Anna
Aldrian

Sonnseitig.
Schattseitig.

Erzählungen
aus dem Steirischen
Himmelreich

Inhalt

Cover

Titel

... folgt mir nun des Himmels Lust“

Landaufenthalt

Elias

Fragen lass ich mich nicht noch einmal

Sternentanz und Oboenklage

Pinot noir

Orgelton. Herz und Fuß.

Herrand und Perchta

Impressum

„… folgt mir nun des Himmels Lust“

Moments Musicaux, Franz Schubert D. 780 (op. 94),
Moderato, Andantino, Allegro moderato, Moderato,
Allegro vivace, Allegretto

I

Salziges

Wiener Konzerthaus. Gold, Weiß und Rot und ein schwarz glänzender Bösendorfer Flügel. Ich habe einen wunderbaren Platz auf der Orgelempore ergattert, mit direktem Blick auf den Pianisten. János Kahn. Weiß schimmernd umrahmen seine Locken wie ein verhuschter Heiligenschein das weich gewordene Gesicht. In seinen Zügen ist die Musik versammelt, die seine Hände als erstes der sechs „Moments Musicaux“ in sanftem Schönklang entlassen, als spielte das Leben in leichtfüßigem C-Dur. Die fröhliche Tonart täuscht mich nicht. Mir rinnt Salziges über die Wangen. Ich sehe nichts mehr, nicht den Flügel, nicht den Pianisten, nicht die Konzertgäste. Ach Gott, es gibt genug Musik, bei der es geradezu zum guten Ton gehört, ergriffen zu sein. Nicht nur die Oper, auch die Kammermusik hat dazu einiges anzubieten. „Der Tod und das Mädchen“ rührt jeden. Aber kein Mensch vergießt über Schuberts „Moments Musicaux“ Tränen. Ein Taschentuch wäre jetzt nützlich. Ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen. Jetzt kann ich den Pianisten wieder sehen. Hinter seinen geschlossenen Augen ist die Tür zu einer anderen Welt aufgegangen. Neue Tränen. Zu verloren, zu verzweifelt, zu todesschwanger ist das As-Dur des Andantino. Wenn János es spielt.

„Moments Musicaux“. Momente der Seligkeit. Momente der Todesnähe.

II

Sonntagsstaat

Lang ist es her. János Kahn war eine Zukunftshoffnung, brillant, genial und charmant. Alle Musikstudentinnen – ich unter ihnen – beteten ihn an. Er spielte hinreißend und war hinreißend anzuschauen, der schwarzlockige Ungar.

Ich liebte ihn, wie man damals noch lieben konnte: aussichtslos und hingebungsvoll.

Und weil mir das Herz von dieser Liebe überging, weil ich auch daheim, am Bauernhof, von János Kahn reden musste, sprudelte es eines Sonntags am Mittagstisch aus mir heraus: „Der weltbeste Klavierspieler, der János Kahn, gibt in Graz ein Konzert, im Stephaniensaal.“ Mitgerissen von meiner Begeisterung wollte ich dieses Glück mit jemandem aus meiner Familie teilen: „Wer von euch geht mit, am Samstagabend, zum Klavierkonzert vom János?“

Gutmütiges Gelächter. Wer hätte schon Zeit und Lust für sowas. Ich wäre am liebsten aufgesprungen und weggerannt. Da fiel mein Blick auf die schweigend dasitzende Tante Pepi. Sie hatte nicht gelacht! Mir kam eine wahnwitzige Idee: „Dann geht eben Tante Pepi mit mir ins Konzert!“

Erschrocken schaute sie mich an: „Das – das ist nur was für die Herrenleut.“

Dass sie noch immer im Klassendenken verhaftet war und sich selbst in die unterste Schicht verwies, wirkte auf mich wie ein rotes Tuch.

Jetzt erst recht!, dachte ich, und wusste schon, wie ich sie überreden würde:

„Das ist wie in der Kirche, Tante Pepi. So ähnlich halt. Musik ohne Pfarrer.“

So absurd es sich anhörte, so einfach war es. Tante Pepi hatte ihren Sonntagsstaat angezogen und präsentierte sich mir mit Vorfreude in den runden grauen Augen. Ein kleiner Garderobefehler: „Tante Pepi, das Kopftuch brauchst du nicht!“

„Du hast gesagt, es ist wie in der Kirche, ich geh immer mit dem Kopftuch in die Kirche.“

Es dauerte, sie zu überzeugen, dass sie mit ihrem damals schon grauen, im Nacken aufgesteckten Zopf passend „hergerichtet“ war.

Dann hatte ich sie in meinen roten 2 CV gesetzt und war mit ihr nach Graz gefahren.

III

Tante Pepi

Tante Pepi. Sie war die unverheiratete Schwester meiner Großmutter, also meine Großtante. Sie kam auf unseren Bauernhof, als ein Mann gebraucht wurde. Mein Großvater war im Krieg gefallen, die Großmutter mit fünf Kindern allein. „Die Pepi“, vierschrötig und zäh, arbeitete im Stall und am Feld für zwei. Der Hof blieb männerlos. Meine Brüder verdienten Geld auswärts beim Tunnelbau. Mein Vater war noch jung mit dem Motorrad verunglückt. In all den Jahren hatte sich Tante Pepi nie verändert, so kam es mir vor. Sie war für uns Kinder schon immer „alt“, eine Frau mit Männerhänden. Nie sahen wir sie ohne Kopftuch, merkten nicht, wann ihre blonden Haare grau geworden waren, merkten auch nicht, dass ihre unbezahlte Plackerei die Voraussetzung war, dass Großmutter die Landwirtschaft weiterführen konnte.

Es wurde wenig geredet mit ihr. Tu dies! Mach das! Einsilbig sagte sie ihr Ja und Nein dazu, höchstens noch, dass die Kuh zum Stier müsse und dass morgen der soundso-vielte Sterbetag der Urgroßmutter sei. Sie hatte ein phänomenales Datengedächtnis. Die Nachbarn holten sie, wenn ein Schwein krank wurde oder eine Kuh nicht kälbern konnte. Im Stall trug sie Gummistiefel, sonst steiflederne hohe Schnürschuhe über strapazierfähigen Strümpfen, sommers und winters. Nur ein einziges Mal – ich war ein Schulkind – hatte ich ihr nacktes Bein gesehen: Sie war beim Mähen auf der steilen, taunassen Wiese ausgerutscht und auf die Sense gefallen. Die Wade, unglaublich weiß und von knotigen blauen Adern durchzogen, hatte heftig geblutet.

Jeden Sonntag ging Tante Pepi zur Messe. Die Stunde in der Kirche war für sie ein feierliches Ausrasten. Ich saß gern neben ihr, sie konnte „zuwi-singen“, eine terzenschwangere zweite Stimme zu jedem Lied. Mit Inbrunst sang sie die deutsche Schubertmesse und das „Großer Gott, wir loben dich“ und all die innigen, alten Marienlieder.

Manchmal hörte ich sie im Stall singen. „Am Brunnen vor dem Tore“ oder das Lied vom verliebten Bauernknecht, der sich am Berg zu Tode stürzt, „… das Edelweiß – so bluatigrot – halt fest er in der Hand“. Die Augen schwammen ihr dabei im Wasser, so wie jedes Mal, wenn eine Kuh zum Schlachter gebracht wurde.

IV

Andacht

Der pompöse Stephaniensaal hatte Tante Pepi nicht eingeschüchtert. Mit andächtiger Scheu ging sie neben mir durchs Foyer und über die breite Stiege hinauf. In ihrer Strickweste über der weißen Bluse zum schwarzen Rock und mit den glänzend geputzten altmodischen Sonntagsschuhen fiel sie auf unter den Konzertgästen. Für sie aber war alles richtig, „wie in der Kirche“. Manchmal griff sie sich ins Haar, das Kopftuch fehlte ihr. Mit tiefem Ernst im Gesicht setzte sie sich auf den Platz auf der Galerie über dem Podium.

Sobald János Kahn auftrat, hatte ich Tante Pepi vergessen. Schaute er nicht nach der ersten Verbeugung zur Galerie herauf? Zu mir?

Das Programm war mir, der ambitionierten Musikstudentin, vertraut. Die sechs „Moments Musicaux“ konnte ich selbst spielen, sie sind technisch nicht sehr anspruchsvoll.

Aber er, wie er sie spielte! Was seine Hände mit den Tasten anstellten, war nichts anderes, als mir das Paradies auf die Erde zu holen.

Verstohlen blickte ich auf Tante Pepi. Wo war sie mit ihren Gedanken? Daheim bei ihren Kühen? Hölzern saß sie da, den Kopf nach vorn gereckt. Oh. Ihre Augen! Rund und grau ruhten sie im seichten Wasser. Das Andantino rührte sie an. Als János das schubertsche f-Moll-Tänzchen aufführte, war ein Stück Seligkeit in ihrem Gesicht. Es blieb, solange das cis-Moll-Moderato mit der Klarheit eines Bach-Präludiums dahinperlte. Es verschattete sich, als Elegisches Überhand gewann. Erschrocken zuckte Tante Pepi zusammen, als das Allegro vivace scharf und hämmernd losbrach. Mit halb geöffnetem Mund starrte sie auf den Pianisten, als ob er ihr von Himmel und Hölle erzählen würde, und – im Allegretto – vom Herumirren auf dem Weg dorthin.

Die Leute klatschten. Tante Pepi schaute mich fragend an. Wieso machen die einen solchen Lärm? Es war Pause. Tante Pepi wollte nach Hause fahren. Das kränkte mich. Ich hatte nicht begriffen, dass bei ihr das Glas randvoll war mit noch nie Gehörtem, noch nie Gefühltem.

„Hat es dir nicht gefallen?“, fragte ich im Auto.

„Wohl“, antwortete sie einsilbig. Dann: „Wie der sich das hat ausdenken können, der kleine Mann. So was.“

„Wer?“

„Der halt, der gespielt hat.“

„Tante Pepi, der hat sich das nicht ausgedacht, der hat nur nachgespielt, was sich der Franz Schubert ausgedacht hat, der von der Schubertmesse und von, Am Brunnen vor dem Tore‘.“

„Ah so.“

Wir waren schon fast daheim, als sie zum Reden ansetzte: „Gibt es von derer Musi eine Platte, dass man das noch einmal hören kann?“

„Ich glaub schon. Hat es dir doch gefallen?“

„Ja“, sagte sie mit großer Entschlossenheit in der Stimme.

„Das möchte ich hören, wenn’s mit mir zum End geht. Ich bet immer um eine gute Sterbestunde. Da möchte ich das noch einmal hören. Kannst du mir das versprechen?“

„Ich versprechs dir“, antwortete ich feierlich und beglückt. Tante Pepi und ich, wir waren zu Verbündeten geworden.

V

Abschiednehmen

„Ist sie …?“ – Meine Augen suchten eine Antwort im Gesicht meines Bruders. Der schüttelte den Kopf. Ich war als Erste, nur mit Handgepäck, aus dem Zoll gekommen.

„Sie wartet auf dich“, murmelte Karl, und mir wurde dabei klar, dass sein Kopfschütteln kein Verneinen war, sondern Verwunderung: Wieso fliegt seine Schwester wegen der alten Tant über den großen Teich?

„Ich hab’s ihr versprochen“, antwortete ich auf die ungestellte Frage. „Ist sie im Spital?“

„Zwei Wochen war sie im Spital, vorgestern haben wir sie heimgetan, unser Doktor meint, den morgigen Tag erlebt sie nicht mehr.“

Warum hatten sie mich nicht angerufen? Der Weihnachtsbrief war eineinhalb Wochen unterwegs gewesen, und dass sie Tante Pepi ins Spital geben mussten, stand bloß in einem Nebensatz. Seit zwanzig Jahren arbeitete ich in den Staaten, längst war Telefonieren kein Luxus mehr, aber meine Familie blieb beim alten Brauch, mir zu den Festtagen einen Brief mit allen Neuigkeiten zu schreiben. Die unverwüstliche Tante Pepi im Spital! Alarmiert hatte ich einen Flug nach Hause gebucht.

Obwohl fast neunzig, war Tante Pepi nie bettlägerig gewesen. Jedes Mal, wenn am Ende meines Heimaturlaubs das Auto mit den gepackten Koffern vor der Haustür gewartet hatte, hatte ich zum Abschiednehmen nach Tante Pepi gesucht. Gewöhnlich war sie im Stall zu finden gewesen, in letzter Zeit oft vor dem ausrangierten Esstisch im Wirtschaftsraum, wo sie Erbsen auslöste, Möhren putzte, Nüsse aufknackte.

„Ich fahr wieder fort.“

Und sie: „Kommst, wenn’s so weit ist mit mir?“

„Kannst dich verlassen drauf. Und pfiat Gott!“

„Pfiat di Gott!“

Jetzt war es so weit mit ihr.

Ich war zwanzig gewesen, als ich ihr versprochen hatte, „in der Sterbestunde“ den Schubert zu spielen. Sie war damals schon bald siebzig. Gut zwei Jahrzehnte war das her. Ich war nach Amerika gegangen, war verheiratet gewesen und wieder geschieden, hatte Karriere gemacht. Sie, die Tante Pepi, war immer dieselbe geblieben, die schweigsame, arbeitsame alte Frau mit dem Kopftuch. Erst beim vorletzten Heimaturlaub hatte ich gemerkt, dass der ungefüge Körper zusammengegangen war, und das letzte Mal sah ich, dass ihre alten Kleider fremd am hageren Leib herunterhingen.

Noch bevor ich das kleine Zimmer betrat, war Karl zu ihr hineingegangen: „Die Fini ist da!“

Ein gellender Aufschrei empfing mich: „Fini! Die Fini!“ Man hatte mich nach ihr, meiner Taufpatin, Josefine getauft, unglücklicherweise. Ich bin jetzt die Josy. Sie, Josefine Dirnberger, Pepi gerufen, lag mit weit geöffneten Augen in ihrem Bett und schaute mir entgegen.

„Dass d’ da bist!“

„Ich habe dir die Musik mitgebracht“, würgte ich heraus.

Mühsam bewegte sie den Kopf zu einem Nicken. Dann fiel die Anstrengung ab von dem ausgezehrten Gesicht, die Lider senkten sich über die obere Augenhälfte, als wäre es zu mühsam, sie ganz zu schließen. Die Tür der Kammer ging auf und meine Schwägerin kam mit der Nachbarin herein, der Thresl, die musste auch um die neunzig sein.

„Die Thresl ist zum Beten kommen. Sie sagt, die Pepi ist a fromme Frau, die soll net ohne Beten sterben.“ Thresl reichte mir wortlos die welke Hand, setzte sich auf einen Stuhl und nahm ihren abgebeteten Rosenkranz heraus. Ich ging mit der Schwägerin hinaus, holte meinen flachen CD-Player und die CD mit den „Moments Musicaux“, die es inzwischen von János Kahn eingespielt gab.

Eine paradoxe Konkurrenzsituation am Sterbebett: Thresl würde sich durch nichts hindern lassen, die Nacht durchzubeten, ich aber musste Schubert spielen. Deswegen war ich gekommen.

Es ging ganz einfach. Thresl hatte ein Versehkreuz aufgestellt, die zwei Kerzen angezündet und murmelte in ihrem eigentümlichen Singsang ihre „Gegrüßet seist du, Maria“. Grad so, wie ich das aus meiner Kindheit kannte. Damals hieß es noch „… in der Stunde unseres Absterbens“ statt „unseres Todes“. Die vertrauten Worte halfen mir über die aufkommende Panik hinweg.

Fremd, so fremd war mir dieses bleiche Gesicht auf dem Polster. Die Wangen eingefallen, die Nase so spitz, die Augen so tief in den Höhlen. Weißlich-graue Haarsträhnen lagen erschreckend dünn über einer papierenen Kopfhaut. Ich hatte die Tante Pepi nie ohne Kopftuch gesehen, außer bei dem einen Mal, beim Konzert.

Bang drückte ich auf die Play-Taste. Thresl war fast taub, die Musik würde sie nicht stören. Aber Tante Pepi? Nimmt sie noch etwas wahr?

Mit dem Eingangsmotiv klopfte das erste „Moment Musical“ insistierend an das sterbensmüde Gehirn unter dem kopftuchlosen Schädel. Konnte sie das hören? Da hob Pepi mit großer Mühe die halb geschlossenen Lider, sah mich an und flüsterte tonlos: „Dankschön.“ – Oder nur „schön“ – oder „Schubert“?

Tok-tohk, tok-tohk. Nie vorher hatte ich diese C-Dur-Herzklopf-Sequenz im ersten „Moment Musical“ wahrgenommen. Jetzt hörte ich das Pochen unter jeder Phrasierung heraus – eindringlich oder kaum vernehmbar, stolpernd oder hämmernd, sich wieder verlierend. Ein Herz, das dabei ist, das Schlagen aufzugeben.

„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt’ für uns!“

Das Andantino todtraurig. Ein Erschrecken beim Wechsel von a-Moll in fis-Moll. Noch atmete sie, noch hörte sie zu. Mit einem Satz hüpfte das klopfende Herz in den Tanzrhythmus des Allegro moderato. Lass es noch einmal mitschwingen, Tante Pepi! Du hattest nie einen Tänzer, aber getanzt hast du. Bei den Hochzeiten der anderen. Allein. Vehement drängte sich mir ein Bild auf: Ich seh dich, Tante Pepi, mit einem gefüllten Weinkrug auf dem Kopf. Du hast dich im Takt gewiegt dabei, keinen Tropfen verschüttet. Alles Ungeschlachte war von deinem Körper abgefallen. Hoch aufgerichtet, die Arme in die Hüften gestemmt, hast du die Schritte gesetzt, als gingest du mit einem Korb auf dem Kopf über die Weinhügel in die Bezirksstadt, um Eier, Kirschen, Äpfel, Doppelgebrannten zu verkaufen. Du hättest dich zu diesem Allegro moderato gedreht, als wäre es für dich komponiert worden, beschwingt und fröhlich auf dem Untergrund deiner Lebensmelodie in Moll.

Darum wolltest du Schubert zum Sterben?

Während des c-Moll-Moderatos, wo Schubert gleichmäßig perlend wie Bach klingt, wurde der Atem der Sterbenden ruhiger, leichter. Ihre Augen suchten meine. Oder bildete ich mir das nur ein? Mich packte die Angst, es könnte der letzte klare Blick sein. Ein neues Motiv schob sich über die kristallklaren Läufe: ein rhythmisches Sich-Fallenlassen, Hochschnellen, erneutes Fallen. Unerbittlich. Herzweh, das mir die Kehle abschnürte.

„Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen.“ Die Thresl war etwas lauter geworden, ich hatte ihr Murmeln nicht mehr wahrgenommen.

Das Allegro vivace übertönte es. Zu laut, zu dramatisch, zu viel panischer Herzschlag. Verzweiflung im Marschrhythmus. Erschrocken drehte ich leiser.

Mit dem Allegretto pendelte sich die Musik monoton melancholisch ein. Ich griff nach Tante Pepis Hand, spürte einen leichten Druck. Thresls Singsang und das plötzlich einsetzende rasselnde Atmen der Sterbenden übertönten das gedämpfte, sich von aller Schwere lösende, in den Schluss verlierende letzte „Moment Musical“.

„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens. Amen.“

VI

Herzschlag

Für Tante Pepi musste es die Schubertmesse sein. Unüblich, aber ich hatte darauf bestanden. Die Kirche war voll, bei uns nimmt man es noch genau mit den Verpflichtungen innerhalb der Verwandtschaft; väterlicherseits und mütterlicherseits machte die Sippe einen guten Teil der Dorfbevölkerung aus, dazu die Nachbarn und die Bäurinnen von der Frauenbewegung. Viele Begräbnisleute für eine, die das ganze Leben eine „Dirn“ war, eine Magd, deren Wert nur in ihrer Arbeitskraft bestanden hatte.

Der Zug mit dem Sarg formierte sich, vorneweg der Ministrant mit dem Grabkreuz: „Josefine Dirnberger“, darunter „1909  1998“. Die Organistin improvisierte über das Schlusslied: „… selig pocht’s in meiner Brust. In die Welt hinaus, ins Leben, folgt mir nun des Himmels Lust.“

Des Himmels Lust. Der Himmel – für Tante Pepi ein Vertrautes. Das, worauf sie hingelebt hatte. Aber des Himmels „Lust“? Ihres waren der Erde Mühen und Plagen, Lust ist in ihrem Leben wohl nicht vorgekommen. Oder doch? Wenn sie für sich allein im Stall gesungen hat? Wenn sie mit kundigen, starken Händen ein Kälbchen aus dem Leib einer schwer gebärenden Kuh gezogen hat und mit „narrischer Freud“ zuschaute, wie das „Kalberl“ mit unsicheren Beinen hochwippte und zu saugen begann? Des Himmels Lust, die Schwere der Erde. Der Sarg schwankte, von sechs Neffen getragen, aus der Kirche.

Wer hatte denn ausgerechnet neben dem Friedhofstor einen Traktor geparkt? Die Dorfleute wussten doch, dass heute ein Begräbnis war.

Der Traktor. Sein Motor begann zu pochen. Schwerfällig erst, ktok – ktok – ktok. Langsam in Fahrt kommend, tok, tok, tok. Letztendlich in einem rhythmischen Gleichmaß verharrend, das den Herzschlag eines Menschen ausmacht. Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

Das grüne Blech über dem offenen Motorblock zitterte mit jedem Herzschlag mit. Das war – das war doch unserer! Der grüne 15er-Steyr, Baujahr 1953, den man noch mit der Kurbel starten musste. Pepi war lange Zeit die einzige Frau im Dorf gewesen, die Traktor fahren konnte.

Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk. Über den Fahrersitz war ein schwarzes Kopftuch mit eingewebter silbergrauer Blumenbordüre gebreitet. Das konnte nur meinem Bruder eingefallen sein! Ihm war von Tante Pepi das Traktorfahren beigebracht worden. Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk – ein Dank, der zu Lebzeiten nie ausgesprochen worden war.

Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

Ein unterdrücktes Schluchzen würgte die Kehlen der „Bestattleute“, von denen nur wenige über den Tod der alten Frau wirklich zu trauern hatten. Die Jüngeren konnten sich kaum an sie erinnern, aber das klopfende, inständige „Toktohk, tok-tohk, tok-tohk“ ging allen unter die Haut. Die Männer wischten sich die Augen.

Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

Die Frauen weinten und schnäuzten sich.

In meinen Ohren pochte ein Klavier zum Klopfen des Traktors.

Das C-Dur-Moderato mit dem Herzschlagmotiv.

Das traurige Andantino.

Der heitere f-Moll-Tanz mit dem Hauch von Melancholie. Ich sah sie vor mir, die Tante Pepi, wie sie dem Leichenzug voraustanzt, auf dem Kopf den Weinkrug, im wiegenden Schritt zu Schuberts Allegro moderato: Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

Als der Pfarrer anhob „Wir übergeben den Leib der Erde …“, verstummte das Tok-tohk. Tante Pepi war gestorben.

VII

Köszönöm

Und jetzt, zehn Jahre später, sitze ich im Konzerthaus und höre den János Kahn spielen, als wüsste er von all dem. Ich möchte ihn umarmen dafür. Ich sehe nur seine Umrisse, meine Augen schwimmen. Er ist bei Schuberts letztem „Moment Musical“, dem Allegretto, angekommen. Dunkel und weich schlägt die Linke die todtraurigen Akkorde an, die Rechte huscht sacht über die Tasten, als würde sie einem heulenden Frauenzimmer tröstend übers Haar gleiten.

Köszönöm, János Kahn. Danke, Franzl Schubert.

Landaufenthalt

I

Heuballen

Dr. Roland Stückler, aufrechten Gangs, wenn auch der Stütze eines Wanderstocks bedürftig, trat aus dem Dunkel des Waldes. Im jähen Sonnenlicht breitete sich vor ihm eine stark ansteigende Wiese aus, darüber hin verloren sich sommergrüne Weinzeilen ins Blau hinein. Frohgemut über Stock und Stein wandernd (wie er für sich selbst sein mühsames Hochstapfen zu bezeichnen pflegte), hielt er auf die beiden Traktoren zu, die sich am oberen Rand des Wiesenstücks bewegten. Sein aufgekratzter Sportsgeist reute ihn bald; er hätte den Umweg über die schmale Straße nehmen können, die sich weit weniger schweißtreibend als die von ihm gewählte Direttissima in sanften Kurven weinbergwärts wand. Stehenbleiben. Luftholen. Unangenehm nässend machte sich der Schweiß an gewissen Stellen seines Altmännerkörpers bemerkbar. Keine Wehleidigkeiten! Wiewohl schon im Ruhestand, war er immer noch fit, immer noch ein hochgeschätzter Chirurg, also frisch drauflos! Erhobenen Kopfes schritt er weiter aus.

Was es heutzutage nicht alles gibt! Der eine Traktor dort oben sog mit einem gierigen, grünen Rachen Gras in sich hinein, das hinten wie fest gepresster Riesenkot ausgeworfen wurde. Der zweite Traktor nahm den gepressten Ballen auf ein Gestänge, schlang einen überbreiten, weißlichen Nylonverband herum und begann den zentnerschweren Rundballen einzuwickeln, bis er mumiengleich wieder vom Gestänge gerollt und auf der Wiese abgelegt wurde. Neugierig geworden, stieg Dr.