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Titelseite

 

 

 

 

 

Für Mom und Dad und für Noah, meine große Liebe

Kapitel

»Moment mal! Hast du etwa gerade – du hast doch wohl nicht gegähnt!« Der Vampir ließ seine Arme, die er eben noch in klassischer Dracula-Pose erhoben hatte, sinken. Er zog die übertrieben großen weißen Reißzähne hinter seine Lippen zurück. »Wie jetzt, findest du es vielleicht nicht aufregend genug, dass du gleich stirbst?«

»Ach, jetzt spiel nicht die beleidigte Blutwurst. Aber mal im Ernst, der spitze Haaransatz? Die bleiche Haut? Und der schwarze Umhang? Wo hast du das Teil überhaupt her, aus dem Kostümverleih?«

Er baute sich noch einmal zu seiner vollen Größe auf und starrte mit diabolischem Blick auf mich herunter. »Ich werde alles Leben aus deinem hübschen weißen Hals saugen.«

Ich seufzte. Ich hasse Vampiraufträge. Die Typen halten sich ja alle für so was von rattenscharf. Es reicht ihnen nicht, einen abzuschlachten und zu verschlingen, wie die Zombies das machen. Nein, sie müssen dabei auch noch voll einen auf sexy machen. Und glaubt mir, Vampire: Kein. Bisschen. Sexy. Na klar, ihr Cover kann schon ziemlich heiß aussehen, aber die verknöcherte Leiche, die darunter hervorschimmert? Gar nicht attraktiv. Tja, aber es ist ja auch nicht so, als könnte das irgendjemand außer mir sehen.

Mit gefletschten Zähnen beugte er sich über mich. Kurz bevor er sie in meinen Hals schlagen konnte, verpasste ich ihm einen Elektroschock. Schließlich sollte ich den Kerl nur einsacken und markieren, nicht töten. Und außerdem, wenn ich für jeden Paranormalen, den ich beseitigen wollte, die entsprechende Waffe mitschleppen würde, müsste ich ständig ein komplettes Kofferset hinter mir herschleifen. Ein Elektroschocker dagegen ist so was wie der Einheitsarschtritt für alle Paranormalen. Schockst du einen, schockst du alle. Mein Taser ist übrigens rosa, mit Strasssteinen drauf. Ja, ja, meine Tasey und ich, wir hatten schon eine Menge Spaß miteinander.

Der Vampir lag nun bewusstlos und zuckend auf dem Boden. Jetzt wirkte er ziemlich erbärmlich; ich bekam beinahe Mitleid mit ihm. Stellt euch euren Opa vor. Und jetzt stellt ihn euch auf fünfzig Kilo abgemagert und um zweihundert Jahre gealtert vor. Dann habt ihr ein ziemlich gutes Bild von dem Typen, den ich gerade unter Strom gesetzt hatte.

Taseys Arbeit war getan, also steckte ich sie zurück in ihr Halfter und kramte die Fußfessel für Vampire aus meiner Tasche. Ich legte den Zeigefinger in die Mitte der glatten schwarzen Oberfläche. Nach ein paar Sekunden leuchtete sie grün auf. Ich ergriff den Vampir am Knöchel und zog sein Hosenbein ein Stück hoch. Ich hasste es, diese Typen näher anzugucken und unter ihrer glatten weißen Haut ihre verschrumpelten, toten Körper zu sehen. Dann befestigte ich die elektronische Fußfessel, die sich von selbst dem Umfang seines Knöchels anpasste. Es zischte zweimal leise, als die Sensoren aktiviert wurden und unter seine Haut schossen. Er riss die Augen auf.

»Aua!« Er umklammerte seinen Knöchel.

Vorsichtshalber wich ich ein paar Schritte zurück.

»Was soll das?«

»Hiermit verhafte ich Sie unter Berufung auf das Internationale Abkommen zur Kontrolle Paranormaler, Paragraf drei, Absatz sieben des Vampirüberwachungsgesetzes. Sie sind verpflichtet, sich innerhalb von zwölf Stunden in der nächsten Meldebehörde in Bukarest einzufinden. Sollten Sie nicht erscheinen, werden Sie –«

Er stürzte sich auf mich. In aller Ruhe trat ich einen Schritt zur Seite und sah zu, wie der Vampir über einen niedrigen Grabstein stolperte. »Ich bring dich um!«, zischte er und versuchte aufzustehen.

»Tja, das würde ich an deiner Stelle lieber lassen. Weißt du, an diesem hübschen Schmuckstück, das ich dir eben umgelegt habe, befinden sich zwei Sensoren – oder Nadeln, wenn man so will –, die sich eben in deinen Knöchel gebohrt haben. Sollte deine Körpertemperatur plötzlich ansteigen – sagen wir, durch die Zuführung menschlichen Bluts –, würden diese Sensoren dir sofort eine Ladung Weihwasser injizieren.«

Die Augen panisch aufgerissen, versuchte er, die Fußfessel abzustreifen, indem er mit dem anderen Fuß dagegentrat.

»Davon würde ich dir auch abraten. Wenn der Verschluss zerstört wird, spritzt das Weihwasser los – und puff! Kapiert? Ach ja, und ich habe den Timer und den Peilsender aktiviert. Die wissen also nicht nur ganz genau, wo du bist, sondern auch, wann du spätestens in Bukarest sein solltest. Wenn du das Limit überschreitest, dann – na ja, muss ich dir wirklich noch sagen, was dann passiert?«

Der Vampir sank in sich zusammen. »Ich könnte dir auch einfach den Hals brechen«, sagte er, aber es klang schon ziemlich halbherzig.

»Versuchen könntest du es. Aber dann müsste ich dich wieder schocken, und zwar so heftig, dass du erst in sechs Stunden wieder aufwachst, was dir noch weniger Zeit lässt, um nach Rumänien zu gelangen. Also, kann ich dich jetzt endlich über deine Rechte belehren, oder was?« Er antwortete nicht und ich fuhr dort fort, wo er mich unterbrochen hatte.

»Sollten Sie nicht erscheinen, werden Sie terminiert. Sollten Sie einen Menschen angreifen, werden Sie terminiert. Sollten Sie versuchen, den Peilsender zu entfernen, werden Sie terminiert. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.« Ich fand jedes Mal wieder, dass der letzte Satz dem Ganzen eine freundlichere Note gab.

Der Vampir wirkte ganz schön geknickt, wie er da auf der Erde kauerte und dem Ende seiner Freiheit entgegensah.

Ich streckte die Hand aus. »Soll ich dir hochhelfen?«, fragte ich. Nach einem Augenblick ergriff er sie. Ich zog ihn hoch; Vampire sind überraschend leicht. So ist das eben, wenn man keine Körperflüssigkeiten mehr hat. »Ich bin Evie.«

»Steve.«

Zum Glück nicht noch ein Vlad.

Er zog eine nervöse Grimasse. »Ähm, Bukarest also? Du hättest nicht zufällig ein bisschen Geld für das Zugticket?«

Also echt, diese Paranormalen. Ich griff in meine Tasche und reichte ihm einen Packen Euros. Von Italien nach Rumänien zu kommen, würde nicht ganz einfach sein, da musste er sich ziemlich ranhalten.

»Du brauchst noch eine Landkarte und die Wegbeschreibung!«, rief ich, als er sich schon zwischen den Grabsteinen hindurch davonstehlen wollte. Armer Kerl, das Ganze schien ihm wirklich peinlich zu sein. Ich drückte ihm einen Zettel mit der Wegbeschreibung zur Bukarester Melde- und Zuweisungsbehörde in die Hand. »Übrigens ist es erlaubt, Gedankenkontrolle auszuüben, um über die Grenzen zu kommen.« Ich lächelte ihm aufmunternd zu.

Er nickte, immer noch missmutig, und verschwand.

Steve zu finden, hatte nicht so lange gedauert, wie ich befürchtet hatte. Ausgezeichnet. Es war dunkel und ich fror und mein Vampir-Lock-Outfit – eine weit ausgeschnittene, weiße Bluse – machte das Ganze auch nicht wirklich besser. Außerdem fiel ich in südlichen Ländern immer auf wie ein bunter Hund, mit meinem platinblonden Haar, das mir auch zum Zopf geflochten fast bis zum Po reichte. Also nichts wie weg hier. Schnell tippte ich die Nummer der Zentrale in meinen Kommunikator. (Stellt euch das wie ein Handy vor, nur ohne Kamera. Und es gibt die Dinger nur in Weiß. Laaangweilig.) »Fertig. Ich brauche jemanden, der mich abholt.«

»Ihre Anfrage wird bearbeitet«, antwortete eine monotone Stimme am anderen Ende.

Ich setzte mich auf den nächsten Grabstein und wartete. Fünf Minuten später leuchtete der Kommunikator auf. »Transportmittel unterwegs.«

Der Stamm einer dicken, knorrigen Eiche, ungefähr fünf Meter vor mir, begann zu schimmern und der Umriss einer Pforte erschien. Ein großer, schlanker Mann trat hindurch. Na ja, kein richtiger Mann. Moment mal, warum zeigte er sich eigentlich ohne Cover? Seine Gestalt war zwar eindeutig männlich, wirkte aber wie in die Länge gezogen, ein bisschen zu schmal. Sein Gesicht mit den feinen Zügen und den Mandelaugen – wie aus einem Manga – war schlicht und einfach wunderschön. Bei seinem Anblick krampft sich einem das Herz zusammen vor lauter Verlangen, den Rest des Lebens nichts anderes mehr zu tun, als ihn anzustarren. Er lächelte mich an.

»Halt bloß die Klappe«, warnte ich ihn und schüttelte unwillig den Kopf. Mussten sie denn unbedingt Reth schicken? Klar, die Feenpfade waren die kürzeste Verbindung zwischen hier und dort, aber das bedeutete, dass ich mit ihm reisen musste. Und wenn ihr jetzt liebliche Bilder von winzigen, zarten Wesen, die die Natur lieben, vor Augen habt – tja, dann liegt ihr damit ziemlich daneben. Feen sind viiiel komplexer. Und gefährlicher.

Beherzt biss ich die Zähne zusammen, ging auf Reth zu und streckte die Hand aus.

»Evelyn«, schnurrte er geradezu. »Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen.«

»Hab ich nicht gesagt, du sollst die Klappe halten? Los jetzt.«

Er lachte, ein silbriger Ton wie läutende Glöckchen, und strich mir mit einem seiner langen, schlanken Finger übers Handgelenk, bevor er meine Hand ergriff. Mit Mühe unterdrückte ich einen Schauder. Wieder lachte er und dann traten wir durch die Pforte in der Eiche.

Ich schloss die Augen; an der Stelle überkam mich jedes Mal das kalte Grausen. Ich wusste genau, was ich sehen würde, wenn ich sie aufmachte – nichts. Absolut gar nichts. Nichts unter meinen Füßen, nichts über mir, nichts um mich herum. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und klammerte mich an Reths Hand fest, als hinge mein Leben davon ab. Tat es ja auch. Kein Mensch konnte allein über die Feenpfade wandern. Man würde sich hoffnungslos verirren und nie wieder zurückfinden.

Und dann war es auch schon vorbei. Wir traten hinaus auf einen der kühlen, neonbeleuchteten Flure der Zentrale. Sofort entriss ich Reth meine Hand. Seine besondere Wärme war bereits meinen Arm hinaufgekrochen und breitete sich weiter in mir aus.

»Noch nicht mal ein kleines Dankeschön?«, rief er mir hinterher, als ich den Flur zu meinem Wohntrakt hinunterging.

Ich sah mich nicht um. Auf einmal stand er direkt neben mir. »Wir haben so lange nicht mehr miteinander getanzt.« Seine melodische Stimme klang leise und vertraut. Er griff wieder nach meiner Hand. Ich machte einen Satz nach hinten und zog Tasey hervor.

»Pfoten weg!«, zischte ich. »Und wenn du dich noch mal ohne dein Cover zeigst, verpfeif ich dich.« Sein Cover sah zwar kaum weniger gut aus als sein Feengesicht, aber so waren nun mal die Regeln.

»Wozu das Ganze? Vor dir könnte ich doch sowieso nichts verbergen.« Er bewegte sich ein Stück weiter auf mich zu.

Ich versuchte, die Gefühle im Zaum zu halten, die in mir aufbrandeten. Nicht schon wieder. Nie wieder.

Zum Glück unterbrach uns eine schrille Alarmsirene. Irgendwas war ausgebrochen. Ein haariger kleiner Gremlin raste auf allen vieren auf uns zu, das weit aufgerissene Maul voller scharfer Zähne, von denen giftiger Speichel triefte.

Ich starrte ihn an, als bewegte er sich in Zeitlupe. Er kam geradewegs auf mich zu, in seinen Augen lag ein wildes Glühen, als hätte er die Tollwut. Der Gremlin sprang und ich trat zu, so fest ich konnte, sodass er den Flur hinunterflog, direkt in die Arme des Wachmannes, der ihn gejagt hatte.

»Toooor!«, rief ich. Mann, war ich gut.

»Danke«, drang die Stimme der Wache dumpf durch seine Schutzmaske.

»Kein Ding.«

Reths Hand war irgendwie in meinem Kreuz gelandet. Am liebsten hätte ich mich an ihn gelehnt, zugelassen, dass er seine Arme um mich schlang, mich mit sich nahm … Und dann fiel mir ein, wie spät es war. »Mist!«

Ich rannte den Flur hinunter, vorbei an dem Wachmann und dem Gremlin, der immer noch wütend knurrte. Noch um ein paar Ecken, dann drückte ich die Handfläche auf den Scanner an meiner Tür und hüpfte ungeduldig davor auf und ab, bis sie endlich aufglitt. Reth war mir nicht gefolgt, wie ich erleichtert feststellte. Na gut, vielleicht auch ein klitzekleines bisschen enttäuscht. Und außerdem wütend auf mich selbst, weil ich enttäuscht war.

Ich stürmte in meine Wohneinheit, froh darüber, dass ich sie so programmiert hatte, dass die Temperatur konstant bei 29 Grad lag, und ließ mich auf meine violette Couch fallen. Dann machte ich den Flachbildfernseher an, der beinahe die komplette – rosa gestrichene – Wand einnahm, und seufzte erleichtert auf: Meine Lieblingsserie Easton Heights, eine Art Highschoolsoap, fing gerade erst an. Die heutige Folge versprach ziemlich spektakulär zu werden: ein Maskenball, bei dem winzige Masken offenbar ausreichten, um jedermanns Identität so sehr zu verschleiern, dass schließlich alle mit den Falschen rummachten. Wie kamen die bloß immer auf so abgefahrene Ideen?

Kapitel

Der Videobildschirm neben meiner Couch summte. Das hatte er in der letzten halben Stunde immer mal wieder getan. Da meine Serie gerade zu Ende war, drückte ich den Annahmeknopf und starrte direkt in ein Paar grüne Augen, mitten in einem grünlichen Gesicht. Das Bild waberte ein wenig, wie immer, denn Alisha lebte unter Wasser.

»Warum hast du dich noch nicht zurückgemeldet?«, fragte eine monotone Stimme. Schon immer habe ich mich gefragt, wie wohl ihre echte Stimme klang. Wir hatten ja nur das Computerprogramm, das alles, was sie sagte, so übersetzte, dass wir es verstehen konnten.

»War früher fertig. Und dann kam direkt meine Serie.«

Ihre Augenwinkel kräuselten sich zu einem Lächeln. Ein Glück, dass sie so ausdrucksvolle Augen hatte, ihr Mund bewegte sich nämlich so gut wie gar nicht. »Und, wie war’s?«

»Du glaubst es nicht. Pass auf, es gab eine Kostümparty. Also, erst mal hat Landon voll mit Katrina rumgeknutscht. Die ja eigentlich mit Brett zusammen ist, wie du weißt. Und Brett dachte, er würde mit Katrina rummachen, dabei war es Cheyenne, ihre Schwester, die genau wusste, dass er denkt, sie wäre Katrina, und ihn so dazu gekriegt hat, sie zu küssen, und dann hat sie ihre Maske abgenommen, und er so: Waaas? Und dann hat Halleryn auch noch Landon dabei gefilmt, wie er diese Schlampe Carys küsst.«

Alisha blinzelte langsam mit ihren farblosen Augenlidern.

»Oh Mann, Highschool muss echt der Wahnsinn sein.« Plötzlich wünschte ich mir, dass mir auch einmal solche alltäglichen Dramen widerfahren würden. In paranormalen Dramen wurde nicht annähernd so viel geknutscht.

»Du musst dich bei Raquel zurückmelden«, drängte Alisha, ihre Augen lächelten noch immer.

»Schon gut, schon gut.«

Lish war super. Meine beste Freundin. Wenn man sich erst mal an ihre komische Roboterstimme gewöhnt hatte, merkte man, dass sie für eine Paranormale ziemlich witzig war. Anders als die meisten von ihnen war sie dankbar dafür, hier sein zu dürfen. Das Wasser in ihrer Lagune war so stark verschmutzt gewesen, dass es sie früher oder später umgebracht hätte. Hier war sie nicht nur in Sicherheit, sondern hatte auch was zu tun. Offenbar ist so ein Meerjungfrauendasein stinklangweilig. Vor ein paar Jahren haben wir mal zusammen Arielle geguckt und sie fand es zum Totlachen. Besonders wegen des Muschel-BHs hat sie sich gar nicht mehr eingekriegt – irgendwie logisch, wenn man bedenkt, dass Meerjungfrauen gar keine Säugetiere sind. Und Prinz Eric war, wie sie es ausdrückte, viel zu behaart und pfirsichfarben für ihren Geschmack. Ich hatte ihn eigentlich immer ganz süß gefunden, aber ich bin ja schließlich auch ein Säugetier.

Ich verließ meine Wohneinheit und schlenderte die kalten, sterilen Flure hinunter zu Raquels Büro. Natürlich hätten wir das mit dem Bericht auch per Videoschaltung machen können, aber sie wollte mich nach so einem Auftrag immer persönlich sehen, um sicherzugehen, dass es mir gut ging. Irgendwie gefiel mir das.

Ich klopfte einmal und die Tür schob sich auf. Der Raum war komplett weiß – weiße Wände, weißer Boden, weiße Möbel. Total schnarchig. Immerhin bildete Raquel einen hübschen Kontrast dazu. Ihre Augen waren so braun, dass sie fast schwarz aussahen, und ihr schwarzes Haar, das sie zu einem strengen Knoten geschlungen hatte, war von gerade so vielen grauen Strähnen durchzogen, dass sie vornehm, aber nicht alt wirkte.

Als ich mich setzte, sah sie von einem Stapel Papiere, die auf ihrem Schreibtisch lagen, auf.

»Du bist spät dran.« Ihr leichter spanischer Akzent war total cool.

»Eigentlich bin ich früh dran. Ich hatte gesagt, ich bräuchte vier Stunden, und es hat nur zwei gedauert.«

»Ja, aber du warst schon vor fast einer Stunde wieder da.«

»Tja, ich dachte mir, ich nehm mir ein bisschen frei, quasi als Belohnung, dass ich den Auftrag so gut erledigt habe.«

Raquel seufzte. Darin war sie Profi – diese Frau drückte mit einem einzigen Mal Ausatmen mehr Emotionen aus als andere Leute mit dem ganzen Gesicht. »Du weißt, wie wichtig die Nachbesprechung ist.«

»Ja, ja, ich weiß. Tut mir leid. Meine Serie lief gerade im Fernsehen.« Eine ihrer Augenbrauen hob sich fast unmerklich. »Willst du vielleicht auch eine Zusammenfassung?« Die meisten Paranormalen interessierten sich nicht für das, was ich mir im Fernsehen anguckte, aber Raquel war ein Mensch. Sie würde es zwar nie zugeben, aber ich war mir sicher – hundertpro –, dass sie solche Soaps genauso mochte wie ich.

»Nein. Ich will, dass du mir jetzt Bericht erstattest.«

»Meinetwegen. Also, über den Friedhof gelaufen, mir den Arsch abgefroren, Vampir gefunden, mich von ihm angreifen lassen. Vampir geschockt, markiert, ihn über seine Rechte belehrt und weitergeschickt. Er hieß übrigens Steve.«

»Irgendwelche Schwierigkeiten?«

»Nö. Oder warte, doch. Wie oft habe ich jetzt schon darum gebeten, nicht mehr mit Reth arbeiten zu müssen? Willst du die Hundert vollbekommen oder worauf wartest du noch?«

»Er war der einzig verfügbare Feentransport. Und wenn wir ihn nicht geschickt hätten, hättest du noch deine Serie verpasst.« Ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Ja, ja, schon gut.« Da war was dran. »Kannst du nächstes Mal bitte trotzdem eins von den Mädchen schicken?«

Sie nickte. »Danke für die Rückmeldung. Du kannst jetzt zurück in dein Zimmer gehen.« Sie wandte sich wieder ihren Papieren zu.

Ich wollte schon gehen, blieb dann aber stehen. Sie sah auf. »Gibt es noch was?«

Ich zögerte. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Es war jetzt schon ein paar Jahre her. Da konnte ich ja wohl noch mal nachfragen. »Ich hab nachgedacht, ob ich vielleicht … na ja, ich würde gern zur Schule gehen. In eine normale Schule.«

Raquel seufzte wieder. Diesmal war es mehr eine Art mitfühlender »Ich weiß, wie man sich als Mensch innerhalb dieses ganzen Irrsinns fühlt, aber wenn wir es nicht machen, wer dann?«-Seufzer. »Evie, Schatz, du weißt, dass das nicht geht.«

»Warum denn nicht? So problematisch wäre es doch gar nicht. Du könntest mich ja immer noch rufen, wenn du mich brauchst. Dafür muss ich doch nicht vierundzwanzig Stunden am Tag hier sein.« Dieses Hier befand sich nämlich so ziemlich mitten im Nirgendwo. Die gesamte Zentrale lag unter der Erde. Kein Problem, wenn man Zugang zu den Feenpfaden hatte. Allerdings war dieser Umstand geradezu eine Einladung für gelegentliche Anfälle überwältigender Klaustrophobie.

Raquel lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Darum geht es nicht. Erinnerst du dich noch, wie es war, bevor du hergekommen bist?«

Diesmal war ich diejenige, die seufzte. Ich erinnerte mich nur zu gut. Ich war mein ganzes Leben lang zwischen Kinderheimen und Pflegefamilien hin und her geschoben worden, bis zu dem schicksalsreichen Tag. Damals war ich acht und hatte meiner Meinung nach lang genug darauf gewartet, dass meine neueste Pflegemutter mit mir in die Bücherei ging, also beschloss ich, allein loszuziehen. Ich nahm gerade eine Abkürzung über den Friedhof, als ein nett aussehender Mann auf mich zukam. Er fragte mich, ob ich Hilfe bräuchte, und plötzlich war es, als wäre er zwei Männer zugleich – der nett aussehende und eine vertrocknete Leiche, beide im selben Körper. Ich brüllte wie am Spieß. Zu meinem Glück war die ABKP (die Amerikanische Behörde zur Kontrolle Paranormaler) bereits auf der Jagd nach ihm und schritt ein, bevor er mir etwas tun konnte. Als sie meinem verängstigten Gebrabbel entnahmen, dass ich wusste, wie er wirklich aussah, nahmen sie mich mit.

Scheint so, als wäre meine Fähigkeit, durch das Cover von Paranormalen hindurchzusehen und zu erkennen, was darunterliegt, ziemlich einzigartig. Soll heißen, kein anderer Mensch auf der Welt kann, was ich kann. Und als sich das herausstellte, wurde es richtig kompliziert. Sobald die anderen Länder Wind davon bekamen, was die ABKP da gefunden hatte, sind sie total ausgeflippt. Besonders Großbritannien – ihr glaubt ja gar nicht, was bei denen so alles an paranormaler Aktivität abgeht. In null Komma nichts wurde ein neues Abkommen aufgesetzt und die IBKP (die Internationale Behörde zur Kontrolle Paranormaler) gegründet. Die wichtigsten Punkte in diesem Vertrag sind die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Kontrolle Paranormaler und, tja, meine Wenigkeit.

Ich musste also zugeben, dass Raquel wahrscheinlich recht hatte. Dass mein Leben so kontrolliert wurde, nervte zwar, aber zumindest hatte ich ein Zuhause. Eins, in dem ich auch erwünscht war.

Ich zuckte mit den Schultern und tat so, als wäre mir das mit der Schule sowieso nicht so wichtig. »Ja, schon klar, kein Problem. Bis später dann.«

Ich spürte, wie sie mir nachsah, als ich das Zimmer verließ. Es ist ja nicht so, als wäre ich der IBKP nicht dankbar. Bin ich wirklich. Sie ist die einzige Familie, die ich habe, und hier ist es auch viel schöner als im Heim. Aber ich arbeite jetzt seit meinem achten Lebensjahr Vollzeit und manchmal geht mir das Ganze einfach tierisch auf den Keks. Manchmal langweilt es mich auch. Und manchmal wünsche ich mir, mehr als alles andere auf der Welt, dass mich einfach mal jemand zu einem stinknormalen Date einlädt.

Ich ging wieder zurück in meine Wohneinheit. So übel lebte es sich da gar nicht. Ich hatte eine kleine Küche, Schlafzimmer und Bad und das Wohnzimmer mit meinem super Fernseher. Die freien Wände in meinem Schlafzimmer waren schon lange nicht mehr weiß. Die eine hatte ich mit Postern von meinen Lieblingsbands und -filmen regelrecht zutapeziert. Über eine andere hatte ich einen total genialen Vorhang in Knallrosa mit schwarzem Leopardenmuster drapiert. Die dritte war meine Leinwand. Ich würde mich jetzt nicht unbedingt als Künstlerin bezeichnen, aber ich male eben gern, was mir gerade in den Sinn kommt – manchmal ist das einfach nur buntes Gekleckse –, und wenn es mir zu langweilig wird, übermale ich es wieder. Die Farbe an der Wand war mittlerweile gut und gerne fünf Zentimeter dicker als bei meinem Einzug.

Ich zog meinen Lieblingsschlafanzug an und löste meinen dicken Zopf. Und saß dann aus irgendeinem Grund plötzlich mit einem Mikrowellenessen vor dem Fernseher statt an den Hausaufgaben. Irgendwann musste ich weggedöst sein oder vielleicht befand ich mich auch im Halbschlaf, ich weiß nicht mehr. Aber ich bin mir sicher, dass ich träumte, weil ich plötzlich eine seltsame Stimme hörte: »Augen wie Bäche aus Schnee und aus Eis, voll Kälte – so vieles, was sie noch nicht weiß.« Wieder und wieder hörte ich diesen Singsang, er ließ mich nicht los. Es war, als zöge mich die Stimme an, als riefe sie mich zu sich. Ich wollte antworten, aber gerade als ich den Mund aufmachte, riss mich ein weiterer Alarm aus meinen Träumen.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und streckte die Hand nach meinem Bildschirm aus. Vielleicht fand ich da ja eine Erklärung, was hier los war. Aber alles, was er anzeigte, war ein blinkendes rotes ACHTUNG. Na, jetzt war ich ja schon viel schlauer. Ich schlüpfte in meinen Bademantel, schnappte mir Tasey und streckte den Kopf hinaus in den Flur. Eigentlich hätte ich laut Notfallprotokoll in meinem Zimmer bleiben sollen, aber ich wollte sehen, was da draußen los war, und zwar sofort.

Ich rannte durch die leeren Flure. Stroboskoplicht flackerte auf, um die Paranormalen zu warnen, die den Alarm nicht hören konnten – obwohl man ihn förmlich spürte, so laut war er. Ich erreichte Raquels Tür und presste meine Handfläche auf den Scanner. Das ist das Schöne daran, ich zu sein – uneingeschränkter Zugang zu allem, die ganze Zeit. Ich schlüpfte hinein. Sie saß an ihrem Schreibtisch und blätterte in aller Ruhe durch ein paar Aktenordner.

»Raquel«, keuchte ich. »Was ist los?«

»Ach, mach dir darüber keine Sorgen.« Lächelnd sah sie zu mir hoch. Oder nein, das Wesen, das aussah wie Raquel, sah lächelnd zu mir hoch. Raquels Gesicht lag schimmernd über – ja, was eigentlich? Ich konnte es nicht beschreiben. Es besaß irgendwie gar keine eigenen Gesichtszüge und seine Augen hatten die Farbe von Wasser. Wenn es nicht Raquels Gesicht getragen hätte, hätte man fast meinen können, es wäre gar nicht da.

Ich zwang mich zurückzulächeln, um meine Panik zu verbergen. »Der Krach hat mich aus dem irrsten Traum gerissen, den du dir vorstellen kannst.«

»Tut mir leid. Ich habe hier noch ein bisschen zu tun. Flitz du mal lieber schnell wieder in die Heia.« Es wandte sich wieder den Akten zu.

»Klar, wenn du mich hier nicht brauchst.« Ich drehte mich schon zur Tür, schlenderte dabei aber wie beiläufig näher an den Tisch heran. »Ach, Raquel?«

»Hmm?«

Ich stellte Tasey auf die höchste Stufe. »Das hier hast du fallen lassen.« Als das Ding mit Raquels Gesicht aufsah, machte ich einen Satz nach vorn und stieß ihm den Taser in die Brust. Schockiert riss es die wässrigen Augen auf und brach dann zusammen.

Entsetzt ging ich um den Schreibtisch herum. Ich hatte schon von Wesen gehört, die Menschen bei lebendigem Leib auffraßen und dann in ihre Haut schlüpften. Diese Vorstellung hatte mir schon manchmal Albträume beschert, dabei wurde mein Leben tagsüber doch bereits von genügend Albträumen bevölkert. »Nicht Raquel, bitte nicht sie«, flüsterte ich und hatte Mühe, mich nicht zu übergeben.

Raquel zerschmolz und hinterließ das seltsamste Wesen, das ich je gesehen hatte. Und das will bei meinem Job wirklich was heißen.

Kapitel

Meine Augen schienen das Wesen nicht fokussieren zu können. Immer wieder glitt mein Blick von ihm ab, als fände er nichts, an dem er sich festhalten konnte. Das Ding war nicht wirklich unsichtbar, aber fast – so unsichtbar, wie ein Wesen mit einem Körper eben sein kann. Stellt euch vor, ihr wollt einen Berg mit einer achtzigprozentigen Steigung raufmarschieren, der von einer Fünfzehn-Zentimeter-Eisschicht bedeckt ist. Ungefähr so war es, wenn man versuchte, diesen Typen anzusehen.

Dass es ein Typ war, da war ich mir relativ sicher. Er hatte, na ja, nichts an und ich war froh, dass er so in Ohnmacht gefallen war, dass bestimmte Körperteile verdeckt waren.

Ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Da schob sich die Tür auf und Raquel stürzte herein, gefolgt von zwei Männern vom Sicherheitsdienst.

»Er hat dich nicht gefressen!« Den Tränen nahe schlang ich die Arme um sie.

Die Wachleute rannten an uns vorbei und Raquel tätschelte mir unbeholfen den Rücken. »Nein, sie hat mich nicht gefressen. Sie hat mir nur einen ziemlich harten Schlag ins Gesicht verpasst.«

»Es ist ein Junge«, sagte ich.

»Was ist es?«, fragte sie zurück.

Wir traten auf ihn zu und sahen ihn an. Auch die Wächter starrten perplex auf ihn herunter. Einer kratzte sich am Kopf. Ein muskelbepackter französischer Werwolf namens Jacques. Werwölfe sind nicht ganz so einfach zu erkennen wie Vampire. Wenn gerade kein Vollmond ist, ist das Einzige, was sie verrät, ihre Augen. Egal, welche Farbe sie auch für andere Menschen zu haben scheinen, ich kann die gelben Wolfsaugen darunter immer sehen. Die meisten Werwölfe sind aber ziemlich anständige Kerle. Und weil sie so stark sind, stellen wir viele von ihnen als Sicherheitsleute ein. Nur bei Vollmond müssen wir sie natürlich komplett wegsperren.

Jacques zuckte mit den Schultern. »So was hab ich noch nie gesehen.« Auch er hatte Schwierigkeiten, seinen Blick auf die leblose Gestalt zu fokussieren.

Der andere Wachmann, ein ganz normaler Mensch, schüttelte den Kopf.

»Wie ist er hier reingekommen?«, wollte ich von Raquel wissen.

»Sie … er … es hatte das Aussehen von Denise angenommen.«

»Denise vom Zombiedienst?« Denise war ein Werwolf und ihre Hauptaufgabe war das Einfangen von Zombies. Ich selbst gehe nie auf Zombiemissionen – die haben kein Cover, also kann das praktisch jeder machen. Außerdem gehen sie nicht gerade schlau vor, sodass man sie leicht aufspüren kann, auch wenn es für unsere Agenten immer ein Höllenjob ist, die verstörte Bevölkerung davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Nur eine der vielen Dienstleistungen der IBKP: die Welt in vollkommener Unwissenheit darüber zu halten, dass es die meisten der übernatürlichen Wesen aus Mythen, nun ja, wirklich gibt.

»Ja. Es … also … Denise hat um Abholung gebeten. Das mit dem Zombie war falscher Alarm. Ich habe sie gesehen, als sie aus der Feenpforte kamen. Denise hat sich umgedreht und die Fee – es war Fehl – wieder reingestoßen. Ich habe sofort meinen Panikknopf gedrückt und wollte sie gerade zur Rede stellen, als sie mir die Faust ins Gesicht gerammt und meinen Kommunikator gestohlen hat.«

»Woher wusste er, welches dein Büro ist?«

»Sie … er ist auf dem Flur Jacques in die Arme gelaufen, hat einen Schwächeanfall vorgetäuscht und ihn gebeten, sie … ihn hierherzubringen.«

Jacques trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Wie sollen wir es kastrieren?«

Er meinte natürlich nicht kastrieren im wortwörtlichen Sinn. Igitt, nein. Kastrieren ist bloß unsere interne Bezeichnung dafür, einen Paranormalen unschädlich zu machen. Werwölfe zum Beispiel bekommen elektronische Fußfesseln mit Peilsendern und einer Riesendosis Beruhigungsmitteln, die automatisch bei Vollmond freigesetzt wird. Bei Vampiren sind es die Weihwasserfesseln. Und bei Feen hat man leichtes Spiel, wenn man ihren wahren Namen kennt, weil sie dann alles tun müssen, was man will, wenn man dem Befehl ihren Namen voransetzt. Na ja, nur so halbwegs leichtes Spiel eigentlich, sie finden nämlich irgendwie immer einen Weg um diese strengen Richtlinien herum. Man sollte nie den Einfallsreichtum einer Fee unterschätzen, wenn es darum geht, Befehle absichtlich falsch zu verstehen.

Raquel runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Versuchen wir’s erst mal mit der Standardkombi aus Elektroschocks und Beruhigungsmitteln. Wenn wir erst mal mehr über dieses Wesen wissen, können wir ja zu etwas ausgeklügelteren Methoden übergehen.«

Jacques zog eine Fußfessel aus der Tasche. Er zögerte, das Wesen zu berühren, und schüttelte schließlich den Kopf. »Ich kann es kaum sehen. Wo ist denn sein Bein?«

Raquel und die beiden Wächter zogen die Stirn kraus, als ihre Blicke immer wieder von der Gestalt auf dem Boden abglitten.

Ich seufzte und streckte die Hand aus. »Na, gib schon her, ich kann sein Bein sehen.« Erleichtert reichte Jacques mir die Fußfessel. Ich kniete mich hin und hielt dann nervös inne. Würden meine Hände direkt durch ihn hindurchgreifen, als würde ich sie in kaltes Wasser tauchen? Aber eigentlich musste er ja einen festen Körper haben, sonst hätte Tasey doch nicht funktioniert. Ich unterdrückte einen Schauder und legte die Hand auf seinen Knöchel.

Er hatte einen festen Körper. Seine Haut war warm und glatt wie Glas – nur dass Glas sich nicht so weich anfühlt.

»Irre«, murmelte ich, aktivierte die Fußfessel mit dem Finger und befestigte sie an seinem Bein. Der Anpassungsmechanismus brauchte ein paar Anläufe, bis sich der Reif sicher um seinen Knöchel schloss. Der Typ zuckte zusammen, als die Sensoren unter seine Haut schossen, aber er wachte nicht auf.

Als ich wieder aufstand, spürte ich seine Wärme noch immer in meiner Hand. »So, das wäre erledigt. Und nein, ich trage ihn nicht zum Verwahrungstrakt, falls ihr mich das als Nächstes fragen wolltet. Ihr könnt ihn ganz normal fühlen, auch wenn ihr ihn nicht seht. Außerdem ist der Kerl nackt – den fass ich bestimmt nicht noch mal an.«

Als ich ihre Gesichter sah, hätte ich beinahe losgelacht. Die beiden Wachmänner streckten die Hände so zögerlich aus, als könnten sie sich an unserem Waterboy verbrennen. Schließlich aber hoben sie ihn hoch und trugen ihn aus dem Raum.

»Ich geh mal besser nachsehen, wie es Denise geht. Und Fehl.« Raquel ließ ihren besten »Warum muss eigentlich immer ich mich um diese Dinge kümmern?«-Seufzer los (der mir mittlerweile nur allzu gut bekannt war) und klopfte mir dann auf die Schulter. »Gute Arbeit, Evie. Wer weiß, was passiert wäre, wenn du diese Kreatur nicht überrascht hättest.«

»Schon okay – aber halt mich auf dem Laufenden, ja? Der Kerl ist der größte Freak, der mir je untergekommen ist. Ich will wissen, wie’s mit ihm weitergeht.«

Sie lächelte, ein knappes, unverbindliches Lächeln, bei dem ich genau wusste, dass es »Vergiss es« bedeutete, und nahm ihren Kommunikator vom Schreibtisch.

Extrem genervt machte ich mich davon. Die IBKP verriet mir so gut wie nie mehr als den Ort, an den ich reisen, und den Auftrag, den ich dort erledigen sollte. Na ja, drauf gepfiffen. Statt zurück in mein Zimmer zu gehen, spazierte ich auf direktem Weg in Richtung Verwahrungstrakt. Wenn Raquel mir nichts verraten wollte, musste ich mich eben selbst drum kümmern. Ich drückte die Handfläche auf den Türscanner und betrat den langen, hell erleuchteten Korridor, der auf beiden Seiten von Zellen gesäumt war.

Mein Kumpel, der Gremlin von vorhin, attackierte fauchend das elektrische Feld, das ihn zusätzlich zu einer fünfzehn Zentimeter dicken Plexiglasscheibe in seiner Zelle hielt. Jedes Mal, wenn er dagegensprang, quietschte er auf und wurde nach hinten geschleudert, nur um gleich wieder von vorn anzufangen. Tja, Gremlins – nicht gerade die Schlausten, wenn ihr mich fragt.

Jacques stand nur ein kleines Stückchen von mir entfernt im Gang. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und eilte auf ihn zu. Ich fror eigentlich überall in der Zentrale, aber hier im Verwahrungstrakt war es echt eisig. Jacques stand einfach nur da und starrte mit verstörtem Gesicht in eine Zelle. Als ich seinem Blick folgte, klappte mir vor Überraschung die Kinnlade runter. Da drin war noch ein Jacques, der lässig an einer Zellenwand lehnte und zu uns rausblickte. Als er mich sah, änderte sich jedoch sein Gesichtsausdruck. Aufgebracht kam dieser Jacques so weit auf mich zu, wie es das elektrische Feld erlaubte.

Das war nicht Jacques. Ich trat ebenfalls ganz dicht an die Scheibe, die Augen konzentriert zusammengekniffen. Ich konnte es sehen – direkt hinter Jacques’ quadratischem Gesicht.

»Das macht es jetzt schon die ganze Zeit. Seit es aufgewacht ist, gleich nachdem ich die Zelle versiegelt hatte«, flüsterte Jacques, der neben mich getreten war.

»Bitte«, beschwor mich der falsche Jacques mit absolut identischer Stimme, »dieses Monster hat mich überwältigt und hier eingesperrt! Lass mich raus, damit ich dir helfen kann!«

»Aber sicher doch«, entgegnete ich liebenswürdig, »ich bin ja auch blöd.«

Der flehende Ausdruck verschwand von Nicht-Jacques’ Gesicht und ein geheimnisvolles Lächeln trat an seine Stelle. Er zuckte mit den Schultern und steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Wie machst du das mit den Klamotten?« Ich war ehrlich neugierig. Kein Cover, das ich bis jetzt gesehen hatte, war mehr gewesen als eine zweite Haut. Nur wenige Spezies (wie Feen zum Beispiel) konnten es nach Wunsch überstreifen und ablegen, aber niemand konnte das Aussehen des Covers an sich verändern.

»Woher hast du es gewusst?« Seine durchsichtigen Augen, die unter denen von Jacques’ Cover lagen, starrten mich durchdringend an.

Die meisten Paranormalen haben keine Ahnung von meinen Fähigkeiten. Und das sollte auch so bleiben. »Raquel würde nie ›Heia‹ sagen.«

Nicht-Jacques schüttelte den Kopf. Er beugte sich noch weiter vor und ich betrachtete sein Gesicht, suchte nach seinen eigenen Zügen. Das Einzige, was ich einigermaßen problemlos fixieren konnte, waren seine Augen. Schockiert richtete er sich auf. Eins musste man ihm lassen: Er verlieh Jacques’ Gesicht mehr Ausdruck, als Jacques selbst das je geschafft hatte.

»Du kannst mich sehen«, flüsterte er.

»Äh, jaaa? Du stehst ja auch direkt vor mir. Verkleidet als Jacques. Steht dir übrigens besser als Raquel.«

Er lächelte wieder sein geheimnisvolles Lächeln. Dann kräuselte sich seine Haut wie Wasser im Wind und Jacques zerrann. Jetzt war er fast unsichtbar – bis auf seine Fußfessel. Er ging auf die andere Seite der Zelle, wo er sich ganz unvermittelt zu Boden fallen ließ.

Mein Blick fand seine Augen, die mich anstarrten, und ich begriff zu spät, dass das ein Test gewesen war. Er hatte sehen wollen, ob ich seinen Bewegungen folgen konnte, wenn er seinen Unsichtbarkeitsmodus anschmiss.

Farbe breitete sich auf seinen Wangen aus, sein ganzer Körper schimmerte und plötzlich stand ich mir selbst gegenüber – mir, in allen Einzelheiten, bis hin zum flauschigen, leuchtend rosa Bademantel. »Du kannst mich sehen«, ertönte meine erstaunte Stimme aus seinem Mund.

»Evie!« Raquel stöckelte in ihren bequemen (sprich hässlichen) schwarzen Pumps auf uns zu, ein Stirnrunzeln meißelte eine tiefe Falte zwischen ihre Augenbrauen. Erwischt. »Du solltest gar nicht hier sein.«

»Tja, wenn dir das lieber ist: Ich bin auch da drüben.« Ich deutete auf die Zelle.

Raquel blieb wie angewurzelt stehen, ihre Stirn glättete sich vor lauter Überraschung, als sie Nicht-Mich hinter der Glasscheibe anstarrte.

»Erstaunlich«, hauchte sie.

»Na ja, geht so.« Nicht-Ich gähnte und fing an, mit seinem … meinem platinblonden Haar zu spielen.

»Was bist du?« Raquel wurde plötzlich ganz geschäftsmäßig.

Nicht-Ich schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln.

Mich selbst dabei zu beobachten, wie ich all diese Dinge tat, war extrem eigenartig. Ich sah mein Gesicht aus Blickwinkeln, aus denen ich es noch nie betrachtet hatte – das war mal was ganz anderes, als in den Spiegel zu gucken.

Nicht-Ich sah wieder zu mir und schüttelte meinen – äh, seinen? – Kopf. »Ich krieg deine Augenfarbe nicht richtig hin.« Er stand auf und spazierte direkt auf das elektrische Feld zu, ohne den Blick von mir zu wenden.

Ich konnte nicht anders, als mich gründlich unter die Lupe zu nehmen. Ich war hübsch. Na ja, etwas zu dünn, aber ich war schon immer ein ziemlicher Strich in der Landschaft gewesen. Und noch dazu ziemlich flach. Leider. Langsam wurde mir das nun aber doch zu freakig. »Hör auf damit«, verlangte ich stirnrunzelnd.

Er starrte mich jedoch einfach weiter an, mit meinem Gesicht. Ich hatte mich bisher hauptsächlich auf seine echten Augen konzentriert, darum fiel mir erst jetzt auf, dass er bei meinen Augen verschiedene Farben ausprobierte. »Passt nicht ganz«, murmelte er vor sich hin. »Zu silbrig. Und jetzt ist es zu dunkel. Sie sind so blass.«

Er hatte recht. Das Grau meiner Augen war so hell, dass es fast schien, als hätten sie gar keine Farbpigmente.

»Was ist das für eine Farbe?«, überlegte Nicht-Ich. Seine Augen flackerten jetzt, wechselten die Farbe so schnell, als hätte jemand auf Vorspulen gedrückt. »Wie eine Wolke mit einem winzigen Anflug von Regen.«

»Bäche aus Schnee und aus Eis«, antwortete ich, ohne nachzudenken.

Abrupt richtete er sich kerzengerade auf und wich in eine Ecke seiner Zelle zurück. Ich sah, wie Angst und Misstrauen über mein Gesicht huschten. »Ja, das ist es«, flüsterte Nicht-Ich.

Kapitel

»Wo ist Denise?«, wollte Raquel wissen und starrte Waterboy in seiner Zelle finster an.

Ich seufzte erleichtert auf, als mein Gesicht von seinem herunterschmolz und das von Denise an seinen Platz trat.

»Noch genau da, wo ich sie zurückgelassen habe«, antwortete Nicht-Denise. Immer wieder wanderte sein Blick zu mir.

»Und das wäre wo?«

»Auf dem Friedhof. Sie werden sie schon finden.«

»Denise oder ihre Leiche?« Raquels Stimme klang hart.

Nicht-Denise verdrehte die Augen. »Sie hat allenfalls ein bisschen Kopfschmerzen. Oh Mann, Sie scheinen mich ja echt für ein Monster zu halten.« Sein Mund verzog sich zu einem ironischen Grinsen.

»Was bist du denn sonst?«

»Also wirklich, wie unhöflich. Dabei haben wir uns noch nicht mal vorgestellt.«

Sie stieß einen »Kann ich jetzt bitte einfach anfangen, ihm Elektroschocks zu verpassen, bis er tut, was ich sage?«-Seufzer aus.

Ich mischte mich schnell ein, bevor er sich noch tiefer reinritt. »Ich bin Evie. Raquel kennst du ja schon – du hast ihr eine reingehauen und dann das Gesicht geklaut, weißt du noch? Und Jacques hier ist dein neuer bester Freund, weil er hier unten zuständig ist für die Fressalien. Ich gehe mal davon aus, dass du isst. Und du bist …?«

»Lend.«

»Lend?«, wiederholte Raquel.

»Ja, Lend wie ›leihen‹ auf Englisch. So wie ›leih mir dein Gesicht‹.« Er schimmerte auf und wurde wieder zu Raquel.

»Aha, dann wäre ›klauen‹ ja wohl passender«, sagte ich.

»Ich wiederhole meine Frage noch mal«, schnauzte Raquel ihn an. »Was bist du?« Angesichts dessen, was der Kerl angestellt hatte, konnte ich ihr ihre Ungeduld nicht verdenken.

»Gute Frage. Vielleicht sagen Sie es mir ja?«

»Was willst du hier?«

»Ach, ab und an brauche ich einfach mal so einen richtig schönen Stromstoß.«

»Wonach hast du gesucht?«

»Nach Antworten.«

»Tja.« Raquel schenkte ihm ein schmallippiges Lächeln. »Dann geht’s dir genauso wie mir.« Ihr Kommunikator vibrierte. Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit, als sie die Nachricht las. Sie sah auf und nickte ihrem Spiegelbild zu. »Wir besprechen das morgen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte mit Jacques den Flur hinunter.

Ich starrte Lend-als-Raquel noch immer an und beobachtete sein echtes Gesicht unter ihrem. Mittlerweile gelang es mir sogar fast, einzelne Züge auszumachen. Er streckte mir die Zunge heraus. Ich konnte mich nicht zurückhalten und kicherte drauflos. Das sah mit Raquels Gesicht einfach zu bescheuert aus.

»Evie! Los jetzt!«, blaffte Raquel durch den Flur.

Nach einem letzten Blick auf Lend-Raquel rannte ich los, um sie einzuholen.

»Sie haben Denise gefunden, ihr geht’s gut. Und Fehl ist auch wieder da. Ich will nicht, dass du mit diesem Ding redest, bis wir wissen, was es ist und warum es hergekommen ist.«

Träum weiter, dachte ich. »Okay«, sagte ich laut.

»Was siehst du, wenn du es anguckst?«

»Ich weiß nicht. Zuerst konnte ich kaum was erkennen. Ich hab nur gesehen, dass da jemand unter deinem Gesicht war. Aber wenn er keinen anderen Körper trägt, ist es … als würde mein Blick auf ihm keinen Halt finden. Ist aber schon ein bisschen besser geworden, als ich ihm da drin zugesehen habe. Seine Augen sind das Einzige, was ich wirklich fixieren kann. Der Rest ist mehr wie ein Umriss oder ein durchsichtiger Schatten oder … ich weiß auch nicht … wie ein Mensch, der nur aus Wasser und einem winzigen bisschen Licht besteht.«

»Ich werde mal ein paar von unseren Forschern zusammentrommeln. Zuerst müssen wir herausfinden, was er ist, und dann, was er will.«

Gespielt gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. »Klar, wieso nicht.«

»Schlafenszeit, Evie!«, stellte sie mit strenger Stimme fest. Man sollte ja eigentlich meinen, dass für jemanden, der keine Mutter hat und – also echt! – immerhin sechzehn ist, so was wie Schlafenszeit nicht gilt, aber nein … »Und denk dran, dass du morgen Unterricht hast.«

»Na schön. Aber wenn der Alarm noch mal losgeht, ignorier ich ihn, okay? Dann kann bitte mal jemand anders die Kuh vom Eis holen.«

Raquel entwich ein »Lieber tausend Vampire und Gremlins als ein schmollender Teenager«-Seufzer. Sie winkte mir zu und bog in einen anderen Flur ab.

Nachdem ich mir einen heißen Kakao gemacht hatte, rollte ich mich mit einer Decke auf der Couch zusammen. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, an Schlaf war gar nicht zu denken. Was für ein komischer Tag. Und wenn ich so was sage, dann muss der Tag absolut irre gewesen sein. Ich schob noch einen Film in den Player, um ein bisschen abzuschalten. Der Bildschirm flackerte hypnotisch. Das Licht hinter mir bemerkte ich zuerst gar nicht.

»Komm und tanz mit mir, mein Herz.« Seine Stimme war wie aus purem Gold – hell und glitzernd, mit dem Versprechen von Wärme. So viel Wärme.

Ich lächelte, schloss die Augen und ließ mich von der Couch hoch in seine Umarmung ziehen. Er legte seine Wange an meine und mich durchströmte eine wohlige Hitze, sie kroch über mein Gesicht, den Hals hinunter und schließlich langsam in Richtung meines Herzens.

»Mein Herz«, flüsterte er. Ich nickte, den Kopf an seiner Wange. Sein Herz.

Mein Videobildschirm piepte und riss mich aus meiner Trance. Ich machte einen Satz rückwärts und stieß Reth von mir weg. Nach und nach zog sich die Wärme von meinem Herzen zurück. Das war knapp gewesen. Viel zu knapp.

Enttäuscht streckte Reth die Arme nach mir aus.

Ich fluchte. »Verdammt, was soll das? Raus hier! Und zwar sofort!«

»Evelyn.« In Verbindung mit der Wärme, die noch in mir brannte, zog mich seine Stimme an wie ein Magnet. Gegen meinen Willen beugte ich mich ihm entgegen.

»Nein!« Ich entriss mich seinem Sog, rannte zur Theke, die das Wohnzimmer von der Küche trennte, und schnappte mir meinen Kommunikator. »Raus.« Den Finger über dem Panikknopf, starrte ich ihn wütend an. Sein schönes Gesicht wurde traurig. Am liebsten hätte ich ihn getröstet. Ich schloss die Augen und senkte langsam meinen Zeigefinger. »Raus. Sofort.«

Durch meine geschlossenen Lider nahm ich das Licht einer sich öffnenden Tür wahr und wartete ab, bis es wieder dunkler wurde. Erst dann öffnete ich die Augen wieder. Reth war nicht mehr da.

Ich ging zu meinem Videobildschirm und schaltete ihn ein. »Wozu sind eigentlich diese verdammten Hightech-Türen mit Handabdruck-Erkennung gut, wenn die Feen sowieso ihre eigenen Pforten machen und kommen und gehen können, wie sie wollen!«, schrie ich Lish an. Überrascht und betroffen riss sie die grünen Augen auf. Ich atmete tief durch. Sie konnte ja nichts dafür. »Danke für die Unterbrechung«, fügte ich hinzu.

»Reth?«

»Wer sonst. Kannst du einen Bericht für mich einreichen?«

»Ja, natürlich. Wir werden versuchen, seine Instruktionen noch eindeutiger zu gestalten.«

Ich schüttelte den Kopf. Er fand ja doch immer einen Weg, sie zu umgehen. Ich tippte darauf, dass er beschlossen hatte, den heutigen Befehl, mich zu holen, einfach als Freifahrschein zu verstehen und nicht als einmaligen Auftrag.

»Was wolltest du eigentlich?«

Sie wirkte ein bisschen verschämt. »Ich wollte nur fragen, was das für eine Störung heute war. Aber das kann auch bis morgen warten.«

»Gut, ich bin echt ziemlich fertig. Ich komme dich morgen besuchen und dann erzähl ich dir alles, okay?«

»Willst du vielleicht bei mir schlafen?« Als ich neu in der Zentrale war, hatte ich, wenn ich nachts schlecht träumte, meine Bettdecke und mein Kissen rüber zu Lishs Aquarium geschleift und daneben auf dem Boden übernachtet. Sie hatte mir immer so lange Geschichten erzählt, bis ich eingeschlafen war. Einen Moment lang war ich wirklich in Versuchung, aber dann kam es mir doch zu blöd vor, mir wegen so eines dämlichen Feentypen ins Hemd zu machen.

»Geht schon.« Ich zwang mich zu lächeln. »Trotzdem danke. Gute Nacht, Lish.«

Die Augen der Meerjungfrau erwiderten mein Lächeln und der Bildschirm wurde schwarz.

Ich ließ mich wieder auf die Couch fallen. Reth war mir so nahegekommen. Schon wieder. Und – und das war am schlimmsten von allem – ein Teil von mir wünschte sich, wir wären nicht unterbrochen worden. Dabei hatte ich den Umgang mit Feen auf die harte Tour erlernt. Alles, worauf die aus sind, ist, Macht über dich zu haben, damit sie dich ausnutzen können. Aber anders als den Jungs aus den Fernsehserien geht es ihnen dabei nicht um Sex. So was ist ihnen völlig wurscht. Sie wollen dein Herz, deine Seele. Und das würde Reth nie wieder von mir kriegen.

Dieser Entschluss trug allerdings auch nicht dazu bei, dass ich ihn weniger schmerzlich vermisste.

Den Rest der Nacht verbrachte ich hellwach und, obwohl ich mich in drei Decken gewickelt hatte, bibbernd vor Kälte. Als die Uhr schließlich auf vier sprang, gab ich auf. Ich zog mir meine wärmsten Klamotten an und ging runter zum Verwahrungstrakt.

Lend hatte sich auf dem Boden zusammengerollt und schlief. Ich setzte mich an die gegenüberliegende Wand und sah fasziniert zu, wie sein Körper sich durch verschiedene Identitäten zappte, so wie ich mich durch Fernsehprogramme. Nach vielleicht einer Stunde nahm er seine seltsame Grundform aus Wasser und Licht an. Ich war mittlerweile so müde, dass ich den Blick kaum noch auf ihn fokussieren konnte – und mit einem Mal sah ich ihn. Es war, als würde seine wahre Gestalt sich wie von selbst zeigen, sobald man sich nicht mehr solche Mühe gab, ihn zu sehen. Er hatte Haare und ein normales Gesicht – das mit ein paar Pigmenten sogar ganz süß ausgesehen hätte. Und was noch überraschender war: Er wirkte nicht viel älter als ich.

Kurz darauf öffnete er die Augen und fing meinen Blick ein. Farbe durchströmte ihn – wieder lieh er sich meinen Körper aus. Nur die Augen flackerten, als suche er immer noch nach dem richtigen Farbton.

»Was bist du?«, flüsterte ich.

»Was bist du denn?«

Empört hob ich die Augenbrauen. »Ein Mensch.«

»Komisch, ich auch.«

»Nein, bist du nicht.«

»Komisch, du auch nicht.«

Ich presste die Kiefer aufeinander und warf ihm einen finsteren Blick zu. Was für ein Vollidiot. »Warum bist du hergekommen?«