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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014

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Umschlaggestaltung any.way, Hamburg

nach einem Entwurf von yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

Illustration: Andreas Michalke

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26869-4 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-52731-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-52731-7

Prolog

Hier draußen ist es besser. Aber es dreht sich immer noch alles. Mir ist schlecht. Ich kriege keine Luft. Wo ist Frl. Krise?

Ich sehe die Leiche wieder vor mir. Knochen und zerfetzter Stoff. In Beton beerdigt.

Was wollen sie jetzt von mir? Irgendetwas war in meinem Glas. Drogen, Gift, Betäubungsmittel.

Ich kann nicht mehr gerade laufen. Ich falle gleich um. Alles dreht sich. Ich muss mich hinsetzen. Aber wohin? Hier draußen ist alles bewachsen. Überall Gestrüpp und diese Dornen.

Vom Haus her kommen Schritte. Ich höre es ganz deutlich. Ist das Frl. Krise? Bestimmt nicht – sie werden sie nicht aus dem Haus lassen. Sie kommen, um nach mir zu sehen. Sie kommen, um mich aus dem Weg zu schaffen. Sie werden uns töten. Damit wir nichts sagen, damit wir sie nicht bei der Polizei verraten.

Au! Der Boden ist hart. Mein Knie tut weh und mein Kopf. Ich kann nichts mehr sehen. Alles dreht sich. Der Beton ist kalt und rau. Da sind wieder diese Hände, sie greifen meine Knöchel. Ich kann das Keuchen im Nacken spüren. Jemand schleift mich über den Boden. Nein! Nicht! Loslassen! Hier ist nichts, woran ich mich festhalten kann. Nur vertrocknete Grasbüschel. Meine Finger scheuern über den sandigen Boden und über die rauen Gehwegplatten. Die Haut schürft ab. Die Fingerkuppen bluten schon. Frl. Krise! Ich möchte schreien, aber meine Kehle … kein Ton! Jetzt werden meine Füße fallen gelassen. Sie fallen ins Leere. Jemand stößt mich. Hier muss ein Loch im Boden sein. Und da soll ich rein. Wir wissen zu viel. Wahrscheinlich werden sie das Loch mit Beton ausgießen. Ich werde ertrinken und ersticken. Ein Scheißtod. So habe ich mir mein Ende nicht vorgestellt.

Bequatscht

«Frau Kollegin, Sie sind doch damit einverstanden, oder?»

Schulleiter Fischer wendet sich langsam zu Frau Freitag und sieht sie forschend an. Seit fast zwei Stunden sitzen wir hier schon in unserem Konferenzraum, der mit seinen Gittern vor den Fenstern so gemütlich wie eine Gefängniszelle ist, und beraten darüber, was mit Thomas H., einem schwierigen Schüler aus der Klasse von Frau Nolte, geschehen soll. Die Stimmung ist angespannt, denn dieser Knabe macht uns nicht nur im Unterricht tierischen Ärger, nein, jetzt dürfen wir uns seinetwegen auch noch den ganzen Nachmittag um die Ohren schlagen. Ich habe das Gefühl, Frau Freitag wird gleich laut schreien oder aufspringen und rausrennen. Sie sitzt stocksteif auf ihrem Stuhl, die Handflächen auf den Tisch gepresst, auf ihrer Stirn stehen kleine Schweißperlen, und sie atmet schwer. Dabei weht es frisch durch den Raum, irgendjemand hat ein Fenster weit geöffnet – wahrscheinlich, um die Debatte abzukühlen.

Frau Freitag zuckt hoch. «Nein! Der soll nicht in meine Klasse … ich will nicht, das ist …»

«Wir haben doch alles hin und her diskutiert!», sagt Herr Fischer ungeduldig. «Ich weiß, Frau Freitag, Sie haben es mit Ihren Schülern nicht leicht. Aber irgendwo muss dieser Thomas ja bleiben, wenn seine Klasse auf Klassenfahrt geht. Nach den diversen Vorfällen der letzten Zeit kann Frau Nolte ihn unmöglich mitnehmen. Das ist für alle Beteiligten un-zu-mut-bar. Der Junge kommt ja auch nur vorübergehend zu Ihnen, das heißt erst mal für eine Woche, dann sehen wir weiter. Eventuell ergibt sich ja später eine andere Lösung …»

«Eventuell? Was soll sich da noch ergeben?! Das heißt doch im Klartext, der bleibt nach dieser Woche für immer bei mir!» Frau

Herr Fischer runzelt die Stirn. «Liebe Kollegin Freitag, ich sage es ungern, aber es ist so: Jeder von uns muss gelegentlich Härten in Kauf nehmen! Also leider auch Sie!»

«Kann man diesen Kerl denn nicht ganz loswerden? Muss der unbedingt an unserer Schule bleiben?» Herr Pommer ist aufgesprungen und zielt mit seinem roten Lehrerkalender wie mit einer Waffe auf Herrn Fischer.

«Herr Pommer! Beruhigen Sie sich! In der Klasse von Frau Freitag ist der Junge gut aufgehoben. Man kann ihn ja schließlich nicht einfach … äh …» Herr Fischer stockt.

«Man kann ihn nicht was? Umbringen?», fragt der Pommer und lacht dreckig.

***

Nach der Konferenz überfällt mich Monika Nolte im Flur. Die Organisation der Klassenfahrt macht ihr zu schaffen. Als ich sie endlich abgeschüttelt habe, ist Frau Freitag verschwunden. Ich kann verstehen, dass sie stocksauer ist, aber einfach so ohne ein Wort abzuhauen! Das ist eigentlich nicht ihre Art. Die fünf Minuten hätte sie auch noch warten können. Sehr schade, wir wollten doch noch in den Späti gehen. Der kleine schäbige Spätkaufladen von Onkel Ali ist unser bevorzugter Hang-out nach der Schule. Praktischerweise liegt er genau an der Kreuzung, an der Frau Freitags und mein gemeinsamer Schulweg endet, und so können wir, wenn wir bis hierhin unsere tägliche «Unterrichtsnachbereitung» nicht geschafft haben, sie bei einem Kaffee fortsetzen. Onkel Ali heißt eigentlich Hüseyin, aber nicht einmal sein Eheweib Emine nennt ihn so. Langsam schiebe ich mein Rad über den Schulhof und werfe noch einen Blick hinter die Turnhalle. Na bitte, da steht Frau Freitag und raucht. Puh, was die für ein Gesicht macht! Da kann man ja Angst bekommen.

«Sie hat mich gefragt, ob ich mitfahre.»

«Wie, mitfahre?»

«Na, auf die Klassenfahrt.»

«Äh, wieso? Du? Ich dachte, der Pommer fährt mit?»

«Nein, der kann nicht. Der hat es doch so doll am Rücken. Hast du nicht gesehen, wie schief der da eben saß? Der hat einen Bandscheibenvorfall, sagt die Nolte.»

«Aber jedes Wochenende segeln – das geht, oder was? Ich glaub, ich spinne! Und überhaupt diese scheiß Klassenfahrt. Und diese bekloppte Konferenz gerade …»

«Komm, Frau Freitag, lass uns erst mal gehen. Wir können einen Kaffee bei Onkel Ali trinken, ich habe noch eine halbe Stunde Zeit.»

«Meinetwegen.»

«Bist du schlecht gelaunt oder was?»

«Mein liebes Frl. Krise, ich möchte ja mal sehen, wie deine Laune wäre, wenn man dir soeben mitgeteilt hätte, dass Thomas H. in deine Klasse käme …»

«Ich weiß, ich weiß! Ich will den auch nicht geschenkt haben. Aber es ist doch nur für eine Woche! Wir können den unmöglich mit nach Falkenthal nehmen. Der macht doch alles kaputt!»

«Und dann soll der mich kaputt machen, oder wie? Und was heißt denn eigentlich wir? Du fährst doch da nicht wirklich mit, Frl. Krise?»

«Na ja, ich habe noch nicht fest zugesagt. Ich muss das erst mal überschlafen. Andererseits … eine Woche Brandenburg … ein kleiner See, schönes Wetter, kein Unterricht – warum eigentlich nicht?»

«… endlose Wanderungen mit schlechtgelaunten, fußlahmen Achtklässlern, Streitereien von früh bis spät, schlaflose Nächte, schlechtes Jugendherbergsessen und eine Woche die perfekte Monika Nolte. Darum nicht!»

«Mensch, Frau Freitag, eine Woche wirst du Thomas doch

«Pass auf, dass du nicht auf deiner Schleimspur ausrutschst. Du weißt doch genau, das bleibt bestimmt nicht bei der einen Woche. Den habe ich für immer, wirst du sehen! Ich könnte diesen Knaben auf den Mond schießen, kann ich dir sagen, und den Fischer und die liebe Kollegin Nolte gleich mit! Ich hätte nicht gedacht, dass du mir so in den Rücken fällst. Fährst auch noch weg mit der Nolte. Schöne Freundin!»

«Hallo, Onkel Ali! Zwei Kaffee und einmal Kippen für Frau Freitag. Und Achtung, die ist sehr schlecht gelaunt!»

***

Frau Freitag ist nicht die Einzige an diesem Tag, die mit schlechter Laune auf mein Vorhaben reagiert:

«Klassenfahrt? Das ist ja wohl nicht dein Ernst!» Männe legt das Salamibrot, in das er gerade reinbeißen wollte, auf seinen Teller zurück und starrt mich an.

«Ja, weshalb denn eigentlich nicht? Ich würde kurzfristig als Vertretung für den Pommer einspringen. Haben wir eigentlich keine Oliven mehr?»

«Und weshalb musst ausgerechnet du da mitfahren? Das ist doch gar nicht deine Klasse!»

«Ich habe dieses Schuljahr gar keine Klasse, Männe. Deswegen hat mich Frau Nolte ja auch gefragt.»

«Andere Kollegen haben doch auch keine Klasse, zum Beispiel dieser neue Referendar, von dem du immer erzählst, dieser Felix 28 oder wie er heißt.»

«Felix 26! Wir nennen ihn so, weil er erst sechsundzwanzig ist. Der absolut Jüngste im Kollegium. Der kann nicht, der muss doch jede Woche ins Seminar.»

Männe runzelt die Stirn. «Also, ich verstehe dich wirklich nicht. Anstatt einmal eine etwas ruhigere Kugel zu schieben, lässt du dich

«Hast du Angst, dass du ohne mich verhungerst, Männe? Ein paar Tage keinen Unterricht und keinen Haushalt – das könnte ich mir gut vorstellen. Außerdem bietet die Jugendherberge in Falkenthal ein Programm mit Floßbauen und Klettern an. Das wird von zwei Sozialpädagogen geleitet, wir brauchen nur noch Aufsicht zu führen – überhaupt nicht anstrengend.»

«Tzzz! Als ob du dich schon jemals auf einer Klassenfahrt erholt hättest!» Männe erhebt sich und geht kopfschüttelnd an den Kühlschrank. «Die Oliven sind alle. Warst du heute nicht in der Markthalle?»

«Nein, ich bin mit Frau Freitag gleich nach der Schule in den Späti zu Onkel Ali gegangen.»

«Dass ihr immer dahin geht! In einem dunklen Kabuff hocken und rauchen – sehr gesund!» Männe setzt sich wieder an den Tisch und stochert unwillig mit dem Messer im Fleischsalat herum. Langsam reicht es mir.

«Hat du noch mehr zu meckern, Männe?»

«Hm. Na ja, ihr müsst ja wissen, was ihr tut. Ich könnte mir was Angenehmeres vorstellen. Und was ist mit Eileen? Musst du ihr nächste Woche nicht mal die Kleine abnehmen?»

«Eileen kann eine Woche ohne mich auskommen. Zur Not passt du mal auf Viktoria-Estelle auf!»

«Nee, meine Liebe, das kannst du vergessen. Ich hab jeden Tag volles Programm. Im Grunde ist es sowieso eine Zumutung, dass deine ehemalige Schülerin uns in Sachen Kinderbetreuung dermaßen einspannt. Sie tut ja fast so, als wären wir die Großeltern ihres Kindes.»

«Jetzt mach mal einen Punkt, Männe! Sag nichts gegen Eileen! Wenn man bedenkt, aus was für schrecklichen Verhältnissen sie kommt. Und wie toll die sich in den letzten Jahren entwickelt hat! Niemand hätte geglaubt, dass sie es schafft, ihren Schulabschluss nachzumachen.»

Jetzt versucht er abzulenken. Natürlich ist er ganz verliebt in Eileens Baby Viktoria-Estelle, auch wenn er sich immer über diesen Namen mokiert. Außerdem weiß er genau, dass ich keine Ahnung habe, wo irgendwas in Brandenburg liegt. Ehrlich gesagt ist dieses Bundesland für mich so eine Art unentdeckter Kontinent.

«Falkenthal liegt nördlich von Berlin, glaub ich.» Monika hat mir das zwar schon mal genauer erklärt, aber man kann sich ja nicht alles merken.

«Oberhavelkreis? Ostprignitz-Ruppin? Barnim? Havelland?» Wie gemein dieser Kerl sein kann! Nee, mein Lieber, auf dieses Niveau lasse ich mich nicht herab.

«Also, die Nolte hat jedenfalls in Falkenthal ihr Sommerhaus. Bestimmt sind alle Zimmer im Landhausstil eingerichtet, so mit weißen Möbeln im Shabby-Stil und gestreiften Stoffen und überall Rosenmustern.»

«Sonst wird ja auch nicht viel zu sehen sein in dem Kaff», sagt Männe mit schadenfrohem Unterton.

«Doch! Es gibt auch noch einen abgelegenen kleinen See mit einer schönen Badestelle. Oh Gott, da fällt mir ein, ich muss mir unbedingt einen neuen Badeanzug kaufen! Ich hab bestimmt fünf Kilo zugenommen. Meinst du, ich kann mich überhaupt noch so am Strand sehen lassen?»

Der Mann, der einstmals gelobt hat, mich in guten und schlechten Tagen zu lieben und zu ehren und mit mir durch dick und dünn zu gehen, kaut und schweigt.

«MÄNNE

«Was denn?»

«Findest du mich zu dick?»

«Och, nee, Frl. Krise, nicht das schon wieder!» Männe rollt die Augen.

Danke schön auch! Mir ist der Appetit vergangen. Ich stehe auf und räume nur meinen Teller in die Spülmaschine. Soll er doch

***

Manchmal ist die Stimmung im Lehrerzimmer so wie im Warteraum eines Krankenhauses, in dem alle gerade erfahren haben, dass ihre Verwandten lebensgefährlich verletzt oder soeben verstorben sind. Jedenfalls gucken die Kollegen hier oft äußerst deprimiert. Vor allem die, die in den Unterricht müssen. Frl. Krise hat es gut, die kommt mittwochs erst zur vierten Stunde.

«Guten Morgen, Monika, guten Morgen, Herr Voss.»

Monika Nolte dreht sich kurz vom Bildschirm des Computers weg und nickt mir zu. Herr Voss senkt seine Zeitung ein paar Millimeter und guckt mich an. «Guten Morgen, Frau Freitag.»

Tobias Voss ist erst seit Schuljahresbeginn bei uns. Er ist der neue Fachbereichsleiter für Mathe und Physik. Meistens sitzt er im Lehrerzimmer, trinkt Kaffee und liest Zeitung. Er trägt immer Jeans und diese karierten Hemden mit kurzen Ärmeln, die wohl extra für Mathelehrer hergestellt werden. Eigentlich könnte er ganz attraktiv sein, wenn er sich etwas modischer anziehen würde. Im Gegensatz zu Peter Pommer hat er nämlich noch sehr viele Haare auf dem Kopf. Trotzdem ist dieser Voss irgendwie komisch. Eigentlich duzen wir uns hier alle, aber bei ihm traue ich mich das nicht. Vielleicht, weil er vom Gymnasium kommt. Susanne Brendel habe ich sofort mit ihrem Vornamen angesprochen. Ich würde sie sogar Susi nennen, wenn sie das wollte. Sie ist sehr jung, und man wundert sich, dass sie überhaupt schon eine fertige Lehrerin sein soll. Die Schüler benehmen sich bei ihr dementsprechend. Frau Brendel hat es nicht leicht in den Klassen. Sie ist einfach zu zart. Und zu nett. Viel zu nett. Vor allem die Nolte-Klasse setzt ihr zu. Dort unterrichtet sie Musik. Bisher sind wohl die meisten Musikstunden im Chaos untergegangen. Die Tür geht auf, und Herr Pommer kommt rein.

«Was soll an diesem Morgen gut sein?», fragt er genervt und lässt sich auf den Stuhl neben Herrn Voss fallen.

«Hast du schlechte Laune, Herr Pommer?», will Monika wissen und fährt den Computer runter. «Was tust du überhaupt hier? Hast du nicht gerade zusammen mit dem Referendar Sport in meiner Klasse?»

Pommer verschränkt die Hände hinterm Kopf und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Nach Bandscheibenvorfall sieht das nicht aus. «Der Felix macht alleine mit denen Sport. Das bringt nichts, wenn ich da immer mit drinhocke. Der muss langsam lernen, sich durchzusetzen. Und ja, ich habe schlechte Laune. Und die hättest du auch, meine liebe Monika, wenn du eben dabei gewesen wärst. Dein Thomas H., warum haben wir den überhaupt aufgenommen? Kaum habe ich die Turnhalle aufgeschlossen, stürzt der in den Geräteraum, wirft sich auf den Mattenwagen und rollt damit gegen die Wand. Da ist jetzt ein dickes, fettes Loch im Putz. Und dann kam Hakan heulend aus der Umkleidekabine und meinte, dass Thomas ihm in der Pause einen Nackenklatscher gegeben hätte. Einfach so, ohne Grund. Und als Felix mit Thomas sprechen wollte, sagt der nur, dass er das nicht war. Ich ertrage das echt nicht mehr. Und dieser Mert, der ist ja auch nicht besser …»

«Ach, Mert war heute da?», fragt Monika. «Das ist ja schön.»

«Na, ich fand das überhaupt nicht schön, und Yavuz bestimmt auch nicht, denn dem hat Mert einen Volleyball an den Kopf geschossen.»

Monika geht zu unserer kleinen Küchenzeile und füllt Wasser in den Wasserkocher. «Ich mein ja nur, weil der Mert in letzter Zeit immer wieder geschwänzt hat und ich am Freitag die Mutti hierhatte.»

«Ach, die Mert-Mutti war hier – hast du der auch erzählt, wie sich ihr Herr Sohn bei uns benimmt?»

Wir hören, wie ein Schlüssel ins Schloss der Lehrerzimmertür gesteckt wird. Aber es kommt niemand. Stattdessen dreht sich der

«Vielleicht hat ein Schüler einen Lehrerschlüssel geklaut und schließt uns hier ein», sagt die Nolte leicht panisch und hält sich dabei die Hand vor den Mund.

«Tzzzzz, Monika, also bitte», sagt Pommer, steht auf, geht heroisch zur Tür und öffnet sie mit einer schnellen energischen Bewegung. An der Tür hängt Susanne Brendel. Ihr Schlüssel steckt im Schloss, und der hängt an einem Band, das sie um den Hals trägt. Durch die Wucht, mit der die Tür geöffnet wurde, prallt Susanne mit ihrem Kopf gegen Pommers Bauch.

«Susanne?», fragt er. «So stürmisch heute?»

Herr Voss hat mittlerweile seine Zeitung auf den Tisch gelegt und betrachtet interessiert, wie Susanne Brendel umständlich versucht, sich von der Tür zu trennen. Warum nimmt sie nicht einfach das Schlüsselband vom Hals? Offensichtlich klemmt ihr Schlüssel im Schloss. Ihr Gesicht ist jetzt so rot wie ihre Haare.

«Äh, Peter, ’tschuldigung, ich, äh, der Schlüssel … ich weiß auch nicht …»

Pommer steht immer noch neben ihr und grinst. Warum setzt der sich nicht wieder hin? Dieser Macho. Manchmal ist er echt unerträglich. Herr Voss faltet seine Zeitung zusammen, ohne seinen Blick von Frau Brendel zu wenden, und grinst auch. Noch so ein Macho. Zum Glück ist wenigstens Felix 26 anders drauf, sonst hätten wir Frauen hier von dem ganzen Testosteron im Lehrerzimmer bestimmt schon Vollbärte. Mittlerweile hat sich Susanne Brendel von der Tür befreit, sich zu uns an den Tisch gesetzt und ihre Tupperdose aus der Tasche geholt. Geschälte Apfelstücke und Karotten. Ich habe nur ein Schokoladencroissant mit. Wenn ich mich gesünder ernähren würde, dann hätte ich vielleicht auch so volle Haare wie Frau Brendel und nicht nur so ein schlaffes dünnes Gewächs auf dem Kopf. Sogar Frl. Krise hat festere und erheblich mehr Haare, obwohl sie zehn Jahre älter ist als ich.

«Monika, hast du an die Adressenliste deiner Klasse gedacht?

Monika Nolte dreht sich nicht zu Pommer um, sagt aber leicht pikiert: «In deinem Fach, mein lieber Peter. Schon seit Freitag!»

Herr Pommer hockt sich vor die Lehrerfächer und kommt mit einem Stapel Papier zu uns an den Tisch. «Kaum guckt man mal einen Tag nicht in sein Fach, ist es voll.» Er nimmt sich nach und nach jedes Blatt vor, zerknüllt die meisten und wirft sie in den Papierkorb, der vor dem Fenster steht.

«Was ist das denn hier? Ein Schreiben von der Technischen Universität Berlin. Wollen die mich jetzt als Professor haben?»

«Pffff, bestimmt nicht», sagt Frau Nolte, schmeißt ihren Teebeutel in den Müll und setzt sich zu uns an den Tisch. Herr Pommer reißt den Briefumschlag auf. Der Voss senkt kurz seine Zeitung und guckt zu ihm. Herr Pommer überfliegt den Brief und schüttelt den Kopf: «Tzzzzz, Mannomann, was die sich denken …»

Dieser Pommer, wie der sich jetzt wieder aufspielt.

«Nun sag schon, Peter! Was wollen die denn von dir?»

«Ach, das ist wieder so ein beklopptes Projekt. Diesmal nennen sie es ‹Kleine Forscher – raus aus dem Klassenzimmer. Die natürliche Neugier von Kindern und Jugendlichen fördern› und blablabla, unsere diplomierten Wissenschaftler ‹bieten Einblicke in› blabla und so weiter, und so weiter … hier. Die Schüler sollen an einem Langzeitprojekt teilnehmen, das die Effekte der Sauerstoffzufuhr in Berliner Gewässern untersucht.»

Susanne Brendel nimmt ihre leere Tupperdose und steckt sie in ihre Schultasche. «Klingt doch toll.»

Pommer zieht verächtlich die Augenbrauen hoch. «Ja, ich sehe schon Mert und Thomas, wie sie stundenlang mit irgendwelchen Wissenschaftlern am Tegeler See hocken und Wasserproben entnehmen. Nee, nee, Susanne, so was kannst du mit unseren Schülern nicht machen.»

«Wieso, Peter?», mischt sich Frau Nolte ein. «Ich mache doch auch dieses Tanzprojekt mit meiner Klasse. Morgen ist der erste

«Ja, ja, professionelle Tänzerinnen, die keine Ahnung von Pädagogik haben und nicht wissen, wie man mit unseren Schülern umgehen muss.»

«Und du denkst, wir wissen das, Peter? Warum haben wir denn so viele Probleme mit der Disziplin an unserer Schule? Vielleicht ist unser Ansatz auch nicht der beste.»

«Also, ich finde, das klingt super. Die Schüler müssen sich doch mit ihrer Zukunft auseinandersetzen. Und Verantwortung übernehmen. Umweltbewusstsein ist wichtig.» Susanne Brendel guckt kurz zu Frau Nolte, die ihr zustimmend zunickt, und sagt leise: «Habe ich jedenfalls gelesen.»

«Susanne, wenn du so interessiert bist an Projekten, dann hab ich was für dich.» Pommer springt auf und geht zum Regal neben dem Fenster.

«Peter», sagt Monika streng, «du holst doch jetzt nicht die Keksdose.»

«Doch.»

«Peter Pommer, also echt … manchmal bist du wirklich unerträglich.»

Pommer öffnet die besagte Keksdose und zieht einen Umschlag heraus. «Hier, Susanne, vielleicht wäre das was für dich: ‹Generationen treffen sich› – das Altersheim aus der Heimstraße sucht Schülerinnen und Schüler, die gemeinsam mit Sozialarbeitern ein Projekt zur generationenübergreifenden Freizeitgestaltung erarbeiten. Finanziert von der Caritas. Oder vielleicht lieber das hier: Zur Hypologika in Marienfelde werden Schulen gesucht, die lebensgroße Pferde bemalen. Das Pferd und die Farbe werden gestellt. Das wäre doch was für unsere Schüler.»

Herr Pommer ist jetzt voll in Fahrt. Begeistert holt er immer neue Projektideen aus der Keksdose. Ab und zu lässt nun auch Herr Voss seine Zeitung sinken und schüttelt den Kopf. Nachdem

Susanne nimmt sich ein Faltblatt aus der Keksdose, liest und sagt leise: «Also, das hier klingt doch gar nicht so schlecht.»

«Nichts für ungut, Susanne. An den meisten Schulen könnte man bestimmt das eine oder andere Projekt durchführen. Aber bei uns …»

«Also, was ihr alle habt», mischt sich jetzt Frau Nolte ein. «Meine Klasse freut sich total auf das Tanzprojekt. Merve hat vorhin noch gesagt: ‹Alles ist besser wie Schule.›»

***

Die Fußgängerampel springt auf Rot. Oh nein! Jetzt werden sich Thomas und Erkan bestimmt noch auf die Straße stürzen! Die beiden sind vorgerannt – wie immer.

«Wartet! Stehen bleiben!»

Der Verkehrslärm droht meine Rufe zu überlagern, aber Thomas, der schon mit einem Bein auf der Straße ist, dreht sich wirklich zu mir um und zögert einen Moment. Erkan zieht ihn am Ärmel auf den Bürgersteig zurück. Gott sei Dank! Ich bin bestimmt noch fünfzig Meter von der Kreuzung entfernt. Aber ich kann ja schließlich nicht gleichzeitig vorne bei den schnellen Läufern und hinten bei den Schleichern sein. Warum muss ich eigentlich mit dieser achten Klasse von Frau Nolte unterwegs sein? Und dann auch noch alleine, denn sie ist auf einer Fortbildung. Ich frage mich, was die noch lernen will. Die suhlt sich doch jetzt schon in ihrem Perfektionismus!

«Geht doch mal etwas schneller, Leute! Mert, Yavuz und du auch, Gülcan! Ich komme mir vor, als wäre ich mit einer Seniorengruppe unterwegs.»

Mit großer Verspätung fallen wir in den Hinterhof ein, in dem sich das Tanzstudio befindet. Ich frage mich schon die ganze Zeit,

Thomas und Erkan warten schon vor dem Eingang auf uns. Wenigstens haben sie noch nichts angestellt, jedenfalls, soweit ich das übersehen kann. Thomas stochert mit einem Stöckchen im Türschloss herum.

«Abgeschlossen. Keiner da. Hab schon geklingelt!», sagt er und hampelt von einem Bein aufs andere. «Lass mal wieder gehen, Frl. Krise. Ich hab keine Lust zu dieses Tanzen. Voll schwul!»

«Hallo!» Eine junge Frau steht plötzlich in der Tür und mustert uns kritisch. Sie ist klein und sehr dünn, trägt eine schwarze enge Gymnastikhose, Wollstulpen und ein ärmelloses graues T-Shirt. Sofort komme ich mir neben ihr wie ein Walross vor. Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung lässt sie ihre braunen Locken hin und her fliegen und sagt mit hartem spanischem Akzent: «Ola! Ich bin Pepita, ich leite das Kurs. Natalie und ich haben schon gewartet auf euch.»

«Hehehe, das Kurs!», lacht Thomas, und Dilek ruft: «Wie heißen Sie?»

«Hallo, ich bin Frl. Krise, also Frau Nolte … äh … nein, ich meine, das ist die Klasse von Frau Nolte.»

Pepita übersieht meine ausgestreckte Hand, dreht sich um und geht mit federnden Schritten voran in den Übungsraum. Es ist so eine Art schäbige Turnhalle, die Fenster werden durch lange dunkle Gardinen verdeckt, in einer Ecke sind Stühle übereinandergestapelt, und zwischen zwei Stellwänden steht ein Tisch mit allerhand Technik darauf. Dahinter liegt ein undefinierbarer roter Haufen auf dem Boden, es scheinen große Sitzsäcke zu sein. Alle Taschen,

Dort steht Pepita mit betont hochgerecktem Kinn und ruft: «Bitte alle im Kreis setzen!»

Thomas und seine Kumpel Erkan und Onur wälzen sich sofort auf dem Boden herum, die anderen Jungen setzen sich nur zögernd in einem Pulk zusammen hin, und die Mädchen bleiben stehen und jammern: «Voll unbequem!» – «Können wir uns einen Stuhl nehmen?» – «Der Boden ist zu kalt!»

Pepita sieht mich hilfesuchend an. Genau so habe ich mir das vorgestellt: Sie will die hehre Kunst machen, und an mir soll die schnöde Disziplinierung hängenbleiben. Besser, ich reagiere gar nicht. Zum Glück erscheint Natalie, die zweite Künstlerin, eine große, schmale Person mit raspelkurz geschnittenem weißblondem Haar. Sie trägt ein langes, verwaschenes blaues Sweatshirt über einer schlabberigen schwarzen Trainingshose.

«Die Kinder können sich doch schon jeder einen Puff nehmen, Pepita», sagt sie und zeigt auf den roten Berg neben der Anlage.

«PUFF! HAHAHA!» Jetzt bricht die Hölle aus. Meine Schüler schreien vor Lachen, klatschen sich ab und schmeißen sich mit Anlauf auf die Säcke.

«Puff heißt Sitzsack auf Spanisch», erklärt Pepita, aber das geht im Geschrei völlig unter. Es geht eigentlich alles unter – besonders die mehrfache Aufforderung der Damen, sich nun aber endlich im Kreis zu versammeln. Die Sitzsäcke sind offensichtlich mit Styroporpellets gefüllt und ein bisschen undicht, denn plötzlich wandern viele kleine weiße, irgendwie elektrostatisch aufgeladene Kügelchen über den Fußboden. Thomas, Mert und einige andere sind sehr interessiert an diesem Phänomen und beginnen sofort auf dem Bauch liegend mit physikalischen Experimenten. Kreis? Pah, voll langweilig!

Merve steht am Fenster und weint fast. «Frl. Krise! Alle haben Sack, nur ich nicht!»

Über diesen Satz können sich Dilek und Sonja wegschmeißen –

Natalie erklärt, was in diesem Kurs geschehen soll: «Im Medium Tanz können wir uns entdecken, unsere Gefühle gemeinsam erspüren, sie teilen und mitteilen. Wir lernen den Innen- und Außenraum unseres Körpers kennen, aus Bewegungen und Spannungen werden Körperlandschaften … blablabla», so geht es noch minutenlang weiter.

Klingt alles reichlich verschwurbelt. Niemand hört zu, niemand versteht etwas. Ich, ehrlich gesagt, auch nicht.

Dann endlich die erste Aufgabe:

«Bewegt euch durch den Raum und erprobt dabei mit Hilfe des Sacks einen neuen individuellen Bewegungsablauf!»

Etwas unschlüssig und laut murrend erheben sich alle. Große Fragezeichen auf den Stirnen. Sonja und Nazan sehen mich fragend an, aber ich zucke nur mit den Schultern und zeige auf Natalie und Pepita. Sollen die das mal schön erklären, ich bin hier nur als Näherin eingestellt. Pepita erbarmt sich und macht eine Möglichkeit vor: Sie wälzt sich, ihren Sitzsack mit Armen und Beinen umklammernd, über den Boden.

«Voll pervers! Die hat kein’ BH an», stellt Mert lautstark fest.

«Pscht!»

«Was denn, Frl. Krise! Is’ doch!»

Er lacht dreckig. Die anderen lachen mit. Himmel! Diese pubertären Jungen! Und dann auch noch Onur und Thomas! Die fangen natürlich gleich an, sich wie die Verrückten mit den Styroporsäcken zu schlagen. Ein paar andere machen mit, und in Windeseile ist der

Warte, Monika, morgen kannst du was erleben!

***

Das Leben einer jeden Frau hält nicht nur Höhepunkte bereit – nein, es mangelt auch nicht an Tiefschlägen. Der Versuch, sich einen Badeanzug in Größe 44 zu kaufen, gehört eindeutig dazu. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Mann, einer, der sich nach dem Essen zufrieden den Bauch tätschelt und keine Sekunde seines Lebens damit verschwendet, fruchtlose Überlegungen anzustellen, wie er selbigen loswerden könnte. Nichts, wirklich nichts ist gnadenloser als das kalte Licht einer Neonröhre in der Umkleidekabine einer Sportabteilung im Kaufhaus. Besonders dann, wenn man sich hoffnungsvoll einen um zwei Größen zu kleinen Badeanzug über BH und Slip gezerrt hat. Deprimierend. Das Ende vom Lied war, dass ich nichts erstanden habe, sondern geflüchtet bin. Zu Onkel Ali. Im Späti ist es höhlenartig dunkel. Keiner soll mich sehen, bis ich meine Niederlage verdaut habe. Jedes lichtdurchflutete In-Café, in dem gutgebaute und schick angezogene Hipster sitzen, wäre mein Tod, und auch Männes mitleidige Blicke könnte ich nicht ertragen.

«Onkel Ali, hallo! Gibst du mir einen Kaffee, bitte?»

«Frl. Krise, um diese Uhrzeit? Allet jut?»

Onkel Ali sieht mich verwirrt an. Der Mann versteht gar nicht, wovon ich spreche. Vielleicht besser so.

«Hüseyin! Wo ist das Spülmittel?», schallt es aus dem Hinterzimmer.

«Emine!», flüstert Onkel Ali. «Sie will sauba machn.» Er seufzt. «Dit hat ma noch jefehlt heute! Erst jeht die Kasse kaputt, und nu kommt sie mit ihrn Putzanfall!»

Wenn Emine Onkel Ali «Hüseyin» nennt, ist dicke Luft. Ich ziehe meinen Kopf ein und verkrümele mich an den einzigen Tisch im hinteren Teil des Ladens. Da guckt Emine auch schon kriegerisch um die Ecke. Sie trägt einen kurzen hellblauen Kittel, gelbe Gummihandschuhe und hat ihre schwarzen langen Haare mit einem breiten weißen Stirnband gebändigt. In der einen Hand hält sie einen Lappen, in der anderen einen Eimer.

«Merhaba, Emine!»

«Tag, Frau Freitag!»

«Dit is doch nich Frau Freitag! Dit is Frl. Krise!» Onkel Ali schüttelt den Kopf. «Wat willste denn noch allet, sevgilim? Ick hab dir doch die Putzsachen schon hinjestellt!»

Emine rattert einen türkischen Satz runter, den ich nicht verstehe, und verschwindet.

Onkel Ali kratzt sich am Kopf und sagt leise: «Katastrophe! Sie hat letzte Woche ihre Arbeit jekündicht, und nu dreht se durch.»

«Gekündigt? Warum das denn?»

Seitdem ich Emine kenne, arbeitet sie an der Kasse eines kleinen Super-Market in der Bergmannstraße. Ich erfahre, dass der Inhaber, der Emine immer aus der Hand gefressen hat, sich zur Ruhe setzen will. Sein Sohn übernimmt nun das Geschäft, und das wäre auch völlig in Ordnung, wenn dieser Sohn nicht eine Frau hätte, die «Haare uff die Zähne hat», wie es Onkel Ali ausdrückt.

«Diese Zeynep und meene Emine, dit konnte nich jutjehn …!» Er hebt beide Hände zum Himmel. «Allah bilir! Ick bete, dit se

«Natürlich.»

Der arme Onkel Ali. Emine den ganzen Tag zu Hause! Das kann böse enden. Aus dem Hinterraum hört man lautes Gepolter.

«HÜSEYIN! Komm mal sofort!»

Besser, ich trinke schnell meinen Kaffee aus und verziehe mich.

***

Ach, da steht er schon, der Reisebus. Voll übertrieben, mit einem Bus auf die Klassenfahrt zu fahren. Brandenburg ist doch gleich um die Ecke. Da hätten die bestimmt locker mit der S-Bahn anreisen können. Und warum die Krise da unbedingt mitfahren will, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben. Es gibt kaum etwas, das noch unerholsamer ist als eine Klassenfahrt mit einer achten Klasse – vielleicht Flucht aus einem Kriegsgebiet oder Evakuierung nach einer Atomkraftwerkshavarie.

Die Nolte ist schon voll in ihrem Element. Wie ein Wachhund steht sie da. Mit Klemmbrett. Logisch. Und diese Röcke, die die immer trägt! Nicht unschick, aber total unpraktisch. Ein Trainingsanzug und eine Trillerpfeife wären für die Abfahrt bestimmt angebrachter. Aber die perfekte Nolte muss natürlich immer perfekt rüberkommen, und heute trifft sie ja auch auf Eltern. Ah, da hinten kommt die Krise angestöckelt. Oh Mann, kann die sich nicht mal bequeme Schuhe kaufen? Jetzt wird sie eine Woche auf ihren Pumps rumstaksen, und dann jammert sie wieder tagelang rum, dass ihr die Füße wehtun. Es gibt doch so schönes orthopädisches Schuhwerk, habe ich ihr schon tausendmal gesagt und ihr sogar den Laden in der Solmsstraße gezeigt. Da hat sie mich nur verächtlich angeguckt und gesagt, sie hätte ihr Leben in hochhackigen Schuhen verbracht und sie möchte auch in hohen Hacken begraben werden.

Bedient

«Rück mal ein bisschen!» Monika Nolte klemmt sich neben mich auf den Sitz. Wir haben natürlich den bevorzugten Platz ganz vorne im Bus, rechts neben dem Fahrer. Hier ist die Aussicht am besten, aber die Abtrennung zur Tür hin verhindert jede Beinfreiheit. Sonderlich bequem finde ich das nicht. Zum Glück ist es nicht weit nach Falkenthal, vielleicht gerade mal sechzig Kilometer. Wenn nur der Berliner Stadtverkehr nicht wäre! Auf dem Mehringdamm stehen wir im Stau. Baustelle! Monika ist schon tausendmal durch den Bus geturnt, sie hat zum zigsten Mal unsere Schüler gezählt, sie auf ihre Plätze gescheucht, dem Busfahrer letzte Anweisungen gegeben, und nun kramt sie hektisch in ihrer riesigen Tasche. Sie fördert zwei Plastiktüten zutage und sagt:

«Falls einem schlecht wird! Die Merve hat sich auf der letzten Busfahrt übergeben. Das war eine schöne Schweinerei, kann ich dir sagen!»

Aus diesem Grund habe sie Merve gleich hinter uns platziert, erklärt sie mir. «Damit wir im Notfall eingreifen können.»

Ich blicke mich ängstlich um. Wenn die mir in den Nacken … Aber noch sieht Merve blühend und gesund aus. Sie öffnet gerade eine riesige Chipstüte und lächelt mich freundlich an. Monika neben mir ruckelt sich zurecht. Sie fährt sich durch die Haare, zupft an ihrem Schal und streicht ihren Rock glatt.

«Bin ich froh, dass wir den Thomas nicht mitnehmen müssen!», sagt sie und schiebt sich zufrieden ein Pfefferminzbonbon in den Mund. «Den Terror von diesem Jungen hätte ich keinen Tag länger ertragen!»

Ich bin ganz ihrer Meinung. Zwar muss die arme Frau Freitag das jetzt ausbaden, aber es ist wirklich besser so – jedenfalls für uns.

«Ich fahr mit. Kannst du nix machen!»

«DUZ MICH NICHT UND RAUS HIER!», hatte Monika geschrien, aber erst der eilig herbeitelefonierte Herr Fischer schaffte es, Thomas wieder ins Freie zu komplimentieren. Der Bus kommt nur im Schneckentempo vorwärts. Wenigstens sind wir jetzt schon kurz vor der Autobahnauffahrt Tempelhofer Damm.

Unser Busfahrer greift zum Mikro: «Guten Tag! Ich bin der Manfred und möchte euch an Bord begrüßen. Wenn ihr euch ordentlich benehmt, werden wir uns gut vertragen. Beim Fahren sitzen bleiben! Das Klo ist abgeschlossen und bleibt abgeschlossen. Bis Falkenthal brauchen wir eine Stunde, da muss keiner müssen. Abfälle in den Abfalleimer. Ich will nichts auf dem Boden finden! Und wehe, es klebt irgendwo ein Kaugummi!»

Er dreht sich kurz zu uns um. «Ich mach mal ein bisschen Musik!»

Monika nickt, und unter den Klängen von «Tage wie diese» biegen wir auf die Autobahn ab. Die Sonne scheint, im Bus breitet sich langsam eine friedliche Stimmung aus, und ich beginne, die Fahrt zu genießen.

«Ohne Thomas werden wir es richtig nett haben!» Monika reibt sich die Hände. «Nur auf Mert müssen wir ein wachsames Auge haben, der zieht uns sonst noch den Onur mit. Ich bin ja so gespannt, wie es dir in Falkenthal gefällt, Frl. Krise! Ich hab mich damals auf der Suche nach einem Ferienhaus gleich in den Ort verliebt. So romantisch! Und die Leute …!»

Sie kichert. «Richtige Originale! Weißt du, Falkenthal ist noch ganz ursprünglich, so gar nicht touristisch. Da gibt es nur einen kleinen Konsum, sonst nichts.»

«Nein, aber alle nennen den so. Es gibt auch ein paar Stühle vor dem Geschäft, da kann man Kaffee und Kuchen bekommen oder ein Eis essen. Die Zentrale des Dorfes! Die Kneipe macht ja nur abends auf, und das noch nicht mal jeden Tag. Die Chefin vom Konsum heißt Gabi Schmidt, die ist wirklich ganz patent. Nebenher bietet sie noch medizinische Fußpflege an und …»

Monika streckt ruckartig ihre Hände vor und präsentiert mir ihre Fingernägel. «Hier! Ist auch ihr Werk! Letztes Wochenende! French Nails. Aber sie hat auch Gelnägel und Airbrushing im Programm. Kostet nur halb so viel wie in Berlin. Du könntest auch mal …»

«Nee, danke!» Ich schiebe meine Hände unter meine Jacke. Abgebrochene Nägel sind leider mein Markenzeichen. Trotzdem! Künstliche Fingernägel – niemals!

Kurz hinter Berlin endet die Autobahn, und es geht auf einer schmalen Landstraße weiter. Das Dorf, durch das wir gerade fahren, heißt Grünsee. Es wirkt wie ausgestorben.

«Hier gab es mal kurzfristig einen ganz schönen Edeka», erzählt Monika, «es war das einzige vernünftige Geschäft weit und breit. Aber das ist Weihnachten leider abgebrannt.»

«Was? Warum das denn? War die Weihnachtsbeleuchtung defekt?»

«Keine Ahnung. Ich glaube, der Gastank ist explodiert oder so. Jedenfalls ist sogar einer von der freiwilligen Feuerwehr beim Löschen ums Leben gekommen. Die sind ja wohl nicht so gut ausgebildet wie die von der Berufsfeuerwehr.»

«Ist ja schrecklich.»

Monika nickt. «Ja, das stand sogar in der Berliner Zeitung auf der Brandenburgseite.»

Die Brandenburgseite! Diese Seite überblättere ich grundsätzlich. Brand in Brandenburg – wen interessiert das schon?

«Guck mal da! Auch geschlossen!» Monika zeigt auf ein runtergekommenes Haus. «Geschenke, Getränke, Blumen», steht über

«Merve? Isst du immer noch Chips? Hör mal lieber auf! Nachher wird dir wieder schlecht.»

«Hm. Liegt die Jugendherberge eigentlich weit weg vom Dorf, Frau Nolte?», fragt Merve undeutlich und befördert die nächste Ladung in ihren Mund. «Ich mein, wenn man sich was kaufen will?»

«Nein, nur ungefähr einen Kilometer. Ein herrlicher Waldweg.»

«Voll weit!» Merve ist entsetzt. «Gibt’s da Netto oder Lidl?»

Monika ist schon wieder bei mir. «Die Leute im Dorf sind natürlich ein bisschen anders als die Berliner. Aber sehr freundlich und offen.» Sie stockt. «Na ja, jedenfalls die meisten. Besonders interessant ist dieser Künstler, der Markwart! Der kommt ursprünglich aus Berlin. Jetzt lebt er aber schon ein paar Jahre in Falkenthal. Von dem hatte ich dir schon erzählt, oder? Wir dürfen mit interessierten Schülern sein Atelier besichtigen, hat er mir angeboten. Ich war vor einem halben Jahr auf einer Vernissage bei ihm. Ich kann dir sagen, vom Feinsten! Kulturell wirklich hochstehend, und es gab teuren Champagner, und mein Mann hat auch gesagt …» Monika kommt

***

«Frau Freitag, ich brauche noch Kleister», ruft Volkan.

«Und ich habe gar kein Zeitungspapier mehr», quengelt Rosa.

Pappmaché – warum habe ich mir nicht eine schöne Zeichenaufgabe ausgesucht? Immer wieder der gleiche Fehler – zu arbeitsintensive Kunstprojekte, die mir dann wochenlang den letzten Nerv rauben. Ich bin schon völlig verschwitzt. Zum Glück ist dieser Thomas H. nicht hier. In der ersten Stunde hatte ich Ethik in meiner Klasse, und da hätte er eigentlich kommen müssen. Und jetzt in Kunst ist er auch nicht da. Ich habe auch so schon genug Stress. Günther braucht wie immer seine Extraportion Motivation. Ohne mein beständiges gutes Zureden fängt er gar nicht erst an. Jetzt habe ich ihn wenigstens so weit, dass er die erste Schicht Zeitungspapier um den Ballon geklebt hat. Günther braucht die persönliche Ansprache.

Unser tägliches Ritual: «Günther, zieh bitte die Jacke aus.»

Seit ein paar Wochen hat er eine neue Jacke. Eine schwarze von Jack Wolfskin. Die hütet er wie seinen Augapfel. Mittlerweile trägt eigentlich niemand mehr eine Winterjacke. Es ist April, und in meinen Raum scheint den ganzen Tag die Sonne rein. Mittags sind es bestimmt 25 Grad hier, und trotzdem sitzt Günther in seiner Winterjacke im Unterricht. Heute konnte ich ihn aber dazu bewegen, sie auszuziehen und über seinen Stuhl zu hängen. Ich kann ja verstehen, dass er diese Jacke liebt, die war bestimmt auch sehr teuer, und seine Mutter ist arbeitslos. Solche Jacken kosten locker 180 Euro. Da hat seine Mutter lange für sparen müssen. Eigentlich ist es ja schön, wenn die Kinder das würdigen und pfleglich mit ihren Sachen umgehen. Die meisten meiner Schüler sind da ganz anders. Die schmeißen zum Beispiel regelmäßig ihre Schultaschen

«Hi, Fans!»

Thomas H. steht plötzlich mitten im Raum. Er beachtet mich überhaupt nicht, sondern geht direkt an den Tisch von Hamid, Günther und Orkan und begrüßt Günther und Hamid mit übertrieben vielen Küssen auf die Wangen. Der Rest meiner Klasse hat die Arbeit eingestellt und beobachtet diese Szene gebannt. Thomas lässt sich auf den leeren Stuhl neben Hamid fallen und greift sich den Becher mit dem Tapetenkleister:

«Was das für schwule Kacke, Alter?» Er tunkt kurz seinen kleinen Finger in den Kleister und hält ihn Hamid unter die Nase. «Voll pervers, diese Schule. Hamid, los sag, wie lange hast du da reingewichst, bis du den Topf hier voll hattest?»

Günther kichert. Hamid auch, aber nicht so laut. Thomas nimmt sich etwas Kleister mit dem Zeigefinger und schnippt den direkt in Orkans Gesicht.

«Was glotzt du so behindert? Bist du verliebt? Muss ich dich enttäuschen, ich bin nicht so ein verkackter Homo.»

Günther kichert wieder, und diesmal lacht Hamid auch.

«Thomas!», rufe ich streng vom vorderen Gruppentisch. Ich habe die Hände voller Kleister, weil ich Rosa mit ihrem Pinguin helfe. Wenn ich jetzt nach hinten gehe, dann tropfe ich den ganzen Boden voll. Thomas reagiert nicht. Orkan wischt sich den Kleister von der Nase, sagt aber nichts. Thomas fixiert Orkan.

«Warum wischste dit weg, Alta?», fragt Thomas, nimmt noch eine Ladung Kleister und schnippt sie erneut in Orkans Richtung. «Hier, nimm, Wichse is jut für den Teint.»

Orkan, der sich nicht schnell genug wegducken kann, bekommt die volle Ladung ab. Diesmal lacht keiner, und ich sehe, wie sich Orkans Schultern nach hinten ziehen. Blitzschnell nimmt Orkan seinen Becher mit dem Kleister und wirft ihn auf Thomas. Der

Günther springt auf und starrt auf seinen Stuhl. «MEINE JACKE!!»

Eine dicke Portion Tapetenkleister läuft langsam über den Ärmel der Jack-Wolfskin-Jacke. Günther erstarrt. Plötzlich springt Thomas auf, hechtet auf die andere Seite des Gruppentisches und nimmt Orkan in den Schwitzkasten.

«Bist du behindert, du Spast? Das ist die Jacke von mein Kumpel!»

Mit der freien Hand greift sich Thomas den Kleisterbecher von Günther und hält ihn über Orkans Kopf.

«Hier ein bisschen Spermaschleim für die Haare. Ist jetzt der neuste Trend.» Als der Tapetenkleister auf Orkans Kopf landet und in Zeitlupe an seinen Schläfen herunterläuft, lässt Thomas Orkan los und biegt sich vor Lachen nach hinten. Orkan springt hoch und rennt raus.

«THOOOOOOMMMMAAAAS