Grausam ist die Nacht

 

von

 

R. Stühlinger

 

 

 

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-
mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, August 2014 

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden 24.Auflage

Coverzeichnung: R. Stühlinger 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg.  www.olafwelling.de


ISBN print 978-3-86361-412-6
ISBN epub 978-3-86361-413-3
ISBN pdf:  978-3-86361-414-0
 

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

 

Für Vater.

 

 

1.

 

James’ Hand kam zu einem abrupten Halt, was einen kleinen, hässlichen Tintenfleck auf dem linierten Blatt hinterließ. Er runzelte die Stirn, stahl einen Blick auf seine Armbanduhr, wo sich der große Zeiger langsam zur nächsten Nummer hin schob. Das Geräusch von Metall auf Papier und die Stille im Zimmer hatten sich zu einer Art statischer Hintergrundmusik zusammengefügt, welche etwas drückend in dem lichten Raum hing.

Eigentlich war er nicht bereit gewesen, neue Patienten zu therapieren, und nur Marks drängender Tonfall am Telefon hatte ihn überhaupt dazu bewogen, sich des jungen Mannes anzunehmen, der ihm gerade gegenüber saß. Sein alter Studienkollege war völlig überfordert mit der Anzahl der von ihm betreuten Patienten, weshalb er James darum gebeten hatte, ihm ein wenig unter die Arme zu greifen. Mark hatte ihm indes nicht allzu viel über Herrn Hurt erzählt: Er befand sich offenbar in einer depressiven Grundstimmung, deren andauernde Leere ab und an mit aggressiven Ausbrüchen gefüllt wurde, litt unter Albträumen und Fantastereien. Mark beschrieb ihn zuerst als „komplex“, dann „chronisch“.

James hatte ihm sein wohl vorhandenes Interesse mitgeteilt, bekundete jedoch gleichzeitig Zweifel daran, ob seine eigenen Ressourcen für einen solch verzwickten Fall überhaupt ausreichen würden. Mark hatte sogleich mit einem entnervten Seufzer reagiert, sowie den Worten: „Mein Lieber, du bist der Richtige für hoffnungslose Fälle.“

 

Nachdem er seine eigene Praxis in der Stadt geschlossen hatte, wollte James die Arbeit in der Klinik Forest Hill, welche knapp zwanzig Meilen außerhalb Manchesters im Grünen lag, ursprünglich ebenfalls aufgeben. Doch fand er sich nach gut fünf Jahren immer noch an zwei bis drei Tagen pro Woche zwischen seinem Wohnort und dem Hospital hin und her pendelnd.

Er hatte sich in der Klinik anfänglich auf die chronischen Fälle spezialisiert; kümmerte sich um jene Patienten, welche seit langem krank waren und schon mehrere Therapien durchlaufen hatten, ohne dass sich eine Besserung einstellen wollte. Diesen Leuten nahm er sich in letzter Zeit jedoch nur noch ungern an, denn ihre augenscheinliche Hoffnungslosigkeit spiegelte etwas in ihm selbst wider, das sich von einem hässlichen Ort tief in seinem Innern langsam in sein Bewusstsein geschlichen hatte, und nun wie eine Giftwolke seinen Geist zu verdunkeln drohte. Obwohl er anderen gegenüber das ungenaue Gegenteil behaupten würde, spürte James allzu deutlich, wie ihn seine Passion für die Psychologie schon lange nicht mehr in der Weise zu erfüllen vermochte, wie all die Jahre zuvor, und seit geraumer Zeit ein Gefühl des Unbehagens in ihm aufkam, wann immer er eine Sitzung mit einem Patienten begann. Die positive Exaltiertheit, welche er normalerweise zu Anfang einer Therapie verspürte, hatte sich im Lauf der Zeit zu einer innerlichen, fortwährenden Anspannung gewandelt. James versuchte mit wechselndem Erfolg, dieses nervöse Übel zu ignorieren und stürzte sich geradezu in die Arbeit – darauf angewiesen war er eigentlich nicht, stammte er doch aus durchaus wohlhabenden Verhältnissen und hatte vor Jahren das Haus seiner Eltern, sowie eine beträchtliche Summe geerbt, wohl aber hatte ihm seine Tätigkeit als Psychologe viele Jahre eine Daseinsberechtigung gegeben und war immens wichtig für ihn gewesen. Auf das viele Geld hätte er gerne verzichtet, wenn es ihm nur in emotionalen Dingen dienlich gewesen wäre. Er hoffte nun, dass er durch das erhöhte Arbeitspensum, welches kaum Zeit für pessimistische Grübeleien übrig ließ, die Passion für seinen Beruf zurückgewinnen würde. 

 

Mark hatte ihm aufgrund eben dieses oberflächlichen Aufflackerns seiner Leidenschaft Herrn Hurts Akte in die Hand gedrückt, die nun vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er hatte sie nur kurz überfliegen können, bevor der junge Mann das Zimmer betrat, welches James mit Mark für Sitzungen und Büroarbeiten teilte.

Sein erster Eindruck seines neuen Patienten war der einer ruhigen, in sich gekehrten Person, die ihm zwar die Hand gab, ihm aber kaum in die Augen schaute; der Blick war nach innen gerichtet, die Haltung ein wenig gebückt. Hurts Statur wies etwas Ausgezehrtes auf, das sich in den tiefen Schatten seiner Wangenknochen klar fortsetzte, der Händedruck war jedoch fester gewesen, als James erwartet hatte.

Er stellte sich kurz vor, wies Herrn Hurt mit der Hand zur Couch im hinteren Teil des Raumes und nahm vis–à–vis von ihm hinter dem schweren, handgeschreinerten Schreibtisch Platz. Einen Schreibblock, sowie einen Füllfederhalter ergreifend, lächelte er ihm aufmunternd zu. „Verzeihen Sie mir, wenn ich etwas unbeholfen vorgehe, nur hatte ich bisher noch keine Zeit, mich mit Ihrer Akte vertraut zu machen. Wie Sie bereits wissen, bin ich auf Wunsch von Doktor Torville zugegen. Ich werde voraussichtlich einmal in der Woche mit Ihnen sprechen und hoffe, dass ich Ihnen eventuell helfen kann. Doch genug von mir ...“, lächelte er entschuldigend, „möchten Sie mir vielleicht zuallererst einmal sagen, wie es Ihnen heute geht?“ 

Hurt war still dagesessen, die Augen nach links zum großen Fenster gerichtet, das einen einlud, die hügelige, wintergrüne Landschaft jenseits der kargen Mauern der Klinik zu betrachten. Das kühle Licht, welches durch die Scheiben herein fiel, ließ sein Haar in brillantem Kupfer aufleuchten. „Ich bin müde, Herr Heywood, das ist alles“, entgegnete er, leise, abgeschlagen.

„Wie ich in Ihren Unterlagen gerade gelesen habe, ist tagsüber keine allzu gute Zeit für Sie, nicht wahr? Könnten Sie mir sagen, woran das liegt?“

Hurt schaute zu ihm herüber, antwortete jedoch nicht und richtete stattdessen seinen indifferenten Blick wieder auf die Welt hinter der Glasscheibe. In dem Moment fiel James etwas in den klaren, wenn auch melancholischen Augen auf, das vorher nicht da gewesen zu sein schien. Er vermochte nicht zu sagen, was es genau war, aber es machte den Anschein, in direktem Gegensatz zu dem schweigsamen, ruhigen Mann zu stehen, der James gegenüber saß.

Einige stille Minuten waren danach verstrichen und James war sich bewusst geworden, dass es gegenwärtig wohl nicht viel Sinn machte, noch eine große Anzahl an weiteren Fragen zu stellen. Er nahm stattdessen den Stapel an Blätter zur Hand, die Herrn Hurts Akte formten, tauchte den Federhalter kurz in das schwarze Glas, das zu seiner Rechten auf dem Tisch stand, notierte sich einige Sachen auf seinem Schreibblock, las ein wenig in den Unterlagen. So verstrich die Zeit.

Er schaute hin und wieder von seinen Notizen auf, lächelte Hurt zu, um ihn zur Kommunikation zu ermutigen, aber nichts kam. Nachdem ihn ein verirrter Tintenklecks auf dem Papier irritiert hatte, warf er einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und entschloss sich, es doch noch mit ein paar Erkundigungen über Hurts Heimat und Kindheit zu versuchen, da bisher so gut wie gar nichts darüber in der Akte stand. Er achtete vorsichtshalber darauf, dass er seinen nächsten Satz simpel und allgemein formulierte: „Könnten Sie mir etwas von sich erzählen? Vielleicht, wo Sie aufwuchsen?“

Herr Hurt blieb erneut stumm, schloss sogar für einen Moment die Augen. Es sah aus, als ob er versuchte, sich an etwas zu erinnern, was weit entfernt in der Vergangenheit lag, aber was immer es auch war, das gerade seine Gedanken einnahm, er schien es nicht mit James teilen zu wollen.

So endete ihre Sitzung eine halbe Stunde später, ohne dass sein neuer Patient noch ein weiteres Wort gesprochen hatte, die hellen Augen meistens auf die Landschaft jenseits des Fensters fixiert und James’ Anwesenheit nicht wirklich zur Kenntnis nehmend. Allerdings hatte es den Anschein, dass Hurt weder den Seitentrakt der Klinik, noch die Bäume oder Hügel dahinter betrachtete, sondern etwas, das noch viel weiter weg hinter dem klar umrissenen Horizont lag.

Sein Händedruck schien beim Abschied nicht mehr ganz so fest, wie er noch zu Beginn der Sitzung gewesen war.

 

 

 

2.

 

Spät nachts lag Vincent auf seinem schmalen Bett, das flackernde Licht der alten Neonröhre über ihm, sein Körper und Geist beide weit entfernt von Schlaf. Er dachte zurück an sein Gespräch am Nachmittag – das erste seit Wochen, mit einem neuer Arzt. Nun, kein Psychiater, sondern ein Psychologe, und somit kein Doktor. Vincent hatte Heywood auch nicht als Psychiater eingeschätzt, dazu fehlte diesem eine gewisse Art gelassener Dickfelligkeit, welche den meisten Menschen, die ein Medizinstudium durchlaufen hatten, geradezu innewohnte.

Zu Anfang des Gesprächs war Vincent kaum anwesend gewesen und hatte nicht vorgehabt, sich überhaupt auf die Konversation einzulassen, doch neben nervöser Ermattung und schleichender Indifferenz war da, schwach aufleuchtend, eine definitive Art von Aufrichtigkeit in Heywoods Stimme gewesen, der er sich nicht hatte entziehen können. Es war lange her, seit ihm jemand mit solch redlicher Freundlichkeit begegnet war, und Vincent hatte nicht umhin können, sich sein Gegenüber daraufhin genauer anzusehen: Das kantige Gesicht und der graumelierte Bart darin standen im Widerspruch zu großen, schwerlidrigen Augen, welche Sanftheit und Großmut ausstrahlten. Vincent gefielen diese Augen, trotz der Abgespanntheit und einer gelähmten Leidenschaft, welche ebenso klar darin zu sehen waren.

Heywoods Frage nach seiner Herkunft lag ihm jedoch auch jetzt noch schwer auf dem Magen. Unzählige Jahre hatte er damit verbracht, sich von seinen Gefühlen zu befreien; ihnen keinen Wert mehr zu erteilen. Im Zuge dieser absoluten Distanzierung hatte er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens fast gänzlich verloren. Da war nicht wirklich etwas konkretes – nur abrupte Bilder, die sich überschnitten, wie ein Kaleidoskop, gefertigt aus unzähligen Splittern, welche zusammengefügt seine Kindheit ergaben: Da war der Duft von frischer Hefe, der an einem sonnigen Sonntagmorgen in seine Nase stieg; der brennende Schmerz eines geschrammten Knies und Mutters kühler Atem auf der verletzten Haut; die hellen Sommernächte, in denen er Maikäfer mit den bloßen Händen zu fangen versuchte ... Da war vieles, doch vermochte Vincent die Worte nicht zu fassen, um davon zu erzählen. Es war, wie wenn man Schatten einfangen wollte – die Erinnerungen verflüchtigten sich, sobald er intensiver daran zu denken versuchte. So ließ er sich stattdessen durch sie hindurch treiben wie auf einem Floss und war in seinem Herzen froh, wenigstens eine Ahnung davon zu haben, wer er als kleiner Junge und heranwachsender Mann gewesen war. 

Diejenigen Erinnerungen hingegen, welche er für immer ausmerzen wollte, schienen resistent gegen jegliche Mittel, die er eingesetzt hatte, um sie zu vernichten. Sie begannen etwa ein Jahr, bevor er nach Frankreich gegangen war, um im Ersten Weltkrieg an der Seite von zig tausend Männern zu kämpfen. Nach dem Schulabschluss hatte er auf dem Bauernhof gearbeitet, der seit Generationen seiner Familie gehörte, und sich darauf vorbereitet, sein Zuhause zu verlassen und wie so viele vor ihm freiwillig und mit aufrichtigem Stolz im Herzen zum Militärtraining aufzubrechen. Es war eine Ehre und eine Pflicht, für das Königreich in den Krieg zu ziehen. So jedenfalls dachte er damals.

 

Es war im März des Jahres 1915 gewesen, als er Samuel Porter kennengelernt hatte. Das jährliche Frühlingsfest fand trotz aller Widrigkeiten statt, und auch wenn es nicht annähernd so ausgelassen und heiter zu und her ging wie die Jahre zuvor, wurde trotzdem getanzt, gesungen und getrunken. Die Häuser waren mit Blumen geschmückt, die Mädchen kleideten sich in bunte Röcke, im ganzen Dorf hing der Geruch von Fleischpasteten und Apfelstreuseln. Abends erstrahlten Lichterketten in den Bäumen vor der großen Scheune, und mit den fortschreitenden Stunden sahen sich die jungen Frauen und Männer zusehends in der Mehrzahl, währendem sich die ältere Generation in die Dorfkneipe zurückzog.

Die Moral der Leute schien weitgehend intakt, und jene Burschen, welche alt genug waren, fieberten ihrer militärischen Ausbildung und dem ersehnten, späteren Einsatz wenigstens an diesem Tag ohne allzu große Vorbehalte entgegen.

Während die Musiker in der Scheune gerade eine Pause einlegten und Vincent an einem Krug Bier nippte, zog jemand plötzlich und geradezu ungeduldig an seinem Hemdärmel. Aus seinen Augenwinkeln heraus erkannte er seine jüngere Cousine Annabel, drehte sich um, um sie spaßeshalber zu schelten und sah sich, neben einer strahlenden Cousine, unvermittelt einem ihm unbekannten, jungen Mann gegenüber, der ihn schüchtern anlächelte. 

„Vincent, das ist Sam. Ihr kennt euch noch nicht, oder? Sam wohnt in der Stadt, ist das nicht aufregend?“

Annabel, mit einiger Mühe den tadeligen Abstand zwischen sich und Sam zu wahren versuchend, war sichtlich von ihm hingerissen, was angesichts seines jungenhaften Aussehens nicht überraschte. Sam lächelte wieder, diesmal verlegen, hob prompt sein Glas mit Apfelwein an den Mund, um die Emotion zu überspielen.

Annabel schien indes nicht wirklich auf eine Antwort aus, sondern fuhr sogleich in ihrem üblichen Singsang weiter: „Ach, ich würde so gern einmal nach Manchester, ich war doch noch nie von hier weg ... All die modisch gekleideten Leute, die Frauen mit ihrem knallroten Lippenstift und teurem Parfüm... So etwas könnte ich mir nie leisten, auch wenn ich zehn Jahre jeden Penny sparen würde.“

Vincent, nun direkt neben seiner Cousine stehend, rollte die Augen und Sam, der ihn mit betretener Miene angeschaut hatte, schmunzelte diskret. „Annabel, meine Liebe, meinst du nicht, dass du Sam in Verlegenheit bringst?“

Eine frische Röte sprang in die Wangen des blonden Mädchens, sie drehte sich augenblicklich zu Sam hin und entschuldigte sich hastig, ohne ihm dabei in die Augen zu blicken: „Oh je, das wollte ich nicht. Ich Plappermaul vergesse mich nur manchmal ... Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich ein wenig frische Luft schnappen gehe ... Da hinten seh’ ich Margaret, ich geh’ mal zu ihr. Bis nachher, ja?“ Die Frage, keineswegs von rhetorischer Natur, war an Sam gerichtet, welcher jedoch nur höflich mit dem Kopf nickte. Annabel, nun mit hochrotem Kopf, lächelte nervös und verschwand dann in der Menge.

„Sie kann einen manchmal etwas ermüden“, sagte Vincent, als sie außer Sicht war.

„Ach, schon gut“, entgegnete Sam, der belustigt und doch auch etwas erleichtert schien. Während er einen erneuten Schluck von seinem Getränk nahm, schaute ihn sich Vincent ein wenig genauer an: Sam war ein wenig kleiner als er selbst, mit schmaleren Schultern und zarten Händen, welche zu einem Violinisten oder Maler passen würden. Der dreiteilige Anzug, den er trug, war aus feinem Stoff, aus seiner Westentasche lugte die silberne Kette einer Taschenuhr. Sein braunes Haar, sorgfältig nach hinten gekämmt, und seine ebenso dunklen Augen, von dichten Wimpern umkränzt, ließen Vincent unvermittelt an Dinge wie Kiefernzapfen und Kastanien denken. Er räusperte sich unweigerlich. „Manchester, ja? Studierst du auch?“ 

Sam schluckte den Apfelwein hinunter, schüttelte den Kopf. „Nein, nicht mehr. Außerdem habe ich mich für den Dienst gemeldet.“

„Bist du denn auf Besuch, oder hast du dich einfach nur nach Saint’s Den verirrt?“, scherzte Vincent und fragte sich im selben Moment, ob er sich nicht etwas Originelleres hätte einfallen lassen können.

„Ach nein, wir haben entfernte Verwandte hier und meine Mutter meinte, ich sollte noch ein wenig die Landluft genießen, bevor ich gehe, das ist alles“, lachte er gütig.

„Und dein Vater?“

Sam zuckte bei der Frage ein wenig zusammen und in seiner Stimme lag frischer Schmerz, unter einer falschen Gleichgültigkeit begraben, als er antwortete: „Er war Teil von Kitchener’s Army; er fiel bereits letztes Jahr an der Front.“

„D–das war sehr dumm von mir, entschuldige bitte“, stotterte Vincent, den Blickkontakt zu Sam vorübergehend meidend.

„Mach dir keine Gedanken darüber. Wir sind alle sehr stolz auf ihn, meine Familie und ich. Mutter arbeitet jetzt in einer Munitionsfabrik, meine zwei Geschwister sind noch sehr klein. Die Schule musste ich aus finanziellen Gründen abbrechen. Ich hätte mir schon längst eine Arbeit gesucht, doch Mutter wehrt sich vehement dagegen. Sie meint, ich sei noch zu unerfahren ... Aber Erfahrung kann nur derjenige machen, der das Leben auch anpackt, nicht? Deshalb habe ich mich auch beim Militär gemeldet. Sie war bestürzt und hat es mir auszureden versucht, aber ...“ Er brach unvermittelt ab, seine Wangen erröteten. „Jetzt bin ich selber wohl etwas ermüdend, entschuldige. Das ist eigentlich nicht meine Art ...“

Vincent lachte und legte ihm eine Hand auf die Schulter, aber just in dem Moment wurde ihm klar, dass er Sam erst gerade kennengelernt hatte und dieser eine solche Geste als zu intim auffassen könnte. Es war besser, in so einer Situation übervorsichtig zu sein, und so zog er seine Hand wieder zurück. „Was ... was hast du studiert? An der Schule, meine ich“, haspelte er und hoffte, dass Sam seine wachsende Beklemmung nicht bemerken würde.

„Literatur war mein Hauptfach. Shelley, Dickens, Keats ... Das Übliche halt ...“, entgegnete er mit überspieltem Bedauern in der Stimme. Er vermisste diesen Teil seines Lebens offensichtlich sehr.

Vincent schluckte wieder. Da war ein klarer Klassenunterschied, der sich in Sams Kleidung, seiner Ausbildung und seiner Art zu sprechen, bemerkbar machten. Vincent kam sich daneben wie ein grober Bauernlümmel vor. Seine anfängliche Freude ob der neuen Bekanntschaft hatte sich stetig zu einem Gefühl der Betretenheit gewandelt und es fiel ihm immer schwerer, spontan und humorvoll zu bleiben.

Nachdem sie sich eine Weile weiter unterhalten hatten – über Vincents Arbeit auf dem Hof, den Krieg, ihre Familien – fühlte Vincent mit einem Male, dass er sich zurückziehen sollte, eher er nochmals eine dumme Bemerkung von sich gab, oder Sam einmal zu oft am Arm berührte. Er war sich seiner Gefühle und seines Verhaltens plötzlich überdeutlich bewusst, und weil er den Jungen nicht noch mehr in Verlegenheit bringen wollte, musste er den endgültigen Rückzug antreten. Er meinte, jedenfalls anfänglich, eine gegenseitige Zuneigung gespürt zu haben, doch war er sich nicht sicher, ob er sich dies nicht einfach nur aus einer verzweifelten Emotion heraus einredete.

Bisher war er immer sehr vorsichtig gewesen, was seine wahre Natur betraf: Er hatte mit den anderen Jungen über Mädchen geredet und die eine oder andere geküsst, allerdings lediglich aus einem Empfinden heraus, dass dieses Verhalten einer Normalität entsprach, zu der er, wie er schon lange mit einer klaren Bestimmtheit wusste, nie gehören würde. Bisher hatte es wohl Schwärmereien in seinem Leben gegeben, doch nichts ernsteres. Nichts, wie das, was er momentan fühlte.

So trank er den Rest seines Biers in einem Zug und entschuldigte sich dann unter einem Vorwand nach draußen, wo er, jegliche Blickkontakte meidend, hastig zur Rückseite der großen Scheune lief, in der das Fest stattfand, und erst einmal einen tiefen Atemzug tat. Sams Anwesenheit hatte ihn völlig verunsichert und er war froh, einen Moment für sich zu haben, weg vom Lärm und dem Trubel um ihn herum. Er zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an, flickte das Zündholz auf den Boden und hatte kaum den ersten Zug getan, da hörte er eine Stimme hinter sich.

„Versteckst du dich?“

Er drehte sich um und sah, wie Sam ihm gerade entgegenkam.

„Ach wo, hab’ nur ein bisschen frische Luft gebraucht.“

Sam steckte seine Hände in die Hosentaschen, die Augen zusammengekniffen, nach unten gerichtet. „Ich dachte, vielleicht lag es an mir. Ein blöder Gedanke, was?“ Er blickte unvermittelt auf und lächelte etwas verlegen.

Vincent zog den Rauch seiner Zigarette tief in seine Lungen hinab. Da war dieser Junge, den er vor nicht einmal einer Stunde das erste Mal getroffen hatte, mit rehbraunen Augen und einem Lächeln, das ein komisches Gefühl in seiner Magengrube auslöste; der mit leiser Stimme redete und in dessen Anwesenheit sich Vincent wie ein Tölpel vorkam; dessen frisches Gesicht in der klaren Nacht immer schönere Züge annahm und das er gerne küssen würde.

Er drehte sich halb weg von Sam und hoffte, dass dieser den Blick in seinen Augen nicht bemerkt hatte, stotterte dennoch ein wenig, als er schließlich entgegnete: „V–vielleicht ist es besser, du gehst wieder zurück. Ich b–bin ein schlechter Einfluss, weißt du.“

„Das glaube ich nicht“, lachte Sam sacht, lehnte sich mit dem Rücken an die Scheunenwand neben Vincent und blickte zum klaren Sternenhimmel hinauf. Seine Schulter berührte Vincents Oberarm, doch machte er keine Anstalten, zur Seite zu rücken; es schien fast, als ob er bewusst den Kontakt, die Nähe zu Vincent suchte. Dieser betrachtete wiederum Sams Profil aus den Augenwinkeln heraus. Er spürte eine gespannte Kräuselung in der Atmosphäre, ein gegenseitiges Gefühl von Antizipation. Nach einem letzten, nervösen Zug an seiner Zigarette ließ er sie auf den Boden fallen und tilgte die Überreste mit seinem Schuh.

„Es ist wirklich schön hier. Ich wünschte, ich könnte ein wenig länger bleiben ...“

Er hatte den Satz kaum beendet, da drehte sich Vincent zu ihm hin und küsste ihn sanft. Sein Herz klopfte wild gegen seinen Brustkorb und er betete darum, dass ihm Sam nicht ins Gesicht schlagen oder zornig davonlaufen würde. Doch stattdessen spürte er, wie dessen Körper nach einem Augenblick der Anspannung auf wundersame Art nachgab, wie eine Welle, die am Strand auf einen Felsen trifft.

Er berührte Sams Wange, zog ihn mit der anderen Hand näher zu sich. „Ich dachte ich würde einen Narren aus mir machen, wenn ich dich küssen würde.“

Sam lachte gutmütig. „Närrisch wärst du nur gewesen, wenn du es nicht getan hättest.“

 

 

 

3.

 

Als James das Büro an diesem Spätnachmittag betrat, stand Herr Hurt bereits am Fenster, seine Körperhaltung ein wenig entspannter wirkend als bei ihrem ersten Gespräch, was James Zuversicht gab. Er hatte inzwischen dessen Akte gründlich studiert und sich dazu entschieden, direktere Fragen zu stellen, um so hoffentlich bald das Eis brechen zu können. Schon die Woche zuvor hatte er – hinter scheinbarer Leere – einen Funken in den Augen seines Patienten gesehen; einen Wunsch, mehr Stricke in die Außenwelt hinaus zu werfen und so wieder Teil dieser Sphäre zu werden. 

„Wie ich Ihrer Akte entnehmen konnte, geben Sie an, im Ersten Weltkrieg gekämpft zu haben ...“ James schaute von seinen Notizen auf. „Dann müssten Sie ja bereits um die sechzig Jahre alt sein, nicht wahr?“

Herr Hurt antwortete nicht sofort. Er war sichtlich in Gedanken versunken gewesen, drehte sich nun ein wenig weg vom Fenster, wo er immer noch verweilte, und blickte zu James herüber. „Bitte, nennen Sie mich Vincent. Dieses ‚Herr Hurt’ lässt mich ganz alt fühlen.“

James lachte zunächst, doch als er sah, dass Hurt keinesfalls gespaßt hatte, sanken seine Mundwinkel prompt in seriösen Ernst zurück.

„Um auf ihre Frage von vorhin zurückzukommen: Vertrauen Sie nicht allzu sehr auf das, was Sie vor sich sehen“, sagte Vincent schlicht.

„Könnten Sie es mir vielleicht zu erklären versuchen? Ich würde es gerne verstehen.“

Vincent seufzte kaum merklich, schritt durch den Raum und nahm auf dem langen Sofa Platz. Es schien, als ob er jeglicher Fragen bereits überdrüssig war. James realisierte im selben Moment, wie seine eigene Indifferenz gegenüber seiner Profession innerhalb kürzester Zeit

erste Brüche in ihrer harten Oberfläche erlitten hatte: Er sah sich beim Studium von Herrn Hurts – Vincents – Unterlagen mit einer aufkeimenden Neugier konfrontiert, welche in diesem zweiten Gespräch eine direkte Fortsetzung fand, doch musste er Vorsicht walten lassen, um in seinem scheinbar wiedergefundenen Enthusiasmus nicht allzu forsch zu werden. Die Brücke, die Verbindung zu seinem Patienten, schwankte momentan noch bedrohlich, weswegen er kurzerhand das Thema wechselte. „Sie haben Mühe, sich mit dieser Welt verbunden zu fühlen, nicht wahr? In den sechs Jahren, die Sie hier verbracht haben, waren Sie die meiste Zeit mit ihrem Geist weit von uns entfernt, haben weder gesprochen, noch besonders auf äußere Reize reagiert. Was hat Sie denn dazu veranlasst, zu uns zurückzukommen?“

Vincent schaute auf. „Ich bin zu niemandem zurückgekommen, Herr Heywood. Wieso mein Dasein im Nebel zu einem Ende kam, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß es selber nicht.“ Wie als ein Nachgedanke fügte er hinzu: „Aber ich bin nun einmal hier und muss damit klarkommen.“ 

James unterstrich das Wort ‚Nebel’. Da war irgendetwas, das Vincent mit Leib und Seele hatte vergessen wollen – ihm war offensichtlich etwas widerfahren, was ein immenses Trauma ausgelöst hatte und sich in intensiven Alpträumen offenbarte. Aber wie stand Vincents Phantasie, kurz vor dem Zwanzigsten Jahrhundert geboren worden zu sein, mit diesem seelischen Schock in Verbindung? Er schien ansonsten bei völlig klarem Verstand.

James nahm an, dass wenn er Vincent dazu brächte, mehr Details über den Krieg – der für diesen durchaus eine gelebte Realität zu sein schien – zu erzählen, irgendwann ein klares Bild seiner Träume erhalten würde und diese schließlich zu deuten vermochte. Traumanalyse war immerhin nicht etwas, das man in einem Handbuch auf die Schnelle nachschlagen konnte – derselbe Traum, geträumt von Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Profession, nahm in der Individualität des jeweiligen Menschen immer eine andere Bedeutung an, war eine höchst persönliche Sache.

„Sagen Sie, haben Sie sich freiwillig zum Dienst gemeldet? Damals war man ja zumindest anfänglich sehr stolz darauf, für die Heimat in die Schlacht zu ziehen, nicht wahr?“

Kaum hatte er den Satz beendet, da sah James den Funken in Vincents Augen wieder, den er zuerst als eine gewisse Wildheit, dann als Wunsch nach Kontakt gedeutet hatte. Nun war er sich sicher, dass sein erster Eindruck richtig gewesen war: Wenn er auch nur halbwegs ein Dichter gewesen wäre, hätte er dieses kurze Flimmern als ein Aufblitzen wie von Reißzähnen eines Tieres beschrieben. Wohl war er sich bewusst, wie lächerlich diese Beschreibung klang, doch genau das sah er dort in den unruhigen Tiefen, in welche er gerade blickte.

Ihm wurde mit einem Male bewusst, dass sein Tonfall wohl etwas belustigt geklungen haben musste, obwohl er dies nicht beabsichtigt hatte. Er blickte ein wenig beschämt auf seine Uhr und war im Begriff, seine Frage mit der angemessenen Ernsthaftigkeit zu wiederholen, da spürte er Vincents Augen immer noch auf sich. Er hielt den Federhalter ein wenig fester in seiner Hand und sah zu seinem Patienten hinüber. Lichte Augen blickten ihm entgegen, bleich und kühl wie Dunst, der über einem See schwebt; das Ungezähmte darin war wieder verschwunden. Zum ersten Mal fiel James auf, dass Vincents Antlitz, abgesehen von den scharfen Wangenknochen und der allzu gespannten Haut um seinen Mund, gar nicht so jungenhaft war, wie man etwa auf den ersten Blick meinte. Es war ein gewisser Grad an Reife und Lebenserfahrung darin vorhanden, welcher sich nicht nur in seinen Augen wieder fand – es war das Gesicht eines Menschen, der bereits einen wesentlichen Anteil an Liebe und Leid in seinem Leben erfahren hatte. 

„Ich möchte Ihnen gern mehr von mir erzählen, nur weiß ich nicht, ob ich das kann – oder sollte.“ Mit diesen Worten erhob sich Vincent vom Sofa und machte erneut vor dem großen Fenster Halt, beobachtete dort schweigend den Himmel, der bereits die zaghaften Farben der Abenddämmerung annahm.

„Es gibt keinen Grund, Angst zu haben“, erwiderte James tröstlich.

Vincent hob seine Hand und lächelte schwach. „Darum geht es nicht.“

 

 

 

4.

 

„Meinst du, wir kommen in denselben Zug?“ Sams Stimme klang zwar ruhig, doch seine Augen spiegelten die Unruhe in ihm deutlich wider. Wohl hatte auch er sich aus freien Stücken für den Kriegsdienst gemeldet, aber er tendierte dazu, sich rasch Sorgen über Dinge zu machen, die in der Zukunft und somit nicht in seiner unmittelbaren Kontrolle lagen. Vincent schrieb diese Eigenschaft hauptsächlich dem kürzlichen Verlust seines Vaters zu. Er hatte ihm in letzter Zeit öfters Mut einreden müssen, was ihren baldigen Militärdienst anbelangte, vermochte ihm die Furcht allerdings nur jeweils vorübergehend zu nehmen.

„Werden wir, keine Sorge“, erwiderte er gefasst und hoffte, dass seinem Tonfall keiner seiner eigenen Zweifel anhaften würde.

Sam nickte ein wenig gedankenverloren, schien jedoch beruhigt ob Vincents Worten. Dieser küsste sein Haupt, strich über sein Haar und sank dann zurück auf das weiche Gras an Sams Seite, richtete seinen Blick wieder nach oben zu den Sternen hin. Es war eine schöne Frühsommernacht: Der Himmel war völlig klar mit einem kreisrunden Mond und einer überwältigenden Anzahl Sterne darin, und der Wind fuhr leise durch die Felder am Fuß des Hügels. Bald würden sie Saint’s Den für ihr militärisches Training verlassen – mehrere Monate standen ihnen zur Verfügung um zu lernen, wie man einen Krieg überlebt, von dem man nicht wissen konnte, wie es denn sein würde mittendrin: Abertausende Britische Soldaten derselben Pflicht nachgehend, und dennoch ein jeder von ihnen vor allem auf sich selbst, die eigenen Kräfte und Ressourcen angewiesen. Mochte die Ausbildung noch so gründlich sein, sie konnte einen doch nicht in allen Belangen auf das vorbereiten, was danach kam.  

Die Nachrichten, welche vom Krieg zu ihnen fanden, glühten geradezu von heroischen Taten und maßlosem Optimismus. Vincent war nicht so naiv, als dass er die Berichte Wort für Wort glaubte, aber neben ganz banalen Gründen für das Einrücken wie Abenteuerlust und Kameradengeist, nahm er den Aufruf Kitcheners ernst und war sich seiner Pflicht als Brite sehr wohl bewusst. Er konzentrierte sich auf Aspekte wie diesen und darauf, das – nach seinem Ermessen – Richtige zu tun. Alles andere würde ihn nur beunruhigen und er konnte es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen, besonders gegenüber Sam, der in letzter Zeit immer stiller und nachdenklicher geworden war. Er musste wohl oft an seinen Vater denken, der, wie so viele andere, Ruhm und Ehre erst im Tod erfahren hatte. Über die näheren Umstände seines Hinscheidens hatte Sam nach wie vor nicht gesprochen.

Vincent versuchte, Sam von seinen trüben Gedanken abzulenken, wo er nur konnte, aber es machte ihn fast krank, wenn er daran dachte, dass dieser vielleicht doch in einem anderen Zug, geschweige denn einer anderen Kompanie landen und ganz auf sich alleine gestellt sein würde. Er hoffte deshalb, dass die Zeit in der Ausbildung Sam dabei helfen würde, Mut zu finden und genug Kraft zu sammeln.

 

Sie hatten nun fast zwei Monate miteinander verbracht, in denen er Sam einige Dinge aus der Landwirtschaft gelehrt, Sam ihm wiederum ein paar Brocken Französisch beigebracht hatte. Sie gingen in den Feldern spazieren, lasen dieselben Bücher und angelten, wenn das Wetter mitspielte. Eine Barriere hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Herkunft bestand für Vincent nicht mehr; seine anfängliche Besorgnis ob seiner eigenen Tölpelhaftigkeit hatte er fast gänzlich abgelegt. Obwohl er das Leben und die Arbeit auf dem Land liebte, hatte er schon immer ein Interesse für Lektüre gehegt und sich so über die Jahre hinweg einen gewissen Intellekt angeeignet. Zwar würde dieser nie an Sams’ heranreichen, er fehlte den anderen Burschen im Dorf jedoch größtenteils und das Wissen darum war ihnen mitunter wohl auch ein Dorn im Auge.

Jetzt, da Sam hier war, fühlte sich Vincent zum ersten Mal mit jemandem verbunden. Wann immer sie sich trafen, empfand er eine tiefe Freude in seinem Herzen, die ihm gut tat, und welche er nicht missen wollte. Die Tatsache, dass ihre Zuneigung zueinander nie in der Öffentlichkeit stattfinden konnte und vor allen geheim gehalten werden musste, bedrückte ihn manchmal sehr, doch lag auch etwas Wundervolles darin, dass ihre Gefühle für einander ein gut verschlossenes Geheimnis war, über dessen Schlüssel nur sie beide verfügten. Er konnte nicht umhin, zu vermuten, dass die Leute trotzdem über sie tratschten, aber solange niemand etwas konkretes über sie herausfand, war er gewillt, mit boshaftem Gerede zu leben – vorausgesetzt, dass dieses eine bestimmte Grenze nicht überschritt. 

Manchmal lag er nachts wach und dachte daran, wie es sein würde, wenn nur einer von ihnen aus dem Krieg zurückkehrte, doch solch gramerfüllte Gedanken drängte er immer wieder aus Neue in eine dunkle Ecke seines Gehirns zurück und besann sich auf die unbekümmerte Zeit, die ihnen blieb, bevor sie Saint’s Den verlassen mussten.

„Gehen wir morgen nach der Arbeit an den See?“ Vincents Stimme hörte sich fast düster an in der bewegten Schwärze der Nacht. Der Gedanke an Fox Hole Pool, von den Dorfbewohnern trotz seiner Größe schon immer als See bezeichnet, mit seinem überwachsenen Ufer, abgeschottet von neugierigen Blicken, flößte ihm eine frische Ruhe ein, silbern und still wie das Gewässer selbst.

„Klar, nehmen wir die Angelruten mit? Vielleicht fängst du dieses Mal auch endlich mal ’was“, schmunzelte Sam.

Vincent lachte und kniff ihm neckisch ins Ohr. „Vielleicht schnappst du mir mal keine Fische vor der Nase weg.“

 

 

 

5.

 

Von den Schornsteinen der Klinik stieg in trägen Kreisen Rauch in die kühle Luft und vermischte sich mit dem Nebel, der diesen Abend tief gen Boden glitt und die Bäume und Straßenlampen in einen milchigen Mantel hüllte.

Vincent blinzelte durch die Feuchtigkeit hindurch, welche der Nebel mit sich gebracht hatte und beobachtete die Fischerboote, die sich langsam den Fluss hinab schleppten. Vom weitläufigen Park aus hatte man einen guten Überblick auf die umliegende Umgebung und Vincent verbrachte viele Stunden damit, das Flussufer gegenüber und das Treiben darauf und entlang – sowohl menschlicher wie auch tierischer Natur – zu beobachten. Die Leute diesseits der Einfriedung beachtete er nicht. Er hatte in all den Jahren, die er schon hier verlebt hatte, kaum ein Wort mit den anderen Patienten gewechselt und kommunizierte – wenn überhaupt – fast ausschließlich mit dem Personal. Er war nicht auf Freundschaften aus, um so mehr, als dass er sich langsam bewusst wurde, dass er nicht mehr allzu lange hier verweilen würde. So blieben für ihn die Mehrzahl der Menschen in der Anstalt lediglich Schattenwesen, die meistens nur in seiner Peripherie existierten. 

Der Eisenzaun und die Mauer – letztere noch mit Stacheldraht versehen – welche das Grundstück umgaben, schützten die Gesellschaft jenseits dieser Abgrenzungen ebenso vor den Insassen, wie sie die Patienten von der Außenwelt bewahrten, und hatten bis vor kurzem noch eine Art beruhigend wirkende Sicherheit auf ihn ausgeströmt. Er hatte sich eingebildet, dass diese von Menschenhand gebauten Dinge und die Medikamente, die man ihm ab und zu verabreichten, absolut nötig waren, aber seit er durch den Schleier getreten war, der so viele Jahre zwischen ihm und der Realität gehangen hatte, sah er zunehmend ein, dass er sich irrte. Er hatte sich seinem vermeintlichen Schicksal gefügt, war damit einverstanden gewesen, in einem Käfig zu leben. Er wollte eingesperrt sein – mehr noch, er wollte das Monster in sich hinter Schloss und Riegel wissen, doch etwas hatte ihn aus seinem komatösen Dasein geweckt. Vincent konnte nicht sagen, was der Grund dafür gewesen war, aber die Gesichter und Stimmen, die Möbel und Räume um ihn herum, die er kaum noch wahrgenommen hatte, hatten langsam wieder scharfe Konturen und plastische Tiefe erhalten. Sie wurden erneut zu seiner Realität, seine Welt bestand nun nicht mehr aus grauen Schatten: Es war wie ein langsames Erwachen aus einem tiefen, traumlosen Schlaf, und mit dem Zurückfinden kamen Erinnerungen an ein früheres Leben, Erinnerungen an ein Ich, das Vincent fast nicht wiedererkannt hatte.

Zu Anfang wünschte er sich ein erneutes Kommen des milchigen Flors, allerdings waren da so viele Dinge, die auf sein Bewusstsein niederprasselten, dass er ständig mit Reizen überflutet war und den Weg zurück zur Stille kaum mehr fand.

Seit mehreren Wochen verspürte er denn auch vermehrt einen aufkeimenden Drang in sich, der ihn hinaus trieb, auf die andere Seite des Zauns, obwohl er wusste, dass er dafür noch viel zu schwach und gemeinhin noch nicht bereit war. Ebenso überkamen ihn im Schlaf des Öfteren intensive Bilder und Gefühle, die sich selbst nach dem Aufwachen nicht abschütteln ließen. Die irrationale Wut, welche daraus resultierte, hatte ihm bis vor kurzem wiederholte Aufenthalte in der Isolierungszelle beschert. 

Seine Gedanken schweiften zu Heywood, der völlig anders war als Doktor Torville, welcher Vincent zuvor behandelt hatte. Torville schien nie wirklich Zeit für seinen Patienten gehabt zu haben und hinterließ einen mitunter zerstreuten Eindruck, doch Heywood erweckte den Anschein, sich tatsächlich für Vincent zu interessieren und ihm helfen zu wollen, auch wenn der Psychologe offensichtlich noch immer desillusioniert und von Ermattung geplagt war.

Da war noch eine Bewandtnis, die Vincent allerdings sehr beunruhigte: Die Tatsache, dass Heywoods Anwesenheit etwas aus dem Dunkel in ihm selbst ans Licht brachte, was jahrelang zusammen mit ihm in komatösem Schlummer gelegen hatte. Vincent hatte es bereits beim zweiten Gespräch mit dem Psychologen bemerkt, als sein Blick unversehens immer wieder auf Heywoods Hals und Hände gefallen war, und wie sich da ein familiäres Verlangen in ihm geregt hatte: Eine zerstörerische Lust, die ihm innewohnte und welche er jahrelang mit aller Kraft in die hintersten Winkel seines Wesens gedrängt hatte; einen Durst, der ihn zum Wahnsinn treiben konnte, wenn er ihm nicht nachgab und welcher pure Euphorie versprach, falls er ihn zuließ. Je mehr er sich dagegen wehrte, desto feuriger wurde der Drang.

Auch musste er sich, so banal wie es klang, eine rasch wachsende Zuneigung zu diesem nervlich angegriffenen und doch einfühlsamen Mann eingestehen. Es war unzählige Jahre her, seit er vergleichbare Gefühle für jemand anders gehegt hatte, und freilich waren sie noch lange nicht so intensiv, aber da war definitiv etwas: ein Kribbeln in seiner Magengrube, ein Funken tief in seinem Herzen. Heywood strahlte etwas ungemein Beruhigendes aus, das Vincent noch lange nach ihren Gesprächen mit sich trug, und sogar in seinem Schlaf fortzuwirken schien – seit ihrem ersten Aufeinandertreffen hatten Vincents Albträume viel an ihrer Intensität verloren. Zwar schreckte er nachts nach wie vor auf, musste jedoch nicht mehr ruhiggestellt werden. 

Er wusste, dass gewisse Emotionen alles um ein Vielfaches gefährlicher machen konnten, doch brachte er es nicht über sich, diese noch zaghaften Regungen in seinem Innern einfach so zu ersticken – sie erinnerten ihn daran, dass er immer noch ein Stück seiner einstmals so verhassten Menschlichkeit in sich trug.

 

 

 

6.

 

„Hey Vincent, wir sehen dich ja kaum noch. Bist ständig mit diesem versnobten Stadtlümmel zusammen. Ulkig, so ’ne Männerfreundschaft, findet ihr nicht auch?“

Es war Tom Hannigan, der sich gerade über den Tisch herüber lehnte und Vincent mit glänzenden Augen ansah. Er hatte sich wohl Mut angetrunken; sein pockennarbiges Gesicht wurde ganz rot und er fuhr mit einer Stimme weiter, die zwar sehr laut war, in der jedoch eine leichte Unsicherheit mitschwang: „Die Leute reden schon. Ich finde, das solltest du wissen.“

Eigentlich war es ein netter Abend in der Dorfkneipe gewesen, den Vincent mit einigen seiner ehemaligen Schulkameraden verbracht hatte. Man schwelgte – vielleicht ein letztes Mal – zusammen in Erinnerungen an Streiche und Begebenheiten aus der Schulzeit, bevor ein jeder von ihnen – außer den armen Seelen, die aus irgendeinem Grund für untauglich erklärt worden waren – in den aktiven Militärdienst eintrat. Die Stimmung war – natürlich mit vom Alkohol beeinflusst – gelassen und freudig gewesen, doch nun schwiegen die anderen am Tisch und eine drückende Spannung baute sich im Raum auf. Es       war also so, wie Vincent vermutet hatte: man tratschte im Dorf über  sie beide.

Er versuchte, so neutral wie möglich zu klingen, als er entgegnete: „Was reden die Leute denn?“

Tom schnalzte laut mit der Zunge, lachte: „Na, das kannst du dir wohl denken, oder? Machst dauernd irgendwelchen Ärger, und jetzt so ’was. Mir tut dein Vater leid. Und deine Mutter, wenn die wüsste ...“

Geoffrey, William und Albert, deren Gesichter gerade noch ein Schmunzeln erhellt hatte, wurden mit einem Mal ernst und sahen sich betreten um. Sie blieben in den nächsten Augenblicken mucksmäuschenstill.

Mit jedem Wort, dass Tom von sich gab, hatte sich Vincents Wut derweil immer mehr gesteigert. Seine tote Mutter und seinen kranken Vater in die Sache mit hinein zu bringen, das setzte dem Ganzen die Krone auf. Tatsache war wohl, dass er gewisse Schwierigkeiten gehabt hatte, sich mit dem Dahinscheiden seiner Mutter auseinanderzusetzen – seine verinnerlichte Trauer hatte sich in einem leicht aufbrausenden Temperament geäußert, das er manchmal nicht unter Kontrolle zu halten wusste. Er war dadurch in eine Anzahl Prügeleien geraten, welche jedoch nie ausgeartet und von meist harmloser Natur gewesen waren. In den letzten Monaten – besonders, seit Sams Eintritt in sein Leben – war er indes viel ruhiger geworden und hatte sich auch keinen Ärger mehr eingehandelt. Dass Tom nun damit wieder anfing, war Vincent zuwider.  

„Erstens geht es keinen etwas an, was ich tu’ oder lasse. Und zweitens, sprich nicht so von meinen Eltern, hörst du? Das meine ich ernst.“ Vincent versuchte erst gar nicht, den Zorn in seiner Stimme zu verstecken, sollte Tom ruhig wissen, wie er fühlte. Zwar war dieser ziemlich betrunken, aber sein berauschter Zustand rechtfertigte sein Verhalten keineswegs. Immerhin vermochte Alkohol die meisten Leute von Lügen und selbstauferlegten Maskeraden zu befreien, und Tom bildete da keine Ausnahme.

„Drohst du mir etwa, Vincent? Hey Jungs, vielleicht sollte ich ihm schöne Augen machen, dann verfliegt seine Wut sicher ganz schnell.“

Die Runde kicherte, verstummte jedoch abrupt als Vincent Tom an der Schulter packte und ihn zu sich heran zog. Albert, so klein und hager wie er war, versuchte vergeblich, die beiden zu beruhigen und wurde mitten im Satz von Tom unterbrochen.

„Mag ja sein, dass du hier tun und lassen kannst, was du willst, aber im Militär machen die kurzen Prozess mit dir. Da kommst du ratzfatz vors Kriegsgericht und dann ins Loch. Heim zu kommen, kannst du dir gleich ganz abschminken, weil es dann offiziell wird, dass du ein Perverser und Krimineller bist. Vielleicht brauchst du auch einfach eine kleine Erinnerung daran, wie wär’s, ich red’ mal ein Wörtchen mit diesem Sam.“

Vincent musste jedes noch so kleine Stückchen an Selbstkontrolle in sich aufwenden, um Tom nicht auf der Stelle zu verprügeln. Er hielt ihn immer noch an der Schulter gepackt und die Haut war so straff über seine Knöchel gespannt, dass diese knochenweiß hindurch schienen. Als er wortlos und unentwegt in Toms Augen schaute, sah er bald unverhohlene Furcht darin. Das reichte ihm. Er ließ den Burschen los, knallte das Geld für seine Biere auf den Tisch und strich die Falten aus seinem Hemd.

„Wenn du jemals wieder ein schlechtes Wort über Sam oder meine Eltern verlierst, prügle ich dich windelweich. Bleib’ ja fern von uns“, knurrte er und hoffte, dass die Drohung bei Tom angekommen war und dieser sich am nächsten Morgen noch daran erinnern konnte. Dann verließ er die Kneipe und lief Richtung Hof.

Es machte ihn rasend, dass jemand so respektlos zu sein vermochte und gerade die Leute angriff, denen er am nächsten stand. Mit einem Mal freute er sich durch und durch, aus Saint’s Den weg zu müssen, bedachte dann aber die allzu reelle Möglichkeit, dass Tom in derselben Kompanie landen würde und ihr Zwist damit wohl noch nicht beendet war. Es blieb nur zu hoffen, dass sich Tom im Kriegsgeschehen auf weitaus wichtigere Dinge zu besinnen wusste. 

„Vincent? Warte doch!“, klang es plötzlich an seiner rechten Seite – Sam war unvermittelt aus der Dunkelheit aufgetaucht, und als Vincent zunächst nicht auf seine Stimme reagierte, griff dieser nach seinem Handgelenk und zog ihn zu sich herum. „Sag mal, bist du in Ordnung? Ich habe dir zugewunken und gerufen, aber du hast nur Löcher in den Boden gestarrt. Ist etwas passiert?“ 

Vincent schüttelte den Kopf. Er mochte nicht über die Sache reden, dafür war er noch zu angespannt.

Sam schaute ihn zweifelnd an. „Quatsch, du bist ja ganz aufgewühlt. Ist etwas im Wirtshaus vorgefallen?“

„Nein, und hör’ auf, zu fragen“, schnappte Vincent. Er bereute seine ungestüme Reaktion sofort, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. „Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Gewisse Leute können einfach ihre Klappe nicht halten. Es ist nichts passiert, nur ein Meinungsaustausch unter ehemaligen Schulfreunden.“

Sam nahm ihn bei der Hand. Vincent schaute sich mit einem kurzen Blick besorgt um, doch niemand war zu sehen.

„Lass uns an den See gehen, ein kühles Bad wird dir gut tun.“

Vincent sah auf ihre verflochtenen Finger hinunter. „Sam, wenn dir jemand jemals etwas antut, dann bringe ich ihn um.“

Sam lachte unbekümmert, verstummte jedoch abrupt, als er die Ernsthaftigkeit in Vincents Gesicht erblickte. Er drückte seine Hand. „Komm, gehen wir.“

 

 

 

7.

 

James rollte sich auf die Seite, starrte einige Minuten lang auf das im Dunkel schwach leuchtende Zifferblatt seines Weckers und seufzte. Er lag nun schon seit zwei Stunden wach.

In den ersten Jahren seiner Karriere, bevor die Taubheit schleichend über ihn gekommen war, hatte es von Zeit zu Zeit Patienten gegeben, deren Probleme ihn lange nach Feierabend beschäftigten und ihm manchmal auch den dringend benötigten Schlaf raubten. Der Unterschied zu Vincent bestand darin, dass es nicht unbedingt seine Probleme waren, die James nicht mehr los ließen, sondern Vincent selbst. Immer noch mit seiner eigenen Indifferenz hadernd, fühlte er indes langsam seine alte Feinfühligkeit zurückkehren, und mit ihr kam eine Ahnung, dass Vincent auf eine profunde Art anders war. Anders inwiefern, konnte er jedoch noch nicht sagen. 

James sah das kaum sichtbare Lächeln seines Patienten wieder vor sich, als er sich ihrer letzten Konversation erinnerte. Er nahm die Akte zur Hand, welche noch immer auf der Decke neben ihm lag und las weiter, obwohl er den Inhalt schon beinahe auswendig konnte:

 

02. Juni 1949:

Aufnahme: Hurt, Vincent geb. xx.xx.xxxx