Die Komplizen

John Katzenbach

Die Komplizen

Fünf Männer, fünf Mörder, ein perfider Plan.

Psychothriller

Aus dem amerikanischen Englisch von
Anke Kreutzer und Eberhard Kreutzer

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über John Katzenbach

John Katzenbach, geboren 1950, war ursprünglich Gerichtsreporter für den Miami Herald und die Miami News. Bei Droemer Knaur sind bislang sechzehn Thriller von ihm erschienen, jeder von ihnen ein Bestseller. Zweimal war Katzenbach für den Edgar Award, den renommiertesten amerikanischen Krimipreis, nominiert. Er lebt in Amherst/Massachusetts. Verlagsrelevante Autoreninfos: www.johnkatzenbach.com

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DORT HAST DU NICHTS ZU SUCHEN

»Die Vergangenheit ist doch die Gegenwart, nicht wahr? Und auch die Zukunft. Daran wollen wir uns alle vorbeimogeln, aber das lässt das Leben nicht zu …«

 

Eugene O’Neill, Eines langen Tages Reise in die Nacht

 

 

 

 

 

 

 

 

An einem Montag, 12:47 Uhr, Mitteleuropäische Zeit …

Der junge Polizist, der in der französischen Kleinstadt Cressy-sur-Marne für die Rekonstruktion von Verkehrsunfällen zuständig war, hasste seine Arbeit mit einer Inbrunst, die man ihm bei seiner unaufgeregten Art nicht zugetraut hätte. Es war die erste Aufgabe, mit der er seit seinem Dienstantritt vor siebzehn Monaten betraut worden war. Er hatte darin ein Sprungbrett für ein anderes, interessanteres und spektakuläreres Ressort gesehen. Waffen. Verfolgungsjagden. Festnahmen und beinharte Verhöre von abgebrühten Kriminellen. Fehlanzeige. Der Job war ein Rohrkrepierer und bot ihm Tag für Tag nichts weiter als Dieses Fahrzeug war auf der Fahrbahn in nördlicher Richtung unterwegs, als es auf der Schnellstraße ein Vorfahrtsschild missachtete und mit dem in östlicher Richtung überholenden Lkw zusammenprallte. Den Abmessungen der Bremsspuren sowie Zeugenaussagen zufolge fuhr das Unfall verursachende Fahrzeug bei deutlicher Überschreitung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit … und so weiter und so fort, bis zum Abwinken.

Ein Unfall wie der andere. Und wenn ein Zusammenstoß zu schweren Verletzungen oder sogar zu Toten führte, wenn es also endlich interessant wurde, übernahm jedes Mal ein dienstälterer Kollege die Nachuntersuchung.

Was ihn mächtig frustrierte.

Den ganzen Vormittag hatte er, mit einem Bandmaß bewaffnet, am letzten Unfallort zugebracht und Fotos geschossen, dabei, so gut es ging, die wütenden Schuldzuweisungen, das übliche Hintergrundrauschen eines jeden Unfalls ignoriert – »Das geht ja wohl eindeutig auf Ihr Konto!« »Von wegen! Hätten Sie auf die Straße geachtet …« – und sich die ganze Zeit nur gefragt, wann er endlich von der Verkehrsabteilung zu etwas Aufregenderem wechseln könne. Zum Beispiel zum Mord-, zum Drogen- oder notfalls auch nur zum Einbruchsdezernat oder zur Sitte – alles. Hauptsache, er brauchte sich nicht länger die Lügen über rote und grüne Ampeln, über Stoppschilder oder darüber anzuhören, wer Vorfahrt hatte und wer zuerst im Kreisverkehr gewesen war. Wenn er dann endlich sämtliche Aussagen, Messungen und Fotos im Kasten hatte und an seinen Schreibtisch zurückkehren konnte, war der Tag schon halb vorbei. Die anderen Kollegen seiner Einheit machten Mittagspause, und so war er in dem kleinen Gehege aus Schreibtischen und Aktenschränken allein.

Er loggte sich in seinen Computer ein.

Er hatte vor, seine Fotos hochzuladen und mit seinen Grafiken anzufangen, dem ersten Teil des Berichts, der an die Versicherung weitergeleitet würde.

Stattdessen prangte als Vollbild ein Foto auf seinem Bildschirm.

Er wäre fast vom Stuhl gekippt.

Eine Leiche.

In Farbe.

Er hielt sich an der Schreibtischkante fest und beugte sich vor.

Eine junge Frau. Ungefähr in seinem Alter.

Mit aufgeschlitzter Kehle.

Die geöffneten Augen starrten in den Himmel. Mit leerem Blick. Kalt. Die Angst war in ihrem Gesicht dem gewaltsamen Tod gewichen.

Die Frau war jung.

Dunkles Haar. Schwarze Augen. Rotbraunes Blut rings um ihren Kopf, das im sandigen Boden versickerte.

Nackt. Die Kleider hatte ihr jemand vom Leib geschnitten und neben ihr auf einen Haufen geworfen.

Allem Anschein nach lag sie auf einem Feld. Er konnte nicht sagen, wo. Da gab es nichts, was ihm irgendwie bekannt vorkam.

Am unteren Bildrand war ein Schriftzug.

Er versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.

Arabisch. Kyrillisch. Sanskrit. Und einige japanische oder chinesische Schriftzeichen. Alles kunterbunt durcheinander, in einem nicht zu entziffernden Kauderwelsch. Kein Französisch. Nicht einmal etwas auf Deutsch oder Spanisch, das er sich mit seinen bescheidenen Fremdsprachenkenntnissen aus der Schulzeit hätte zusammenreimen können.

Der junge Verkehrspolizist starrte auf das Bild.

Sein erster Gedanke: Das muss eine Fälschung sein.

Jemand spielt dir einen Streich, nur dass heute nicht der 1. April ist.

Er sah sich das Foto noch genauer an.

Es wirkte real.

Sein Instinkt empfahl ihm, es in den Papierkorb zu legen. Es von seiner Festplatte zu löschen und sich wieder an die Arbeit zu machen.

Tat er aber nicht. Ohne das Bild aus den Augen zu lassen, öffnete er ein neues Fenster und ging zu einem Übersetzungsprogramm. Er wechselte auf seiner Tastatur zu Arabisch und tippte mühsam die Zeichen ein. Heraus kam:  

Möchtest du nicht …

Er wechselte zu Kyrillisch, nicht ganz einfach bei seiner Tastatur, und er war sich auch nicht sicher, ob er es richtig machte. Die Übersetzung ergab:

Gerne wissen, wer …

Nun wechselte er schnell zu Sanskrit.

Die junge Frau getötet hat …

Es kostete ihn ein paar Minuten, herauszufinden, dass die letzten Worte Mandarin waren und die Frage ergaben:

Und wo sie gestorben ist?

Der junge Polizist hatte auf einmal einen trockenen Mund. Er atmete flach. Bis dato hatte er in seinem Dienst noch kein einziges Mal Angst gehabt und streng genommen auch jetzt nicht; ernsthaft beunruhigt war er allerdings schon.

Er vertiefte sich erneut in das Bild. Auch wenn er kein IT-Experte war, kannte sich der junge Polizist mit dem Internet recht gut aus und fand daher ziemlich schnell die IP-Adresse, von der das Foto kam. Was ihn zum zweiten Mal auf den Gedanken brachte, dass ihn hier jemand zur Zielscheibe eines ziemlich raffinierten Streichs gemacht hatte. Das Foto war nämlich durch die Leserspalte einer hochleistungsfähigen italienischen PR-Firma generiert worden, die sich um die fragwürdigen Belange illustrer Klienten kümmerte, von gestürzten afrikanischen Politikern bis hin zu ruchlosen Konzernen, die sich um die finanzielle Haftung für Ölkatastrophen drücken wollten.

Das ergab für ihn keinen Sinn.

Er sah sich das Foto noch einmal an, war kurz davor, die ganze Sache in den Papierkorb zu verschieben, und zog schon den Cursor darüber, als er plötzlich stutzte. Langsam ließ er die Hand sinken. Spinnst du?, dachte er. Irgendjemand da draußen muss von der Sache hier erfahren. Also griff er zum Telefon auf seinem Schreibtisch und rief auf der internen Leitung einen Ermittler im Morddezernat an. Er war ihm erst ein, zwei Mal über den Weg gelaufen und konnte nur hoffen, dass er sich an ihn erinnerte.

»Sergeant«, sagte er, als der Mann sich meldete. Er gab sich Mühe, sich seine Zweifel und Nervosität nicht anmerken zu lassen. »Ich hab da, glaube ich, etwas, das Sie sehen sollten.«

KAPITEL 1

Am selben Montag …
einige Stunden später im geschlossenen Chatroom …

Delta schrieb:

Wie versprochen, Auftrag ausgeführt. Und ich hätte auch schon eine Schlagzeile für uns alle: Französische Flics flippen wegen fantastischem Foto aus.

Bravo und Easy würdigten den Vorschlag umgehend mit Daumen-hoch-Emojis. Flics, wussten sie, war Umgangssprache für die französische Polizei.

Delta schrieb weiter:

Hätte da mal eine Frage an alle.

Hat zufällig einer von euch Erfahrung mit den neuesten Methoden zur Erkennung von Fingerabdrücken, insbesondere mit der Musterentnahme von totem Fleisch? Ist die Gestapo dazu überhaupt in der Lage?

Nach wenigen Sekunden meldete sich Charlie:

Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Ist für die Techniker immer noch Glückssache. Selbst für die Experten beim FBI, bei Interpol oder Scotland Yard. Wenn das Opfer offensichtlich an einer Stelle angefasst wurde, an der die Identifizierung leichtfällt, ist es ihnen einen Versuch wert. Über die Jahre allerdings nur selten Treffer … Aber hin und wieder geben sie zumindest ihr Bestes. Seht euch dazu mal Festnahme und Anklage in Madrid gegen Juan Carlos Ramirez vor sechs Jahren an. Der Blödmann hat seine getrennt lebende Frau umgebracht und ihren Lover angeschwärzt, was nur leider seinen Zeigefingerabdruck an ihrer Kehle nicht erklären konnte. Ich meine, gibt es einen eindeutigeren Beweis?

Die anderen wussten Charlie als Historiker auf ihrem Fachgebiet zu schätzen.

Kurz darauf meldete sich auch Bravo:

n Abend, Delta, Leute. Charlie hat absolut recht. Da zeigt sich mal wieder, wie falsch diejenigen liegen, die meinen, die Zauberkunststückchen, die sie in Fernsehserien vollführen, seien aus dem Leben gegriffen. Man denke nur an Crime Scene Investigation: Den Tätern auf der Spur oder was auch immer sich so ein Schreiberling aus den Fingern gesogen hat, um die Gestapo wie Experten dastehen zu lassen. Träumt weiter! Trotzdem würde ich dazu raten, die richtigen Handschuhe zu tragen, um auf Nummer sicher zu gehen. Aber Vorsicht: Selbst die hochwertigsten OP-Handschuhe können schon mal Teilabdrücke hinterlassen, weil sie so dünn sind und Körperfette oder Schweiß sogar durch Latex nach außen dringen. Daher vorsichtshalber zwei Paar übereinanderziehen! Oder Latex unter einem zweiten Paar in Leder. Und nach Gebrauch fachmännisch entsorgen. Verbrennen ist immer gut. Beide, die in Latex und die in Leder. Das ist wichtig. Siehe Journal of Forensic Research, Artikel in Band 23, Nummer 8, März letzten Jahres.

Bravo war von ihnen allen der Beste darin, Forschungsberichte zu lesen und zu erklären. Ihnen war nicht entgangen, dass er sich bei seinem Gruß mit »Guten Abend« gemeldet hatte, aber sehr wohl klar, dass es da, wo sich Bravo aufhielt, vielleicht gar nicht Abend war.

Easy schrieb prompt:

Kein Problem. Mach. Dir. Keinen. Kopf.

Easy war der Witzbold in der Gruppe.

Und Delta antwortete sofort:

LOL. Wie wahr. Dank an alle. Sehr cool. Der Artikel ist mir entgangen. So wie, zugegeben, so ziemlich jeder andere Artikel auch. Selbst schuld. Was wären wir alle ohne Bravo und seinen unersättlichen Lesehunger? Jedenfalls, wie gesagt, echt krasser Rat.

Möglicherweise war Delta jünger als der Rest – obwohl das mehrere der anderen insgeheim bezweifelten. Diesen Artikel übersehen zu haben, war vielleicht auch gelogen, da Delta oft ziemlich gelehrt daherkam. Er hatte einfach eine Schwäche für einen etwas hippen, im Großen und Ganzen klischeehaften Umgangston, wobei mehr als ein Mitglied der Chatgruppe vermutete, dass er sich diese Sprache entweder aus dem Internet oder aus Dialogen in Jugendromanen angeeignet hatte. Der eine oder andere von ihnen spekulierte insgeheim, dass er vielleicht Lehrer an einer Highschool war. Wie auch immer, sie erkannten, dass er ziemlich wahllos Teenager-Sprech einfließen ließ, um sein wahres Alter zu verbergen, und sie gingen davon aus, dass ihm seine Ausdrucksweise zur Tarnung diente. Sie alle hüteten sich, ihn darauf anzusprechen.

Es gab auch keinen triftigen Grund dafür. Abgesehen davon hatte jeder von ihnen ganz ähnliche Vorkehrungen getroffen, um seine jeweilige Identität zu schützen, was jeder vom anderen auch wusste – es glich sich also aus. Davon abgesehen schätzten sie Delta für das, was er beitrug, wenn er nicht gerade omg oder wtf schrieb. Er legte in ihrem gemeinsamen Betätigungsfeld die Messlatte hoch, und es bereitete ihnen allen das größte Vergnügen, sich daran zu erproben.

Easy schrieb:

Das Wort gefällt mir: Unersättlich. Passt zu uns, oder?

Delta sendete ein Händeklatsch-Emoji.

Dann verabschiedete er sich mit dem Eintrag:

Bis neulich, Leute. Muss dann mal. Das nächste Projekt auschecken.

Bravo riet:

Denk dran, Delta, was Leute wie uns zu Fall bringt, ist weniger die Planung und die Ausführung als das Spurenverwischen danach.

Easy bekräftigte:

Genau.

Und Alpha, der Moderator der Gruppe, sprach für alle, als er tippte:

Auf die Ergebnisse gespannt.

Das verstand sich eigentlich von selbst. Genauso wie die Tatsache, dass sie alle mit ihren eigenen Projekten beschäftigt und gleichermaßen erpicht darauf waren, sie den anderen vorzustellen.

Delta antwortete:

Gemach. Gemach. Ihr sagt mir doch immer, nur ja nichts überstürzen. Ich übe mich in Geduld.

Dem hätte keiner von ihnen widersprechen können, auch wenn sie insgeheim fanden, dass es Delta gewöhnlich ein bisschen zu eilig mit allem hatte und sich mit dem Befriedigungsaufschub etwas schwertat.

Alpha fuhr fort:

Gut. Ausgezeichnet. Treffen wir uns am besten alle in zwei Tagen wieder online. Selbe Uhrzeit, selber Ort. Und Delta, vielleicht kannst du dann ja schon ein paar Einzelheiten loswerden.

Es hagelte Okays.

Doch bevor sie sich alle von ihrem Chat abmelden konnten, hatten sie plötzlich eine neue und unerwartete Nachricht auf ihrem Bildschirm.

Socgoal02 ist dem Chatroom beigetreten.

Diese Identifizierung war ihnen allen unbekannt. Seit Bestehen der Gruppe war niemand in ihren geschlossenen Chatroom eingedrungen. Zu viele Verschlüsselungsebenen. Bis zu diesem Moment war ihr Austausch in diesem geschützten Raum vollkommen ungestört verlaufen. Dieser neue Auftritt beunruhigte sie alle. Die bloße Vorstellung, entdeckt zu werden, jagte ihnen einen Schrecken ein. Sie waren zu fünft, und keiner von ihnen neigte zur Panik, aber jeder fing sofort an, sich elektronisch rauszuklicken. Vorher lasen sie allerdings noch:

Socgoal02:

Wer seid ihr? Seid ihr echt? Was für Spinner! Perverse! Krank krank krank …

Zwei Jahre zuvor hatte Alpha sich gefreut, als Bravo – der erste Neuzugang der späteren Gruppe – sich zu seiner Überraschung auf sein erstes Posting meldete. So schnell hatte er kein Feedback erwartet, vor allem angesichts der Firewalls, die er eingerichtet hatte, um dafür zu sorgen, dass alles, was auf dem Portal besprochen wurde, streng anonym blieb. Anfänglich hatte Alpha geplant, einen persönlichen Blog zu schreiben und fortlaufend zu ergänzen. Da nun aber jeder Austausch naturgemäß geschützt verlaufen musste, hatte er es sich rasch anders überlegt. Und so hatte Alpha den privaten Chatroom erstellt und Bravo zum Beitritt eingeladen. Bravo waren im Lauf der nächsten Monate Charlie, Delta und Easy gefolgt – nachdem auch sie einen Kommentar auf jenes denkwürdige erste Posting hinterlassen hatten. Keine Gangster. Keine Schaumschläger. Vielmehr klug, gebildet, artikuliert. Und für Mörder jung. Alpha war in der Gruppe die graue Eminenz.

Und bei fünf war das Limit. Jeder darüber hinaus hätte nach Alphas Überzeugung den Chat erschwert und sie einem unnötigen Risiko ausgesetzt. Alpha hatte darauf bestanden, außer diesen fünf keine weiteren Beitritte zuzulassen, nachdem er sich im Zuge ihrer ersten Wortwechsel von ihrer Glaubwürdigkeit überzeugt hatte und ausschließen konnte, dass sich hinter ihren Chatnamen nicht ein übereifriger, cleverer Ermittler irgendwo auf dem Globus oder gar einer von nebenan verbarg. Die fünf Männer hatten sich schnell auf diese Obergrenze festgelegt. Fünf, eine ungerade Zahl, hatte sich irgendwie richtig angefühlt, der Teamgeist einer Basketballmannschaft. Auch wenn sie sich nie persönlich begegnet waren, verband sie ihre besondere Leidenschaft und machte sie füreinander überlebenswichtig. Wie eine Unterstützergruppe für Drogensüchtige oder Alkoholiker nach dem Entzug oder für Opfer von Gewaltverbrechen bei der Verarbeitung ihres Traumas schien jeder von ihnen über Kernkompetenzen zu verfügen, mit denen er den anderen half. Nicht lange, und sie betrachteten sich als einen speziellen Freundeskreis, in dem sie – neben ihren anderen sozialen Kontakten – spezifische Interessen und Neigungen pflegten. Die echten Namen, ihr Alter und ihren Standort hielten sie voreinander geheim, obschon sie im Laufe der Zeit aus Fragen, die einer von ihnen etwa zu reißerischen Schlagzeilen oder Fernsehnachrichten aufbrachte, gewisse Rückschlüsse zogen. Dabei war keiner von ihnen so taktlos, solche Vermutungen zu äußern oder gar nachzuhaken. Darüber hinaus war Englisch die bevorzugte Sprache, und der Vorschlag, ob nicht vielleicht Schwedisch oder Finnisch oder Japanisch angenehmer wäre, kam nicht auf. Insgeheim hatten sie längst begriffen, dass sie alle Amerikaner waren. Wenn sie nämlich über ihren Alltag plauderten, kamen darin Apple Pie, der vierte Juli oder der Superbowl vor. Abgesehen von Mord.

Alpha, der Umsichtigste und Intellektuellste in der Runde, bestand auf dieser Verschwiegenheit, die nicht zuletzt seinem obsessiven Bedürfnis nach Privatsphäre entsprang. Tatsächlich hatte Alpha, als in seinem Kopf Jack’s Special Place erste Gestalt annahm, eher spielerisch seine eigene Expertise in Informatik austesten wollen. Abgesehen vom Nervenkitzel, den das Projekt versprach, befriedigte es sein überwältigendes Bedürfnis, auf Schritt und Tritt die Cops an der Nase herumzuführen. Um jeden Preis wollte er beweisen, dass die Schlaumeier der Polizei nichts, was er schrieb oder sagte oder hochlud, zu ihm zurückverfolgen konnten. Zu viele verschachtelte falsche Identitäten. Zu viele mathematische Möglichkeiten.

Alpha liebte das Netz.

Und er liebte Jack.

Jack wie in Jack the Ripper.

Daher hatte die Gruppe ihren Namen.

Sie nannten sich Jack’s Boys. Und sie trafen sich in Jack’s Special Place.

Für Alpha war Jack immer noch das strahlende Vorbild für die Kunst, die Ordnungshüter zu täuschen und ihnen ein ums andere Mal zu entwischen. Diese beiden Fähigkeiten hatte Jack in so überragender Weise an den Tag gelegt, dass hundert Jahre später immer noch darüber gerätselt wurde, wer hinter diesem Namen steckte. London hatte eine geführte Stadttour eigens zum Ripper im Angebot. Amateurwissenschaftler und -detektive nannten sich Ripperologen und ergingen sich in endlosen Spekulationen, Theorien und Wortklaubereien zu der umfangreichen Ripper-Akte bei Scotland Yard. Eine berühmte amerikanische Krimiautorin hatte ein ganzes Buch über Jacks angeblich wahre Identität verfasst – um sie sich sogleich von ebenjenen Amateurdetektiven in der Luft zerreißen zu lassen, deren Kandidaten sie vom Sockel gestoßen hatte.

Alpha wusste, dass die anderen vier Mitglieder dieses Gefühl der Seelenverwandtschaft mit Jack teilten.

Womit er richtiglag. So wie der berühmte Jack waren Bravo, Charlie, Delta und Easy in einer Arena, in der andere aufgrund ihrer besonderen Neigungen Anonymität schätzten und sich bemühten, wenig oder, wenn möglich, nichts dem Zufall zu überlassen, ausgesprochen risikofreudig. Alle fünf liebten den Zufall und die damit verbundene Gefahr.

Damit hoben sie sich vom klassischen Typus ihrer Sparte ab und hätten wohl die Analytiker beim FBI verwirrt.

Bei Alphas erstem Posting, das überhaupt erst den Bedarf an einem Chatroom geschaffen hatte, handelte es sich um ein bescheidenes Manifest mit dem Titel:

Warum ich tue, was ich tue.

Er hatte es kurz gehalten. Sorgfältig formuliert. Drei handgeschriebene Entwürfe, dann erst eingestellt. Keine weitschweifige Abhandlung à la Ted Kaczynski über Gott und die Natur und die Entschlüsselung der Welt. Alpha hatte nicht vergessen, dass der Una-Bomber, der Killer mit Harvard-Abschluss, letztlich aufgeflogen war, weil er in seinen viel zu unverwechselbaren, persönlichen und deshalb verräterischen schriftlichen Zeugnissen die Semikola korrekt gesetzt hatte.

Bravo hatte die Kommentarspalte am Ende des Manifests gesehen und geantwortet:

Genauso geht es mir auch.

Dieser schlichte Austausch hatte sie zusammengebracht. Im Gefolge führte er zu einem lebhaften Hin und Her und mündete zuletzt in den Chatroom.

In seiner Darlegung hatte Alpha statt töten den Euphemismus beseitigen verwendet.

Wie zum Beispiel in: Und schlussendlich akzeptierte ich, was ich tun wollte – nein, was ich absolut hundertprozentig tun musste, was meine absolute Bestimmung im Leben war, nämlich Molly zu beseitigen … oder Sally … das heißt … sie voll und ganz zu meinem Eigentum zu machen. Und erst als sie dann mir gehörten, hatte ich meine Bestimmung gefunden.

Bravo hatte dies aus eigener Erfahrung bekräftigt:

Ich weiß. Du spürst auf einmal diese totale Größe in dir. Du wartest nur darauf, dass sie sich entfalten kann. Du musst nur herausfinden, wie du sie freisetzt.

Beseitigen war der erste Euphemismus, den sie sich im Chatroom zu eigen machten. Als sich im Verlauf der nächsten Wochen Charlie, Delta und Easy hinzugesellten, einigten sie sich vorsichtig auf weitere. Übernehmen statt entführen, aneignen statt unter ihre Kontrolle bringen. Für foltern stand ärgern. Und die Polizei – von den kleinsten Einheiten auf dem Land bis zu den qualifiziertesten in New York, Rom, Tokio oder Los Angeles – firmierte als die Gestapo. Über ihre Methoden ließen sie sich in umschreibender Sprache aus und verstanden auf Anhieb, was gemeint war, weil sie, bei allen individuellen Unterschieden, aus demselben Holz geschnitzt waren. Dabei war keiner der fünf so naiv zu glauben, die Verhaltenspsychologen vom FBI oder beim Special Branch des Scotland Yard oder den entsprechenden Stellen in Paris, Berlin, Madrid, Buenos Aires, Rotterdam oder Mexico City würden nicht auf Anhieb verstehen, worum es ging. Doch die Bälle, die sie sich zuwarfen, waren so geschickt abgefälscht, dass sie den meisten lasch und harmlos erscheinen mussten.

Die Fotos, die sie von Zeit zu Zeit einstellten und an denen sie sich alle weideten, waren alles andere als das. Gemeinsam machten sie sich ein Vergnügen daraus, ihre Versuche auf ihrem fotografischen Spezialgebiet nach dem Zufallsprinzip auf die Websites ausgesuchter Polizeiwachen hochzuladen. Cop Shops nannten sie die. Vom Polarkreis in Alaska bis zur wilden Pampa Patagoniens. Von Christchurch bis nach Guangzhou in Südchina. So wie der Verkehrspolizist in Cressy-sur-Marne fuhr dann irgendein armer Tropf in irgendeiner Wache an einem stinknormalen Morgen seinen Computer hoch und hatte statt alltäglicher Schadensberichte eine blutüberströmte Leiche oder ein abgetrenntes Körperteil vor sich, mit einer Überschrift wie:

Na, erkennst du das?

Oder:

Noch besser. Wüsstest du nicht gerne, wer das war?

Die Überschriften verfassten sie in unterschiedlichen Sprachen. Einmal auf Japanisch. Dann Suaheli. Arabisch. Englisch eher selten. Dabei achteten sie peinlich darauf, dass auf den Bildern keine verräterischen Besonderheiten zu erkennen waren. Alpha sah es gerne, wenn fünf Augenpaare jedes derartige Foto auf solche Merkmale untersuchten, bevor er es rausschickte. Gemeinsame Verantwortung. Fünffache Genauigkeit. Mehr als einmal hatten sie gegen ein Bild ihr Veto eingelegt, weil einer von Jack’s Boys etwas entdeckt hatte, das möglicherweise wiedererkennbar war. Zum Beispiel eine Pflanzenart im Hintergrund. Ein spezifisches Kleidungsstück. Die Körperstelle, an der sich eine Wunde befand. Außerdem wechselten sie sich beim Posten ab. Nie stellte es der Täter ein. Die Aufgabe fiel, nach reiflicher Diskussion, immer einem der anderen zu, auch wenn sie in dem Moment alle ihre Freude daran hatten und sich über den Zaubertrick, mit dem sie die Fotos hochluden, die Hände rieben. Einmal hatte sich Easy den Spaß gemacht und zu einem von Charlies Leichenfotos die GPS-Koordinaten angeführt. Das Ganze ging allerdings an einen Cop Shop auf einem anderen Kontinent, Tausende Meilen entfernt und politisches Feindesland. So als würden sie Informationen über einen Toten im Umfeld von Denver an Polizisten in Teheran schicken.

Wenn sie sich dann wieder online trafen, lachten sie und malten sich den Schock und die Bestürzung in dem betreffenden Cop Shop aus, und den Ärger, wenn die dortigen Beamten versuchten, sich mit dem Cop Shop zu verständigen, der in der Nähe des Leichenfundorts lag.

Anschließend lösten sich Jack’s Boys im Internet in Luft auf und zogen sich in ihr jeweiliges eigenes, geheimes Leben zurück.

Auch wenn diese Bilder auf Jack’s Special Place gelöscht wurden, nachdem sie sie miteinander geteilt und quer durch die Welt des Internets gejagt hatten, waren sie Jack’s Boys da schon unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Und auch hierin war keiner von ihnen naiv: Sie wussten alle sehr wohl, dass in der Welt des Internets nichts gänzlich und für immer verschwindet. Was für sie alle, weil sie die Gefahr liebten, ein Nervenkitzel, ja, geradezu berauschend war, schlug allerdings in Ernüchterung um, als sie die nächste Nachricht des Eindringlings sahen.

Socgoal02 schrieb:

Also, was seid ihr eigentlich, Leute? Ein paar alte, abgetakelte Schlappschwänze, die sich für besonders schlau halten? Sich als echte Killer ausgeben? Ein Club von Perversen, die sich an kranken Mordfantasien aufgeilen?

Kaum hatte Alpha die höhnische Bemerkung gelesen, flogen seine Finger über die Tastatur. Er hatte in dem, was er sein Büro nannte, einem ehemals muffigen, nunmehr für seine besonderen Zwecke aufgemöbelten Kellerloch vier Computerbildschirme stehen. Der Algorithmus zur Rückverfolgung, den er vor Jahren installiert hatte, war auf Jack’s Special Place noch nie zum Einsatz gekommen, weil sich die Notwendigkeit nie ergeben hatte. Die Ganovenehre ließ es nicht zu, ihn gegen Bravo, Charlie, Delta oder Easy einzusetzen. Außerdem hatten sie wahrscheinlich sowieso ihrerseits entsprechende Schritte unternommen, um ihn mithilfe von quer über den ganzen Globus verteilten Servern abzuschmettern. Der Eindringling dagegen wohl eher nicht. Für einen Moment verfluchte er sich dafür, den Algorithmus nicht laufend weitergetestet zu haben.

Er wusste nur, dass er Socgoal02 ein paar Minuten lang auf ihrem Portal festhalten musste, damit das Programm, falls es denn funktionierte, seine Aufgabe erledigen konnte.

Und so tippte Alpha:

Das hier ist ein geschlossener Chatroom. Du verletzt unsere Privatsphäre und einige US-Gesetze sowie internationale Abkommen, indem du hier eindringst. Du solltest dich auf der Stelle entschuldigen und verschwinden.

Ihm war natürlich klar, dass es wenig, wenn überhaupt, Gesetze gab, welche die unerwünschte Anwesenheit von Socgoal02 betrafen, ob nun in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Westeuropa oder Lateinamerika. Und er wusste auch, dass er mit der Forderung nach einer Entschuldigung höchstwahrscheinlich eine weitere Antwort herausforderte.

Was auch die anderen sahen, die auf der Plattform ausharrten.

Die vier begriffen sofort, dass Alpha diesen Eindringling noch so lange brauchte, bis er ihn unschädlich gemacht hatte.

Bravo schrieb:

Hör mal zu, Kumpel, du begehst gerade einen kapitalen Fehler. Hau ab!

Wollte man jemanden in einem dummen Fehler bestärken, so sein Kalkül, sagte man ihm am besten, er solle sich verziehen.

Das sah Delta genauso.

Er schrieb:

Du ahnst nicht, in welche Schwierigkeiten du dich gerade bringst.

Socgoal02 fraß den Köder und schrieb:

Vielleicht ein Kränzchen von alten Damen? Hab ich euch auf dem falschen Fuß erwischt? Wisst ihr was? Ihr mögt euch bei dem, was ihr da treibt, ja vielleicht für tolle Hechte halten, aber ich würde mich als Mörder jederzeit besser anstellen. Ihr seid ein Haufen Amateure.

Easy reagierte prompt:

Kleiner, du klingst wie ein Zwölfjähriger. Das hier ist für Erwachsene.

Eine Antwort von Socgoal02 blieb aus.

Jetzt schaltete sich Charlie ein:

Hör zu, egal, wer du bist, du legst dich besser nicht mit uns an.

Hierauf meldete sich Socgoal02 zurück:

Hab ich bereits. Man sieht sich, Loser.

Dann für alle sichtbar die Meldung:

Socgoal02 hat den Chat verlassen.

Die Männer verharrten, jeder für sich, vor ihrer Tastatur, jeder musste erst einmal mit einer Woge der Angst und Wut fertigwerden.

Es war an Alpha, zur Geschäftsordnung zu rufen.

Bei der Erstellung von Jack’s Special Place hatte er für unvorhergesehene Ereignisse Notfallprogramme installiert. Im Lauf der Jahre, in denen das Portal bereits existierte, war er allerdings nachlässig geworden und hatte sich in Sicherheit gewiegt, hielt seine Vorkehrungen für mehr als ausreichend.

Alpha schrieb:

Dank euch allen. Er war lange genug drin. Ich glaube, ich hab ihn.

Er ließ den Satz erst einmal so stehen, damit die anderen die gute Nachricht sacken lassen konnten.

Nach einer Weile stellte Delta die Frage, die ihnen allen unter den Nägeln brannte:

Cop?

Alpha antwortete:

Nein. Diesen Anschein hat er sich gegeben. Ein dummer kleiner Grünschnabel irgendwo in den USA, der mit seiner Zeit nichts Besseres anzufangen weiß. Ostküste. Neuengland. Man beachte: Socgoal02. Wäre er in Europa, hätte er sich Footgoal02 genannt, oder?

Easy antwortete prompt:

Siehst du richtig. Guter Punkt.

Sie alle schalteten einen Gang herunter und zähmten ihre Wut. Binnen Sekunden hatten sie sich beruhigt und einen normalen Puls.

Bravo tippte:

Wie ist das passiert? Hatten wir noch nie.

Alpha nahm sich einen Moment Bedenkzeit, bevor er antwortete:

Bin mir nicht sicher. Verlasst euch drauf, ich krieg’s raus.

Easy fügte hinzu:

Wie blöd er auch sein mag, er hat uns gefunden.

Delta schrieb:

Wahrscheinlich reiner Zufall.

Worauf Bravo erwiderte:

Nur dass wir noch nie so einen Zufall hatten.

Was natürlich auch Alpha sah. Ihm schwirrte der Kopf. Er holte einmal tief Luft und tippte:

Wir müssen auf der Hut sein. Und uns was einfallen lassen. Schätze, Notfallplan MANSON wäre angebracht.

Jeder dachte eine Sekunde nach, dann handelten Jack’s Boys schnell und entschieden und meldeten sich ohne ein weiteres Wort aus Jack’s Special Place ab.