Christiane Scholler

Er war mein

Urgroßvater

Anita Hohenberg über
Thronfolger Erzherzog
Franz Ferdinand

Impressum

ISBN 9783990402245

Lizenzausgabe 2013 by Styria premium in der Verlagsgruppe Styria

GmbH & Co KG, Wien · Graz · Klagenfurt

© 2011 Schloß Artstetten BetriebsGmbH und Anita Hohenberg

Alle Rechte vorbehalten

Bücher aus der Verlagsgruppe Styria

gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop

Herausgeberin: Anita Hohenberg, Schloss Artstetten

Text: Christiane Scholler

Redaktion: Brigitte E. Leidwein

Covergestaltung: Maria Schuster

Coverfotos: Porträt des Thronfolgers Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich- Este

(ÖNB-Bildarchiv/​picturedesk.com) und Christine de Grancy

Buchgestaltung: Büro Hamtil, Wien

Abbildungen und Fotos im Buch: Archiv von Schloss Artstetten

(mit Ausnahme der Seiten 151, 152 und 153: Christiane Scholler)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Ein Vorwort

Willkommen im Schloss

Lieber Urgroßvater Franz Ferdinand 

Das Attentat

Ein Raum zwischen Damals und Heute

Die Frage nach dem Anfang – die Suche nach den Wurzeln

Der Weg nach oben

Im Fegefeuer

Glück in der Warteschleife

Im Vorhof der Macht

Schlossherr, Visionär und Sammler

Das letzte Kapitel

Anhang: Der Schlosspark – grüne Oase mit Aussicht

Zum Nachlesen

Zitate im Einzelnen

Anita Hohenberg

Dr. Christane Scholler

Weitere Bücher

Ein Vorwort 

… ist nur interessant, wenn es die Leserschaft kurz und prägnant zum Kern der Sache – hier also zum Zweck des Buches – führt.

Im vorliegenden Fall ist das ganz einfach: Anita Hohenberg will ihrem Urgroßvater, Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este, ein lebendiges Andenken bewahren.

Es war und ist mir eine Freude und besondere Ehre, im Sinne der Familie Hohenberg eine zeitgerechte Interpretation der zum Teil überraschenden Informationen zu liefern.

In langen und interessanten Kamin-Gesprächen hat die Urenkelin des Thronfolgers ein sehr persönliches und komplexes Bild des Erzherzogs wiedergegeben, das so in keinem Geschichtsbuch vorkommt.

Auch deshalb wird es Ihnen sicherlich Freude bereiten, anhand der folgenden Seiten eine bekannte Persönlichkeit plötzlich mit anderen Augen betrachten zu können.

Mein Dank gilt deshalb in erster Linie der Schlossherrin Anita Hohenberg, die ich im Rahmen dieser Zusammenarbeit kennen- und schätzen lernen durfte: eine Frau mit unverkennbarer Herkunft, gleichzeitig aber mit beiden Beinen im Leben stehend. Als Mutter von vier Kindern nicht nur von spürbarer Begeisterung für die Familie geprägt, sondern auch zukunftsorientiert und kostenbewusst die Geschicke von Artstetten lenkend. Kein Wunder, ist man versucht zu denken. In dieser Familie haben die Frauen schon immer gewusst, worauf es ankommt 

Bei den vielen mühsamen Schritten, die dieses Buch zur Vollendung führen konnten – Recherche, Nachprüfung der Fakten, Archivarbeit, Bildauswahl, Begehungen und Nachforschungen vor Ort, Ergänzungen um wichtige Details –, war die Ausstellungskuratorin vor Ort und wohl auch „rechte Hand von Anita Hohenberg“, Frau Brigitte E. Leidwein, die unermüdliche, unersetzbare und stets gut gelaunte Unterstützung. Ohne sie und ihr detailgetreues Wissen um das Schicksal der Familie Hohenberg hätte dieses Buch so nicht entstehen können. An dieser Stelle daher an sie ein von Herzen kommendes Danke!

Wie heißt es so schön? Im Wissen um die Vergangenheit können wir uns getrost der Zukunft stellen. Allen Leserinnen und Lesern darf ich daher nun viel Freude bei der Lektüre und bei der Entdeckung des „anderen“ Thronfolgers wünschen.

Willkommen im Schloss!

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie sind im Begriff, mit mir eine Zeitreise zu beginnen. Nicht im herkömmlichen Sinne, wie wir dies aus den Geschichtsbüchern unserer Schulzeit gewohnt sind. Und mit Sicherheit auch in etwas anderer Form, als Sie nun vielleicht erwarten würden, wenn es darum geht, Ihr Wissen um Erzherzog Franz Ferdinands Leben ein wenig zu erweitern.

Im Zeitalter von Internet, Wikipedia, Smartphones und Tablet-PCs haben Sie heute jede gewünschte Information in Sekundenschnelle per Mausklick zur Verfügung. Genau das ist aber der Haken dabei: Alleine beim Suchbegriff „Thronfolger Franz Ferdinand“ stoßen Sie bei der Suchmaschine Google auf über 50.000 Eintragungen. Das „Attentat von Sarajevo“ ergibt rund 250.000 Treffer, die Suche nach dem Schloss Artstetten bringt an die 125.000 Ergebnisse. Was also tun mit einer Fülle von Informationen, wenn Sie ein Thema zwar interessiert, Sie aber in möglichst kurzer Zeit über das Wichtigste ganz gezielt informiert werden wollen?

Je persönlicher, desto besser, lautet mein Motto. Deshalb bekommen Sie mit diesem Buch eine Geschichtslektüre der anderen Art in die Hand. Einen Reiseführer in die glanzvolle Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende, aber mit den Augen eines Familienmitgliedes betrachtet. Eine Anleitung zum Miterleben und Mitfühlen, denn die folgeschweren Ereignisse nach der Ermordung des Thronfolgers, meines Urgroßvaters, im Juni 1914 haben nicht nur im Großen die Neuordnung Europas heraufbeschworen, sondern auch im Kleinen das Schicksal der zurückgelassenen Kinder und deren Nachfolger nachhaltig beeinflusst.

Als Urenkelin Franz Ferdinands fühle ich mich dazu berufen, das Andenken an diesen ungewöhnlichen Mann und seine Familie nicht nur zu bewahren, sondern lebendig vor Augen zu führen. Vielleicht kommen Sie auch einmal ins Schloss Artstetten: Dann wird der Besuch des Hauses für Sie bestimmt mehr als ein bloßer Rundgang durch schöne Räume mit alten Bildern und liebevoll zusammengestellten Exponaten. Schon der erste Blick auf das markante Gebäude in herrlicher Lage nahe der Donau, mit seinen charakteristischen Zwiebeltürmen und dem historischen Schlosspark, lässt uns gedanklich noch einmal die längst vergangene Geschichte Revue passieren.

Beginnend mit einem fiktiven Brief an meinen Urgroßvater, Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este, möchte ich mich nun gemeinsam mit Ihnen auf die Spurensuche in die Vergangenheit begeben – um Familienhistorie, Schlossgeschichte und kleine Geheimnisse mit Ihnen persönlich zu teilen. Darauf freut sich

Erzherzog Franz Ferdinand, 30-jährig und bereits General der Kavallerie

Lieber Urgroßvater Franz Ferdinand,

ich durfte Dich niemals kennenlernen, und dennoch bist Du mir im Laufe der Jahre so vertraut geworden, als hätten wir bereits viel Zeit miteinander verbracht. Was ich über Dich weiß, ergibt ein Bild von einem Mann, der sehr gut auch in der heutigen Zeit gelebt haben könnte.

Vorausplaner und Querdenker, konsequenter Stratege und unbeugsamer Charakter: Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort. Nicht nur betreffend Sarajevo, sondern auch in Bezug auf das Jahrhundert, in dem Du gelebt hast.

Dein tragisches Schicksal bedeutete zugleich das Ende einer glanzvollen Ära, den Anfang einer neuen Zeit, in der Du Dich aber bestimmt ohne Probleme zurechtgefunden hättest.

Mit jedem Bild von Dir und Deiner Familie, das ich in unserem Schloss betrachte, fallen mir unendlich viele wahre Geschichten ein, die ein beredtes Zeugnis geben 

… zum Beispiel vom „verhinderten Herrscher“, der mit Offenheit gegenüber modernen Errungenschaften, gleichzeitig aber auch mit dem der damaligen Zeit entsprechenden monarchischen Sendungsbewusstsein zu verstehen war. Deine menschlich herausragendste Eigenschaft war die Liebe zur Familie, zu Deiner Sophie und zu den Kindern. Zu Hause warst Du ungezwungen und fröhlich, in klarem Gegensatz zu Deinem bekannten Auftreten als zeitweise schroffer, direkter und eher herrisch wirkender Mann.

Wie war es denn nun wirklich, Dein Leben? Auf den ersten Blick ein paar spontane Gedanken.

Die unbeschwerte Kindheit ist zum Glück unbestritten. Die vom Einfluss des Kaiserhauses geprägte Jugend, die schwere Erkrankung und fast einjährige Weltreise, Deine geheimnisvolle Verbindung zu Sophie und der Kampf um Eure Liebe, die Hochzeit und das glückliche Familienleben sind legendär. Trotz zahlreicher offizieller Verpflichtungen konntest Du mit Deiner großen Sammelfreude zahllose Kulturgüter retten und durch Deine Jagdleidenschaft sogar den besten Schützen Indiens im Wettschießen besiegen. Ein gutes Gefühl für Raumplanung und ein modernes Gespür für Technik, aber auch die bewusste Förderung und Modernisierung der Marine oder Deine der damaligen Zeit weit vorausgehenden politischen Ideen ergeben das Bild eines außergewöhnlichen Menschen.

Immer in Bewegung sein, niemals die Hände in den Schoß legen – das war ein selbstverständliches Lebensmotto. Offen sein für Neues, aber Bewährtes erhalten. Konservativ bleiben, wo es Erziehung, Religion und Anstand erfordern – aber gleichzeitig Unbekanntes erforschen, Unbequemes wagen, Unpopuläres durchsetzen. Das könnte auch das Bild eines modernen Managers sein! Und genau das ist es auch, was Deine Faszination noch heute ausmacht. Du wirst nie vergessen sein, aber nicht nur wegen der Schüsse in Sarajevo. Du hast vorgelebt, dass man zu seinen Ideen und Vorstellungen stehen muss. Dass es sich auszahlt, für das zu kämpfen, was einem im Leben wirklich wichtig ist. Und dass der bequemste Weg nicht immer jener ist, der uns zum Ziel führt.

In diesem Sinne lasse ich Dich jetzt sozusagen zu Wort kommen und vor unserem geistigen Auge nochmals Gestalt annehmen. Die zahlreichen Briefe, Aufzeichnungen, Urkunden und authentischen Berichte aus Deiner Zeit – und auch von Dir selbst – erlauben mir, als Deine Urenkelin, eine sehr genaue Vorstellung davon, was Dir wohl durch den Kopf gegangen sein mag. Zum Beispiel an jenem verhängnisvollen Sommertag im Juni 1914 

Ein Raum zwischen Damals und Heute

Wer Schloss Artstetten zum ersten Mal besucht, kann sich dem Zauber der harmonisch angeordneten Räume und der Romantik des Landschaftsparks kaum entziehen. Spätestens aber nach dem Verweilen im Innenhof und dem bewussten Nachempfinden der dramatischen Ereignisse jenes 28. Juni 1914 drängt sich die Frage auf: Wo ist der Anfang jener Spirale, die sich im Leben meiner Urgroßeltern plötzlich immer schneller drehte, ohne dass es diejenigen, die davon betroffen waren, bemerken konnten? Wo und wie hat das Leben jenes Mannes begonnen, dessen Name so untrennbar mit dem Attentat von Sarajevo und in letzter Konsequenz mit der Neuordnung Europas verbunden ist?

Der gedankliche Übergang vom gemeinsamen Sterben des Thronfolgers und der Herzogin von Hohenberg – zurück zur glücklichen Kindheit, hinein in die große Familie und Verwandtschaft – gelingt am besten mit einem kurzen Innehalten. Aus diesem Grund haben wir im Schloss den »schwarzen Raum« geschaffen. Bevor man einer Fülle von Exponaten, Bildern, Fotos und Einrichtungsgegenständen aus der damaligen Zeit gegenübersteht, erblickt man in dieser »Zeitschleuse« nur das weiße Gipsrelief des Paares. Hier wird noch einmal deutlich, dass zwei einander von Herzen zugetane Menschen plötzlich sterben mussten. Ohne die Gnade eines gemeinsamen, besinnlichen Alterns; ohne die Freude, die drei geliebten Kinder heranwachsen sehen zu dürfen; ohne das Vergnügen, Enkelkinder haben zu können.

Das Tröstliche ist, dass wenigstens der gemeinsame Todeszeitpunkt, wenn auch viel zu früh, den jeweils anderen nicht hat leiden lassen. Der Erzherzog, mein Urgroßvater, wusste, dass eine der Folgen seiner Hochzeit mit einer nicht ganz »Ebenbürtigen« auch sein würde, dass sie nicht gemeinsam an der für Mitglieder des Erzhauses vorgesehenen Stelle bestattet werden könnten: in der Kapuzinergruft. Da waren die Hausgesetze der Habsburger kompromisslos.

Also sorgte Franz Ferdinand bereits zu Lebzeiten rechtzeitig vor und ließ für sich und seine Familie eine eigene Gruft in Schloss Artstetten errichten. Den Schlüssel zu ihr kann man an der Kasse unseres Museums-Shops ausleihen. Ein paar Schritte um das Haus, und man kann in ruhiger Betrachtung die beiden schlichten hellen Sarkophage auf sich wirken lassen. Die Zeichen für Alpha und Omega, Anfang und Ende, sind jeweils am Fußende der Marmorsärge eingraviert. Mit wenigen Worten wird auf dem gemeinsamen Sockel das Wichtigste gesagt: IVNCTI CONIVGIO FATIS IVNGVNTUR EISDEM –»Verbunden durch das Band der Ehe, vereint durch das gleiche Schicksal«.

So wie ich meinen Urgroßvater einschätze, war es für ihn unerheblich, ob er in Wien oder Artstetten zur letzten Ruhe gebettet würde. Er war überzeugter Katholik. Wichtig war ihm vor allem, dass er jederzeit auf seinen Tod vorbereitet war. Interessant dazu ein Brief seines Beichtvaters, Pater Edmund Fischer. In diesem Schreiben vom 16. Jänner 1909 bezieht sich der Geistliche auf ein zuvor in Konopischt geführtes Gespräch:

»Gewöhnen Euer Kaiserliche Hoheit sich an, vor jeder Reise, an jedem Abend recht innig Reue über alle Armseligkeiten des Tages und des ganzen Lebens zu erwecken, damit einen jeden Augenblick wir vor Gott hintreten können, auch wenn der Priester nicht an unserer Seite wäre. Das ist ein großer Trost und gibt uns Muth.«

Ein guter Rat, der auch heute noch seine Gültigkeit hat, nicht nur für den strenggläubigen Katholiken.

Die Frage nach dem Anfang – die Suche nach den Wurzeln

Die Frage nach dem Jetzt und nach der Entwicklung dorthin beginnt immer bei der Frage nach der Vergangenheit. Wir können uns ihr nicht entziehen: Wohin wir gehen, zeigt, woher wir kommen. Wenn Sie Ihren Blick in den Räumlichkeiten der Eingangsebene von Schloss Artstetten schweifen lassen, dann sehen Sie auf den zahlreichen Bildern einen guten Teil der Familie versammelt.

Einige kennen Sie sicher. Die »Klassiker« sind Kaiser Franz Joseph I. und seine Frau, Kaiserin Elisabeth. Rasch finden Sie bestimmt auch den unglücklichen Kaiser von Mexiko, Maximilian, den jüngeren Bruder Kaiser Franz Josephs, der von Napoleon III. gewissermaßen »hineintheatert« und 1867 in Mexiko standrechtlich erschossen wurde. Seine Frau Charlotte hatte übrigens bis zum tragischen Ende vergeblich versucht, in Europas Fürstenhäusern diplomatische Hilfe für ihren Mann zu bekommen. Auch Kronprinz Rudolf, Sohn Kaiser Franz Josephs, dessen tragischer Selbstmord bis heute rätselhaft bleibt, ist hier vertreten.

Der Onkel: Kaiser Maximilian von Mexiko

Kaiser Franz Joseph war als Onkel Franz Ferdinands nicht immer der gütige ältere Herr, als der er so gerne dargestellt wird. In Wahrheit führte »der gute Kaiser Franz Joseph« ein strenges Regiment, nicht nur in der Innen- und Außenpolitik. Das hat auch die Familie oft genug gespürt, mein Urgroßvater Erzherzog Franz Ferdinand aber in ganz besonderem Maße. Sehen Sie sich seine verschiedenen Bilder und Gemälde etwas genauer an – ein Bild sagt mehr als 1000 Worte.

Was an den Bildnissen Erzherzog Franz Ferdinands auffällt, ist der durchwegs ernste und entschlossene Blick. Fast gewinnt man den Eindruck, Lachen oder wenigstens Lächeln kam für diesen Mann nicht infrage. Diese Haltung kommt nicht von ungefähr. Um den Menschen hinter der nachdenklichen und ernsten Fassade zu ergründen und anderen zugänglich zu machen, habe ich mich entschlossen, in diesem Buch meinen Urgroßvater ins Zentrum der Betrachtungen zu stellen. Wenn Sie nun also mehr über den Thronfolger erfahren und dabei die vielen anderen Familienmitglieder, deren Gesichter Sie in den Schlossräumlichkeiten betrachten können, zum Teil nur erwähnt werden, so wissen Sie jetzt, warum. Ich will das Andenken an diesen großen Mann und Vordenker so bewahren, wie es ihm gebührt. Es geht mir dabei nicht darum, die Geschichtsschreibung zu beeinflussen; aber es gibt mir das gute Gefühl, meinem Urgroßvater ein sehr persönliches Denkmal der etwas anderen Art zu setzen.

Herausforderung durch die Familie

Wenn Sie sich nun selbst die Frage stellen: Was hat mich in meinem Leben wirklich nachhaltig beeinflusst?, dann kommt fast sicher die Antwort: Kindheit, Zuhause, Familie, Eltern, Geschwister, Großeltern, selbstverständlich auch Lehrer und Mitschüler, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel. Geschwister können Freunde sein, die das Leben schenkt, sie können aber auch der berühmte Haken sein im Lebenslauf, der vieles entscheidet.

Niemand kann sich aussuchen, in welche Familie er oder sie hineingeboren wird. Der alles entscheidende Zufall, das Entstehen des Menschen, seine genetisch bedingten Anlagen, seine Geburt, Kindheit und Jugend – all das kann großes Glück oder tiefstes Unglück bedeuten.

Ab dem Zeitpunkt des Erwachsenwerdens können wir zumindest bedingt Einfluss nehmen auf unser Leben. Entscheidungen treffen, andere mit einbeziehen, manches tun, anderes lassen. Was auch immer wir beginnen: Nie wird der Einfluss von Geburt und Familie aus unserem Leben völlig wegzudenken sein. Ein Faktum, das auch bei sehr einfacher Familienstruktur mit wenigen Geschwistern oder Einzelkindern kaum zu leugnen ist.

Umso größer ist die Herausforderung, wenn man in eine Familie hineingeboren wird, die nicht nur eine der größten Dynastien Europas darstellt, sondern auch noch als »kaiserliche Familie« bezeichnet wird. Da die Lebensgeschichten der Mitglieder des Hauses Habsburg mit seinen vielen Seitenlinien zahllose dicke Bücher füllen, soll hier – aus dem oben genannten Grund – nur auf den engsten Kreis um den Thronfolger Franz Ferdinand eingegangen werden. Wo ist er geboren worden, wie ist er aufgewachsen, was hat ihn geprägt? Wieso wurde er überhaupt zum Thronfolger? Und woher kommt die Bezeichnung seines Namens »Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este«?

Hohe Geburt in Graz

Der Vater: Erzherzog Carl Ludwig, der um drei Jahre jüngere Bruder von Kaiser Franz Joseph; die Mutter: dessen zweite Frau, Prinzessin Maria Annunziata, Tochter von König Ferdinand II. beider Sizilien (um 1863)

Geboren wurde mein Urgroßvater am Morgen des 18. Dezember 1863 um 7.15 Uhr in Graz, an der Adresse »Sackgasse 18«. Sein Vater war Erzherzog Carl Ludwig, der um drei Jahre jüngere Bruder Kaiser Franz Josephs, geboren am 30. Juli 1833 in Schönbrunn. Franz Ferdinands Mutter war Carl Ludwigs zweite Frau, Prinzessin Maria Annunziata, die Tochter von König Ferdinand II. beider Sizilien.

Der fünfjährige Erzherzog Franz Ferdinand bei einer von seinem Vater so geschätzten Theateraufführung, 1868

Bereits jetzt wird die Geschichte etwas kompliziert, denn Franz Ferdinands Vater Carl Ludwig war insgesamt nicht ohne Grund dreimal verheiratet. Die erste Ehefrau, Margaretha (Tochter des Königs Johann von Sachsen), verstarb bereits nach knapp zwei Jahren kinderloser Ehe blutjung, mit nur 18 Jahren, an Typhus. Drei Jahre später heiratete der inzwischen 29-jährige Erzherzog Carl Ludwig die damals 19-jährige Maria Annunziata. Mit ihr führte er eine einigermaßen glückliche, wenn auch nicht allzu lange Ehe, denn auch sie verstarb nach relativ kurzer Zeit. Sie erlag der Lungentuberkulose. Ein Schicksal also, das sich in tragischer Weise wiederholte und damals keine Seltenheit war. Krankheiten, deren Diagnose und Therapie (beziehungsweise deren Vorbeugung) heute selbstverständlich erscheinen, kosteten vor rund 150 Jahren vielen, leider auch sehr jungen, Menschen das Leben.

Maria Annunziata wusste um ihre Erkrankung und spürte, dass sie nicht alt werden würde. Auch deshalb versuchte sie, in ihr kurzes Leben hineinzupressen, was nur irgendwie möglich war. Dazu gehörte auch die Hoffnung, aus der »Provinz«, als die sie die Stadt Graz empfand, wegzukommen und in die Großstadt Wien zu ziehen. Ihr gutmütiger und ihren Wünschen stets gern nachkommender Ehemann erfüllte diesen Wunsch. Die Familie zog daher 1868 in ein Palais in der Wiener Favoritenstraße. Dort kam auch, nach dem 1865 geborenen Otto, der zweite Bruder Franz Ferdinands zur Welt, der Ferdinand Karl Ludwig genannt wurde.

Hier, im Schloss Artstetten, das der Familie Erzherzog Carl Ludwigs auch als Sommersitz diente, erblickte dann noch ein viertes Kind die Welt. Das kleine Mädchen wurde auf den Namen Margaretha Sophia getauft. Die damals schon sehr schwache und schwer kranke Mutter war damit am Ende ihrer Kräfte. Sie kämpfte noch ein Jahr lang gegen den Tod, der schließlich am 4. Mai 1871 eintrat.

Der siebenjährige Franz Ferdinand mit seinen Brüdern Ferdinand (zweijährig) sowie Otto (fünfjährig), Schwester Margaretha Sophie war gerade geboren (1870)

Die junge Frau hinterließ dem nun zum zweiten Mal Witwer gewordenen Carl Ludwig also vier Kinder: Franz Ferdinand (* 1863) sowie dessen Brüder Otto (* 1865) und Ferdinand (* 1868) und Margaretha Sophia (* 1870). Das wäre auch in heutigen Tagen keine einfache Situation. Neben der Trauer um die geliebte Ehefrau plötzlich mit vier kleinen Kindern dazustehen und, als guter Familienvater, den innigen Wunsch zu haben, den Kleinen ein halbwegs geordnetes Familienleben bieten zu können.

Die Bedeutung der Stiefmutter

Was also tun? Es galt, eine Frau zu finden, die nicht nur als liebende Ehefrau, sondern auch als treu sorgende Mutter infrage kam. Für vier ihr fremde Kinder, die noch einen weiten Weg vor sich hatten. Es spricht sehr für die Person und Persönlichkeit Erzherzog Carl Ludwigs, dass sich tatsächlich die ideale Partnerin für ihn fand: in der Person der 18-jährigen Prinzessin Maria Theresia von Braganza, Infantin von Portugal, die nach der Hochzeit mit Carl Ludwig 1873 Erzherzogin Marie Therese genannt wurde. Zur Wahl dieser Ehefrau hatte die Mutter Carl Ludwigs, Erzherzogin Sophie, wie immer ihren nicht unbeträchtlichen Beitrag geleistet.

Das fast Unglaubliche geschah: Die Kinder bekamen eine junge, liebevolle und fürsorgliche Stiefmutter, und endlich kehrte wieder Familienglück im Hause des Erzherzogs ein. Dieses wurde schließlich perfekt durch die Geburt der kleinen Maria Annunziata 1876 sowie einer weiteren Schwester, Elisabeth, die 1878 zur Welt kam. So könnte man meinen, Carl Ludwig konnte zum Glück seiner Kinder den Satz »Was lange währt, wird endlich gut« in jeder Hinsicht bestätigen.

Geht man zurück in die prägenden Jugendjahre Erzherzog Franz Ferdinands, so konnte er trotz des Schicksalsschlages, die leibliche Mutter früh verloren zu haben, eine glückliche und schöne Kindheit erleben. Das harmonische Familienleben inmitten vieler Geschwister muss in ihm schon früh den Wunsch geweckt haben, es später einmal auch so gut zu treffen: mit einer Frau, die man aus Liebe heiratet und mit der man eine glückliche Kinderschar heranwachsen sehen kann.

Die Stiefmutter: Maria Theresia von Braganza, Infantin von Portugal, nach der Hochzeit mit Carl Ludwig 1873 Erzherzogin Marie Therese genannt

Die Leistung Erzherzogin Marie Thereses ist bewundernswert. Sie gab der Bezeichnung »Stiefmutter« eine völlig neue Bedeutung, zum Glück für die Kinder und die gesamte Familie. Die liebevolle Stiefmutter stand in ziemlichem Gegensatz zum Wesen Maria Annunziatas, der leiblichen Mutter Franz Ferdinands. Maria Annunziata litt bereits vor ihrer Hochzeit mit Erzherzog Carl Ludwig an Lungentuberkulose. Eine Tatsche, die dem Bräutigam zum Zeitpunkt der Eheschließung wohl nicht bekannt war, die sich aber fatal auf das Leben der Kinder auswirken sollte, die dieser Ehe entstammten. Maria Annunziata, die sich des Problems sehr wohl bewusst war, hielt, wohl vor allem aus mütterlicher Vorsicht, Abstand zu ihren Kindern. Da gab es nicht einmal ein flüchtiges Umarmen, weil die Ansteckungsgefahr einfach zu groß war. Eine Vorsichtsmaßnahme, die nichts brachte, denn die Lungenkrankheit hatten alle ihre Kinder, möglicherweise bereits durch Ansteckung bei der Geburt, bereits in sich.

Der Abstand, der wegen der Erkrankung zwischen Mutter und Kindern herrschen musste, war mit Sicherheit ein großes Problem. Die emotionale Bindung, die auf natürliche Weise zwischen Kindern und Eltern entsteht, kann sich unter solchen Umständen nicht entwickeln. Was muss der kleine Franz Ferdinand gelitten haben, als er und seine Geschwister von der Mutter nicht liebevoll in den Arm genommen werden konnten!

So tragisch das Ableben der 28-jährigen Maria Annunziata aufgrund der fortgeschrittenen Lungentuberkulose war: Die mittelbare Folge war der Eintritt einer liebevollen Ersatzmutter in diese Familie, die es mit psychologischem Gespür und großer emotionaler Intelligenz trotz ihrer jugendlichen 18 Jahre bei der Hochzeit schaffte, die Herzen der Kinder und das des Vaters im Sturm zu erobern. Diese Frau war es auch, die – zum Glück! – die weitere Entwicklung Franz Ferdinands nachhaltig prägen konnte und ihm bis an das Ende seines Lebens eine liebevolle, weise und gütige Ratgeberin war. Was kann man Schöneres über eine Mutter sagen?

Der »Ausstellungs-Erzherzog«

Die landläufige Meinung über Kindererziehung und Alltag in einem adeligen Haushalt geht nicht selten in die Richtung: verwöhnte Fratzen, denen jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird, süßes Nichtstun und keine Sorgen um Essen, Trinken, Kleidung und Geld, weil ja ohnedies alles im Überfluss vorhanden ist.

Weit gefehlt! Franz Ferdinand und seine Geschwister mussten sehr wohl, und zwar sehr viel, lernen, um sich auf einen späteren Beruf vorzubereiten. Das konnte die Gutsverwaltung mit allen damit verbundenen Pflichten und großer Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern sein. Oder die Vorbereitung auf ein hohes Amt, wie auch der Vater, Erzherzog Carl Ludwig, seiner Familie und seinen Zeitgenossen in vieler Hinsicht beeindruckend demonstrierte.

Denn Carl Ludwig bekleidete eine unglaubliche Anzahl von Ämtern. Begonnen hatte er im Alter von 20 Jahren als Staatsdiener, mit 22 war er bereits Statthalter von Tirol, später auch in Lemberg in Galizien. Ab dem sogenannten Februarpatent vom 26. Februar 1861 konnte man jedoch nicht gleichzeitig Mitglied des Erzhauses und »Diener« eines Ministers sein. Das Februarpatent war eine von Kaiser Franz Joseph erlassene Verfassung für den gesamten österreichischen Kaiserstaat, durch die die Grundlage für eine konstitutionelle Regierungsform gelegt wurde. Es teilte die Legislative zwischen der Krone und zwei Kammern des Reichsrats.