnchen-Typ, wenn es um Eis ging. Ich dagegen war nie ein Waffel-Fan gewesen und bestellte immer alles im Becher.

»Aber weiter als bisher«, sagte ich und seufzte.

»Dann rufst du halt an. Und jetzt wird kein Trübsal geblasen. Erzähl mir lieber noch ein bisschen mehr von deinem ersten Tag heute.«

»Na gut«, meinte ich und wiederholte, was ich heute Vormittag erlebt hatte. So viele Eindrücke auf einmal rüberzubringen war gar nicht so leicht und als ich abends im Bett lag, war ich froh, dass der Tag endlich rum war. Laufen war ich natürlich nicht mehr gewesen, aber immerhin hatte ich meine täglichen zehntausend Schritte geschafft.

 

Unsere zukünftige Elite

 

Herr Müller saß vor mir und studierte meine Notizen. Hätte er mir zuvor gesagt, dass er sehen wollte, was ich in seinem Unterricht protokollierte, hätte ich ordentlicher geschrieben. Denn eigentlich sollten die Unterlagen nur für mich sein. In jeder Stunde, die ich bei ihm oder den anderen hospitierte, wollte ich mir einen anderen Schwerpunkt setzten, auf den ich besonders achten wollte. Für mich – nicht für ihn. Und nun saß er dort an seinem breiten Pult, die Beine geschäftsmäßig übereinandergeschlagen und runzelte die Stirn über mein Gekrakel.

»Ich wusste nicht, dass Sie das lesen wollen, sonst hätte ich ordentlicher geschrieben«, murmelte ich kleinlaut und knetete meine Hände im Schoß.

Heute Morgen war Herr Müller nicht ganz so griesgrämig wie am Vortag gewesen. Trotzdem kam er mir wieder übermäßig streng vor. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass er über Nacht ein paar neue graue Strähnchen im schwarzen Haar dazubekommen hatte. Dabei waren die Schüler relativ ruhig gewesen. Was war es dann, was ihn so stresste?

»Und, welche Schlüsse ziehen Sie aus meiner Stundeneinführung?«

Ich schaute ihn fragend und mit großen Augen an. Gute Frage ... und keine Antwort. »Ähm ...«

Er hob gespannt eine Augenbraue. »Wie würden Sie sie beurteilen?«

»Ich fand es gut, dass Sie mit dem Quiz wiederholt haben, was Sie zu Jägern und Sammlern durchgenommen hatten. Aber ich hatte das Gefühl, dass immer nur die gleichen Kinder drankamen und die letzte Reihe nur wenig aus der Wiederholung mitgenommen hat. Aber immerhin war es ganz interessant als Stundeneinstieg.«

»Verbesserungsvorschläge?«

Ich presste die Lippen aufeinander. Die anderen im Seminar meinten bei der Einführungsveranstaltung letzte Woche erst, dass es immer besser wäre, die Mentoren nicht zu kritisieren. Aber wenn er darum bat ... »Vielleicht nicht ganz so trocken vorgehen. Holen Sie die Schüler mehr in ihrer Lebenswelt ab. Wir haben doch Tablets und die Interaktive Tafel, warum haben Sie das Quiz dann auf einer Folie über den OHP gemacht? Oder lassen Sie Gruppen bilden und die Kinder gegeneinander spielen und Sie stellen einen kleinen Gewinn. Dann macht vielleicht auch die letzte Reihe mit. Oder −«

»Schon gut. Ich weiß, was Sie meinen.« Wusste ich es doch, niemals den Mentor kritisieren. Herr Müller schaute auf die Uhr über der Tür. »Noch zwanzig Minuten, bis wir in meiner 9b sein müssen für die Deutschstunde. Das sind Grundkursler, also erwarten Sie nicht zu viel. Nach der Pause haben wir die Doppelstunde Geschichte mit allen dort. Und bevor Sie nach Hause gehen, möchte ich mit Ihnen den Lehrplan durchgehen. Bis nächste Woche legen Sie mir dann bitte die Stoffverteilungspläne für die drei Klassen in Geschichte vor, und übernächste Woche dann die in Deutsch. Ab dann werden Sie nach und nach meinen Unterricht in der sechs und der neun übernehmen. Und jetzt raus mit Ihnen, ich brauche auch meine Pause.«

Ich kniff die Augen zusammen. Wie schaffte er es nur jedes Mal, dass ich das Gefühl bekam, eine Belastung für Ihn zu sein? Fachlich war er wirklich ein guter Mentor und ich war mir sicher, dass er mich weiterbringen und ordentlich auf die Lehrproben vorbereiten würde. Aber menschlich hätte ich es kaum schlechter treffen können. Wie konnte man nur ständig so miesepetrig sein?

Ich trat hinein ins Lehrerzimmer, ging zu meinem Platz und knallte meine Tasche etwas zu heftig auf den Boden, sodass meine Thermosflasche durch den Stoff hindurch gegen das metallene Tischbein klirrte.

Sabine blickte auf. »Ach, du bist es.« Offenbar war sie völlig in ihren Kalender eingetaucht. »Und, wie war dein Start bisher?«

»Solide. Herr Müller fordert recht viel, habe ich das Gefühl.«

»Ja, der lässt seine schlechte Laune gerne an anderen raus. Man gewöhnt sich dran. Trotzdem kannst du von ihm einiges lernen. Deswegen hat der Chef ihn auch zu deinem Mentor gemacht. Nichts geschieht hier ohne Grund, merk dir das.« Sie klappte ihren Kalender lautstark zu, sodass ich kurz zusammenzuckte, und stand auf. »Schaffen wir es heute, zusammen zu essen?«

»Ich kann es nicht versprechen. Ich schätze, er will in der Pause wieder irgendetwas mit mir durchgehen.«

Sie hob die Schultern und ihre blonden Locken zogen sich kurz zusammen, ehe sie wie eine Spirale auseinander floppten. »Du weißt ja, wo du mich findest.« Mit diesen Worten ließ sie mich alleine im leeren Lehrerzimmer zurück.

Ich biss ein großes Stück meines Brotes ab und schob zwei Streifen Paprika hinterher, dann packte ich alles zusammen und lief zur Klasse der 9b. Hier würde ich den meisten Unterricht haben: fünf Stunden Deutsch, drei Geschichte. Den Rest würde ich in der sechsten halten. In der zehnten sollte ich nur hospitieren.

Ich blickte in rund fünfundzwanzig verwirrte Gesichter und hörte den ein oder anderen leise fragend murmeln, ob ich eine ›Neue‹ sei, dass ich ganz schön alt aussähe dafür und ob ich vielleicht wieder eine dieser Praktikantinnen sei.

Ich räusperte mich und schloss die Klassenzimmertür auf. »Ich bin Frau Claßen, die neue Referendarin und werde demnächst euren Unterricht in Deutsch und bei der 9b auch in Geschichte übernehmen. Und nun seid lieber ruhig, Herr Müller müsste jeden Moment hier sein. Ist hier hinten noch irgendwo ein Platz frei?«

»Da, neben Thomas«, sagte ein Junge mit hellbraunem Haar und dem ersten Ansatz eines Bartpflaums, und nickte zum Platz links außen.

Thomas verdrehte die Augen und schob widerwillig seinen Kram zur Seite, damit ich Platz hatte.

Herr Müller kam rein, starrte dabei auf sein Handy und machte eine noch finstere Miene als gewohnt, dann pfefferte er seine Ledertasche auf den Schreibtisch und steckte das Smartphone mit zuckender Nase in die Umhängetasche. »Guten Morgen«, sagte er unwirsch. Dann blickte er zu mir und nickte kurz.

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass er für eine Millisekunde lächelte, als er mich sah, ehe er sich zur Tafel umdrehte.

»Na das kann ja was werden«, stöhnte einer der Jungs vor mir, der offenbar mitten im Stimmbruch steckte.

»Hat bestimmt Stress mit seiner Alten«, meinte der Junge neben ihm.

»Oder seiner Emo-Tochter«, kiekste eines der Mädchen.