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PATRIK SCHWARZ (HRSG.)

 

 

DIE SARRAZIN-DEBATTE

EINE PROVOKATION – UND DIE ANTWORTEN

 

 

 

 

 

 

 

 

VORWORT, PATRIK SCHWARZ

PATRIK SCHWARZ

VORWORT

Ist diese Debatte böse? Wer manchen Kritikern von Thilo Sarrazin und seinem Buch Deutschland schafft sich ab zuhört, könnte den Eindruck bekommen, schon seine Thesen und ihr Vortrag seien verwerflich. Während eine Gruppe von Kritikern dem Autor seine Ansichten verübelt, nimmt eine zweite Gruppe seine Analysen von der Kritik aus, verurteilt aber Sarrazins Ausdrucksweise oder seine Folgerungen. Und schließlich finden sich Medienkritiker, die in eben den Medien, die sie kritisieren, erklären, die Sarrazin-Debatte sei erst durch ein überzogenes Interesse von Sendern und Verlagen zu einem öffentlichen Ereignis des Jahres 2010 geworden. Sie alle eint der Grundverdacht, die Debatte sei böse und es wäre besser gewesen für Deutschland, dieses Buch wäre nie geschrieben worden.

Mir ist dieser Reflex nicht fremd. Auch ich verspürte am Beginn dieses Sommers 2010, als die Fahnen des Buches Deutschland schafft sich ab zu Rezensionszwecken an Journalisten verschickt worden waren, einen unbestimmten Widerwillen. Musste der Mann, der 2009 in einem Interview mit der kosmopolitischen Kulturzeitschrift Lettre International verächtlich von »Kopftuchmädchen« gesprochen hatte, seine Thesen wirklich zu einem Buch ausbauen? Und doch denke ich am Ende des Sommers 2010, die Debatte war gut.

Ob Unterstützer oder Gegner, wir sind durch die Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazins Thesen klüger geworden. Warum also dieses Buch mit den wesentlichsten Beiträgen aus der ZEIT? Hier sind alle Seiten der Debatte versammelt, beginnend mit Thilo Sarrazin über seine schärfsten intellektuellen Herausforderer bis zu entschiedenen Verteidigern, wie dem Historiker Hans-Ulrich Wehler. Darüber hinaus aber zeigt dieses Buch, wie Thilo Sarrazin Thilo Sarrazin wurde – mit umfänglichen Materialien aus dem ZEIT-Archiv der letzen 35 Jahre. Der frühere Berliner Finanzsenator und das spätere Vorstandsmitglied der Bundesbank hat in den Diskurs gezogen, was sonst meist unter dem Radar der Medien bleibt und zu oft auch unter dem Radar der Politik. Viele Menschen in Deutschland sehen in Migration und in Migranten zuvörderst ein Problem, so muss man es wohl konstatieren. Dieselben Menschen können aber auch ganz anders denken und fühlen, wie man es gerade erst in der Euphorie des Fußballsommers 2010 hat beobachten können, als eine migrantisch-bunte WM-Mannschaft das Land in Begeisterung versetzte. Wie passen die zwei Phänomene zusammen, der Zuspruch zu Thilo Sarrazin und der zu Mesut Özil?

Wenn man nicht von zwei Sorten Deutschen ausgeht, bleibt nur die Schlussfolgerung: Kaum etwas scheint die Deutschen in so widersprüchliche Stimmungslagen zu versetzen wie das kulturell Andere, und erst recht, wenn es im Gewand des Islams auftritt. Die Deutschen sind und bleiben kompliziert, ihre Migranten aber auch – das ist die erste Lektion aus den Reaktionen auf Sarrazins Werk.

Unser gegenwärtiges Nationalgefühl ist damit, so viel lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen, nicht ganz so ungebrochen-entspannt, wie es 2006 das Sommermärchen der Fußball-WM im eigenen Land suggerierte. »Hier wir – da die«, diese Zweiteilung der Nation in echte und falsche Einheimische ist bis heute virulent, sosehr sich Deutschland seit den Jahren der ersten »Gastarbeiter« auch gewandelt hat. Migranten erfahren enormes Wohlwollen in unsrem Land, aber es existiert auch ein Ressentiment, das zunächst oft ungeformt ist, aber darum nicht ungerichtet, wie Bernd Ulrich und Matthias Geis in ihrem Beitrag »Alles, was rechts ist« schreiben: Es stellt sich allzu oft in den Dienst einer gesellschaftlichen Enthemmung. »Endlich sagt’s mal einer« – auch dieses Sentiment hat dem Buch Deutschland schafft sich ab atemberaubende Verkaufszahlen beschert.

Trotzdem, so wenig es manchen seiner Opponenten über die Lippen kommen mag, so sehr besteht Thilo Sarrazins Verdienst darin, das Anliegen der Migrationskritiker in ihre stärkste Form gebracht zu haben.

Als ich Thilo Sarrazin im Frühjahr 2010 in seinem Büro im zwölften Stock des Bundesbank-Hochhauses in Frankfurt besuchte, war sein Buch gerade am Entstehen. Ich traf auf einen Mann mit beträchtlicher Gabe zur Provokation, vor allem aber einer fast kühlen Kalkulation für die öffentliche Wirkung seiner Worte. Er war überzeugt von der Richtigkeit eines Anliegens, das ich für falsch hielt und halte. Was er jedoch nicht war, war ein Heißsporn, ein Hallodri oder Egomane. Was er tat und wen er provozierte, war Ergebnis sorgfältiger Überlegungen. Er provoziert aus der Überzeugung, die richtige Antwort zu kennen und ihr mit größtmöglicher Präzision zu größtmöglicher Aufmerksamkeit verhelfen zu wollen. Es ist diese Kälte des Zielens, das Gegner mitunter verstört und Sympathisanten schnell zu Bewunderern werden lässt. Endlich sagt’s mal einer? Aber wie! Einen »weißen Mephisto« hat ihn mein Kollege Wolfgang Büscher darum einmal genannt.

Thilo Sarrazin hat die Perspektive der Migrationsskeptiker in ihre stärkste Form gebracht. Er hat Aversionen durchdacht, er hat Argumente geformt, er hat recherchiert, Studien ausgewertet, Statistiken abgeklopft, Zahlen beigebracht und weitverbreitete Vorhaltungen gegen Migranten mit einer Fülle von Material abgeglichen. Am Ende wurde daraus ein Argument mit denkbar großer Wucht, Dramatik und auch Polemik: »Deutschland schafft sich ab.« Stärker kann der Angriff nicht ausfallen – und umgekehrt gilt: Was jetzt als Schwäche dieses Arguments zutage tritt, das ist die Schwäche eines ganzen Gedankengebäudes. Wer G sagt wie Genetik, zum Beispiel, landet schnell bei J wie Juden, auch diese Erfahrung musste Sarrazin machen, selbst wenn er sich rasch um die Richtigstellung einer womöglich missglückten Interview-Äußerung bemühte.

Die Sarrazin-Kritiker konnten zeigen, dass die Zahlen, die Statistiken das eine sind, der Geist hinter ihrer Auslegung aber das andere. Erst beides zusammen genommen entscheidet über die Überzeugungskraft seines Arguments. Umgekehrt konnten Sarrazins Verteidiger darauf verweisen, wie viel Mut eben auch dazugehört, seine Standpunkte öffentlich so durchzufechten, wie Thilo Sarrazin es tat und tut.

Die Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazins Anliegen ist für viele politisch Denkende wesentlich, für die ZEIT aber ist sie unerlässlich. Denn der Beamte, dann Politiker, schließlich Banker und nun erst mal Privatier Sarrazin ist von dieser Zeitung seit bald 40 Jahren begleitet worden, punktuell am Anfang, mit wachsender Bedeutung seiner Aufgaben und Ämter zunehmend enger – und kritischer.

Die erste Erwähnung Sarrazins in der ZEIT umfasste 4 Zeilen. Am 20. September 1974 nannte der Wirtschaftsteil auf Seite 47 in der Rubrik Neuerscheinungen kommentarlos sein Buch Ökonomie und Logik der historischen Erklärung – zur Wissenschaftslogik der New Economic History, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn-Bad Godesberg, 168 Seiten, 25 DM. Ein Jahr später, am 14. November 1975, war ein Titel, bei dem Sarrazin als Mitherausgeber wirkte, der Rubrik Politisches Buch bereits eine Kontroverse wert: »Zum SPD-Parteitag: Ein Buch, zwei Ansichten« überschrieb die Redaktion die Beiträge. Den Angriff führte eine Frau, die über drei Jahrzehnte das linke Lager in der Sozialdemokratie prägen sollte, Heidemarie Wieczorek-Zeul: »Denunzierungen in der einschmeichelnden Sprache konservativer Ideologie«.

Dieses Motiv der Anklage dürfte Sarrazin mit den Jahrzehnten vertraut geworden sein. Umgekehrt fand er immer auch ähnlich überzeugte Verteidiger seines Standpunktes. Seinen rigiden Sparkurs als Berliner Finanzsenator hießen eine ganze Reihe maßgeblicher ZEIT-Autoren gut, seine Freude an der Provokation, schon damals eingeübt und geschärft, fand mehrheitlich die Billigung der Redakteure, die über ihn schrieben. Erst mit dem genannten Interview in Lettre wandelte sich das Verhältnis, obwohl auch hier verteidigende Stimmen zu hören waren. Vor allem aber tat sich eine Kluft auf zwischen Leser- und Autorenmeinung. Nach einem Sarrazin-kritischen Leitartikel in der Lettre-Frage schlug dem Autor Jörg Lau, dessen Integrität und Sachkunde außer Zweifel stehen, eine derart derbe Welle der Kritik von Lesern entgegen, oft in den Online-Foren der ZEIT geäußert, dass die Redaktion ihm in einer der folgenden Ausgaben eine Seite 3 zur Auseinandersetzung mit den Leserkommentaren zur Verfügung stellte. Helmut Schmidt, in einem seiner Interviews mit Giovanni di Lorenzo, erklärte dagegen zu Sarrazins Lettre-Äußerungen: »Wenn er sich ein bisschen tischfeiner ausgedrückt hätte, hätte ich ihm in weiten Teilen seines Interviews zustimmen können.«

Als knapp ein Jahr später Thilo Sarrazins Buch auf den Markt kommt, druckt die ZEIT nicht ab, sondern fordert Thilo Sarrazin zum Interview heraus. Bernd Ulrich und Özlem Topçu führen ein langes, kontroverses Gespräch, das schließlich auf einer Doppelseite im Blatt erscheint. Es wird der Beginn einer Wochen dauernden Auseinandersetzung, in der Befürworter und Gegner von Autor, Buch und Thesen zu Wort kommen. Bemerkenswert ist dabei die Präsenz von neuen Stimmen wie Özlem Topçu, Hilal Szegin und Khuê Pham, alle drei feste ZEIT-Autorinnen bzw -Redakteurinnen, die Sarrazins Thesen mit ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit kontrastieren. Helmut Schmidt erklärt, wieder im Interview mit Giovanni di Lorenzo: »Ich hätte ihm, wenn er mich gefragt hätte, zur Mäßigung geraten.« Vor allem kritisiert der ZEIT-Herausgeber: »Die Vermischung von Vererbung – einem genetischen Vorgang – mit kulturellen Traditionen, die er vornimmt, diese Vermischung halte ich für einen Irrtum.«

Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel begründet auf einer ganzen ZEIT-Seite, warum er für Thilo Sarrazin keinen Platz mehr in ihrer gemeinsamen Partei sieht. Der Kanzler a. D. Helmut Schmidt dagegen antwortet auf die Frage von Giovanni di Lorenzo, ob jemand mit der Meinung von Sarrazin in der SPD bleiben könne: »Ja. Das wird sich wohl auch so herausstellen.«

Ich habe Sarrazin, damals bei unseren Stunden mit Saft und Kaffee im zwölften Stock nicht nach dem christlichen Menschenbild gefragt. Ich habe nicht gefragt, wie man Kinder, welche die eigenen Töchter oder Enkelinnen sein könnten, als »Kopftuchmädchen« bezeichnen kann. Wahrscheinlich schien es mir ein zu schwaches Argument gegen all seine Zahlen und Statistiken, gegen seine Warnungen und Forderungen. Das christliche Menschenbild, was soll das für ein Argument sein für eine politische Konfrontation? Ist der Begriff nicht nur Floskel und Fassade? Und überdies ist Sarrazin Sozialdemokrat, denen braucht man so eh nicht zu kommen. Rückblickend kommt mir nicht das Argument, sondern mein Verzicht darauf schwach vor.

Mein Dissens mit Thilo Sarrazin ist letztlich keiner über Genetik oder Hartz-IV-Leistungen oder Fördern und Fordern. Ich stimme Thilo Sarrazin in vielem zu. Mein Dissens ist einfach: Ich finde nicht, dass man so über andere Menschen reden sollte, wie er es tut. Aber selbst das hätte ich nicht begriffen, wenn Thilo Sarrazin geschwiegen hätte diesen Sommer. Mindestens darum und dafür fand ich diese Debatte gut.

 

Patrik Schwarz, Hamburg, im Oktober 2010

 

Kapitel 1 – Taschenrechner und Parteibuch

 

 

KAPITEL 1

 

 

 

TASCHENRECHNER UND
PARTEIBUCH

 

 

Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, herausgegeben von Georg Lührs, Thilo Sarrazin, Frithjof Spreer und Manfred Tietzel. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn-Bad Godesberg 1975, 482 S., 25,– DM.

ZUM SPD-PARTEITAG 1975, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Felix von Cube

ZUM SPD-PARTEITAG 1975

 

 

EIN ABC FÜR SOZIALDEMOKRATEN

Denunzierungen in der einschmeichelnden
Sprache konservativer Ideologie

 

Heidemarie Wieczorek-Zeul, 14.11.1975

Der Titel dieses Sammelbandes (siehe vorherige Seite, Anmk. d. Red.)führt in die Irre. Außer dem Vorwort, dem thematisch bezogenen Aufsatz der Herausgeber (mit Ausnahme von Tietzel, alle langjährige Mitarbeiter des Forschungsinstituts der SPD-eigenen Friedrich-Ebert-Stiftung) und einer Abhandlung Peter Clevers (Kritischer Rationalismus und die Komplexität sozialer Systeme) keine Beiträge, die etwas zum Verhältnis Sozialdemokratie/Kritischer Rationalismus zu sagen haben. Die zusammengestellten Texte datieren, mit Ausnahme der bis in die dreißiger Jahre zurückreichenden Beiträge Poppers und des klassischen Max-Weber-Aufsatzes zur »Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« von 1904, aus den vergangenen acht Jahren und wurden als Gelegenheitsarbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften, Sammelbänden oder Festschriften bereits veröffentlicht. Die vorliegende Textzusammenstellung scheint somit im Wesentlichen die Aufgabe eines Readers zu erfüllen, wie sie heute für die verschiedensten Wissenschaftsgebiete vorgelegt werden.

Die Intention der Herausgeber deckt sich allerdings nicht mit der bei der Edition eines Readers sonst maßgeblichen Absicht, über ein Gebiet anhand zentraler Arbeiten möglichst breit zu informieren. Vielmehr geht es um den Versuch, ein theoretisches Abc für den »braven« Sozialdemokraten zu buchstabieren und ihm eine schmackhafte Medizin gegen wachsende »Verunsicherung« angesichts wachsender wirtschaftlicher Krisen zu verabfolgen.

Dieser Versuch erscheint mir aus vier Gründen misslungen:

1. Wer sich die im vorliegenden Band ausgebreiteten Glaubenssätze (es folgen noch einige Belege) zu eigen macht, wird kaum noch geneigt sein, sozialdemokratisch zu wählen oder gar der Sozialdemokratischen Partei als Mitglied anzugehören – es sei denn, er will aus ihr eine ganz normale konservative Partei machen.

2. Wer die Beteuerungen, dass Demokratie und Kritik zusammengehören, ernst nimmt und somit nicht nur die etablierten Autoren, die in dem Sammelband zu Wort kommen (Max Weber, Karl Reimund Popper, Hans Albert) rezipiert, sondern auch die aktuellen Gegenpositionen (keineswegs vorwiegend marxistische, wie die jüngere Wissenschaftstheorie mit Kühn, Lakatos, Feyerabend, Lorenzen zeigt) zur Kenntnis nimmt, dürfte die Funktion einer bestimmten Spielart des Kritischen Rationalismus deutlich erkennen: nämlich die ideologische Rechtfertigung einer Politik, die angesichts schrumpfenden wirtschaftlichen Wachstums versucht, das »Anspruchsniveau« für Reformen zu senken und staatliche Tätigkeit auf bloßes Reagieren gegenüber den Entscheidungen der privaten Unternehmen, auf Orientierung am »Machbaren« zu reduzieren. Wer also diese Intention erkennt, dürfte am emanzipatorischen Wert »konkreter Utopien«, also zielgerichteter Reformpolitik im Gegensatz zum bloßen Durchwursteln (muddling tbrough), festhalten.

3. Die wenigen Anhaltspunkte zur Lösung praktisch-politischer Fragen für eine Welt unter zunehmendem Problemdruck, die in dem Buch gegeben werden, laufen auf Leerformeln oder Dogmen hinaus. Dies wird am Beispiel der zu einer zentralen Maxime hochstilisierten »Stückwerk-Sozialtechnik« (piece-meal social engineering) zu zeigen sein.

4. Wer für die SPD-interne Theoriediskussion von dem Sammelband neue Argumente erhofft, wird von der geleisteten Zuarbeit enttäuscht sein. Die gehaltvolleren Beiträge sind längst bekannt, der Herausgeberaufsatz ist kaum mehr als eine Einführung in einen neuen »Popper-Jargon«.

Eine eingehende Erörterung der einzelnen Beiträge erscheint weder geboten – denn das hieße, inkompetent in eine wissenschaftstheoretische Fachdebatte einsteigen, die, soweit die abgedruckten Aufsätze entsprechendes Echo gefunden haben, von anderen und an anderer Stelle geführt wird – noch ist es im Hinblick auf die politische Funktion des Bandes sinnvoll, in eine wissenschaftstheoretische Diskussion auszuweichen. In der äußeren Konzeption lehnt sich der Sammelband an jene zeitgenössische Tendenz an, die sich ausbreitende Unsicherheit über die Geltung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse durch theoretische Grundlagendiskussion abzufangen. Der Heterogenität der dabei zutage tretenden Standpunkte entsprechend, sollte sich ein solches Unternehmen durch Berücksichtigung einer breiten, jedenfalls die verschiedenen Pole der Diskussion einschließenden Textauswahl auszeichnen. Diese pluralistische Offenheit wurde von den Herausgebern jedoch peinlich gemieden.

Die Beiträge dieses Readers zur Rezeption des Falsifikationismus und seiner politischen Ausmünzung als Kritischer Rationalismus benutzen die Argumente der Gegner nur als Punchingball, an dem man seine Muskelkräfte exerziert. Zudem geraten einige Texte – etwa die von Bryan Magee – in die Nähe eines peinlichen Popper-Kultes. Magee ist allerdings, neben Popper, vielleicht der wichtigste Autor in diesem Band. Seiner Popper-Monografie (demnächst auch in Deutsch) verdanken die Herausgeber den Glaubenssatz, »dass der junge Popper wie kein anderer vor und nach ihm eine Theorie ausgearbeitet hat, die die philosophische Grundlage des demokratischen Sozialismus sein sollte«.

Nun mag im Hinblick auf den Titel, der die voreilige und manchem Betrachter wohl auch naiv anmutende Vereinnahmung des Kritischen Rationalismus durch die Sozialdemokratie oder vice versa verkündet, verständlich erscheinen, wenn ein bisschen gerühmt und gelobhudelt wird. Aber damit verleugnet der Kritische Rationalismus seine zentrale Maxime: Statt Rationalität gegen Dogma zu setzen, wird ein neues Dogma im unauffälligen Gewand einer zur Leerformel verkommenen Rationalität präsentiert. Wer am lautesten ruft »Ich bin ein Kritischer Rationalist« und die theoretischen Begriffe der Schule am schnellsten zum neuen Jargon verbiedert, der verschafft sich ein Interpretationsmonopol: Er allein weiß, was kritisch ist, trennt konservativ von progressiv und progressiv von utopisch, bestimmt, was sich (noch) Stückwerktechnik und rationale Reformpolitik nennen darf, und so weiter. Von dem Wortgeklingel der Epigonen blieb noch keine theoretische Schule verschont.

Symptomatisch für solche Entwicklung sind die zitierfleißigen Repetitionen aphoristisch gelungener Kernsätze des Meisters Popper und die wiederkehrende Einflechtung bestimmter Formeln ohne nachvollziehbare Begründung. Die Herausgeber üben diese Kunst, wenn sie beteuern, dass der Kritische Rationalismus an Kant anknüpft, »politischen Wahrheitsmonopolen und Heilslehren kritisch« gegenübersteht, Kritik als oberstes Ideal betrachtet, für »Meinungs- und Hypothesenkonkurrenz« eintritt »und deren demokratisch-institutionelle Absicherung zum methodischen Prinzip erhebt«. Oder auch, wenn sie mit Augenaufschlag eine Negativabgrenzung vortragen: »Die politische Haltung des Kritischen Rationalismus ist mit konservativer Erstarrung wie mit der Flucht in ideologische Systeme und politische Heilslehren gleichermaßen unvereinbar.«

»Wer ist eigentlich gemeint?«, möchte man fragen, wenn sich das nicht aus den Fußnoten und pauschalen Verdächtigungen gegenüber dem Marxismus und den Neomarxisten ablesen ließe. Ihr Feindbild sehen die Herausgeber jedenfalls politisch links. Die gelegentliche Versicherung, dass man mit Konservativen auch nichts im Sinn habe, ist nicht einmal ein Schutz vor falschen Bundesgenossen. Die »Utopisten und Heilsverkünder« sind die Blocks, die Adornos, die Habermas, die Jusos, aber auch die Luhmanns.

Mit einer unverfrorenen Wendung in die flachste Undifferenziertheit wird »Utopie«, über deren vermeintliche Vertreter man offenherzig reinen Wein einschenkte, zur Basis von Gewalt. So bündig ist die Argumentation: »Hier verschwistert sich die Utopie mit der Gewalt, denn nur gewaltsam können verbindliche ›letzte Ziele‹ lang fristig aufrechterhalten werden.« In einem Jahrhundert, dessen brutalste Gewalt mit Faschismus und Imperialismus verknüpft ist, in einer Zeit, in der weltweite Verunsicherung und krisenhafte Zuspitzungen Konstellationen erzeugen, unter denen auch in der Bundesrepublik wieder faschistische Tendenzen durchbrechen können, ist jenes eitle Daherfabulieren vom zwingenden Zusammenhang zwischen dem »Utopischem« und Gewalt nicht mehr naiv. Es ist schlicht Infamie. Die Polemik der Herausgeber gegen eine »neue Gesellschaft« macht eigentlich auch das theoretische Organ der Sozialdemokratischen Partei verdächtig, heißt diese Monatszeitschrift doch nicht zufällig Die Neue Gesellschaft.

Die Zauberformel für realistische Reformpolitik wird auf den gemeinsamen Nenner einer »Stückwerk-Sozialtechnik« gebracht. Sie empfiehlt sich, um die Herausgeber zu zitieren, jedem, der »die rationale Auseinandersetzung über die Beseitigung konkreter Ungerechtigkeiten und Missstände für fruchtbarer hält als den Streit über abstrakte Zukunftsvisionen«, der »lieber die Quellen menschlichen Unglücks beseitigen als über die Bedingungen menschlichen Glücks philosophieren möchte«. Dunkel erinnert man sich dabei an etwas, das als »elfte These über Feuerbach« bekannt geworden ist. Wie viel klarer sprudelt aber doch die Quelle der Stückwerk-Weisheit: »Der Gesellschaftsreformer ist wie ein Bergführer: Er kann auch die höchsten Berge nur schrittweise erklimmen, und ein verantwortlicher Bergführer«, so wird der von Erkenntnis betroffene Bürger beruhigt, »wird lieber einen Haken mehr in das Felsgestein schlagen, ehe er seiner Mannschaft den nächsten Schritt freigibt.«

Solche Passagen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das ist die einschmeichelnde Sprache konservativer Ideologie. Hier wird nicht rational argumentiert, konkret auf Schwierigkeiten und jene hypokritisch unbenannt gebliebenen »Quellen menschlichen Unglücks« eingegangen, sondern verkleistert: Es wird sich schon alles machen lassen und zum Besten wenden, wenn man den Hohepriestern der Lehre von der »Stückwerk-Sozialtechnik« vertraut und den Häretikern, den »utopischen Sozialingenieuren«, abschwört. Die exegetischen Verrenkungen beim Ausmalen des Feindbildes gehen schließlich ins Groteske: »Auch der utopische Sozialingenieur bedient sich bei der Durchführung des utopischen Gesamtplans der Stückwerktechnik, allerdings einer methodisch verkümmerten und vergröberten Stückwerktechnik.« So einfach ist das also!

Nun sind die Herausgeber und Popper-Experten keine Mucker, wenn’s opportun ist: »Die Anwendung der ›Stückwerk-Sozialtechnik‹ schließt keineswegs spekulative Überlegungen über die Organisation der Gesellschaft (...) aus. Vielmehr schätzt der Kritische Rationalismus Phantasie und Utopie hoch ein – beide sind dem Denker in sinn vollen Alternativen förderlich, falls sie zu konkreten und überprüf baren Alternativen führen, zur ›konkreten Utopie‹ (Willy Brandt).« Die Biegsamkeit, mit der nach einigen verbindlichen Worten an die Adresse von Phantasie und Utopie Ernst Blochs Begriff der konkreten Utopie bemüht wird, um knapp, aber deutlich den Diener vor dem Parteivorsitzenden zu machen, belegt nochmals, was dort im Schilde geführt wird: vom respektgebietenden Postament wissenschaftstheoretischer Seriosität herab ideologisch einzulullen. Die Formel von der Stückwerktechnik hilft der Politik praktisch nur insofern, als sie eine möglicherweise attraktive Verpackung für jedes Handeln liefert: Poppers Design macht jede Politik zur Markenware.

Die Bemerkungen zu Helmut Schmidts Vorwort stehen am Schluss, weil der Bundeskanzler trotz seiner Zurückweisung des marxistischen Ansatzes sozialdemokratischer Politik, trotz der positiven Einschätzung, die er Popper zukommen lässt, von dem pharisäerhaften Eifer der Herausgeber abgehoben werden muss. Es fällt Schmidt auch nicht schwer, jeden Versuch der betulichen Vereinnahmung durch die Popper-Exegeten abzuwehren: »Ich bin kein Marxist, ich bin ebenso wenig ein Anhänger des Kritischen Rationalismus. Jedoch empfehle ich, Marx zu lesen, ebenso Popper.« Was Schmidt »pragmatische Haltung« nennt, ist für viele, die sonst in prinzipiellen und konkreten Fragen nicht mit ihm übereinstimmen, nichts Neues: Theorien kritisch an der Realität prüfen – und hierfür ist Poppers Falsifikationismus ja auch für Marxisten nichts Neues –, den Auftrag der Politik im »endlichen Abbau von Privilegien zugunsten einer freien, offenen Gesellschaft, in der jeder seine gleiche Chance im Leben wahrnehmen kann« zu sehen.

Schmidt baut Marx auch nicht als Buhmann, Unruhestifter und gefährlichen Köpfeverdreher auf, sondern hält ihn kühl für einen lehrreichen Autor – allerdings eben nur einen neben anderen. Gerade im Hinblick auf das kritische Denken gibt Schmidt im Gegensatz zur Intention und Praxis der Herausgeber dem Marxismus eine gute Note: »Die dialektische Methode, als heuristische Methode und nicht der dialektische Materialismus als Weltanschauung, kann dem kritischen Urteil sehr wohl nützlich sein und zum Ausscheiden des als falsch Erkannten führen.« Oder: »Marxens grandiose Erkenntnis, nach der das Sein das Bewusstsein bestimmt, ist zu einer ungeheuren Hilfe für uns alle geraten. Jedoch: Eine Handlungsanweisung liegt darin nicht.«

Konfrontiert man Absicht und Aufbereitungsstil der Herausgeber mit der Kernsubstanz des Falsifikationismus oder des Kritischen Rationalismus und sieht dann noch verwundert den Gegensatz zum Vorwort, so stellt man fest: Das ist aber eine gemischte Gesellschaft.

MARX IM NEUEN GEWANDE

Flucht in eine alte Metaphysik

 

 

Felix von Cube, 14.11.1975

Sofern die SPD sich bisher einer marxistischen und damit pseudowissenschaftlichen Legitimation bediente, hat sich in den letzten Monaten ein beachtlicher Legitimationswandel vollzogen. Unter dem Titel »Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie« wird – mit Zustimmung des Bundeskanzlers – die Politik der SPD auf eine neue Basis gestellt.

Die Autoren erkennen (ich möchte sagen: endlich), dass es keinen wissenschaftlichen Sozialismus geben kann, dass es sich beim Marxismus vielmehr um Prophezeiungen handelt, die wissenschaftlich nicht überprüfbar sind. Sie erkennen mit Popper, dass »die letzten Ziele politischen Handelns« überhaupt nicht »durch wissenschaftliche Methoden« zu bestimmen sind. Helmut Schmidt setzt die »Wissenschaftlichkeit« der Marxisten in Anführungszeichen; er spricht von einem »Chiliasmus im Gewande von Wissenschaftlichkeit«.

»Totale Utopien können zur totalen Gewaltanwendung verleiten«, sagt Schmidt, und die Herausgeber schreiben: »Die Auffassung der Utopisten, erst der Plan von der vollkommenen Gesellschaft mache rationale Reformpolitik möglich, ist nicht nur falsch, sie ist politisch gefährlich und, zur Maxime politischen Handelns gemacht, eine Quelle der Gewalt und Unterdrückung.«

So weit, so gut. Wer jedoch glaubt, dass diese Erkenntnisse – die Popper schon vor vierzig Jahren veröffentlichte – nunmehr auf fruchtbaren Boden gefallen sind, sieht sich getäuscht: Die Abkehr von der pseudowissenschaftlichen Legitimation des Marxismus bedeutet nicht etwa die Einsicht, dass es keine allgemeingültigen und -verbindlichen Legitimationsinstanzen gibt. Die Abkehr vom »wissenschaftlichen Sozialismus« führt vielmehr zurück in die Arme einer metaphysischen Rechtfertigung, eines »ethischen Sozialismus«. Häufig (allzu häufig!) spricht Schmidt von »moralischer Legitimation«, von »ethisch begründeten eigenen Werturteilen« (sind die Werturteile nun eigen oder sind sie »ethisch begründet«?), von der »sittlichen Begründung«, von den »sittlichen Zwecken« politischen Handelns und Ähnlichem. Sittlichkeit als Legitimation eines ethischen Sozialismus? Entscheidet nur die SPD sittlich oder auch die Opposition? Ist die paritätische Mitbestimmung sittlich, das Eigenturn an Produktionsmitteln? Ist die Gesamtschule sittlich, die Fristenlösung, die Steuerreform?

Auch die Herausgeber sprechen von der »ethischen Grundlegung des Sozialismus«, von der »Ethik des Argumentierens«; sie proklamieren gegen den orthodoxen Marxismus, »dass sich der Sozialismus nur noch ethisch, nicht aber wissenschaftlich begründen lässt«. Also: Der Sozialismus bleibt. Er bleibt mit sämtlichen Zielen, Reformen und Maßnahmen – nur die Begründung hat sich geändert: Der wissenschaftliche Sozialismus ist tot, es lebe der ethische Sozialismus! Nein – bei allem Fortschritt von Marx zu Popper: Die Konsequenz wird nicht gezogen, die Konsequenz, dass die Ziele der Politik und der Erziehung nichts anderes sind als eigene Bekenntnisse und Entscheidungen. Stattdessen flüchten sich die »neuen« Sozialisten in die alte Metaphysik der Sittlichkeit! Das steht eindeutig im Widerspruch zum Godesberger Programm, wonach die SPD keine letzten Wahrheiten verkünden möchte.

An der Vorstellung einer objektiven Legitimation des Sozialismus ändern auch die Äußerungen Schmidts und der Herausgeber nichts, dass man bei den entsprechenden Reformen in kleinen Schritten vorgehen müsse. Schmidt bezeichnet »die schrittweise Reform der Gesellschaft« als die der Demokratie angemessene Reform. Gewiss: Nur kleine Schritte sind überschaubar und revidierbar. Letztlich geht es dem Sozialismus jedoch nicht um kleine Reformen. Da werden die Herausgeber schon deutlicher: »Mit dieser Technik (des schrittweisen Erklimmens) werden auch die höchsten Berge bestiegen.«

Ich behaupte, dass jeder denkende Mensch – sofern er sich nicht selber Illusionen macht oder anderen solche vormachen will – zu dem Schluss kommen muss, dass die Setzung von Zielen auf persönlicher Entscheidung und Verantwortung beruht. Gewiss lassen sich einzelne Entscheidungen und Maßnahmen oft auf tieferliegende Zielvorstellungen zurückführen. So folgt etwa aus dem Bekenntnis zu einer möglichst weitgehenden Selbstbestimmung die Forderung nach Pluralität der Meinungen und Wertungen, nach Toleranz und freier Kommunikation, nach Absage an die Gewalt und vieles andere.

Es geht hier jedoch nicht um die Ableitbarkeit von Forderungen aus tieferliegenden Zielen und Wertvorstellungen – es geht um die Frage der Legitimation dieser Ziele und Werte. Und hier gilt Folgendes: Wer seine Entscheidung in eigener Instanz legitimieren und verantworten muss, der wird auf dem erreichten Zustand unserer Freiheit und Demokratie zwar nicht beharren, er wird aber vorsichtiger Politik treiben als jemand, der sich auf »wissenschaftliche« oder metaphysische Instanzen beruft.