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Anna Trökes / Bettina Knothe

Neuro-Yoga

Wie die alte Weisheitspraxis auf unser Gehirn wirkt

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Anna Trökes / Bettina Knothe

Anna Trökes ist eine Pionierin des deutschen Yoga. Sie ist seit über 30 Jahren eine Institution in der Yoga-Lehrer-Ausbildung und unterrichtet europaweit Yoga-Philosophie, Pranayama, Meditation und Hatha-Yoga. Die bekannte Autorin hat mehr als 20 Bücher veröffentlicht. www.troekesyoga.de

 

Dr. Bettina Knothe ist Diplom-Biologin mit Promotion in Umweltwissenschaften. Sie arbeitet als Fachberaterin in den Themenfeldern Nachhaltigkeit, Gesundheit und gesellschaftliche Unternehmensverantwortung sowie als Trainerin in der Erwachsenenbildung und als Hochschuldozentin. www.medeambiente.eu

Impressum

eBook-Ausgabe 2014

Knaur eBook

© 2014 O.W. Barth Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41063-9

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Endnoten

1

Zum Begriff der Vrittis siehe Anmerkung 5.

2

Eliade 1977:78.

3

Mehr zu der Wirkweise von Prägungen im Abschnitt Samskaras in Kap. 1.

4

Die fünf Aktivitäten des Citta (die Vrittis) im Yoga-Sutra sind: richtige Wahrnehmung (pramana), falsche Wahrnehmung bzw. Irrtum (vipararyaya), Vorstellung bzw. das Denken in Konzepten (vikalpa), Schlaf (nidra) und Erinnerung (smrti).

5

Lat.: cohaerere: zusammenhängen; hier im Sinne von: sinnbildende Zusammenhänge schaffen.

6

Dieser Prozess des Über-sich-selbst-Nachdenkens wird in den Neurowissenschaften Metakognition genannt.

7

Jon Kabat-Zinn nennt das, was gesamtgesellschaftlich dadurch entsteht, treffend »Die unaufmerksame Gesellschaft« (2008:156).

8

Auch Glaubenssätze, Erwartungen, Konzepte etc. sind im kortikalen Gedächtnis der Großhirnrinde gespeichert.

9

Das bezieht sich auf Forschungen des Wirtschafts-Nobelpreisträgers und Psychologen Daniel Kahnemann im Rahmen seiner Neuen Erwartungstheorie.

10

Krishna gilt als menschgewordene Wiedergeburt (als Avatar) des hinduistischen Gottes Vishnu.

11

Heutzutage wird dafür häufig die sogenannte Ampel-Übung benutzt, die der Psychologe Roger Weissberg in den 1980er-Jahren an der Yale University erarbeitet hat. Dabei bedeutet Rot: »Halt! Beruhige Dich! Atme langsam tief durch, und wenn Du ein bisschen ruhiger geworden bist, erkläre Dir selbst, worin das Problem besteht und wie Du Dich fühlst.« Gelb bedeutet, sich zu bremsen, sich das Vorhandensein mehrerer Lösungswege für ein Problem bewusst zu machen und den besten zu wählen. Grün bedeutet, diesen Plan zügig umzusetzen und zu beobachten, was daraus wird. (Quelle: Goleman 2014: 244 f.)

12

Es mag paradox klingen, dass es einer Absicht und einer Entschlusskraft bedarf, um die Hintergründe des eigenen Verhaltens und Handelns zu erforschen, und dass im nächsten Schritt unsere Absichten als Kleshas, also Spannungen verursachende Kräfte, benannt werden. Es geht aber darum, sich zunehmend differenzierter darüber bewusst zu werden, was unsere Absichten sind und wie wir unsere Entschlusskraft einsetzen.

13

Cluster: Bündelung, Ansammlung; hier im Sinne des neurologischen Grundsatzes »Neurons, that wire together, fire together« (Donald Hebb).

14

Daniel Siegel (2007:95) beschreibt diesen Prozess mit dem Akronym YODA: »You observe and decouple automatically.« (Man beobachtet und entkoppelt automatisch.)

15

Der Buddhismus spricht von Verblendung und nennt diese Neigung die dritte Ursache, aus der wir uns immer wieder neues Leid erschaffen.

16

Ausführliche Darstellungen dazu finden sich in seinen Büchern Das achtsame Gehirn (2007) und Mindsight (2012).

17

Es befindet sich eigentlich in einem Zustand »präfrontaler Dysfunktion« (Siegel 2012:136).

18

So z.B. auf seinem Workshop Mindsight an der Universität Graz im Jahr 2013.

19

Wenn uns zum Beispiel jemand fragt, wie uns die neue Arbeitssituation »schmeckt«.

20

In einem solchen Fall könnten wir zum Beispiel sagen, dass eine Situation »zum Himmel stinkt«, dass ihr »ein bestimmter Geruch anhaftet«.

21

In der Tradition des tantrischen Yoga der Energie werden sie Indriyas genannt.

22

Guru heißt eigentlich wörtlich übersetzt nichts anderes als »einer, der das Licht im Dunkeln hält«.

23

Auch im Buddhismus wird die manchmal überwältigende und körperlich erfahrene Macht dessen, was wir als Begierde oder Bedrohungssignal auffassen, mit dem Wort »Durst« (tanha) benannt. Sind wir wirklich durstig, dann tun wir alles, um unseren Durst zu stillen (Hanson 2010:48). Ist unser Durst dann gelöscht, ist die Begierde nicht mehr vorhanden oder zumindest für eine Weile inaktiv.

24

Diese vier Qualitäten fasst er in dem Akronym COAL (für: curiosity, openness, acceptance, love) zusammen.

25

Prasad bedeutet wörtlich »die gesegnete Gabe«.

26

Alle diese Interpretationen stammen von Swami Veda Bharati. Normalerweise finden wir für citta prasadana die Übersetzung »klarer Geist« oder einfach nur »Klarheit«.

27

Kaivalya bedeutet wörtlich »Alleinsein« und im übertragenen Sinn, dass man frei ist von allen Anhaftungen und Verstrickungen (YS II,25).

28

»Du hast ein Recht auf das Handeln, aber nur auf das Handeln an sich, niemals auf dessen Früchte. Lass nicht die Früchte zum Beweggrund Deines Wirkens werden! Und sei nicht der Untätigkeit verhaftet!« (Bhg II,47) »Fest gegründet im Yoga, vollbringe Deine Taten als einer, der jegliche Haftung aufgegeben hat und gleichmütig geworden ist hinsichtlich Misslingen und Erfolg! Denn Ausgeglichenheit ist der Sinn des Yogas.« (Bhg II,48) »Derjenige, dessen Einsicht das Eins-Sein erlangt hat, weist schon hier in dieser Welt der Gegensätze beides, ›gut‹ oder ›schlecht‹ zu handeln, von sich. Strebe danach, im Yoga gegründet zu sein. Yoga ist die Geschicklichkeit im Handeln!« (Bhg II,50; Sri Aurobindo 2005:19)

29

Zitiert aus dem Artikel »Vairagya« von Imogen Dalmann und Martin Soder in der Zeitschrift Viveka, Heft 52/2014, S. 24.

30

Interessanterweise braucht gerade die Verstärkung häufig genutzter Nervenfasern mit der sie umhüllenden Myelinschicht, die die Übertragung von Impulsen erleichtert und beschleunigt, ebenfalls einen Zeitraum von mehreren Wochen, um nachhaltig stabilisiert zu werden.

31

© Kabat-Zinn, Jon: Zur Besinnung kommen. Arbor Verlag Freiamt, 5. Auflage 2013.

32

Also in ihm, in Krishna.

33

Die beiden anderen Götter sind Brahma, der alles erschafft, und Shiva, der alles zerstört und damit wieder in seinen unerschaffenen und damit ursprünglichen Zustand zurückführt.

34

Mihály Csíkszentmihályi begründete 1998 zusammen mit Martin Seligman die Positive Psychologie.

35

Tonus meint die Ruhespannung eines Muskels. Der Begriff wird heutzutage auch zur Beschreibung des allgemeinen Spannungszustands von Körper und Geist verwendet.

36

»Neuropeptide und ihre Rezeptoren verbinden […] das Gehirn, die Drüsen und das Immunsystem in einem Netzwerk von Kommunikation zwischen Gehirn und Körper und stellen wahrscheinlich das biochemische Substrat von Gefühlen dar.« (Pert et al. 1995, zitiert nach: Uexküll, Psychosomatische Medizin, 2008:102)

37

Candace B. Pert, Moleküle der Gefühle. Körper, Geist und Emotionen, Deutsche Übersetzung von Hainer Kober, Copyright © 1999 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.

38

Im Hatha-Yoga werden der Zustand der Meditation und der des Einsseins Raja-Yoga (wörtlich: der königliche Yoga) genannt.

39

Die folgenden Sutras werden nach der Übersetzung von T.K.V. Desikachar (1997) zitiert.

40

Der Gesamtheit der linken Gehirnhemisphäre werden häufig Logik, Struktur, Linearität und analytische Sprachverarbeitung zugeordnet, was der Entfaltung von einfühlsamer Achtsamkeit eher entgegengesetzt scheint. Tatsächlich aber scheint bei differenzierterer Betrachtung gerade der linke Präfrontalkortex durch die Achtsamkeitspraxis und das Gewahrsein unserer inneren Konstitution aktiviert zu werden; siehe ausführlich im nachfolgenden Kapitel 5.

41

Der Konstruktivismus (im Gegensatz zum Determinismus) geht davon aus, dass die persönliche Wahrnehmung und die Wahrnehmung der persönlichen Lebenswelt konstruiert und nicht gegeben bzw. von vornherein festgelegt sind. Wir orientieren uns an dem Zweig des Interaktionistischen Konstruktivismus nach Kersten Reich, Universität Köln (siehe Reich 1998). Dieser Ansatz beachtet und analysiert insbesondere die Bedeutung der kulturellen und lebensweltlichen Interaktionen bei der Re-/De-/Konstruktion von individuellen und gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeiten.

42

In allen Lebensläufen haben wir nur die derzeitigen Wirkungs- und Arbeitsorte der Gesprächspartner aufgenommen, entsprechend den Angaben im zitierten Buch. Die ausführlichen beruflichen Werdegänge sowie Informationen zu wissenschaftlichen Titeln und Auszeichnungen finden Sie bei Eckoldt (2013) und in den Webpräsenzen der befragten Personen.

43

Phänomen (griech.: fainómenon): ein sich Zeigendes, Erscheinendes.

44

Ein anderer Begriff für die Erste-Person-Perspektive ist Quale (Plural: Qualia) – ein Ausdruck für die unteilbare, unmittelbare Qualität einer subjektiven Empfindung.

45

Wir erzeugen im Gehirn über zwei Wege Vorstellungen (Assoziationen) von Zusammenhängen: Wir setzen zum einen Elemente der äußeren Welt gedanklich miteinander in Verbindung – spielen sozusagen etwas durch, schieben die Möglichkeiten hin und her; gleichzeitig gleichen oder bilden wir diese Vorstellungen zum anderen mit bestehenden neuronalen Netzwerken ab, die bereits innere Bilder der äußeren Welt im Gehirn speichern. Dieses bereits gespeicherte Bild wird als Repräsentation bezeichnet (vgl. Bauer 2006a).

46

Boris Cyrulnik, Rette dich, das Leben ruft. © 2013 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.

47

Die Philosophin Jessica Benjamin beschreibt mit ihrer Theorie der Intersubjektivität ein Verhältnis zwischen zwei Personen, die sich nicht als voneinander getrennte Objekte erfahren, sondern sich ihrer eigenen Subjektivität und der der anderen Person bewusst sind. Beide müssen bereit sein, den anderen anzuerkennen, um sich selbst in der Anwesenheit des anderen erfahren zu können. Benjamin geht davon aus, dass wir ein Bedürfnis nach Anerkennung haben, und gleichzeitig auch die Fähigkeit, andere unsererseits anzuerkennen. Wir besitzen also (nicht nur neurophysiologisch durch unser Spiegelneuronensystem!) sowohl das emotionale Potenzial als auch das Bedürfnis, uns jenseits von Idealisierung und Machtverhältnissen wechselseitig anzuerkennen, statt uns voneinander abzugrenzen (vgl. Benjamin 2002).

Vorwort von Dr. Ronald Steiner

Yoga kann viele Gesichter und Namen haben. Gerade in den letzten Jahren entstehen mehr und mehr Namen für scheinbar neue Übungsmethoden des Yoga. Dieses Buch reiht sich jedoch nicht in diese Folge ein, es geht gerade nicht darum, eine neue Weise des Übens zu definieren, sondern vielmehr darum, die Grundlagen jeder Yoga-Praxis besser zu verstehen.

Denn wie auch immer eine Übungsmethode des Yoga heißen mag, im Kern möchte sie den Übenden dabei unterstützen, einen klaren Geist zu kultivieren, damit sie oder er die wahre Natur erkennen kann.

Fast alle Wege des Yoga sehen diese, hier frei nach Patañjali zitierte, Basis als ihr eigentliches Ziel. Jeder Übungsweg, egal ob durch alte Traditionslinien über Generationen hinweg überliefert oder durch die vielfältigen Neuschöpfungen der letzten Jahrzehnte entstanden, steuert immer wieder auf dieses gleiche Ziel zu. Die Wege zu diesem gemeinsamen Ziel jedoch können verschiedener gar nicht sein.

Während sich einige in bewegungsloser Meditation auf ihr wahres Selbst konzentrieren, versuchen andere mit Atemübungen den Geist zur Ruhe zu bringen. Manche Wege muten sportlich an und die körperliche Fitness scheint wesentlich, andere legen ihren Schwerpunkt auf subtile philosophische Betrachtungen. Wieder andere folgen langsamen, vom Atem getragenen Bewegungsfolgen, um in der körperlichen Dynamik mentale Stille zu finden. Auch statisches minuten- bis stundenlanges Verharren in Positionen und schnelle wiederholende Bewegungen umfasst das weite Spektrum der Übungswege, die unter dem Namen Yoga zusammengefasst sind. Es ist schwer bis unmöglich, Yoga über die konkrete Praxis zu definieren. Eine Definition kann erst durch die Ausrichtung auf das Ziel gelingen.

Wie kann es aber sein, dass so unterschiedliche Übungswege immer wieder zum gleichen Ziel, dem klaren Geist führen? Was ist überhaupt dieser, immer wieder beschriebene, klare Geist? Welche Veränderungen lassen sich in unserer Psyche und in unserem Gehirn basierend auf den unterschiedlichen Techniken feststellen? Kann moderne Psychologie und Neurowissenschaft diesen Zustand näher erklären und uns helfen, ihn besser zu verstehen? Genau mit diesen Fragen beschäftigen sich Anna Trökes und Bettina Knothe in diesem Buch und eröffnen so eine neue Sichtweise auf die uralte Tradition des Yoga.

Moderne Forschungsergebnisse helfen uns, die Wirkungsweisen des Yoga besser nachzuvollziehen und so über Jahrtausende überlieferte und immer wieder neu sich entwickelnde Techniken in einem klareren Licht zu sehen. Sie helfen uns, deutlicher zu erkennen, welche neuronalen Anpassungen durch die verschiedenen Übungen hervorgerufen werden. Wo und wie sich diese Anpassungen gegenseitig ergänzen und wie ganz unterschiedliche Ansätze überraschend ähnliche Lernprozesse in uns anstoßen. Uraltes Erfahrungswissen begegnet so neuen Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung. Dieses Buch macht das Zusammentreffen für uns nachvollziehbar und zeigt Zusammenhänge und Hintergründe auf. Daraus entsteht ein neues, klareres Verständnis von dem, was Yoga ist, und über seine Praxis. Dieses Buch ist ein wertvoller Leitfaden für alle, die in diese Hintergründe des Yoga und seiner Wirkungsmechanismen eintauchen möchten.

 

Dr. Ronald Steiner

Arzt und Yogalehrer – AshtangaYoga.info

Vorwort der Autorinnen

Wie dieses Buch Gestalt annahm

Jede Autorin und jeder Autor, die versuchen, die Wirklichkeit unseres Gehirns und seiner Wirkzusammenhänge zu beschreiben, steht vor der Schwierigkeit, einen enorm komplexen und vielschichtigen Inhalt in einer linear organisierten Sprache wiedergeben zu müssen. Genau wie bei den Yoga-Konzepten hängt auch in unserem Nervensystem, unserem Geist und unserem Körper alles mit allem zusammen. Den Grad der Vernetzung beginnen wir gerade erst zu erahnen, und wahrscheinlich wird er uns in seiner ungeheuren Komplexität immer unfassbar bleiben. Das lehrt Respekt und vor allem Demut.

Wir, die Autorinnen, haben unzählige Bücher verschlungen und durchgearbeitet. Wir haben Kongresse und Symposien besucht, viele inspirierende Vorträge führender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehört und uns ganz auf unser wundervolles Thema eingelassen. Wir haben viele lange und intensive Gespräche geführt, um uns unserem Forschungsgegenstand, nämlich den erstaunlichen Überschneidungen zwischen der Yoga-Lehre und den Erkenntnissen der Neurowissenschaften, zu nähern.

Um der Komplexität und der Vernetztheit wenigstens annähernd gerecht zu werden, haben wir uns entschlossen, bestimmte Themen wie zum Beispiel das Konstrukt unserer Persönlichkeit, die verschiedenen Wahrnehmungsqualitäten, die Entfaltung von Emotionsregulation oder das System der Spiegelneuronen bewusst mehrfach und in unterschiedlichen Zusammenhängen darzustellen. Diese bewussten Wiederholungen möchten der Leserin und dem Leser helfen, möglichst vielen Aspekten dieser spannenden Themen begegnen zu können. Bei der Erarbeitung der Inhalte haben wir sehr oft Mindmaps gemalt, die uns sehr darin unterstützt haben, komplexe Strukturen miteinander in Beziehung zu setzen und durch ihre Veranschaulichung besser zu verstehen. Besonders das 5. Kapitel, das das Eingewobensein aller Aspekte unseres Wahrnehmens, Denken und Fühlens – und damit unseres Gewordenseins – betrachtet, versucht sprachlich eine solche Mindmap abzubilden.

Kurz: Wir haben alles versucht, uns gestalterisch und sprachlich den Inhalten so zu nähern und diese so aufzubereiten, dass sie Ihnen als Leserin bzw. Leser trotz ihres hohen Grades an Komplexität verständlich werden und Sie sich eingeladen fühlen, dieses Wissen nutzbringend in Ihren Alltag zu integrieren.

Es ging uns darum, Wissen wachzurufen und Einsicht und Erkenntnis zu ermöglichen. Zu diesem Zweck stellen wir Ihnen ein Instrumentarium an Wissen, Erkenntnissen und Methoden vor und zur Verfügung, das Ihnen zur Grundlage der Arbeit an und mit sich selbst (im Sinne der Selbstentfaltung und Transformation) werden kann.

Dabei ist uns sehr bewusst, dass wir nur das erörtern und beschreiben können, was uns zum jetzigen Zeitpunkt bedeutungsvoll erscheint und was wir zu verstehen meinen. In welchem Maße sich die Bewertung von Bedeutungsvollem und vor allem unser Verständnis wandeln, erfahren wir, die Autorinnen, sehr intensiv im Prozess des Durchdenkens, des Schreibens und des erneuten Durchdenkens in den vielen Durchgängen des Korrekturlesens. Im Grunde genommen erfahren wir unseren Text als etwas Lebendiges, das sich nie in seiner Gesamtheit, sondern immer nur als das darstellt, was es in gerade diesem Moment zu sein scheint. Unser Text ist eine solche Momentaufnahme unseres aktuellen Wissens- und Erkenntnisstandes – und er kann auch gar nichts anderes sein.

 

Bettina Knothe & Anna Trökes,

Berlin im Mai 2014

Einleitung

Wir schwimmen Tag für Tag im Strom des Lebens, und wie es halt so ist, hören wir dabei die meiste Zeit nicht auf das geflüsterte Verlangen unseres eigenen Herzens.

Jon Kabat-Zinn

Unser Verständnis von Yoga

Was ist Yoga? Diese Frage steht oft am Anfang eines neuen Yoga-Kurses mit Teilnehmenden, die noch nie Yoga praktiziert haben. Sie wird gelegentlich gestellt, wenn Menschen sich für Yoga interessieren und für sich entscheiden müssen, mit welchem Yoga-Stil sie anfangen wollen.

Da Yoga etwas ungemein Komplexes und Vielschichtiges ist, beziehen wir als Yoga-Lehrerinnen uns bei dieser Frage in unserem Unterricht gerne auf Bilder aus dem Alltag, um unser Verständnis von Yoga zu vermitteln. So beispielsweise:

Dahinter steht die Idee, dass alle Menschen mit den Vorstellungen von Kontakt, Beziehung und Freundschaft etwas anfangen können, weil sie mit diesen Begriffen eigene Bilder, Erfahrungen und Vorstellungen verbinden können, die positiv gefärbt sind. Wir wählen diese Begriffe aus, weil wir annehmen, dass unsere Teilnehmenden mit ihnen etwas Positives verbinden. Selbstverständlich können wir nicht wissen, was sie auf der Grundlage ihrer momentanen Verfassung tatsächlich mit »Kontakt«, »Beziehung« und »Freundschaft« assoziieren und wie sich diese Aspekte für sie anfühlen. Aber wenn sie Yoga üben, werden sie auf jeden Fall Gelegenheit haben, im Kontakt mit sich selbst Erfahrungen damit zu machen und diesen Empfindungen nachzugehen. Wenn Yoga-Praxis und Unterricht bewirken, dass sie sich eingeladen fühlen, sich (wieder) auf sich selbst einzulassen, dann wird sie der Yoga sicher darin unterstützen, sich zunehmend in dem zu gründen, was ihnen guttut und was sie geistig und körperlich gesund erhält.

Wie der Yoga sich selbst definiert

Einer der angesehensten und bekanntesten Grundlagentexte des Yoga ist das Yoga-Sutra (sutra: Leitfaden), das dem Weisen Patañjali zugeschrieben wird. Er definiert den Yoga dort (YS I,2) mit den Worten »yogas citta vritti[1] nirodhah«, was zumeist übersetzt wird mit: »Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Aktivitäten des Geistes.« Aus unserer Sicht beschreibt diese Definition den Kern des Yoga-Weges, der uns in einen mentalen Zustand zu führen vermag, der gekennzeichnet ist durch Unmittelbarkeit und Klarheit sowie ein intuitives Verstehen, wer wir wirklich im tiefsten Wesenskern sind. Dieser Kernaussage werden wir in diesem Buch folgen.

Das Yoga-Sutra ist einer der Texte, der uns in diesem Buch begleiten wird. Obwohl zweitausend Jahre alt, ist dieser Text doch so klar und so zeitlos in seiner Analyse des menschlichen Geistes, dass er uns auch heute noch als ein unverzichtbarer Ratgeber zu verstehen hilft, wie wir »funktionieren« und was wir tun können, um zu persönlicher Klarheit, innerer Ruhe und innerer Freiheit zu finden.

Ein weiterer Yoga-Text, auf den wir uns beziehen, ist die Bhagavadgita (ein berühmter Lehrdialog, der ca. 400 v. Chr. entstand). Außerdem wird in unsere Darstellungen indirekt auch immer wieder buddhistisches Gedankengut mit einfließen. Siddharta Gautama praktizierte viele Jahre intensiv Yoga, bevor er Erleuchtung fand und zum Buddha wurde. In seinen Lehren entwickelte Buddha den psychologischen Ansatz der Yoga-Praxis konsequent weiter. Vieles davon floss wiederum in spätere Konzepte des Yoga ein, sodass es zu einer Durchdringung älteren und neueren yogischen und buddhistischen Gedankenguts kam, die wir heute manchmal in ihrem Ursprung kaum noch zu unterscheiden vermögen.

Schlüsselbegriffe unseres Ansatzes

Schlüsselbegriffe innerhalb unserer Yoga-Praxis und Yoga-Lehre sind Innehalten und achtsames Gewahrsein. Sie sind für uns bedeutsam, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass sie es uns erlauben, Zugang zu unserer unbewussten Welt von Erinnerungen, Gewohnheiten, Einstellungen, Konzepten und Alltagsautomatismen zu finden.

In diesem Buch gehen wir davon aus, dass jede Yoga-Übungspraxis Spuren im Nervensystem hinterlässt, und zwar sowohl hervorgerufen durch den Prozess der Wahrnehmung an sich als auch durch unsere Verarbeitung motorischer, sensorischer und kognitiver Eindrücke, mit denen uns diese Praxis konfrontiert. Diese Eindrücke treffen auf die bereits in uns bestehenden neuronalen Abbildungen unserer Körper- und Bewegungsempfindungen. Gleichzeitig schaffen sie durch das aufmerksame Spüren und Bewegen aber auch neue, sinnliche erfahrbare Abbildungen im Nervensystem und im Gehirn. Vermittelt durch unsere Aufmerksamkeit entsteht in uns ein subjektives oder emotionales Gewahrsein, bei dem wir uns selbst be-wusst in unserem sensorischen Erleben beobachten, und zwar dergestalt, dass wir zu uns selbst etwas Abstand bewahren. Das erlaubt es uns, uns selbst beim Handeln, Spüren und Denken zuzuschauen, und es erschafft in uns etwas, was sich im Yoga größter Wertschätzung erfreut: die Instanz des inneren Beobachters oder – wissenschaftlich ausgedrückt – eine Metaposition, bezogen auf das eigene Erleben. »Meta«, was sinngemäß »dahinterstehend« heißt, bedeutet, dass wir gewissermaßen hinter das treten, was wir gerade erfahren, und uns so aus dem Geschehen zurückziehen. Dadurch verändert sich verständlicherweise unsere Perspektive komplett.

Yoga bietet uns in diesem Sinne neben einer Philosophie, die seit Jahrhunderten immer wieder neu durchdacht und angewandt wird, noch eine außerordentlich differenziert ausgearbeitete und vielfältige Methodik, die uns darin unterstützen möchte, Momente und Erfahrungen des Innehaltens in unserem Alltags- und Lebensprozess zu etablieren. Im Innehalten finden wir allmählich zu einem sensiblen Empfinden von Präsenz und lernen, einen hohen Grad bewusster Aufmerksamkeit zu entfalten und beizubehalten. Das wiederum ermöglicht uns, psychische Erfahrungen im JETZT unmittelbar zu spüren, sie auszuhalten, anzunehmen und achtsam mit ihnen umzugehen – eine Fähigkeit, die wir als Selbstwirksamkeit bezeichnen.

Unser Verständnis von Geist (Mind)

Das Yoga-Sutra ist in einer sehr dichten und komprimierten Sprache verfasst. Es vermittelt einerseits den Eindruck, dass Patañjali jemand war, der sehr genau beobachtet hat. Zum anderen hinterlassen die Texte des Yoga-Sutra bei uns Autorinnen den Eindruck, als habe sich die Struktur des Denkens und Reflektierens in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden im Kern so gut wie gar nicht verändert.

Deswegen lohnt es sich auch, ganz genau hinzuschauen, wie Patañjali das definiert, was wir in der deutschen Sprache »Geist« nennen. Er verwendet dafür das Wort citta, wörtlich: »das Gesehene, das Beobachtete, das Erkannte« (Deshpande/Bäumer 1977:23). Citta wird auch als der Bereich oder als das Feld in uns bezeichnet, in dem wir wahrnehmen, denken, fühlen, uns an etwas erinnern, in dem wir uns unserer Gefühle gewahr werden und unsere inneren Bilder erfahren können. Eliade nennt Citta »die psychische Kraft, welche die von außen kommenden Empfindungen ordnet und erhellt«[2]. Es ist auch die Instanz in uns, die es mir ermöglicht, zu wissen, dass ich es bin, die oder der da sieht, hört, denkt und fühlt. Aus diesem Grunde übersetzt Sriram citta mit »das meinende Selbst« (Sriram 2006:32).

Das deutsche Wort »Geist« mag als erste Übersetzung für den Begriff Citta stehen, es gibt jedoch unserer Meinung nach nur sehr ungenau die Vielfalt der Funktionen von Citta wieder. Denn: Der Begriff »Geist« wird sehr oft mit Vernunft und Verstand gleichgesetzt; dabei gerät aus dem Blick, dass auch unsere Empfindungen und unsere Gefühle Teile des Geistigen sind. Unsere Lebenserfahrung wie auch die moderne Hirnforschung zeigen nämlich, dass alle diese Erscheinungsformen des Geistigen auf das intensivste miteinander vernetzt sind. So können wir uns den Citta auch physisch als das milliardenfach verknüpfte Netz von Nervenzellen vorstellen, in dem alle unsere mentalen Inhalte bewahrt werden und aktiv sind. Und dazu gehören neben unserem Verstand eben auch unser Gemüt (also unser emotionales Bewusstsein) wie auch der gesamte riesige Fundus unserer Erinnerungen, unserer inneren Bilder, der Konzepte, auf die wir uns ständig unbewusst beziehen, und nicht zuletzt auch unsere Intuition (also unsere Gabe, etwas jenseits von Konzepten und Worten zu verstehen und zu wissen).

Im weiteren Verlauf dieses Buches werden wir uns an einer Definition von »Geist« (engl.: mind) orientieren, wie er von dem bekannten Neurowissenschaftler Daniel Siegel entwickelt wurde. Danach ist »Mind« etwas, das (uns) durch folgende Qualitäten erfahrbar wird:

Siegel definiert Mind als »einen selbstorganisierten, emergenten Prozess, der in uns und zwischen uns auftaucht und sich dann – auf sich selbst bezogen – immer wieder reguliert. Das, was dabei ständig reguliert wird, ist der Fluss von Energie und Information« (Siegel, Vortrag in Graz 2013). Kurzgefasst könnte man sagen, dass unser Mind ein Prozess ist, der ständig aktiv Energie und Informationen reguliert.

Um sowohl dieser komplexen Definition gerecht zu werden, als auch die diversen Bedeutungen des Sanskrit-Worts citta zu würdigen, haben wir uns dazu entschlossen, in vielen Fällen anstelle von »Geist« das englische Wort »Mind« zu verwenden.

Alle Aktivitäten unseres Mind sind abhängig davon, wie er in der Kindheit und Jugend geprägt wurde.[3] Dies umfasst die Fähigkeit des Geistes, wahrzunehmen, zu empfinden, also Zugang zu unseren Gefühlen zu bekommen bzw. zu unserem Denk- und Reflexionsvermögen, zu unseren Erinnerungen und zu unseren inneren Bildern. Darauf weist schon die Wortbedeutung von citta als »das Gesehene, das Beobachtete, das Erkannte« deutlich hin. »Prägung« meint hier, dass etwas einen prägenden Eindruck in uns hinterlassen hat, bedingt dadurch, wie unser Gehirn in den ersten Tagen, Monaten und Jahren des Lebens genutzt und gefordert bzw. gefördert wurde, und was wir in dieser Zeit sehen, beobachten und erkennen konnten.

Vor diesem Hintergrund begreifen wir, dass Citta – der Mind – auf eine Weise strukturiert wurde, dass er nur das in sich entwickeln kann, was er an Information und Strukturen angeboten bekommt und dann entsprechend im Gehirn verarbeiten kann.

Das Konzept der erfahrungsabhängigen Neuroplastizität

Ein Kind verfügt nach der Geburt über unendliche Möglichkeiten zur Vernetzung seiner Gehirnzellen. Was aus diesen Vernetzungsoptionen tatsächlich ausgewählt wird, wird durch das Angebot und die Qualität an Reizen, Kontakten und Bindungen bestimmt, die von außen an es herangetragen werden. Diejenigen Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster, die sich für ein Kind subjektiv als wesentlich herausstellen, um in einer Gemeinschaft überleben zu können, bilden sich weitestgehend aufgrund dieser Nutzung und werden durch Wiederholung als Muster stabilisiert. Was uns durch solche frühen Erfahrungen eingeprägt wurde, ist zwar keinesfalls unveränderlich, hinterlässt aber zunächst einen so starken Eindruck, dass es die Funktionsweise (das Wie) unseres Mind stark bestimmt.

Das Yoga-Sutra beschreibt die vielfältigen Aktivitäten des Geistes (die Vrittis[4]) im täglichen Leben. Unser Mind ist demnach – und auch das zeigt unsere eigene Lebenserfahrung – fast ununterbrochen in Bewegung. Wir sind ständig dabei, zu empfinden, zu denken, zu fühlen oder uns zu erinnern; und wir erfahren fortwährend, dass innere Bilder, Vorstellungen oder manchmal auch Melodien unseren mentalen Raum (den Citta) erfüllen. Im Verlauf unserer Yoga-Praxis versuchen wir, diesen Raum zu ordnen, ihn überschaubarer zu machen – und vor allem, ihn immer mehr zu leeren.

Die Neurowissenschaften sprechen hinsichtlich unserer Fähigkeit, unseren Mind immer wieder neu zu gestalten, vom plastischen Gehirn. Auch diese Vorstellung, nämlich dass das Gehirn plastisch, also veränderbar und formbar ist, gab es im Yoga schon immer. Ja man könnte sogar sagen, dass sich in diesem Gedanken Sinn und Anspruch unserer Yoga-Praxis gründen. Sie zeigt uns einen Weg – einen von vielen möglichen Wegen –, der uns darin unterstützen kann, alte und unbewusste Prägungen bewusster wahrzunehmen, unseren Mind besser in all seinen Funktionen und Mustern kennenzulernen sowie kompetenter und handlungsfähiger all den leidvollen körperlichen und mentalen Spannungen begegnen zu können, die uns Leid verursachen. Der Yoga lehrt uns zu verstehen, dass wir zwar mit einer bestimmten mentalen Ausstattung kommen, aber nicht notwendigerweise mit ihr auch wieder gehen müssen. Besonders diese Erkenntnis möchten wir in unserem Buch mit Ihnen teilen.

Die Vernetzung von Yoga und Neurowissenschaften

Neue Ansätze in den Neurowissenschaften, der Positiven Psychologie und der Psychotherapie sowie der ressourcenorientierten Persönlichkeitsentwicklung beschäftigen sich seit Jahren verstärkt mit den Themen Achtsamkeit und Selbstwirksamkeit. Alle diese Methoden bemühen sich um integrative Ansätze, die uns ermächtigen sollen, unser persönliches Wohlbefinden zu begründen, angemessen mit Wandel- und Krisensituationen umzugehen sowie offene und achtsame Beziehungen mit anderen Menschen und mit der Welt als Ganzes zu pflegen. Der Yoga verknüpft dieses Anliegen im Rahmen seiner Philosophie und Übungspraxis: Hier ist der Weg das Ziel, und das, wodurch der Yoga sich definiert (der Zustand des stillen, klaren Mind), beschreibt gleichzeitig auch den Prozess, den wir durchlaufen, um diese innere Verfassung in uns zu entwickeln.

Der Yoga lehrt uns, über die Beobachtung unserer Bewegungen, unserer Haltung, unserer Atmung und unserer Gedanken mehr über uns selbst zu erfahren. Jede dieser Beobachtungen hinterlässt ihre Spuren in unserem Gehirn, insbesondere in den Bereichen, die für die Körperwahrnehmung und die Bewegungsmuster zuständig sind. Und es erscheint uns als sehr wahrscheinlich, dass, wenn wir Yoga in Verbindung mit einem so klaren konzeptionellen Rahmen üben, wie ihn das Yoga-Sutra oder andere Yoga-Texte bieten, sich auch jene Gehirnregionen verändern, die es uns ermöglichen, soziale und ethische Entscheidungen zu treffen, also zunehmend soziale und emotionale Kompetenz zu entfalten.

Das betrifft insbesondere unser Stirnhirn bzw. die gesamte präfrontale Region. Und zwar aus folgendem Grund: Im Yoga beschäftigen wir uns kontinuierlich damit, unseren Fokus und unsere Sichtweise so zu verändern, dass wir zusammenführen und einschließen, anstatt auszuschließen und auszugrenzen. Diese Suche nach integriertem Wissen und kohärenter Struktur[5] sollte sich nach unserem Verständnis auch im Gehirn abbilden. Wir sprechen deshalb gerne davon, dass wir vermittels Yoga in unserem Gehirn die Fähigkeit der Kohärenz stärken können.

Yoga und Achtsamkeit

Wir Menschen sind fühlende und (selbst)reflektierende Wesen. Die Existenz und das Zusammenspiel dieser Eigenschaften sind ein großes Geschenk. In diesem Spiel ist jedes Gehirn an Erweiterung interessiert. In »Erweiterung« steckt »weit werden«. Und: Unser Gehirn ist immer »interessiert« an Vernetzung, an Sinnfindung und an Sinnstiftung. Das bedeutet, dass es immer versucht, das Erlebte, Empfundene, Gedachte und Überdachte zu einem für uns sinnvollen Resultat oder einer sinnstiftenden Erfahrung zu verbinden. Auch diese Fähigkeit wird als Kohärenz bezeichnet.

Die Art, wie das Yoga-Sutra oder die Bhagavadgita unseren Mind betrachtet, lässt deutlich werden, dass sehr vieles von dem, was wir wahrnehmen (also: für wahr nehmen), was wir an Konzepten erschaffen oder was als Erinnerung und Erfahrung in der Tiefe unseres Gehirns abgelegt ist, dazu beiträgt, dass wir sowohl große Freude und Verbundenheit als aber auch Leid erfahren.

»Jede Aktivität unseres Geistes kann sowohl dazu beitragen, uns Beschwernis zu verursachen, oder aber dazu beitragen, dass wir Erleichterung erfahren bzw. glücklicher werden.« (YS I,5, Desikachar)

Doch leider werden wir uns ganz oft nicht bewusst, wie sich unser Denken und Fühlen, die Art unserer Erinnerungen und die Auswahl von Konzepten, aus denen heraus wir unsere inneren Einstellungen entwickeln, auf unser Wohlbefinden oder Unbehagen auswirken.

Deshalb sind das Etablieren von Innehalten und das achtsame Gewahrsein die beiden Kernkompetenzen, die wir vermittels einer Yoga-Praxis zu entwickeln suchen. Die Verankerung dieser Qualitäten im eigenen Alltag ist eine große Herausforderung, und das Entwickeln von Achtsamkeit insgesamt sogar ein lebenslanger Übungsweg. Beides aber wird uns zuverlässig in unser eigenes inneres Sein führen – und steht damit ganz im Gegensatz zu unserem ständigen Aktivsein im Alltag. Wenn es uns gelingt, sowohl das Innehalten als auch die Achtsamkeit im eigenen Leben zu etablieren, dann können wir damit etwas erschaffen, was das Yoga-Sutra »Gegenströmung« (pratipaksha) nennt. Damit ist die Kraft gemeint, die den ungünstigen und destruktiven Tendenzen und Strömungen unseres Mind etwas entgegenzusetzen vermag.

Unserer persönlichen Erfahrung nach müssen wir uns bewusst und klar entscheiden, diesen Weg zu gehen. Um die Orientierung zu behalten, brauchen wir klare Konzepte und eine »Landkarte«. Und wir brauchen eine persönliche Vision, die uns unser eigenes Bemühen sinnvoll erscheinen lässt und uns dazu motiviert, auch in schwierigen Zeiten am Ball zu bleiben.

Doch auch Konzepte und Visionen wollen erarbeitet werden. Damit sie innerhalb unserer persönlichen Wertvorstellungen, Lebensumstände und Ansichten zu einer verlässlichen und belastbaren Methode werden können, bedarf es sowohl unseres beständigen Bemühens (abhyasa) als auch der Fähigkeit, uns bezüglich dessen, was wir tun, immer wieder selbst zu hinterfragen.[6]

Hier setzt unser Verständnis von Yoga in Verbindung mit Achtsamkeit an. Unsere Erfahrung hat uns gezeigt, dass Achtsamkeit so etwas ist wie der »Ariadne-Faden«, der uns sicher durch das Labyrinth unseres Mind zu führen vermag und der uns hilft, sogar in seine Abgründe einzutauchen, ohne uns in ihnen zu verlieren. Wenn wir achtsam Yoga üben, in Verbindung mit den wundervollen und hilfreichen Denkansätzen, die uns die Yoga-Philosophie bietet, dann können wir allem in uns furchtlos begegnen. Wenn wir die Schriften des Yoga lesen und uns mit seiner Philosophie beschäftigen, dann sind wir immer eingeladen, uns mit der klaren, sinnstiftenden, haltgebenden und vor allem seit Jahrtausenden erprobten Struktur zu verbinden, die wir dort vorfinden. Diese Struktur ist ungemein hilfreich, und zwar zum einen, weil sie uns hilft, unseren persönlichen Weg der Achtsamkeit zu gestalten und ihn zu beschreiten; zum anderen schafft sie günstige Bedingungen dafür, dass wir allmählich eine stabile und doch gleichzeitig gelöste Geistesverfassung in uns etablieren können. Eine solche innere Gestimmtheit verstärkt wiederum unser Vertrauen, dass wir auf unserem Übungs- wie auch auf unserem Lebensweg immer wieder alles neu ausprobieren und auch Fehler machen dürfen. Es geht darum, dass wir uns selbst die Chance geben, »mit uns so zärtlich und liebevoll umzugehen, dass wir uns zumindest immer für Momente mit uns selbst ›zu Hause‹ fühlen« (Reddemann/Wetzel 2011:13). Darin liegt unsere Chance: uns tief mit uns selbst zu befreunden. In solch einer zugewandten Beziehung zu uns selbst gibt es kein wertendes »Richtig« oder »Falsch«, »Gut« oder »Schlecht«. Vielmehr sind wir immer wieder angehalten, uns zu fragen, ob das, was wir denken, fühlen und wie wir handeln, für uns und unsere Umwelt eher günstig oder ungünstig bzw. eher förderlich oder hinderlich ist.

Potenzialentfaltung und Ressourcenorientierung im Yoga

Diesen Zusammenhang empfinden wir als sehr bedeutsam in Bezug auf die Stärkung unserer persönlichen Ressourcen und die zunehmende Entfaltung von Selbstwirksamkeit. Wir betrachten den Yoga als ein Instrument, eine Möglichkeit, an unsere inneren Ressourcen anzudocken, und wir meinen, dass er uns viele Gelegenheiten gibt, übend unsere Kompetenzen und Potenziale immer wieder ein Stückchen weiter auszudehnen. Seine klare philosophische Struktur ist wie eine verlässliche Begleitung, die es uns ermöglicht, wohlwollend an der Erweiterung unserer Grenzen zu arbeiten. Im Gegensatz zu den üblichen Bewertungen wie »richtig« oder »falsch« herrscht hier das Prinzip der »Fehlerfreundlichkeit«.

Im Zusammenspiel von Yoga und Achtsamkeit geht es daher unserer Ansicht nach darum, für uns selbst bewusst innehalten zu können, mit uns selbst förderlich umzugehen und uns zu erlauben, neugierig, offen, akzeptierend und liebevoll unsere Grenzen zu erforschen und auszudehnen.

Was Sie in diesem Buch erwartet

Yoga unterstützt uns, unsere Achtsamkeit zu schulen und ein Gespür für unsere physische, emotionale und mentale Befindlichkeit zu erlangen. Den Ausgangspunkt unserer Yoga-Praxis bezeichnen wir im ersten Kapitel als den Zustand des »sich selbst überlassenen« Gehirns. Wir stellen Ihnen dort Erklärungsmodelle aus der Yoga-Philosophie über die Funktionsweise unseres Mind vor, über die Art und Weise, wie wir Wahrnehmungen erfassen und verarbeiten. Unser Anliegen ist es, denjenigen Bezugspunkt der Yoga-Philosophie, der uns durch das ganze Buch führen wird – das Yoga-Sutra des Patañjali –, darzulegen.

Im zweiten Kapitel wechseln wir die Perspektive und beschäftigen uns damit, was nach dem heutigen Stand neurowissenschaftlicher Forschung im Gehirn geschieht. Wir beschreiben die Anatomie und Physiologie des Gehirns und betrachten ausgewählte und für unser Anliegen relevante Gehirnfunktionen etwas genauer. Vor allem interessiert uns, wie wir Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Motivation und Gefühle steuern, mentale Konzepte entwickeln, Verhalten bewerten können, und welche Auswirkungen achtsames Gewahrsein auf die neuronalen Bedingungen und funktionalen Systeme des Gehirns haben kann.

Mit diesen Grundlagen kehren wir im dritten Kapitel wieder zurück zur Yoga-Philosophie und untersuchen verschiedene Wege, die es ermöglichen, in uns ein Zeugenbewusstsein und Achtsamkeit zu etablieren. Wir beziehen uns dabei immer wieder auf die neuronale Plastizität des Gehirns; denn wir glauben, dass, wenn wir uns die Qualität neuronaler Vernetzung bewusst machen und lernen, Achtsamkeit als Weg zur Kontaktaufnahme mit uns selbst zu etablieren, dies einen ganz wesentlichen Stellenwert für unser Wohlbefinden darstellt, und zwar in allen Lebensbereichen. Wir führen in diesem Kapitel außerdem ein Modell ein, mit dem es möglich wird, ein individuelles Zeugenbewusstsein zu etablieren: die »Nabe des Bewusstseins« (nach Daniel Siegel). Wir orientieren uns dabei methodisch an den vier Yoga-Wegen, die uns in der Bhagavadgita vorgestellt werden.