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Titelseite

 

 

 

 

 

Für Jack, der mich durchstarten ließ,
nachdem ich ihm Starthilfe gegeben hatte.
– J. P.
 
Für Ruth, weil sie immer an den richtigen Stellen lacht.
– N. R.

 

 

 

 

Willkommen in deinem schlimmsten Albtraum –

in einer Welt, die du dir vielleicht nicht mal vorstellen kannst.

Es ist eine Welt, in der sich alles verändert hat.

Es gibt keine Bücher, keine Filme, keine Musik,

keine Redefreiheit mehr.

Alle Menschen unter achtzehn Jahren gelten als verdächtig.

Man könnte dich und deine Familie

jederzeit verschleppen und einsperren.

Du bist vollkommen überflüssig.

Unerwünscht.

 

Was ist das für eine Welt?

Wo könnte so etwas passieren?

Darum geht es nun wirklich nicht.

 

Es geht darum, dass es passiert ist.

Bei uns passiert es genau jetzt.

Und wenn du nicht die Augen aufmachst und achtgibst,

könnte es als Nächstes in deiner Welt passieren.

Erstes Buch

DAS MÄDCHEN
MIT DER GABE

WHIT

Hört mir zu. Uns bleibt nur wenig Zeit.

Mein Name ist Whit Allgood. Ich schätze, ihr habt schon von mir und meiner Schwester Wisty gehört und von all dem bescheuerten Zeug, das uns passiert ist. Aber jetzt kommt’s: Es ist noch viel schlimmer, als ihr denkt.

Wir leben in den schlimmsten Zeiten überhaupt. Die gute alte Zeit ist eine Erinnerung, die schon fast in Vergessenheit geraten ist. Das ist mein voller Ernst. Aber irgendwie interessiert sich keiner dafür.

Und ihr?

Interessiert ihr euch dafür?

Stellt euch vor, all eure Lieblingsdinge – eure Bücher, Musik, Filme, die gesamte Kunst – wären auf einmal verboten. Alles, was für euch ganz alltäglich ist, wird euch weggenommen. Und verbrannt. So lebt es sich unter der Neuen Ordnung, der sogenannten Regierung, die meine Welt übernommen hat. Regierung? Brutale Diktatur wäre passender. Seitdem müssen wir von Sekunde zu Sekunde um das bisschen Freiheit kämpfen, das uns noch geblieben ist. Selbst unsere Fantasie steht unter Beschuss. Könnt ihr euch das vorstellen? Eine Regierung, die die Fantasie zerstören will? Das ist doch unmenschlich.

Und die bezeichnen uns als Kriminelle?

Ganz genau. In den elenden Propagandaschriften, die die Neue Ordnung allen Leuten ins Haus liefert, sind Wisty und ich die Verbrecher. Und was haben wir verbrochen? Wir denken, was wir wollen, wir sind kreativ … ach, und dann wären da noch die »dunklen, verderblichen Künste«, die wir angeblich praktizieren. Anders ausgedrückt: die Magie.

Ging das jetzt ein bisschen zu schnell für euch? Okay, spulen wir noch mal zurück.

Eines Nachts vor nicht allzu langer Zeit wurde unser Haus von Soldaten gestürmt. Die Kerle entrissen Wisty und mich unseren Eltern und schmissen uns in ein Gefängnis, in ein Todeslager für Kinder und Jugendliche. Und was wurde uns vorgeworfen?

Eine Hexe und ein Zauberer zu sein.

Verrückt, oder? Aber die Sache ist die: Damit lag die N. O. ausnahmsweise richtig. Wisty und ich hatten zu dem Zeitpunkt zwar noch keine Ahnung davon, aber wir besitzen wirklich gewisse Kräfte. Magische Kräfte. Und dafür sollen wir öffentlich hingerichtet werden, Seite an Seite mit unseren Eltern.

Noch ist es nicht so weit, aber es wird geschehen, und es wird ein überaus grässliches Spektakel. Habt ihr Lust auf Spannung, Abenteuer und Blutvergießen? Dann seid ihr hier richtig. Und wenn ihr nicht völlig anders tickt als die verdummte Mehrheit der »Bürger« unseres Landes, habt ihr immer Lust auf Blutvergießen.

Doch wenn ihr zu den paar Menschen gehört, die der N. O. durch die Lappen gegangen sind, müsst ihr euch meine Geschichte erst recht anhören. Meine und Wistys Geschichte und die Geschichte des Widerstands. Damit ihr von uns erzählen könnt, falls wir es nicht schaffen.

Damit ihr für uns weiterkämpfen könnt.

Leider beginnt die Geschichte mit einer anderen Hinrichtung, mit einer sehr traurigen Angelegenheit, einem bösen Streich des Schicksals oder des Zufalls. Es war eine wahre – wie ich dieses Wort hasse! – Tragödie.

WHIT

Meine Erinnerung liegt in Trümmern. Aber soweit ich es noch zusammenbekomme, ist es ungefähr so gelaufen.

Ich weiß noch, wie ich durch die überfüllten Straßen der grauen, gottverlassenen Stadt gewandert bin. Ich fühlte mich so einsam und allein wie nie zuvor. Wo ist meine Schwester? Wo sind die anderen Mitglieder des Widerstands? Das habe ich mich immer wieder gefragt. Vielleicht habe ich es auch vor mich hin gemurmelt wie ein wahnsinniger Obdachloser.

Die Stadt ist nicht mehr wiederzuerkennen. Früher war sie wunderschön. Aber unter der Neuen Ordnung gleicht sie einer aufgeblähten Leiche, die von hirnlosen Maden bewohnt wird. Alles ist genauso grau und leblos wie der Asphalt unter meinen Füßen: der erdrückende, tief hängende Himmel, die Einheitsgebäude, sogar die nervösen Gesichter der Passanten, die an mir vorbeiströmen wie ein Fluss.

Natürlich weiß ich, dass die Neue Ordnung der Bevölkerung eine wirkungsvolle Gehirnwäsche verpasst hat. Aber heute erscheinen mir die Bürger ein bisschen zu still und angespannt, zu fasziniert von dem Propagandablättchen, das sie in den Händen halten wie ein Gebetbuch.

Da springt mir ein Wort ins Auge, das in fetten Buchstaben auf der Titelseite steht: HINRICHTUNG.

Und als die riesigen Videoanzeigen über der Prachtstraße aufleuchten, weiß ich, was hier gespielt wird. Alle Passanten bleiben stehen wie versteinert, alle Blicke richten sich nach oben. Wie bei einer Sonnenfinsternis.

Auf den Bildschirmen ist eine Bühne in grellem Licht zu sehen. Und auf der Bühne kniet eine magere, zerbrechliche Gefangene mit einer Kapuze über dem Kopf.

»Wisteria Allgood!«, plärrt eine Stimme, die mir durch Mark und Bein geht. »Gestehst du, dich dunkler Künste bedient zu haben, um alles, was an unserer Gesellschaft gut und schön ist, auf hinterhältigste Weise zu untergraben?«

Das darf nicht sein. Ich spüre einen faustgroßen Kloß im Hals. Wisty? Hab ich mich verhört oder hat er wirklich Wisteria Allgood gesagt? Meine Schwester kniet auf dem Schafott?

Neben mir starrt ein Mann wie gebannt auf den Bildschirm. Ich packe ihn an seinem trostlos grauen Mantel. »Wo findet die Hinrichtung statt? Sagen Sie es mir!«

»Auf dem Gerechtigkeitshof«, antwortet der Typ und blinzelt genervt, als hätte ich ihn aus dem Tiefschlaf geweckt. »Wo denn sonst?«

»Gerechtigkeitshof? Wo soll das sein?« Meine Hände krallen sich um seinen Hals. Ich muss aufpassen, sonst verliere ich noch die Kontrolle über meine Kraft. Aber wenn es sein muss, schmeiße ich den Kerl an die Wand.

»Unter dem Triumphbogen«, ächzt er und deutet auf eine breite Straße, die links abzweigt. »Da lang. Und jetzt lass mich in Ruhe oder ich rufe die Polizei!«

Ich stoße ihn beiseite und sprinte los. Vor mir sehe ich schon das gigantische prunkvolle Tor. Es ist einen knappen Kilometer entfernt.

»Du da! Warte!«, schreit mir der Mann hinterher. »Du kommst mir so bekannt vor …«

Klar komme ich ihm bekannt vor. Ich sollte jedem hier bekannt vorkommen. Würden die braven Bürger für einen Moment aus ihrer Hypnose erwachen, würden sie sofort feststellen, dass sie einen berühmt-berüchtigten Kriminellen in ihrer Mitte haben.

Doch ihre Augen kleben an den Bildschirmen. Sie haben einen unersättlichen Appetit auf gemeine Gerüchte und üble Nachrede. Und eine große Vorliebe für sinnlose Zerstörung und willkürliche Morde.

Selbst wenn die unschuldig Hingerichteten minderjährig sind. Wenn es Kinder sind.

Weiter vorne höre ich sie schon schreien. So klingt ihr Hunger nach »Gerechtigkeit«. »Gerechtigkeit« und Blut.

Ich presche durch die lächerliche Lemmingherde. Ihr werdet mir meine Schwester nicht wegnehmen! Vorher müsst ihr mich umbringen.

Als ich mich um die Ecke schwinge und über die Köpfe der Menge spähe, sehe ich … meine Schwester? Ist sie das da oben auf der Bühne? Sie hat eine Kapuze über dem Kopf und trägt schwarze Kleidung, aber nun steht sie aufrecht. Unbeugsam. Tapfer wie eh und je.

Neben ihr stützt sich ein Mann – oder sollte ich sagen: ein Monster? – auf einen krummen Gehstock. Obwohl plötzlich ein heftiger Wind über den Platz fegt, hängt sein schwarzer, teuflisch scharf geschnittener Anzug starr von seinen Schultern. Und sein kantiges Gesicht strahlt. Er wirkt satt und zufrieden, als hätte er gerade eine Schüssel Schlagsahne verschlungen.

Ich kenne ihn. Ich hasse ihn. Das ist Der Eine, Der Der Einzige Ist – die wahrscheinlich grausamste Person der Menschheitsgeschichte.

Wann ist es so weit? In ein paar Minuten? Oder Sekunden? Ich habe keine Ahnung, wann das Monster zuschlagen wird.

Also remple ich mich weiter durch die gaffende, ekelerregende Menge. Vor der Bühne hat sich eine Reihe schwer bewaffneter Soldaten aufgebaut, um die Menschenmasse im Zaum zu halten. Wenn ich einen von den Typen niederschlagen und ihm das Gewehr aus der Hand reißen könnte …

Gerade rechtzeitig werfe ich wieder einen Blick zur Bühne – Der Eine hebt den knorrigen schwarzen Stock, schüttelt ihn bedrohlich und betrachtet meine Schwester mit siegesgewissem Blick.

»Nein!«, brülle ich, doch die schreiende Menge übertönt mich. Die wissen alle, was gleich geschehen wird, und ich weiß es auch. Ich weiß nur nicht, wie ich es aufhalten kann.

Es muss doch eine Möglichkeit geben …

»Neeeeiiiin!«, schreie ich noch mal. »Das ist Mord! Kaltblütiger Mord!«

Ein Blitz zuckt über die Bühne – kein Lichtblitz, sondern ein dunkler, ein schwarzer Blitz – und sie ist weg. Wisty, meine Schwester und beste Freundin, ist weg.

Meine kleine Schwester ist tot.

WHIT

Ich habe keine Ahnung, warum ich überhaupt noch weiteratme. Ich will nicht mehr leben.

Das letzte Mitglied der Familie Allgood, von dem ich mit Sicherheit wusste, dass es am Leben ist, ist nicht mehr am Leben. Der Mensch, der mich besser kannte als alle anderen, der Mensch, der zu mir aufgeschaut hat, seit ich denken kann, ist tot. Was für eine unglaubliche Verschwendung einer unglaublichen Persönlichkeit.

Wisty ist vor meinen Augen gestorben und ich konnte nichts dagegen tun.

Der Eine hat meine Schwester verglühen lassen … ohne eine Spur von schlechtem Gewissen, ohne wenigstens ein bisschen ins Schwitzen zu kommen. Er wirft die Arme hoch wie ein Stürmer beim Torjubel. Was soll das? Will er sich über die Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens lustig machen? Meine Knie werden weich, und als ein begeistertes Brüllen durch die Betonschluchten der Stadt schwappt, muss ich mich beinahe übergeben. Diese Stadt ist durch und durch böse. Sie ist nicht mehr zu retten.

Der Eine freut sich über seinen bisher größten PR-Erfolg, er sonnt sich in der Bewunderung der Massen. Doch bald blitzt wieder seine gewohnte Ungeduld auf. Sein Zorn.

»Ruhe!«, brüllt er.

Sein Befehl hallt durch die Straßen und löscht jedes störende Geräusch aus.

Ich rühre mich nicht. Ich stehe noch immer unter Schock. Mein gesamter Körper ist taub.

»Liebe Mitbürger!«, donnert Der Eine und braucht dazu nicht mal ein Mikrofon. »Sie sind soeben Zeugen eines wahrhaft glorreichen Ereignisses geworden – die letzte ernst zu nehmende Bedrohung unserer gemeinsamen Herrschaft über die Oberwelt wurde ausgelöscht! Wisteria Allgood, einer der führenden Köpfe des Widerstands, wurde für alle Zeiten aus dieser Dimension entfernt.«

Als Der Eine erneut die Arme hebt, treibt ein Windstoß eine zarte Aschewolke über die Menge. Es riecht nach verbranntem Haar. Die »lieben Mitbürger« jubeln.

Würden die Leute mich nicht von allen Seiten einquetschen, würde ich zusammenbrechen. Doch auf einmal weichen sie zurück. Aus dem Jubel werden Angstschreie, die Menge drängt plötzlich weg von der Bühne … und knapp fünfzig Meter vor mir schießt eine Stichflamme in die Höhe.

Eine Flamme, die ich kenne.

»Ja, ja, ja!«, brülle ich. Mein Herz platzt fast vor Glück.

Das ist meine Schwester! Wisty ist am Leben und sie hat sich gerade in Brand gesetzt! Und ob ihr’s glaubt oder nicht – das ist ein Grund zur Freude.

Wisty

Ich werde alles und jeden verbrennen. Ich werde alles niederbrennen. So wahr ich Wisteria Rose Allgood heiße.

Zuerst werde ich die Bühne abfackeln, dann den albernen, pompösen Triumphbogen, und danach falle ich über die kalte, steinerne Stadt her, über die ganze grausige Albtraumwelt. Und wenn ich hinterher selbst nur noch ein Häuflein Asche bin – ich werde alles und alle auslöschen.

Der Eine, Der Der Einzige Ist, hat meine Freundin Margo auf der schrecklichen Bühne verglühen lassen, direkt vor meinen Augen. Sie hatte eine Kapuze über dem Kopf, aber ich habe sie trotzdem erkannt. Ihre schwarz-violette Cargohose war der erste Anhaltspunkt, die silbernen Streifen und Sterne auf den lilafarbenen Sneakers der endgültige Beweis. Margo, die letzte Punkerin der Erde. Margo, der unerschrockenste, entschlossenste Mensch der Welt. Meine liebe Freundin Margo.

Fragt mich nicht, warum das Scheusal im schwarzen Seidenanzug behauptet hat, ich stünde da oben. Ich weiß es nicht. Ich weiß bloß, dass ich diesen Irren zu Holzkohle verarbeiten werde.

Also verwandle ich mich in eine menschliche Fackel. Es ist nicht das erste Mal – aber diesmal lasse ich dem Feuer freien Lauf. Flammenzungen zucken in alle Richtungen und schlagen zwei, fünf, zehn Meter hoch in die kühle Nachmittagsluft, die plötzlich gar nicht mehr so kühl ist.

Als die Menge schreiend zurückweicht, lächle ich. Ich kann nicht anders. Ich muss beinahe lachen.

Aber es reicht mir noch nicht. Ich will das Feuer eine weitere Stufe raufdrehen, ich will heller und heißer lodern als je zuvor. Ich will, dass das Flammeninferno alles verschlingt. Doch da stockt mir der Atem.

Ich spüre ihn. Seine verkommenen, kranken Gedanken. Ich spüre, wie sich sein Blick auf mich richtet.

Als sich tausend Soldaten im Gleichschritt in meine Richtung drehen, vergeht mir das Grinsen. Jetzt lächelt Der Eine. Jetzt lacht Der Eine. Er lacht mich aus.

Ich schnappe nach Luft. Woher hat er diese Macht?

Aber ich habe keine Wahl. Ich muss fliehen.

Und so tauche ich ins Gewühl der panischen Menschen ab. Zum Glück bin ich klein und wendig. Aber Der Eine ist mir dicht auf den Fersen – sein eisiger Atem jagt mich, ein kalter Windhauch greift nach mir wie eine knochige Hand. Sie streift mein Gesicht, meinen Nacken. Ein Frostschauer kriecht über mein Rückgrat, bis mein gesamter Körper schmerzt.

Ist es nicht Ironie des Schicksals, dass das Flammenmädchen als Eiswürfel enden wird? Diese Frage stelle ich mir, als ich auf einmal von erdrückender Wärme eingehüllt werde. Irgendwer packt mich, hebt mich hoch und quetscht mir die letzte Luft aus der Lunge.

Wisty

Es ist Whit! Mein Bruder!

Schnell wie ein Blitz trägt er mich hundert oder zweihundert Meter weiter. Seit wann bin ich eigentlich so leicht?

Wir ducken uns hinter eine hohe Steinmauer. Hier sieht uns erst mal keiner. Ein paar kostbare Sekunden Sicherheit.

Ich umarme Whit mit all meiner Kraft. Als sich seine starken Arme lockern, kann ich endlich wieder atmen.

»Bist du’s wirklich?«, fragt er. »Aber wer war dann …«

»Margo«, flüstere ich. »Er hat Margo ermordet.« Auf einmal flenne ich wie ein Baby. Ich zittere so sehr, dass mir die Zähne klappern.

Margo ist tot. Das Mädchen, das mir erst letzte Woche geholfen hat, ein drittes Piercing in mein Ohr zu basteln. Das Mädchen, das uns jeden Morgen um fünf Uhr geweckt hat, damit wir pünktlich zum Dienst antreten. Das Mädchen, das sich stärker für den Kampf gegen die Schreckensherrschaft der N. O. eingesetzt hat als alle anderen zusammen. Sie war so jung. Erst fünfzehn.

»Ich hab ihr noch gesagt, dass sie da nicht ohne Verstärkung reingehen kann«, sagt mein Bruder. »Ich hab sie angefleht. Warum ist sie trotzdem rein? Warum?«

»Es war doch bei jeder Mission das Gleiche. Sie hat immer als Letzte aufgegeben.« Was soll das? Will ich mir einreden, dass wir nicht schuld sind, dass sie in die Falle gegangen ist? »Als Erste rein, als Letzte raus. Das war doch ihr bescheuertes Motto.«

»Es war mutig«, erwidert Whit. Als ich ihm in die Augen blicke, sehe ich, warum die Mädchen ihn so sehr lieben. Warum ich ihn liebe. Whit ist ehrlich und aufrichtig und kennt keine Angst.

In letzter Zeit haben wir einige Befreiungsaktionen unternommen und die Mission, die wir gerade hinter uns haben, war unser schlimmster Fehlschlag. Wir wollten ungefähr hundert verschleppte Kids aus einer Testeinrichtung der Neuen Ordnung holen – aber offenbar waren die Infos unserer Spione falsch. In dem Gebäude warteten keine armen Kids, sondern ein Trupp N.-O.-Soldaten. Sie warteten auf uns.

Ich schüttle den Kopf. »Eigentlich können wir froh sein, dass überhaupt irgendwer von uns über–«

»Findet sie!« Die entrüstete Stimme Des Einen lässt die Lautsprecher über dem Platz vibrieren. »In der Menge versteckt sich eine weitere Verschwörerin! Ein Mädchen mit feuerrotem Haar! Riegelt die Straßen ab! Bringt sie mir! Ich warte!«

Whit schnappt sich einen grauen Hut vom Kopf eines Geschäftsmanns auf dem Heimweg und stülpt ihn auf meinen Schädel. »Versteck dein Haar darunter! Schnell!«

Doch als ich noch dabei bin, werde ich von einem Polizisten erspäht, der etwa dreißig Meter entfernt steht.

Er greift schon nach der Trillerpfeife, die ihm um den Hals hängt. Gleich werden wir die ungeteilte Aufmerksamkeit jedes einzelnen Soldaten auf dem Platz genießen – und die Des Einen, Den Ich Am Liebsten Für Immer Vergessen Würde.

Aber plötzlich springt eine kleine schwarze Gestalt aus der Menge und stößt den Bullen um. Er landet platt auf dem Hintern.

Whit blickt mich überrascht an. »Hast du das auch geseh–«

Als die schwarze Gestalt direkt neben uns auftaucht, verstummt er. Es ist eine alte Frau. Sie drückt mir etwas in die Hand: einen zerknitterten, dreckigen Zettel.

»Nimm!«, ruft sie. »Nimm!«

Das ist die mit Abstand seltsamste Erscheinung, die ich je gesehen habe. Aber zugleich kommt mir die Frau irgendwie bekannt vor …

»Wer sind –«

Sie schneidet mir das Wort ab. »Haltet euch ran. Los! Ich bin auf eurer Seite. Los, los. Nicht stehen bleiben, nicht verschnaufen, sonst ist es aus. Für uns alle. Lauft!«

Auf einmal steht die alte Frau hinter Whit und mir und tritt uns beiden in den Hintern. Wir stolpern in die brodelnde Menschenmenge.

Schnell drehe ich mich um … aber sie ist verschwunden.

»Du hast die Dame gehört«, sagt Whit. »Los! Lauf!«

Wisty

Der zerknitterte, fünffach gefaltete Zettel, den die Alte mir unbedingt überreichen wollte, entpuppt sich als Karte. Sie hat gesagt, dass sie auf unserer Seite steht. Außerdem haben wir im Moment keinen besseren Plan …

Also folgen Whit und ich den handgezeichneten Anweisungen.

Die gepunktete Linie auf dem dreckigen Pergamentfetzen führt uns durch den südlichsten Bezirk der Stadt. So weit, so sicher und am Leben.

»Woher kenne ich die Frau nur …«, grüble ich vor mich hin, während wir außerhalb der Stadtgrenzen auf ein Bahngleis zuwandern. »Vielleicht war sie eine Freundin von Mom und Dad?«

Whit zuckt mit den Schultern. »Ist doch egal. Sie hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um einen N.-O.-Bullen umzuhauen. Damit ist sie eine Freundin.« Er zupft eine BEKANNTMACHUNG von einem Lautsprechermast neben dem Gleis, reißt sie in kleine Fetzen und kichert. »Ach ja, wann bist du eigentlich zu einem der ›führenden Köpfe des Widerstands‹ aufgestiegen?« Whits babyblaue Augen blitzen.

»Ach, wie könnte ich Dem Einen widersprechen …«

»Verstehe. Du lässt dich von einem Massenmörder-Diktator zum Superstar machen. Respekt.«

»Halt die Klappe!« Als ich losrenne und Whit das Gleis entlangjage, muss ich lachen, obwohl mir gar nicht nach Lachen ist. »Du bist doch bloß eifersüchtig!«

Whit sprintet mir davon, wie in alten Footballerzeiten.

»Das ist nicht fair!«, schreie ich ihm hinterher. Mein Bruder ist älter und größer als ich und natürlich viel, viel schneller.

Whit und ich gönnen uns ein paar Minuten Normalität. Als wären wir bloß zwei Geschwister, die sich ein bisschen kabbeln. Als hätten wir nicht vor ein paar Minuten eine unserer besten Freundinnen verloren. Als wären wir nicht auf der Flucht vor der halben Welt.

Wir haben richtig Spaß und rennen die letzten Kilometer zu unserem Ziel. Das X auf der Karte steht für einen kleinen geziegelten Verschlag und neben dem X befindet sich eine Anweisung: DURCHQUERT DIE SIGNALHÜTTE.

»Hast du ’nen Schlüssel?«, rufe ich Whit zu, als ich die Kette und das Vorhängeschloss an der Tür entdecke.

»Hast du ’nen Zauber?«, erwidert er.

Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Ich bin ja eine Hexe. Und Whit ist ein Zauberer.

So was vergisst man schon mal, wenn man alle naselang um sein Leben rennen muss. Aber natürlich habe ich ein paar Zauber in petto – und die helfen manchmal sogar gegen Ketten und Vorhängeschlösser.

Kurz darauf sind wir den Handlangern der Neuen Ordnung tatsächlich entwischt. Zumindest fürs Erste.

 

Er steht inmitten der bedeutenden Kunstwerke, die in seinem Namen konfisziert wurden – mindestens ein Dutzend Werke der Besten der Besten: Pepe Pompano, Schlondrian, Cesonne, Feenoir und ihresgleichen. Jetzt sind sie verboten und verbannt. Jetzt gehören sie alle ihm.

»Bringt mir Den Einen, Der Die Jagd Kommandiert«, bellt Der Eine. Er erträgt diese maßlose Unfähigkeit und Dummheit nicht mehr, diese ewigen knapp gescheiterten Ergreifungen Wisteria Allgoods und der überaus mächtigen Gabe, die sie in sich trägt.

Sofort erscheint der Kommandant der Jagd, als hätte er schon draußen gewartet. Er bleibt in der Tür stehen. Trotz seines ergrauten Haars und seines gemütlichen Bauchansatzes ähnelt er einem begriffsstutzigen Schüler, der zu spät und absolut unvorbereitet zur Abschlussprüfung auftaucht.

»Sie haben versucht, Wisteria Allgood zu ergreifen, und sind gescheitert«, sagt Der Eine. »Ist das so weit korrekt?«

Der Kommandant hüstelt nervös. »Ja, Eure Hoheit.« Er kennt beunruhigende Gerüchte über Untertanen, die in ähnlichen Situationen versucht haben, sich herauszureden.

»Und wie würden Sie das heutige Spektakel beschreiben? Vielleicht als PR-Katastrophe? Oder haben Sie eine andere Meinung? Das interessiert mich wirklich.«

»Nun ja, die andere Hexe habt Ihr mit größter Entschlossenheit hingerichtet, ein erhebender Augenblick für alle braven Bür–«

»Sie war keine Hexe! Sie war bloß eine Freundin der wahren Hexe. Oder besser gesagt: der Köder für die wahre Hexe.«

»Trotzdem, es … nun ja, es handelte sich dennoch um ein angesehenes Mitglied des Widerstands, und die Auslöschung dieser Person durch Eure Hoheit wird uns allen durch ihre Ehrfurcht gebieten –«

»Die Eine, Die Die Nachrichten Erfindet, hat alle Hände voll zu tun, eine vernünftige Sendung für heute Abend zusammenzustellen! Haben Sie dazu vielleicht irgendetwas beizutragen? Wie sollen wir erklären, dass wir Sekunden nach der Hinrichtung Wisteria Allgoods rein zufällig eine andere minderjährige, rothaarige Hexe über den Platz jagen mussten? Sprechen Sie frei von der Leber weg. Aber bitte ein bisschen plötzlich.«

»Ähhhm … nun ja …«

»Ruhe!« Unter der schallenden Stimme Des Einen erzittert das gesamte Gebäude.

Eine tödliche Stille entsteht. Eine wahrhaft tödliche Stille, die die Luft aus dem Raum zu saugen scheint.

Bis Der Eine seufzt – und lächelt, falls man sein gemeines Grinsen als Lächeln bezeichnen kann. »Aber es hätte auch noch schlimmer kommen können, nicht wahr?«, fragt er sonderbar beschwingt, als wäre seine Wut schlagartig verraucht. »Täusche ich mich, Kommandant, oder sind Jägersleute wie Sie große Zigarrenfreunde? Stimmt doch, oder? Oder?«

»Wieso … jaja, das ist korrekt. Danke«, stammelt der Kommandant. Kurz fragt er sich, welchem glücklichen Zufall er diese Gnade zu verdanken hat – doch dann nimmt er die edle Zigarre entgegen, die Der Eine ihm anbietet, und lässt sich Feuer geben.

»Wissen Sie, was mich schon immer fasziniert hat, Kommandant? Das Feuer. Sie etwa nicht?«

Der Kommandant kommt nicht mehr dazu zu antworten.

Das rote Glühen an der Zigarrenspitze weitet sich rasant aus. Es zischt die Zigarre entlang, quer über das Gesicht des Kommandanten, um seinen Hinterkopf herum und seinen Hals hinunter. In endlosen Bahnen schlingt sich die leuchtende, qualmende Linie um seinen Oberkörper und seine Arme, bis hinab zu den Zehenspitzen – und für einen winzigen Moment erstarrt der Kommandant der Jagd zu einer Aschestatue.

Als Der Eine seinen Gehstock sanft auf den Boden tippt, zerfällt das graue Puder zu einer zarten Staubwolke.

»Sie sollten Wisteria Allgood ergreifen. Sie haben versagt. In unserer Schönen Neuen Welt ist kein Platz für Versager.«

WHIT

Wenn ich euch erzählen würde, dass die Signalhütte uns das Leben rettete, weil sie ein Portal beherbergte, das uns durch mehrere Dimensionen saugte, um uns schließlich an einem ganz anderen Ort auszuspucken – würdet ihr mich dann für komplett wahnsinnig halten?

Vor einem Jahr hätte ich mich für so eine Geschichte selbst in die Irrenanstalt eingewiesen. Aber in einer Welt, in der die Knallköpfe von der N. O. das Sagen haben, ist wahnsinnig das neue normal. Also noch mal langsam: Ein Portal ist eine Stelle, an der das Gewebe der Welten ungewöhnlich … weich ist. Aber die Landung auf der anderen Seite ist oft alles andere als weich. Ein Portal kann einen an andere Orte, in andere Zeiten und Dimensionen schleudern. Und manchmal deponiert es einen irgendwo, wo man keinesfalls hinwill. Und zwar sehr unsanft.

Wie zum Beispiel jetzt. Ich befinde mich in einem engen stockdunklen Raum. Vielleicht in der Rumpelkammer Des Einen? Ich habe keinen blassen Schimmer, aber die Luft ist stickig, meine Schulter tut höllisch weh und mir dröhnt der Schädel.

»Whit? Bist du hier irgendwo?«, flüstert eine Stimme. Ein paar Meter neben mir höre ich zögerliche Bewegungen.

»Ja«, grunze ich, immer noch benebelt vom Schmerz. Es ist eine weibliche Stimme. Eine warme, tröstliche Stimme.

»Alles okay mit dir?«, fragt sie besorgt. Ist das Celia? Vor meinem inneren Auge erscheint meine geliebte Freundin, die vor einer halben Ewigkeit von der N. O. entführt und ermordet wurde. Sie kommt näher und beugt sich über mich. Gleich wird sie mich berühren, heilen, retten …

»Mmmmhhh«, seufze ich. Dann werde ich still. Ich warte nur noch auf Celias Duft, auf ihre Umarmung.

»Du klingst so … verkatert.«

Oh. Es ist bloß Wisty. War ja klar.

Ich stöhne. »Meine Schulter. Ich glaube, das Portal hat sie mir ausgekugelt.«

»Echt? Ich bin da durchgeflutscht wie durch Sahne.«

Obwohl Wisty mich bestimmt nicht sehen kann, verdrehe ich die Augen. »Das Ding hatte halt genau die richtige Größe für deinen knochigen Hexenhintern.« Was denn? Das war nett gemeint. Ehrenwort. »Okay … Wo sind wir hier gelandet?«

»Gute Frage. Vielleicht im Gefängnis? Vielleicht dachte das Portal, wir haben Heimweh …«

»Nein. Dieser Geruch … das ist kein Knastgeruch. Es riecht … gut. Es erinnert mich an irgendwas, an …«

»… zu Hause«, sagen wir wie aus einem Mund.

Damit wir uns besser umschauen können, lässt Wisty eine kleine Flamme aus ihrer Fingerspitze schießen. Ich bin beeindruckt. Mein Schwesterchen lernt langsam, ihr feuriges Temperament zu zähmen und ihre Talente sinnvoll einzusetzen. In alten Zeiten war ich der Star der Stadt – ich war der wichtigste Spieler des Footballteams und einer der besten Läufer und Schwimmer der Highschool, während Wisty nur als notorische Schulschwänzerin auffiel. Aber jetzt ist sie eine Eins-a-Hexe. Sie kann leuchten, andere Gestalten annehmen und Blitze verschießen, lauter cooles Zeug. Und manchmal kriegt sie es sogar absichtlich hin.

Wistys Miniflämmchen ist gerade hell genug, um ihre Silhouette und einige gestapelte Kartons mit der Aufschrift VERBRENNEN zu erkennen. »Bücher«, haucht Wisty ehrfürchtig, während sie ein paar Wälzer in einer offenen Kiste durchblättert. Vorsichtig greife ich in einen Karton. Ich entdecke Werke von zahlreichen berühmten Autoren, von B. B. White bis Roy Royce.

»Sieht aus wie eine Fuhre für die Bücherverbrennungen«, meine ich. Die Neue Ordnung ist dabei, so gut wie alle aktenkundigen Bücher zu zerstören, die vor der Machtübernahme in der besetzten Oberwelt verfasst wurden.

Ein stechender Schmerz schießt durch meine Schulter. Ich verziehe das Gesicht. »Apropos brennen … meine Schulter brennt ganz schön. Hilfst du mir beim Einrenken, Schwesterherz?«

»Nee, das ist mir zu eklig.« Trotzdem kommt Wisty rüber. »Wie wär’s, wenn du mal einen Zauber für solche Fälle lernst? Im Zaubern sollt ihr Zauberer doch ganz toll sein …«

»Stimmt, das könnte ich mal probieren. Aber hilf mir doch mit dem Tagebuch.« Vor vielen Monaten, in der schrecklichen Nacht, als Wisty und ich verschleppt wurden, hat mein Dad mir ein leeres Tagebuch mitgegeben, das ich seitdem immer bei mir habe. Wisty schleppt einen alten Trommelstock/Zauberstab rum, den sie von Mom hat. Wenn das Tagebuch wirklich leer ist, benutze ich es zum Schreiben (meistens traurige Liebesgedichte für Celia). Aber manchmal füllt es sich mit Zeitschriften, Landkarten oder ganzen Romanen – oder, wenn es einen besonders guten Tag hat, mit Zauberformeln. Als Zauberer sollte ich wahrscheinlich irgendwie steuern können, was wann auftaucht, aber bisher ist es ein ziemliches Glücksspiel.

Wisty zieht das Tagebuch aus meinem Rucksack und hilft mir, nach einem Heilzauber zu suchen. Schließlich stolpern wir über dieses merkwürdige Kauderwelsch: Voron klaktu scapulati.

»Wenn das nicht nach Teufelssprache klingt!«, schimpft Wisty. Sie hört sich an wie eine grummelige alte Dame, die über Rockmusik lästert. Doch als ich die Worte aufsage, wird meine Schulter von einer unglaublich wohltuenden Wärme durchflutet und der Knochen sitzt wieder im Gelenk. Einfach so.

Ich hebe den Arm. Tut gar nicht weh.

»Mist, jetzt haben wir wohl unsere Seelen verkauft«, sage ich. »Aber egal. Wir müssen rausfinden, wo wir sind und wie wir schleunigst zurück nach Freiland kommen.«

Als wir uns durch den engen Raum tasten, dämmert uns, dass wir uns in einem Frachtcontainer befinden. Ich lasse noch ein paar Bücher für die Kids im Hauptquartier des Widerstands mitgehen, unter anderem Die Erforschung des Bruno Genet und Die Tribunale von Pampum.

»Bereit?«, frage ich und lege die Hand aufs Tor. »Wer weiß, was uns da draußen erwartet …«

»Oder wer«, sagt Wisty skeptisch. »Warte noch kurz. Vielleicht muss ich mich gleich abfackeln. Konzentration …«

Wir zählen runter: »Drei, zwei, eins« – dann schieben wir das Tor hoch.

Und plötzlich stehen wir vor unseren Eltern.

WHIT

Genauer gesagt vor den Gesichtern unserer Eltern.

Ihre Bilder starren von einer fünf Meter hohen Plakatwand auf uns herab. Hier, auf dem brachliegenden Güterbahnhof, wirken die beiden besonders einsam und verloren. Und unter den Fahndungsfotos stehen die Worte, die mir jedes Mal einen Schauer durch die Knochen jagen:

Natürlich wissen wir längst, dass unsere Eltern als Verbrecher gelten, aus denselben fadenscheinigen Gründen wie wir. Aber hier steht es schwarz auf weiß vor den Augen der ganzen Welt. Und dann auch noch dieses alberne Kopfgeld! Drei Millionen Bohnen! Da will uns wohl jemand klarmachen, dass dieser Albtraum kein gutes Ende nehmen kann …

Wisty scheint mal wieder meine Gedanken zu lesen. »Sie sind noch auf freiem Fuß«, flüstert sie.

Falls mich das aufmuntern soll, funktioniert es nicht. »Waren sie mal«, antworte ich. »Oder weißt du, wann das Plakat aufgehängt wurde?« Es sieht nicht gerade nagelneu aus – das Papier ist ausgebleicht und brüchig, die Ränder sind eingerissen. Wisty und ich schweigen. Der schwere Duft der alten, vergilbten Bücher, der Duft von Geschichten, Träumen, Tragödien, Humor und Fantasie scheint aus der offenen Tür des Containers zu quellen. Wir ersticken fast an unseren bittersüßen Erinnerungen an zu Hause.

Wie soll man Frieden schließen, wenn man nicht mal weiß, womit? Wir haben keine Ahnung, ob unsere Eltern tot oder am Leben sind, ob sie in einem N.-O.-Gefängnis gefoltert werden … oder wie Celia ins Schattenland verbannt wurden. Leiden sie sehr? Können wir ihnen irgendwie helfen? Oder sind wir wirklich so machtlos und nutzlos, wie ich mich fühle?

Ich ramme die Faust gegen das Plakat. So fest, dass ich sie durch die Pressspanplatte stoße.

Dann ziehe ich die Hand wieder zurück, als wäre nichts gewesen. Als Wisty mich besorgt beäugt, zucke ich mit den Schultern. Wahrscheinlich bluten meine Knöchel, aber ich spüre nichts.

Ich werfe einen Blick auf Wistys gequältes, bedrücktes Gesicht und schaue schnell wieder weg. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen. Aber ich muss ihr zeigen, dass ich mich nicht unterkriegen lasse. Also schlucke ich den riesigen Kloß in meinem Hals hinunter und fasse ihre Hand. »Hauen wir hier ab.«

Am Rand der gespenstischen Stadt an den Gleisen leben keine Menschen. Hier gibt es bloß baufällige Lagerhallen mit zerschlagenen Fenstern und Straßen voller Schutt. Nur die riesigen Videotafeln und Lautsprechermasten wurden erst vor Kurzem errichtet. Alles andere wirkt uralt.

Auf dem Weg ins Stadtzentrum male ich mir aus, wie es hier früher gewesen sein könnte. Vielleicht ganz gemütlich. Ich entdecke eine Highschool aus rotem Backstein, einen Park mit kleinen Pavillons und Klettergerüst, ein umgekipptes Dreirad. Wehmut packt mich. Die Stadt erinnert mich an meine Heimat – Kirchtürme, kleine Supermärkte und echte Bäume.

Jetzt habe ich noch mehr Heimweh. Ich sehne mich nach Mom und Dad, nach zu Hause. Sogar nach der Schule. Ein ganz klein wenig.

»Ich frage mich, wo die ganzen Leute hin sind«, sagt Wisty leise.

»Ich nicht«, antworte ich ein bisschen zu schnell. »Ich meine … ich will es gar nicht wissen.«

Da höre ich etwas: »Du willst es … willst es nicht … nicht wissen? … Warum nicht, Whit?«

Mein Kopf schnellt herum. Wisty starrt mich an.

Da war eine Stimme. Ich bin mir sicher. Und es war weder Wistys Stimme noch meine eigene.

Es war Celias Stimme.

Vielleicht ist das hier wirklich eine Geisterstadt – im wahrsten Sinne des Wortes.

WHIT

Ich zische ab wie eine Rakete. Ich muss Celia finden. Ich muss einfach. Es ist mein Schicksal.

»Celia!«, schreie ich, während ich durch die verwaisten Straßen renne, vorbei an leeren Geschäften, einem Polizeirevier ohne Polizisten, einer zugenagelten Grundschule, einem Kino. Aber ich sehe sie nicht. Ich sehe keine Menschenseele. Diese Stadt ist so unwirklich … ist sie überhaupt real? Oder befinde ich mich in einem unheimlich trostlosen Traum?

»Celia!«

»Warte, Whit!« Wisty folgt mir. Ich höre ihre eiligen Schritte auf dem Asphalt. Aber ich bin schneller. »Bleib stehen! Bitte, Whit! Du weißt nicht, ob sie es wirklich ist! Vielleicht ist es eine Falle!«

Doch, ich weiß es. Die Stimme des Menschen, den man liebt, vergisst man nie. Egal, ob es ein gehauchtes Wort ist, ein Schrei oder eine ferne Erinnerung – ich erkenne Celias Stimme immer. Aber das kann Wisty nicht verstehen. Sie hat noch nie richtig geliebt.

Wieder höre ich Celias Stimme, und diesmal ist sie viel näher. Sie ist überall. Sie umgibt mich.

»Du willst es nicht wissen? … wissen? … wissen? … Wo wir sind? … wir sind? … sind?«

Ich spüre sie. Sie ist so nah, so unerträglich nah.

Und ihre Stimme ist so laut, als würde sie direkt in meine Gehörgänge brüllen. Es tut weh – aber es ist der schönste, wunderbarste Schmerz der Welt. Es ist eine Folter, von der ich nicht genug bekommen kann. Auch wenn das keinen Sinn ergibt.

»Doch! Ich will es wissen!« Mitten auf dem Stadtplatz bleibe ich stehen und sinke auf die Knie. »Wo bist du, Celes? Ich brauche dich. Ich muss dich wiedersehen!«

»Dann schau mal nach oben, Whit.«

Das war Wistys Stimme. Sie steht neben mir.

Und als ich den Blick hebe, kapiere ich, was sie meint.

Da ist sie. Celia, meine Freundin – auf einer Videotafel der Neuen Ordnung. Ihr wundervolles Gesicht ist doppelt so groß wie ich und jeder Millimeter ihrer Haut schimmert genauso zart und perfekt und wunderschön wie in meiner Erinnerung. Sie sieht aus wie ein Filmstar.

WHIT

»Hast du uns vergessen, Whit? Hast du mich vergessen?« Celia mustert mich enttäuscht. Warum quält sie mich so? »Aber ich muss wohl oder übel akzeptieren, dass du mit deinem Leben weitermachst …«

»Was redest du da, Celia? Ich werde dich nie vergessen. Ich denke dauernd an dich, ich suche ständig nach dir. Frag doch die anderen. Die halten mich schon für verrückt!«

»Na gut, mich hast du vielleicht noch nicht vollständig vergessen. Aber was ist mit uns? Mit den Verschwundenen, Verschleppten und Ermordeten? Mit den Halblichtern?« Als Celia die armen Bewohner des Schattenlands erwähnt, erschaudere ich. »Ich bin nicht mehr … ich. Ich gehöre nun zu etwas Größerem.«

»Nein, Celia. Das Schattenland kann dich nicht zerstören. Für mich wirst du immer meine Celia sein. Aber wo bist du? Wo ist die echte Ce–«

»Du verstehst es wirklich nicht, oder?«, fällt sie mir ins Wort und lächelt wehmütig. »Okay, eins muss man dir lassen, Baby. Du bist der einfühlsamste Footballheld, den die Welt je gesehen hat. Aber gleichzeitig bist du genau wie andere Kerle. Du bist ein typischer Junge. Du siehst nur, was direkt vor deiner Nase ist. Nur das ist dir wichtig, nur darum kümmerst du dich …«

»Nein.« Ich schüttle den Kopf. Meint sie das wirklich ernst? »Das ist nicht wahr. Das weißt du doch.«

Warum will sie mir wehtun?

»Natürlich ist es wahr. Beispiel gefällig?« Ihr Blick bohrt sich in meine Augen. »Wo ist deine Schwester?«

Ich drehe mich um die eigene Achse. Wisty ist …

… weg?

»Was … wo …?« Panisch hetze ich über den Platz, von einer Gasse zur nächsten. »Wisty!«

Das kann doch nicht wahr sein. Wo ist sie?

»Du musst anfangen, in größeren Dimensionen zu denken, Whit«, sagt Celia. Ich halte es kaum noch aus – ihre Stimme strömt durch meinen Körper wie eine lebendige Seele und ich will sie festhalten, ich will alles für sie tun … aber wo ist Wisty?

»Ich weiß, du hast Angst«, fährt Celia seltsam gleichgültig fort. Hey, Wisty ist verschwunden! Ist dir das egal? »Dir ist ein geliebter Mensch abhandengekommen, und jetzt weißt du nicht, was du tun sollst. Darüber musst du nachdenken, Whit! Das ist der Schlüssel.«

»Wisty!«, brülle ich.

Das Rascheln einer Plastiktüte, die über den leeren Platz geweht wird, ist die einzige Antwort.

»Hier oben, Whit!«, ruft Celia. »Schau mich an. Ich habe dir noch etwas Unangenehmes mitzuteilen: Du und Wisty, ihr müsst aufhören, vor der Neuen Ordnung wegzulaufen. Ihr müsst aufhören, Dem Einen auszuweichen.«

»Vergiss es! Ich werde Wisty finden, und dann gehen wir zurück ins Schattenland und finden dich! Die echte Celia, nicht bloß ein Gesicht auf einem Bildschirm!«