Erich Mühsam

Tagebücher in Einzelheften

 

Heft 5

7. Mai – 28. Juli 1911

 

Herausgegeben von Chris Hirte
und Conrad Piens

Signet

Erich Mühsam (1878–1934) hat 15 Jahre lang, von 1910 bis 1924, sein Leben und seine Zeit im Tagebuch festgehalten, ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber – und niemals langweilig. Mühsam macht die Nachwelt zum Zeugen eines einzigartigen Experiments: Er will Anarchie nicht nur predigen, sondern im Alltag leben. Er läßt seiner Spontaneität, seiner Sinnlichkeit, seinen Überzeugungen freien Lauf und beweist sich und seiner Mitwelt, daß ein richtiges Leben im falschen durchaus möglich ist – man muß es nur anpacken. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart. Doch sein Sendungsbewußtsein verleiht ihm eine Kraft, die ihn auch über die schlimmen Jahre der bayerischen Festungshaft rettet.

 

Mühsams Tagebücher sind ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt. Sie erscheinen gedruckt in 15 Bänden, als eBooks in 35 Einzelheften und zugleich im Internet auf www.muehsam-tagebuch.de, wo neben dem durchsuchbaren Volltext auch ein kommentiertes Register und der Vergleich mit dem handschriftlichen Original geboten wird.

 

 

München, Sonntag, d. 7. Mai 1911.

Der elende Tripper! Ununterbrochen macht er sich bemerkbar, stört mich in meinen Absichten, lähmt meine Aktionen, vergiftet meine Laune. Nun laboriere ich seit 3 Wochen dran, und noch merke ich fast garkeine Besserung. Morgen will ich noch einmal zu Hauschild. Ich muß der Schweinerei endlich energisch zu Leibe gehn. – Gestern abend war es wieder gräßlich. Emmy war im Café – ich hatte vorher im Luitpold Eduard Joël und Frau getroffen –; sie war sichtlich geil auf mich und bat mich, ich möchte sie, ehe ich in die Torggelstube gehe, heimbegleiten. Ich tat das, ging mit hinauf zu ihr ins Atelier, und regte mich an ihren Küssen furchtbar auf. Dann zog sie sich um, und ich sah sie nackt, was mich so toll machte, daß ich vor Schmerz und Wollust hätte schreien mögen. Das enge Suspensorium wäre unter dem Druck des mächtig gestrafften Gliedes beinahe gerissen. Wir waren beide sehr betrübt, daß wir nicht tun konnten, worauf wir beide brannten. – Genau dieselbe Geschichte wie vor 5 Jahren in Wien, wo ich nackt neben der ebenfalls geschlechtskranken Irma Karczewska lag. Wir küßten uns wie wahnsinnig und mühten uns, wenigstens mit Mund und Fingern einander genüge zu tun, aber schließlich war der Widerstand des Schmerzes doch immer noch größer als der Antrieb der Lust. Das war damals die Tragik: daß wir uns erst kennen gelernt hatten und dann bald auseinandergingen, sodaß wir nie dazu kamen, einen richtigen Koitus miteinander zu vollziehen.

Schon nachmittags war ich bei Emmy gewesen. Morax und Frl. Vital waren da, und ich zeichnete einen Bilderbogen zu der Schauerballade, die Emmy und Morax zusammen bei Kati vortragen wollen. Es sind sehr lustige Bilder geworden, die Emmy sehr primitiv und dadurch umso wirksamer antuschte. – Eduard Joël ist ein netter Kerl. Aber unsere Interessen gehn doch allmählich weit auseinander, und ich kann nicht leugnen, daß ich seine Gesellschaft umso mehr schätze, je deutlicher mir die Möglichkeit scheint, von ihm Geld für den »Kain« herauszuschinden. Angebohrt habe ich schon. Heute nachmittag werde ich wieder mit dem Ehepaar beisammen sein. Ob etwas herausschauen wird?

Nach dem Intermezzo in Emmys Atelier begleitete ich sie bis vor den »Simpl«. Das süße Ding trug auf dem ganzen Wege Leuchter und Kerze in der Hand, damit sie auf dem Heimweg die Treppen hinauffinde, zumal sie die Nacht Engert versprochen hatte. Sie erzählte mir das ganz arglos und mit vielem Bedauern darüber, daß ich nicht imstande bin, meine Pflicht zu tun. Sie könne unmöglich so lange allein schlafen. Daß es grade Engert sein sollte, war mir sehr fatal. Aber wer will den Weibern ihren Geschmack vorschreiben?

Dann also Torggelstube: Im Residenztheater war die Premiere der »Ratten« von Hauptmann gewesen, dazu Sonnabend, wo die Halbe-Gesellschaft erschien. So saß also eine lange Tafelrunde versammelt: Halbe und Frau, Waldau, Mi von Hagen, Steinrück, Dr. Mannheimer, das Mockerl, Lina Woiwode, Basil, Dr. Kutscher, Rößler u.s.w., wozu dann noch Wedekind und schließlich Feuchtwanger und Dr. Uhde-Berneis kamen. Es wurde reichlich Bowle getrunken. Ich hatte das Zusehn und mußte allerlei schlechte Witze deswegen ertragen. – Wir schrieben eine Glückwunschkarte zu dem Erfolg der »Ratten« an Gerhart Hauptmann. Die Terwin war wieder sehr lieb. Der Rest der Gesellschaft blieb bis nach ½ 4 Uhr nachts. Dann trennten wir uns. Gustel Waldau und besonders Steinrück waren stockbesoffen. – Übrigens waren auch Edgar und seine Frau Fritzi Schaffer dabei. Ich nahm, um mich nicht anzustrengen, ein Auto zur Heimfahrt. – Sehr bemerkenswert schien mir ein Gespräch zwischen Wedekind und Halbe. Wir sprachen über die Schauspielhaus-Aufführung von »Mutter Erde«. Wedekind meinte, das sei ein Stück, das durchaus in das ständige Repertoire der deutschen Theater gehöre. Es gebe noch manche solche Dramen, die ganz zu Unrecht abgesetzt seien. Er dachte dabei offenbar auch an eigne, nannte aber als Beispiel Hauptmanns »Fuhrmann Henschel«. Wedekind schlug Halbe nun eine gemeinsame Protest-Aktion vor. Die beiden Herren sezessionierten sich dann und berieten darüber. Aus dem, was sie nachher einander sagten, ging mir hervor, daß beide gewillt sind, der Sache Realität zu geben. Natürlich Halbe nur zögernd, skeptisch und vielleicht nicht ganz gern, Wedekind stürmisch, unpolitisch, draufgängerisch. So werden sie sich vielleicht auf eine ganz gescheite Aktion einigen, und eines Tages wird das deutsche Publikum vor einer sehr verblüffenden Sensation stehn. Ich hatte Neigung, die Spalten des »Kain« sogleich zur Verfügung zu stellen, fürchtete dann aber aufdringlich zu scheinen und schwieg.

Von Papa kam eine Ansichtskarte mit dem Holstentor drauf, in der er mir für die Gratulation zu seinem Examenstag und für die Zusendung der »Drucksache« dankt und über seinen (recht günstigen) Gesundheitszustand berichtet. Meine Andeutungen, daß ich zur Fortführung des »Kain« Geld brauche, hat er nicht verstanden. Außer andren Briefen einer von einem anonymen »Freund«, der die erste Nummer »passabel« fand, über die zweite schimpft und mich warnt, das Publikum zu ignorieren. Ob der Mann recht hat? Lion Feuchtwanger erklärte mir gestern genau das Gegenteil: die zweite Nummer habe ihm in jeder Hinsicht besser gefallen als die erste. Er lehnte das Programmgedicht »Kain« entschieden ab.

Heute vormittag kam Rößler. Wir gingen dann ins Stefanie, ich seit einem Jahr zum ersten Mal. Wirt und Geschäftsführer begrüßten mich mit Händedruck, Kellner und Gäste mit staunendem Grinsen.

 

München, Montag, d. 8. Mai 1911.

Die »Ratten« von Hauptmann sind ein wunderschönes Stück. Ich sah es gestern bei der zweiten Aufführung im Residenztheater. Frau von Hagen hatte für mich eingereicht, nachdem Steinrück es bei der Premiere verbummelt hatte. Vielleicht die beste Tragikomödie, die in deutscher Sprache geschrieben ist. Der Vorwurf selbst ist ungeheuer stark. Eine Frau, die sich nach einem Kind namenlos sehnt – ihr erstes ist gestorben – nimmt eines von einem polnischen Dienstmädchen in Pflege, täuscht es ihrem Mann, dem Maurerpolier John, der in Altona arbeitet, als eignes vor, und der meldet es beim Standesamt an. Pauline, die Polin, verlangt ihr Kind zurück. Konflikte. Das kranke Kind der Frau Knobbe wird von deren größerer Tochter Selma in der Johnschen Wohnung gehütet. In ihrer Angst giebt Frau John deren Kind an Pauline. Das kleine Knobbe-Kind stirbt, während sich die Mutter und Pauline drum streiten. Nun muß der Bruder der John, der verkommene Lude Bruno helfen. Er tut es gründlich, indem er Pauline umbringt. Zum Schluß kommt alles an den Tag. Mitten hinein spielt die Komödie der Familie eines Theaterdirektors. Das Durcheinander von Groteske und Tragödie ist wundervoll gestaltet. Jede Figur prächtig gelungen, dabei – bei einer Szene, wo der Direktor mit seinen Schülern die Braut von Messina studiert – eine wunderfeine, im Stück völlig begründete theoretische Kontroverse zwischen Klassizismus und Naturalismus. Das Berliner Milieu, Sprache, Charakter der Menschen – einer der schönsten Hauptmanns. Und es war eine erfreuliche Aufführung unter Basils Regie. Außer dem Theaterdirektor Höfers, der seiner Rolle viel schuldig blieb, und seinen Schülern – außer dem Spitta v. Jacobis –, die aber wenig zu bedeuten haben im Stück, war jede Figur – trotz mancher Schwäche – famos. Frl. Schwarz gab die John. Freilich: der Gedanke, daß die Rolle am Lessingtheater von Else Lehmann gespielt wird, kann einen wehmütig stimmen. Hier und da roch man die Regiebemerkung. Im großen und ganzen aber doch eine starke gute Leistung. Auch Basil als Maurerpolier John hatte vortreffliche Momente und überzeugte. Sehr stark war die Pauline der Terwin, die in Dialekt, Haltung, Gebärde und Wärme ganz auf der Höhe ihrer Aufgabe stand. Der Erich Spitta von B. v. Jacobi war sehr fein, viel schwächer seine Geliebte, die Walpurga von Frl. Neuhöfer. Schröders alter Pastor Spitta recht gut, ebenso die Frau des Theaterdirektors, die die Ramlo spielte. Ganz ausgezeichnet gefiel mir wieder das kleine Fräulein Pricken, die aus der Selma eine richtige Zillesche Nutte machte. Ihr Aeußeres war erstaunlich gut und auch im Spiel traf sie völlig die Berliner Jöhre. – Aber hoch über allen andern stand die Leistung Steinrücks als Bruno. Er hatte nur kurz auf der Bühne zu tun, aber während er da stand, ein Bild der Verkommenheit – mit dem gelinden Stich ins Sentimentale, das der Berliner Verbrecher zu cachieren sucht, schlug einem die Angst an den Hals. Es war eine schauspielerische Leistung von unheimlicher Wucht und Geschlossenheit. – In Berlin hat das Stück einen Mißerfolg gehabt. Hier ging das schlechteste Publikum mit, das am Residenztheater auszudenken ist, das Publikum der zweiten Aufführung, die noch dazu auf einen Sonntag fiel. Es muß schon an der Aufführung gelegen haben. Ich freue mich auch Fritz Basils wegen. Seine Regieführung ist ganz vorzüglich zu nennen.

Vorher war ich mit Joëls im Luitpold gewesen, hatte sie dann zu einem Spaziergang begleitet, und zu mir ins Zimmer geführt. Es kann nicht schaden, wenn den Lübeckern berichtet wird, daß ich einigermaßen wohne. Schließlich bearbeitete ich ihn, mit Julius zu sprechen, ob nicht Papa evtl. doch etwas Geld für den »Kain« herausrücken möchte. Dann hätten sich die Stunden Bärenführerschaft ausgezahlt. Übrigens freute ich mich selbst des Wiedersehens.

Nach dem Theater »Simplizissimus«. Emmy hat ein Verhältnis mit dem kleinen Keller angefangen. Ich Esel habe die tolerantesten Prinzipien, dazu noch einen Tripper und war doch eifersüchtig. Natürlich ließ ich mir nicht das mindeste merken. Aber es ist doch eigentümlich, wie lieb ich das kleine Hurenweib habe. Sie trug mit Morax zusammen die schöne Ballade vom Räuber vor, der seinen Bruder abmurksen will, und an seiner »blassen Brust« das Bild der Mutter findet. Der große Bilderbogen, den ich dazu gezeichnet habe, wirkte sehr lustig zu dem Leierkastenlied. Eine peinliche Überraschung wurde uns dadurch zuteil, daß die Ichenhäuser plötzlich mit Else Lasker-Schüler das Lokal betrat. Die eifersüchtige Megäre, die komplett wahnsinnig ist, hat Emmy in Berlin mit Schimpfreden und Drohungen nachgestellt. Nun war das arme Kind ganz verängstigt. Ich hoffe, sie fährt bald wieder ab. Es wäre recht widerwärtig, wenn Emmy wieder keine Ruhe vor ihr hätte. Ich bin aber entschlossen, trotz aller Freundlichkeiten der törichten Frau gegen mich und trotz meiner Verehrung für manche ihrer Gedichte, Emmy sehr energisch gegen sie zu  verteidigen. – Heut nachmittag war Emmy bei mir. Sie erzählte, daß Keller bei ihr geschlafen habe. Wir gingen in den Englischen Garten, wo wir uns viel küßten, dann aß sie bei mir Mittag. – Danach ging ich zu Hauschildt, der sich meinen armen Schwanz besah. Er verulkte mich, daß ich in meinen Jahren noch solche »Kinderkrankheiten« bekäme. Aber er fand, daß sich der Zustand wesentlich gebessert hat, empfahl mir die bisherige Behandlung energisch fortzusetzen und riet wieder sehr von Spritzen ab. Er stellte mir in Aussicht, daß ich in 14 Tagen gesund sein könne. Noch 14 Tage! Aber wenn nur dann die Geschichte vorüber ist!

 

München, Dienstag, d. 9. Mai 1911.

Pfempfert schickt mir die beiden letzten Nummern der »Aktion«, in denen die Enquete über Kerr fortgesetzt wird. Dehmel schreibt ganz dumm, Else Lasker-Schüler macht mindere Knittelverse, Kurtz spreizt sich, und die übrigen sind ziemlich belanglos. Ob Kerr viel Nutzen von der Umfrage haben wird? – Erfreulich war mir, daß das Blatt unaufgefordert eine ganz gut redigierte und ziemlich auffällige Annonce des »Kain« bringt. Wüßte ich nur erst, wie Nr. 3 bezahlt werden soll! Roda Roda riet mir, ich solle Sobotka um 100 Mark anpumpen. Vielleicht tue ich es. Ich denke auch daran, das Tagebuch aus dem Gefängnis als Buch zu verkaufen und darauf Vorschuß zu nehmen. Vielleicht kommt der Verlag Eugen Rentsch in Frage, der von mir seinerzeit ein Buch herausgeben wollte, und bei dem jetzt Toni Maier in Stellung ist. – Ich war nachmittags im Café Stefanie gewesen, am Schachtisch, wo ich mit Roda Roda einige Partien spielte. Meyrink war da, Jodocus Schmitz, der Major Hoffmann, Professor v. Stieler und Nonnenbruch. Nach dem Abendbrot traf ich im Bauer Emmy mit Morax und Ida, Keller und Engert. Emmy war sehr aufgeregt, da gleichzeitig mit der Ichenhäuser die Else Lasker-Schüler in einer Ecke des Lokals saß. Das verängstigte Kind fürchtete Revolver und Vitriol. Mir fiel mal wieder die angenehme Aufgabe zu, zu parlamentieren. So setzte ich mich zu der Lasker und kam auf Umwegen zu dem Thema Emmy. Ich erreichte das Versprechen, sie werde während der Zeit ihres Münchner Aufenthalts nicht mehr den »Simpl« betreten, noch Emmy im mindesten nahetreten. Als ich zu Emmys Tisch zurückkam, war sie grade dabei, einen Zustand zu kriegen. Ich begleitete sie mit Keller zusammen nach Hause und sie stieß schreckliche Drohungen gegen Elschen aus. Auch noch solche Geschichten!

Abends Torggelstube. Zuerst traf ich nur Eyssler dort, der mir mit seinen lispelnden, wienerisch-urnischen Vertraulichkeiten schauderhaft auf die Nerven ging. Ein Kretin. Er ging bald und ich blieb ziemlich lange allein. Dann kam Wedekind, der sich wegen seines Verhaltens neulich entschuldigte, als er mit seiner Frau plötzlich aufbrach. Er sei in einem Zustand schwerer Depression gewesen, zumal Messthaler ihn auf 1000 Mark Konventionalstrafe verklagt habe, weil er ein Engagement im Intimen Theater nicht innegehalten habe. Gespräche über die »Ratten«, die Wedekind ebenso hoch einschätzt wie ich, über Hauptmann im allgemeinen, über Herwarth Walden, über »Kain« und Geldbeschaffungsmöglichkeiten. Ludwig Thoma erschien. Gespräche über Wolzogen, Überbrettl, Schönherr. Wedekind rückte plötzlich mit einem Anliegen heraus: er wolle eine Erklärung veröffentlichen, daß sein Stück »Oaha« keine Personen treffen solle, sondern eine Satire auf Satiriker sein will. Wedekind war blaß, während er seine Sache vortrug. Thoma war einer von denen gewesen, die er in dem Stück so bös hergenommen hatte, und Thoma hatte dann im »Simplizissimus« unheimlich grob geantwortet. So war es eine brenzliche Sache, von »Oaha« zu sprechen. Thoma wich zuerst aus; dann meinte er, – wie mir schien, um einen Fühler auszustrecken, – Wedekind solle doch mit solcher Erklärung warten, bis einmal an die Aufführung des Stücks gegangen werde. Er hatte richtig geraten. Denn Wedekind bestätigte sogleich, daß er es im Laufe des Juli, da er wieder den ganzen Monat hindurch im »Schauspielhause« gastieren wird, spielen wolle. Die Herren einigten sich dahin, daß Wedekind eine entsprechende Erklärung im »März« publizieren soll. Thoma benutzte die Gelegenheit, zu erklären, daß er sowohl wie der verstorbene Albert Langen herzlich über Wedekinds »Oaha«-Grobheiten gelacht hätten. Wedekind selbst gab zu, in seiner Satire ungerecht gewesen zu sein und erzählte, wie er dazu gekommen sei, sie zu schreiben. Bei einem gelegentlichen Gespräch sei ihm die Idee gekommen, daß Satiriker selbst den besten Stoff für eine Satire abgeben könnten und da habe er eben den Kreis ausgesucht, der ihm am nächsten war. – Als Thoma gegangen war, unterhielt ich mich mit Wedekind noch über Mary Irber und Vallé. Vor 3 Uhr gingen wir miteinander fort.

Heut kam ein neuer Brief von Kätchen. Ihr geht es schlecht. Sie hat Schmerzen. Dazu kommt, daß sie auf der Straße gefallen ist und sich verletzt hat. Sie möchte sich wegen des Trippers behandeln lassen, hat aber garkein Geld. Sie rechnet auf meine Hilfe. Sie hat furchtbar viel Pech gehabt in der Zeit, seit wir beisammen waren, auch eine Engagement-Aussicht ist ihr in die Binsen gegangen. Wie soll ich ihr nur helfen? Mir stehn schon wieder schauderhafte Dalles-Tage bevor. Die D. M. Z. hat sich natürlich nicht gemeldet, und da ich in der letzten Woche den Beitrag verbummelt habe, habe ich auch noch nicht gemahnt. Ich werde Rößler bitten, für Kätchen ein Geldstück zu lockern. Aber ich selbst muß endlich wieder arbeiten. Da sitze ich und schreibe das Tagebuch voll, und meine wichtigsten Sachen bleiben liegen. Vor allem muß ich endlich für die »Schaubühne« den Artikel über die Terwin schreiben!

 

München, Mittwoch, d. 10. Mai 1911.

Die Angelegenheit Else Lasker-Schüler – Emmy spitzt sich dramatisch zu. Ich erhielt einen langen Brief von Elschen, in dem sie Emmy als »geiles kleines Nähmädchen« beschimpft, in deren Mund ihr »erlauchter« Name (an einer andern Stelle »die Majestät meines Namens« – immer dick unterstrichen) nichts zu tun habe, und worin sie schließlich erklärt, sie lasse sich das Betreten öffentlicher Lokale nicht verbieten. Ich hielt es für ratsam, diplomatisch zu sein und schrieb einen langen vorsichtigen Antwortbrief, von dem ich auch noch eine Abschrift nahm, sodaß mir wieder die Zeit, wo ich hätte arbeiten mögen, zum Teufel ging. Ich bat die Lasker, mir persönlich den Gefallen zu tun, den Simpl. zu meiden. Abends im Café kriegte ich dann einen weiteren albernen Brief, in dem u. a. stand, sie (Tino von Bagdad) habe in Berlin nur Emmy aus dem Café entfernt wissen wollen, um den einzigen Ort, wo man sich aufhalten könne, nicht verflachen und verhuren zu lassen. Im übrigen: »Bei Philippi sehn wir uns wieder.« – Ich ging also mit in den »Simpl«, um bei eventuellem Krach Emmys Partei nehmen zu können. Aber Elschen kam nicht. Jedenfalls vermute ich, daß ihre Hysterie sie nicht ruhen lassen wird, bis nicht der Krach da war. Und wenn sie ihn nicht provoziert – Emmy ist auch nicht die Zahmste.

Nachmittags kam Rößler ins Café und dann zu mir zum Abendbrot. Auch Emmy erschien. Die beiden geilten sich aneinander auf, und nach dem Essen legte sich Rößler auf den Diwan und es begann ein Piacere, zu dem ich sittsam das Gaslicht ausdrehte. Da ich merkte, daß Emmy sich ganz auszog, und so schon wie auf Kohlen stand, da die Gruppe Tat auf mich wartete, ließ ich die beiden bald allein. – Es ist seltsam, daß ich auf den alten Rößler nicht eine Spur eifersüchtig bin. Die ganze Geschichte gestern machte mir einen diebischen Spaß. Ich mußte über Emmys unbefangene Selbstverständlichkeit sehr lachen. Sie ist schon ein erotisches Genie. Sie will immer und jeder Mann und jede Situation ist ihr recht.

Mittags im Hofgarten hatte ich Uli und Lotte getroffen. Ich konstatierte mit vielem Schmerz, daß doch eine rechte Entfremdung zwischen uns eingetreten ist. Besonders Lotte sagte mir Bosheiten, die kaum mehr freundschaftlich zu deuten sind. Es wäre sehr schade, wenn das Puma in der Dauerehe mit Strich völlig verbürgerte. Ulis Naturell läßt die Entwicklung zum Glück nicht befürchten.

Heut schreiben wir den 10. Mai. Mit Arbeiten und Correspondenz bin ich ganz zurück. Mir graut, wenn ich mich meiner Pflichten erinnere.

 

München, Donnerstag, d. 11. Mai 1911.

Gestern abend, als ich mit Halbe und Genossen von der Kegelbahn aus zu Kathi Kobus kam, saß Elschen Lasker mit der Ichenhäuser richtig im Lokal. Emmy hatte sie vorher nicht bemerkt, bekam jetzt aber, als sie die Frau sah, wieder richtige Zustände der Todesangst, sodaß wir schleunigst aufbrachen und in ziemlich großer Gesellschaft ins Stefanie gingen. Ich schrieb der Lasker von dort aus einen Brief, in dem ich ihr erklärte, ich sehe in ihrem Verhalten einen Akt der Geringschätzigkeit gegen mich und betrachte daher unsere freundschaftliche Beziehung als erledigt.

 

München, Freitag, d. 12. Mai 1911.

Emmy unterbrach mich gestern mittag im Schreiben. Es war auch nicht allzu wichtig, was ich hätte notieren können. Auch der Bericht über den gestrigen Tag kann kurz ausfallen. Das Erfreulichste war, daß ich endlich den Terwin-Artikel geschrieben und abgeschickt habe. Wenn Jacobsohn nur rasch Geld schicken möchte. Es wird ja nur sehr wenig werden, aber ich bin schon fast ganz pleite. Ein paar Mark hoffe ich noch von Fuhrmann zu kriegen. Und heute muß ich unbedingt wieder was an das Montagsblatt schicken, um gleichzeitig mahnen zu können. Ich habe große Angst, daß es vergeblich sein wird. Die 6 Mark, die ich vorgestern an Kätchen schickte, machen sich schwer fühlbar. Dabei bittet auch Johannes wieder um Geld. Aber ich kann ihm diesmal wirklich nicht helfen.

Heut ist Friedels Geburtstag. Sie wird 35 Jahre alt. Ich schrieb ihr einen kurzen herzlichen Brief und legte mein letztes Gedicht bei. (»Sehr traurig und bedrückt ist mein Gemüt«). Ich liebe die Frau über jeden Begriff. Jeden Tag frage ich mich: werde ich durch sie noch einmal glücklich sein? – Wenn ich Geld hätte! – Bei einer unserer letzten Begegnungen fragte ich sie, ob sie, wenn ich über die nötigen Mittel verfügte, mitkomme nach Frankreich. Da meinte sie lächelnd: »Parce que si, parce que non!« – Es ist sehr widerlich, alle Hoffnung immer wieder auf die Arterienverkalkung des Vaters setzen zu müssen.

Gestern abend war ich im »Simpl.« (Elschen Lasker ließ gestern nichts von sich hören oder sehn). Michel, mit dem ich nachmittags im Stefanie schon Billard gespielt hatte, war da mit Leo Greiner. Emmy war sehr niedlich und ganz verrückt auf den Schauspieler Schwirzer, den sie dann auch wohl mit nach Hause genommen hat. Ich muß schon noch zurückstehn. Allerdings hoffe ich: nicht mehr allzu lange. Heut früh war ich so aufgeregt, daß ich trotz meines Zustands onanierte, was ziemlich schmerzlos vonstatten ging. Mir ist dieser Tripper schon elend über.

Auf die Annoncen meiner Bücher im »Kain« sind zwei Bestellungen auf je 1 »Wüste« und »Krater« eingetroffen. Etwelche Lyriker senden mir fürchterliche Verse zum Abdruck ohne im geringsten sich an der Notiz, »Mitarbeiter dankend verbeten« zu stoßen. Ja, wenn die Seele glüht! – Der Verlag Eugen Diederich in Jena schickt mir im Auftrag des Pfarrers Vogel dessen 1908 erschienenes Buch »Der moderne Mensch in Luther«. Es wird wohl noch eine Weile auf die Durchstudierung warten müssen.

 

München, Sonnabend, d. 13. Mai 1911.

Bleibt einmal ein Tag unausgefüllt, dann fallen mir doch nachher so allerlei Dinge ein, die für den Moment interessant genug waren, um sie zu notieren. Und was über den Moment hinaus Interesse behalten wird, läßt sich ja heute doch noch lange nicht übersehn. So will ich doch noch einiges aus den letzten Tagen nachtragen. – Da war ein Mann bei mir, der sich als der Schriftsteller Singer vorstellte. Er erklärte, er wolle auch eine Zeitschrift gründen und möchte von mir wissen, was an Kapital dazu nötig sei und wie man die Sache überhaupt anfange. Ich schenkte ihm über die finanziellen Unterlagen des »Kain« reinen Wein ein und gab ihm beide Nummern mit. Der Mann versprach, mir die Adresse eines Versicherungsonkels zu schreiben, der evtl. ein paar tausend Mark auf das Blatt pumpen würde. Bis jetzt habe ich keine Botschaft gekriegt. Ich hatte ein wenig das Gefühl, ich sollte ausgefragt werden, und ich bin auch heute noch nicht im klaren darüber, ob ich nicht den Besuch eines Spitzels hatte. Allerdings beobachtete ich den Mann, als er fortging, vom Fenster aus und sah, wie er mit den gelben Kainheften in der Hand lebhaft gestikulierte und Selbstgespräche führte. Möglicherweise spinnt der Kerl blos. – Ferner ist ein merkwürdiger Brief zu erwähnen. In Nr. 2 des »Kain« hatte ich Frau Scharfs Übersetzung von Paul de Kocks »Mädchen mit den drei Unterröcken« rezensiert. Jetzt kam ein eingeschriebener Brief von Dr. R. Douglas, dem Verleger des Buches, mit dem meine Freundschaft dazumal mit Ohrfeigen endete, die ich bekam, weil ich die 100 Mark Vorschuß nicht wieder herausrücken wollte, die ich für meine Lektortätigkeit an dem Verlag bekommen hatte. Die von mir acquirierten Autoren Scheerbart und Przybyszewsky waren dem Ehepaar Douglas-Andree nicht wertvoll genug, und so legte ich meine Tätigkeit nieder. – Jetzt schreibt mir dieser Herr, er habe nicht blos (wie ich tadelnd vermerkt hatte) das Buch mit dem »neckischen« Vorwort versehn, sondern selbst Verbesserungen der Übersetzung vorgenommen und stellenweise die Übertragung überhaupt erst in eine Form gebracht, die die Veröffentlichung möglich machte. »Stets zu Ihren Diensten« schließt er das anmutige Schreiben, das natürlich bestimmt ist, Frau Scharf zu Gesicht zu bekommen. Ich habe es ihr geschickt. Doch war es gestern noch nicht angekommen. Es wäre fatal, wenn es verloren gegangen wäre.

Gestern traf ich den Schwabinger Buchhändler Steincke, der mich ansprach und mir erzählte, er habe von Nr 1 etwa 30, von Nr 2 etwa 50 Expl. »Kain« verkauft. Das Publikum sei sehr damit zufrieden. Außerdem sprach mich im Hofgarten ein Herr Böhm an, der sich erbot, für 4–500 Mark Inserate zu beschaffen. Ich verwies ihn an Toni Meier.

Dr. Kutscher hatte mich zu gestern abend in sein Seminar-Kolleg eingeladen, da dort ein Student, namens Schulz, einen Vortrag über den Spielplan der Volksbühnen halte. Er hatte den jungen Mann an mich empfohlen, damit ich aus meiner Praxis Material zur Verfügung stelle. Herr Schulz war aber nicht gekommen. Der Vortrag war recht interessant. Ein sehr kluger junger Mensch hatte kolossal aus allem, worüber er mal nachgedacht hatte, aufgepackt und brillierte mit mancherlei draufgängerischen Bekenntnissen. Es war viel Gutes in dem, was er sagte, auch viel Trocknes, Totes, Gemeinplätzliches, und nebenher manches Verkehrte. So beurteilte er die Psyche des Volkes ganz falsch. Es ist der große Fehler fast aller derer, die sich berufen glauben, Volkserzieher zu sein, daß sie meinen, man müsse ganz leichte Kost für die Menge auswählen und solche, die inhaltlich ihr Interesse berühren. Ich habe beobachtet, daß das sogenannte niedere Volk, sofern es noch nicht kleinbürgerlich verfault ist, sehr bereit ist, schwierigen Gedankengängen nachzugehn. Man kann den Arbeitern viel differenziertere geistige Anstrengung zumuten, als dem bürgerlichen Zeitungsleser, der alles sehr schön tranchiert, zergliedert und womöglich vorgekaut serviert haben möchte. Speziell in der Kunst ist es ganz falsch anzunehmen, daß dem einfachen Menschen Tendenz vorgesetzt werden muß. Im Gegenteil: eine reine schöne Stimmung findet in den unverdorbenen Herzen derer, die noch nicht völlig in Geschäftsspekulationen aufgehn, die willigste Resonanz. – Ich habe darüber nachher mit Herrn Schulz ausführlicher gesprochen, ihm auch erzählt, wie glücklich meine Kunden und Sollergäste waren, als sie sich einmal auf meinen Rat im Volkstheater »Carmen« angesehn hatten.

Im Anschluß an Schulz’ Vortrag sprach Kutscher über Freilicht-Theater (mit Lichtbildern). Er fing mit Wachlers Versuch auf dem Hexentanzplatz an. Von unserem Peter Hille-Waldspiel in Schlachtensee (1903) wußte er nichts. Als ich ihm nachher davon sprach, war er sehr überrascht und notierte sich einiges. So wird der naive Versuch doch wohl noch zu seiner historischen Eingliederung kommen.

Abends war ich dann noch im Hotel Union, wo nach dem Seminar in gewissen Zeitabständen die sogenannte »Kutscherkneipe« stattzufinden pflegt, wobei eine literarische Persönlichkeit als Vortragender mitwirkt. Gestern las WedekindJacobiLucie