Cover

Tom Rachmann

Aufstieg und Fall
großer Mächte

Roman

Aus dem Englischen
von Bernhard Robben

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Tom Rachmann

Tom Rachman, geboren 1974 in London, studierte zunächst im kanadischen Toronto Filmwissenschaft und machte an der Columbia Universität in New York einen Master in Journalistik. Nach dem Studium arbeitete er für die Associated Press in New York, bereiste unter anderem Indien und Sri Lanka. Später berichtete er als Auslandskorrespondent aus Italien, Japan, Südkorea, der Türkei und Ägypten. Die berufliche Wende kam, als er – Redakteur bei der International Herald Tribune in Paris – seinen ersten Roman ›Die Unperfekten‹ schrieb – ein Debut, das für Furore sorgte, zeitgleich in zehn Ländern erschien und ein internationaler Bestseller wurde. ›Aufstieg und Fall großer Mächte‹ ist sein vielbeachteter zweiter Roman. Tom Rachman lebt in London.

Über das Buch

Tooly Zylberberg ist eine originelle und überaus liebenswerte junge Frau. Mit Fogg, einem jungen Mann voller Selbstzweifel und mit Hang zu großen Themen, betreibt sie ein kleines, marodes Antiquariat in Wales. Der Zufall hat sie nach jahrzehntelanger Wanderschaft dorthin verschlagen: Tooly ist eigentlich Amerikanerin, Mitte dreißig, ihre Biographie ist abenteuerlich. Einen Teil ihrer Kindheit verbrachte sie in Thailand bei ihrem Vater Paul, einem Computerspezialisten, der sich häufig versetzen ließ. Dann tauchte eines Tages die charmante egozentrische Sarah auf und nahm sich ihrer an. Und schließlich landete Tooly in New York in der Obhut von Humphrey Ostropoler, Lebenskünstler, Philosoph und selbsternannter Exilrusse. Doch am meisten prägte sie der charismatische Venn, der sein Herz an nichts und niemanden hängen wollte und eines Tages spurlos verschwand. Tooly ist in ihrer Buchhandlung von Geschichten umgeben, doch die eigene Vergangenheit bleibt für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Bis sie eines Abends von einem früheren Liebhaber eine Mail erhält, die ihr Leben auf den Kopf stellen und sie zu einer anderen machen wird …

Impressum

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel ›The Rise and Fall of Great Powers‹ bei The Dial Press, The Random House Publishing Group, New York

© 2014 by Tom Rachman

Für die deutschsprachige Ausgabe:© 2014 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: dtv nach einem Entwurf von FAVORITBUERO, München

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook ISBN 978-3-423-42470-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14487-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv/ebooks.de

ISBN (epub) 9783423424707

Für meine Schwester Emily

2011

Sein Bleistift schwebte über dem Verkaufsbuch, stieß, wenn Fogg einer Behauptung Nachdruck verleihen wollte, zum Blatt hinab, bis die Bleistiftspitze aufs Papier traf, stieg gleich darauf wie ein Kunstflieger auf, um dann, wenn er wieder etwas betonte, erneut im Sturzflug niederzugehen, wodurch der immer stumpfer werdende Stift ein Sternenbild von Punkten rund um jenen einsamen Eintrag dieses Morgens hinterließ, der den Verkauf eines gebrauchten Exemplars von ›Landschnecken in Großbritannien‹ von A.G. Brunt-Coppell (Preis: 3,50 £) festhielt.

»Zum Beispiel die Revolution«, rief er von vorn. »Die Franzosen sehen die völlig anders. Denen wird nämlich nicht beigebracht, dass sie nur Chaos und Schreckensherrschaft bedeutet hat. Für sie war die Revolution was Gutes. Und kann man ihnen das verdenken? Sturm auf die Bastille? Die Erklärung der Menschenrechte?«

Nähme man das französische Volk und sein rebellisches Temperament, so der Tenor von Foggs Ausführungen, dann – nun, so ganz klar war es nicht, worauf er eigentlich hinauswollte. Fogg gehörte nämlich zu denen, die sich ihre Meinung beim Reden bilden, vielleicht auch erst danach, weshalb er gern weit ausholte, um so allmählich begreifen zu können, was er eigentlich meinte. Auf diese Weise wurde der Akt des Sprechens für ihn zu einer Erkundungstour, was seine Zuhörer allerdings nicht immer zu schätzen wussten.

Foggs Stimme hallte an den Regalen entlang und die drei Stufen in den hinteren Teil des Buchladens hinab, wo Tooly Zylberberg – seine Tweedblazer, schmuddelige Jeans und Gummistiefel tragende Arbeitgeberin – zu lesen versuchte.

»Hm«, erwiderte sie, eine etwas abgegriffene Biografie über Anne Boleyn aufgeschlagen im Schoß. Sie hätte Fogg bitten können, still zu sein, und er hätte ihr den Gefallen gewiss getan, aber Fogg liebte es nun mal, sich über große Themen auszulassen, als wäre er ein Mann von Bedeutung, was er nun keineswegs war. Das fand sie an ihm ja gerade so sympathisch, auch weil er auf diese Weise seine nicht unbeträchtlichen Selbstzweifel kaschierte – sollte sie ihm widersprechen, gab er übrigens gern nach. Armer Fogg. Dank Toolys Schwäche für ihn durfte er weiterschwatzen, auch wenn sie dabei nicht lesen konnte.

»Schließlich und endlich war der Typ, der die Guillotine erfand, ein Mann der Medizin«, fuhr Fogg fort, während er Bücher zurück ins Regal stellte, vorher aber die Seiten aufblätterte, um ihr Aroma nach altem Papier freizusetzen, das er tief einatmete, ehe er die einzelnen Bände in die freien Lücken schob.

Er ging die drei knarrenden Stufen hinab, unter dem Schild »GESCHICHTE / NATUR / LYRIK / MILITARIA / BALLETT« hindurch zu einem tiefer gelegenen, »Die Klause« genannten Nebenraum. Der Buchladen war einmal ein Pub gewesen, und einst hatten regennasse Gäste in der Klause ihre Socken am mittlerweile zugemauerten, aber immer noch von Zangen und Blasebalg flankierten Kamin aufgehängt, den kleine grün-rote Wales-Fähnchen sowie eine Reihe Toby-Becher an Haken zierten. Auf einem Eichentisch lagen Fotobände mit Landschaftsaufnahmen der näheren Umgebung, während die Wände Regale mit Lyrik säumten, wozu allerdings auch eine Reihe gebundener, vor sich hin staubender Shakespeare-Werke gehörte, deren rote Buchrücken so verblasst waren, dass es großen Scharfblicks bedurfte, wollte man ›King Lear‹ von ›Macbeth‹ unterscheiden. Beide dieser ehrwürdigen, auf überladenen Regalen ruhenden Monarchen konnten jederzeit in den Schaukelstuhl hinabpoltern, in dem Tooly saß, eingewickelt in eine Schottendecke, die ihr im Winter gute Dienste leistete, wenn die Heizkörper angesichts der anstehenden Aufgabe meist nur einmal heftig erbebten, um dann jeglichen Betrieb einzustellen.

Sie strich ihr kurzes schwarzes Haar zurück, dessen Spitzen ungepiercte Ohrläppchen umkringelten; hinter einem Ohr klemmte ein Bleistift mit grauer Mine. Das vorgehaltene Taschenbuch sollte Fogg davon abbringen, ihre Lektüre stören zu wollen, doch zuckten Toolys Wangen amüsiert hinterm aufgeschlagenen Band angesichts des Kreise ziehenden Fogg – welch sichtliche Anstrengung es ihn doch kostete, still zu bleiben. In weitem Oval umstiefelte er den Tisch; die Hände in den Hosentaschen klimperten mit Kleingeld. (Immerzu fielen ihm Münzen durch Löcher in den Taschen die Hosenbeine entlang und in die Schuhe. Wenn er Letztere am Ende des Tages auszog, wobei er die Socken meist auch noch halb mit abstreifte, konnte er oft ein kleines Vermögen in seine Hand leeren.) »Es stünde ihnen gut an, in Afghanistan entschlossen zu handeln«, sagte er. »Das täte es.«

Sie ließ das Buch sinken und sah zu ihm hinüber, was Fogg veranlasste, ihr den Rücken zuzukehren. Er war achtundzwanzig, also nur wenige Jahre jünger als sie, doch hätte die Kluft zwischen ihnen durchaus noch einmal weitere achtundzwanzig Jahre betragen können. Auch in ihren Wortwechseln blieb er stets der Jüngere und gab sich respektvoll, wurde aber immer wieder vom eigenen abstrusen Gerede mitgerissen. Beim Dozieren spielte er mit einem Vergrößerungsglas aus Messing, hielt es sich wie ein Monokel vors Gesicht, weshalb er ein monströses blaues Auge hatte, bis er den Mut verlor und das Glas sinken ließ, woraufhin das Auge wieder klein und blinzelig wurde. Zu jeder Tageszeit sah er aus, als hätte ihn gerade ein Feueralarm geweckt; das Haar am Hinterkopf war vom Kissen flachgedrückt, und am Hemd fehlten Knöpfe, andere hingen am seidenen Faden, so dass Kunden sich Mühe gaben, nicht hinzuschauen, wenn versehentlich die nackte Brust hervorlugte. Die Cargohose war hinten eingerissen, weil er bei seinen Vorträgen gern die Daumen in die Hüfttaschen einhakte; die weißen Schnürbänder der Lederschuhe hatten sich längst grau verfärbt; das über der Hose hängende gestreifte Hemd war an den Manschetten abgewetzt. Überdies zeichneten Fogg die vorstehenden Schlüsselbeine und deutlich ausgeprägten Rippen eines Mannes aus, der zum Mittagessen ein Bacon-Sandwich verschlingt und dann bis drei Uhr morgens zu essen vergisst. Seine scheinbar unbekümmerte Einstellung zu Modefragen war allerdings nicht gänzlich unbedacht, galt sein Äußeres in Caergenog doch auch als Signal dafür, dass er im Dorf seiner Geburt jemand Besonderes war, ein anspruchsvoller Städter nämlich – auch wenn sein Wohnort, ja sein ganzes Leben, dem widersprach.

»Es stünde ihnen an?«, fragte Tooly lächelnd.

»Sie müssen doch begreifen«, fuhr er fort, »dass wir nicht mal wissen, wer zur Opposition gehört. Der Feind meines Freundes ist nicht …« Er beugte sich vor, um einen Blick auf das Umschlagbild ihres Taschenbuchs zu werfen. »Sie hatte dreizehn Finger.«

»Wie?«

»Anne Boleyn. Die Frau von Heinrich VIII. Hatte dreizehn Finger.«

»So weit bin ich noch nicht. Die kleine Anne ist erst zehn.« Tooly stand auf, um nach vorn zu gehen; der leere Stuhl schaukelte noch eine Weile.

Der Frühling ging zu Ende, nur gaben die Wolken über Wales nicht viel auf Jahreszeiten. Seit dem Morgen schüttete es, weshalb Tooly auf ihren täglichen Spaziergang in den Bergen verzichtet hatte, wenngleich sie zur Priorei gefahren war. Sie war im Wagen sitzen geblieben und hatte es genossen, den Regen aufs Dach pladdern zu hören. Regnete es immer noch?

»Haben wir das Fass der Ehrlichen reingeholt?« Der Bottich dieses Namens enthielt Überbestand, den Passanten mitnehmen durften (empfohlener Obolus: ein Pfund pro Buch). Das Problem war allerdings nicht die Ehrlichkeit – erfreulicherweise warfen die meisten Leute eine Münze in die Geldbüchse –, sondern der Regen, der die Bücher ruinierte. Also waren Tooly und Fogg zu versierten Himmelsbeobachtern geworden, die Wolken taxierten und das Fass rein- oder rausschleppten.

»Haben es gar nicht erst rausgestellt.«

»Echt nicht? Vergesslichkeit macht sich bezahlt.« Sie stand an der Kasse und blickte aus dem Schaufenster. Von der Markise tröpfelten braune Regentropfen – sie sahen ein bisschen aus wie: »Kaffee«, sagte sie.

»Willst du einen?« Seitdem Fogg versuchte, die estländische Bedienung im Monna Lisa Café zu bezirzen, kam er ständig mit irgendwelchen Vorwänden, um Tooly einen Cappuccino besorgen zu dürfen. Da Tooly jedoch Tee vorzog, sah Fogg sich genötigt, den Kaffee selbst zu trinken. Dass er sich in die Kellnerin verguckt hatte, war Tooly überhaupt erst aufgefallen, weil er so häufig auf die Toilette musste, was sie zu der Bemerkung veranlasst hatte, dass seine Cappuccino-Liebe sich immerhin aufs korrekte Organ auswirke, wenn auch auf inkorrekte Weise.

»Bin in einer Minute wieder da«, sagte er, meinte dreißig und schob mit der Schulter die Tür auf, deren Glocke noch bimmelte, als er schon die Roberts Road hinaufstapfte.

Darauf ging Tooly ebenfalls nach draußen, blieb vorm Laden stehen und betrachtete sinnierend den Kirchparkplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite sowie ihren alten Fiat 500, der einsam auf einem der vielen Parkplätze stand. Sie streckte sich genüsslich, räkelte sich wie eine wach werdende Katze und gickste leise. Zwei Vögel flatterten vom Kirchdach und fuhren im Kampf um ein Nest die Krallen aus. Was für Tauben waren das? Schon segelten sie davon.

In Caergenog – auf der walisischen Seite gleich hinter der Grenze zu England – wohnten nur wenige hundert Seelen, ein Dorf, dessen Grenzen seit Jahrhunderten von zwei Pubs markiert wurden, von dem am oberen Ende der Roberts Road und jenem an deren unterem Ende. Vom The Butcher’s Hook, so benannt nach dem wöchentlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite stattfindenden Viehmarkt, blickte man aufs Dorf hinab, während unten, gleich gegenüber von Kirche und Kreisverkehr, das World’s End lag, wohl eine Anspielung darauf, dass sich der Pub am äußersten Dorfrand befand. Das World’s End war schon immer der weniger beliebte Pub gewesen (wer will schon beim Zechen auf Eisenkreuze vom Kirchfriedhof starren?), und Ende der siebziger Jahre hatte die Kneipe endgültig dichtgemacht. Jahrelang hatte das Gebäude leergestanden, verrammelt und vergessen, bis ein Ehepaar – pensionierte Akademiker von der Universität Bristol – das Haus gekauft und in ein Buch-Antiquariat umgebaut hatte.

Ihrer Geschäftsidee zufolge sollte sich der Laden durch die vielen Käufer tragen, die vom alljährlich stattfindenden Literaturfestival im nahen Hay-on-Wye angelockt wurden, und tatsächlich brachte das elftägige Ereignis allerhand Kundschaft ins World’s End. Leider war der Effekt des Festivals auf die übrigen dreihundertvierundfünfzig Kalendertage vernachlässigbar. Und so suchten die Mintons nach zehn Jahren einen Käufer für das Antiquariat, wollten aber das Fachwerkhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert behalten, das sie eigenhändig restauriert hatten, innen zum Teil mit alten Milchglasscheiben, einem schmiedeeisernen Tresenbereich und den Pensionszimmern. Ein Aushang am Schwarzen Brett des Dorfes – bald überklebt von einem Hinweis der Harlecher Jugendbläsergruppe – brachte keine Antwort. Ebenso wenig die nachfolgende Anzeige in ›The Abergavenny Chronicle‹. Auch die halbherzigen Bemühungen eines Kaugummi kauenden Maklers namens Ron führten zu nichts. Einer der letzten Versuche war dann eine Kleinanzeige in einer literarischen Publikation mit geringer Auflage, von der ein leicht zerfleddertes Exemplar im Jahr 2009 seinen Weg auf den Bahnsteig eines der Bahnhöfe von Lissabon fand, wo Tooly es aufhob. Die Anzeige lautete: »Buchladen zu verkaufen«.

Bei Toolys Besuch gaben die Mintons zu, dass das Geschäft Verlust mache und die Einnahmen seit ihrer Ankunft vor zehn Jahren rückläufig seien. Das Beste, was Mr Minton über den Laden sagen konnte, war: »Ist bestimmt interessant für jemanden, der viel lesen will. Und mit Ihrem jugendlichen Elan stehen Sie fraglos bald viel besser da als wir – finanziell gesehen. Reich werden Sie damit allerdings nicht.« Tooly zahlte den verlangten Preis, fünfundzwanzigtausend Pfund, mit dem das Unternehmen und der Bestand von zehntausend Büchern an sie überging. Ehe die Mintons wieder nach Bristol zogen, erklärten sie sich damit einverstanden, dass die niedrige Ladenmiete die Nutzung der Wohnung im ersten Stock ebenso einschloss wie den Gebrauch des klapprigen knallroten Fiats.

Tooly hatte es überwältigend gefunden, plötzlich Besitzerin von abertausend Büchern zu sein. Hohe Regale füllten den Laden von vorn bis hinten, auf den höchsten Brettern die unverkaufte, eingestaubte, oft verschmähte Ware, an den Wänden gerahmte Bilder: eine Weltkarte aus dem neunzehnten Jahrhundert; ein Stadtbild Konstantinopels; eine Illustration von Edward Gorey, auf der ein Schurke einen opulenten Folianten im Arm hielt, dessen Besitzer er gerade von einer Klippe gestoßen hatte. Darunter ein Zitat von John Locke:

Bücher sind für mich wie die Pest; wer mit ihnen handelt, wird mit etwas höchst Perversem und Brutalem infiziert. Drucker, Buchbinder, Verkäufer – oder wer auch sonst Handel damit treibt und seinen Gewinn mit ihnen macht –, allen ist ein so verschrobenes, verdorbenes Gemüt gemein, dass ihnen nahezu ausnahmslos jene Art des Umgangs zukommt, die sich durchaus nicht dem Wohle der Gesellschaft fügt oder auch nur dem allgemeinen Anstande, welcher die Menschheit zusammenhält.

An den Büchergebirgen lehnte eine Trittleiter, die Tooly stets zum Alpinismus-Regal schob, Fogg aber – der diese Anspielung nicht verstand – zur Französischen Geschichte zurückstellte. Hinter jeder Reihe Bücher versteckten sich noch einmal ebenso viele Exemplare, eine wahre Schattenbuchhandlung. Auf dem Boden standen Kisten unsortierten Inhalts, weshalb man durch den Laden eher kraxelte als ging. Und auf dem floralem Teppichboden verfilzten Katzenhaare, die einst einem längst verblichenen Haustier namens Cleopatra angehangen hatten.

Um Themengebiete zu markieren, hatten die Mintons Pappschilder an die Regale geheftet, versehen mit winziger Kursivschrift, sofern sie von Mr Minton stammten, mit schwungvollen Druckbuchstaben inklusive aussagekräftiger Sketche, wenn sie von Mrs Minton waren. Die meisten Schilder verwiesen auf nichts Besonderes: Bäume, Pflanzen, Pilze; oder Kochen & Rezepte; andere dagegen (immer in Mr Mintons winziger Schrift) klangen ein wenig ungewöhnlich, etwa: »Künstler, die ihre Gattinnen nicht nett behandelt haben«, oder: »Geschichte – die langweiligen Perioden«, oder: »Bücher, die man gelesen zu haben vorgibt, aber gar nicht kennt«.

Tooly hatte den größten Teil ihres Bestandes weder gelesen, noch gab sie vor, ihn zu kennen, doch hatte sie sich nach und nach mit ihren Büchern vertraut gemacht, unterstützt vom stets entgegenkommenden Fogg, der schon seit seiner Schulzeit im Laden aushalf. Die Mintons hatten ihn ermuntert, das Dorf zu verlassen und europäische Literatur zu studieren, aber er kam immer wieder zurück, einen Cappuccino in der Hand.

Diesmal brachte er auch einen für Tooly mit – er hatte ihre abschlägige Antwort vergessen –, machte es sich auf seinem Barhocker hinter dem Tresen bequem, erweckte den Computer mausklickend zum Leben und loggte sich in die Website von BBC Radio Four ein. Der Kommentator bemühte sich, das Publikum mit seinen Ansichten über die moderne Welt in Angst und Schrecken zu versetzen, indem er das Moore’sche Gesetz zitierte und von Cloud-Computing, dem Turing-Test oder dem allgemeinen Verfall der Hirnaktivität sprach. »Heute«, erklärte er, »hat man mit jedem Smartphone Zugang zum gesamten Wissen der Menschheit.«

»Die brauchen einen Apparat«, meinte Fogg und stellte den Ton ab, »der alles aufnimmt, was einem widerfährt.«

»Wie meinst du das?«

»Ich will darauf hinaus, dass … Worauf will ich hinaus? Egal. Also Folgendes: Wenn diese Computer wirklich immerzu so viel besser werden, dann wird irgendwer bald – durchaus denkbar, wenn man mal so richtig ehrlich ist –, wird also irgendwer bald irgendwas erfinden, womit man alles speichern kann, was einem im Leben passiert. Wenn man noch klein ist, kriegt man das implantiert, einen Chip oder was weiß ich. Dann muss man sich nie mehr Passwörter merken und braucht sich auch nicht mehr darüber zu streiten, was eigentlich genau passiert ist. Bei juristischen Streitigkeiten zückt man bloß seinen Memorystick und gibt ihn dem Gericht.«

»Und wenn man alt wird«, setzte Tooly hinzu, »kann man zu den besten Szenen zurückspulen.«

»Das werden wir noch erleben. Ist nur eine Frage der Zeit – wenn man mal so richtig ehrlich ist.« Wann immer Fogg etwas Offensichtliches verkündete, wie zum Beispiel, dass etwas eine Frage der Zeit sei (und was wäre das nicht?), peppte er seine Behauptung mit einem »wenn man mal so richtig ehrlich ist« auf.

»Und was passiert mit dem Memorystick, wenn man stirbt?«, wollte Tooly wissen.

»Der wird gespeichert«, antwortete er. »Dann können sich künftige Generationen ansehen, wie ihre Ur-Urgroßeltern gelebt haben und wie sie so drauf waren.«

»Was allerdings nicht für die gilt, die vor dieser Erfindung lebten – für Leute wie unsereins. Findest du nicht, dass wir fast noch prähistorische Menschen sind? Wir werden dann ausgelöscht sein, ›versunken in derselben Vergessenheit wie Generationen von Ameisen und Bibern‹«, sagte Tooly, eine Autorin zitierend, auf deren Namen sie gerade nicht kam.

Fogg kratzte seine hellen Stoppeln und blickte zur Decke aus verzierten Blechpaneelen hoch, als starrten von oben Generationen von Ameisen und Bibern herab und warteten auf seine Antwort. »Aber unsere künftigen Nachfahren können sich unsere Erinnerungen bestimmt beschaffen«, sagte er. »Die kommen irgendwie aus der Zukunft zurück und speichern einfach, was bereits passiert ist.«

»Jetzt redest du aber Unsinn. Ich steck dich noch in die Sci-Fi-Schublade. Würde nämlich jede Sekunde deines Lebens gespeichert, wäre das viel zu viel. Kein Mensch hätte die Zeit, sich einen Memorystick anzusehen, der alles enthält, was je passiert ist – du würdest dein Leben damit vergeuden, die Vergangenheit zu checken. Irgendwann gibst du auf und musst dich darauf verlassen, dass dein Hirn das Wichtigste behält. Und dann sind wir wieder genauso weit wie heute.« Sie verschwand in einen Gang und drückte sich an einigen Bücherkisten vorbei. Tooly hatte diesen merkwürdigen Schritt, kam zuerst mit den Zehen auf, federte mit den Ballen ab und landete dann butterweich auf der Hacke. Blieb sie stehen, spreizte sie die Füße, drückte den Rücken durch, hielt das Kinn gesenkt und musterte Fogg mit einem kühlen Blick, der sich erwärmte, sobald sie lächelte, wobei zuerst die Augen strahlten und die Lippen sich nur andeutungsweise öffneten. Tooly lief über die knarrenden Stufen zur Klause, setzte sich in den Schaukelstuhl und nahm das Taschenbuch über Anne Boleyn wieder auf.

»Ich frag mich«, sagte Fogg, der ihr bleistiftfuchtelnd gefolgt war, »ob man erst nach und nach lernt, Pferdefleisch zu mögen, oder ob das eine Frage genetischer Veranlagung ist.«

Sie lächelte und genoss diesen typisch Fogg’schen Themensprung.

»Auch wenn ich annehme«, fuhr Fogg fort, »dass die Franzosen erst während der Napoleonischen Kriege anfingen, ihre Stuten und Fohlen und was weiß ich was für Pferde zu futtern – damals, als sich die russische Armee auflöste und die Männer durch die Eiseskälte zurückmarschierten, ohne was Anständiges zu essen zu haben. Zum Schluss hatten sie bloß noch ihre Gäule, also wurden die zum Abendbrot serviert, was die Vorliebe der Franzosen für Pferdefleisch erklärt.«

»Damals haben die Franzosen auch angefangen, Frösche zu essen, weil einige Truppen kleinerer Soldaten auf den Amphibien in die Schlacht gehopst sind«, sagte sie. »Ach, was wäre das Leben doch schön, wären sie auf marmoriertem Rind zur russischen Front gelangt!«

»Leider kann man auf Kühen nicht reiten«, widersprach Fogg in ernstem Ton. »Völlig unmöglich. Dieser Junge aus meiner Schule, Alex, der hat es versucht, aber es geht einfach nicht. Und im Kampfgetümmel sind Kühe schon mal überhaupt nicht zu gebrauchen. Was man aber unbedingt über die Franzosen wissen sollte, ist Folgendes …«

Die Fogg’sche Tonkulisse beruhigte sie so sehr, dass sie keine Lust mehr hatte, noch mehr über die unglückselige Anne Boleyn zu lesen, denn wie deren Geschichte ausging, das wusste sie.

1999

Tooly fischte den Stadtplan aus ihrem Dufflecoat, klappte ihn wie ein Akkordeon auseinander und reduzierte ihn gleich wieder auf handhabbare Größe, indem sie die Insel Manhattan zu einem griffigem Quadrat zusammenfaltete, dann aufblickte und keinerlei Zusammenhang zwischen dem gedruckten Raster und der Betonstadt um sich herum fand. Pläne waren so flach, Orte so dreidimensional – wie brachte man die in Übereinstimmung? Vor allem hier, wo Kanalschächte ihr Maul aufrissen, Fußgängerampeln rot pulsierten und unterirdisch ratternde U-Bahnen die Bürgersteige erbeben ließen.

Sie lief die Fifth Avenue entlang, schob sich durch die Menge und streifte Fremde, deren Gesichter ihr einen Moment lang nahe kamen, um dann auf immer zu verschwinden. Beim Rockefeller Center sonderte sie sich ab und zog mit den Lippen die Kappe vom blauen Filzstift; der Wind eisig an den Zähnen. Sie zog die Handschuhe aus, ließ sie an der Ärmelschnur baumeln und krakelte noch eine Linie auf die Karte.

Tooly wollte ganz New York ablaufen, jede begehbare Straße in allen fünf Stadtteilen. Von ihrer Wohnung in der separatistischen Republik Brooklyn breiteten sich nach mehreren Wochen nun Linien wie blaue Adern in die abgespaltenen Nationen Manhattan, Queens und Bronx aus; allein deren mürrischer Nachbar Staten Island war unberührt geblieben. Anfangs hatte sie einzelne Viertel nur wegen ihrer schillernden Namen erkundet: den Essighügel Vinegar Hill und den Pflaumenstrand Plum Beach, die windige Landzunge Breezy Point und auch Utopia, die Landenge Throggs Neck und den speienden Teufel Spuyten Duyvil, Alphabet City und die Schildkrötenbucht Turtle Bay. Doch je verführerischer der Name, desto langweiliger die Gegend – das galt zwar nicht generell, doch die Tendenz war eindeutig. Einige Streifzüge hatten ihr Angst gemacht – Wege vorbei an verfallenen Gemäuern und Männern mit ausdruckslosem Blick. In Mott Haven flitzte ein Pitbull vor einem Laster auf die Straße, wurde überfahren und starb vor ihren Augen auf dem Gehweg.

Sie bog in die 51st Street ein – mit schlaffen amerikanischen Flaggen bespießte Gebäude, die von grellem Neonlicht bestrahlte Markise der Radio City Music Hall –, blieb stehen und ballte die Fäuste, bis sie warm wurden. Dann sprintete sie urplötzlich los, schlängelte sich an Büroangestellten vorbei, rannte um unübersichtliche Ecken und wäre fast mit einem Touristenpaar zusammengeprallt. Zwei Straßen weiter hielt sie atemlos wieder an und grinste, denn sie hütete ein Geheimnis: Es gab für sie nicht den geringsten Grund, irgendwohin zu laufen, keinen Ort, zu dem sie rennen musste, nicht in dieser Stadt und nicht auf der ganzen Welt. All die vielen Menschen eilten entschlossen an ihr vorüber. Stadtbewohner hatten Ziele, hatten Absichten, Familien, Verabredungen. Tooly hatte nichts dergleichen.

Sie nahm ihre Stadterkundung wieder auf, folgte der nordwestlichen Diagonale des Broadway, vorbei am Central Park und durch die Upper West Side, bis sie von Tischen mit antiquarischen Büchern abgelenkt wurde – verstaubte alte Bände, wie Humphrey sie so liebte. Sie sah sich die Preise an, konnte sich aber nichts leisten und warf dann einen Blick in die Nebenstraßen, zeichnete sie auf ihrem Plan ein und bewunderte die schicken Häuser. Aus Zabars Feinkostgeschäft drang der Geruch nach Käse, das Geklimper klassischer Musik. »Also gut, ich hätte gern ein Viertelpfund vom …«, sagte irgendwer. Was es für Tooly zu essen gab, war längst klar – in ihrer Manteltasche steckte ein zerdrücktes Sandwich mit Erdnussbutter, eingewickelt in Zeitungspapier, dessen Druckerschwärze sich auf dem weißen Brot abdrückte, so dass sie ihr Mittagessen auch lesen konnte.

Vereinzelte Studenten liefen vorbei, drangen aus Bereichen südlich der Columbia University in diese Gegend vor. Sie waren in ihrem Alter – um die zwanzig –, alberten herum und redeten laut. Tooly musterte einen, dann den nächsten, hoffte, angesprochen zu werden, aber sie gingen vorbei, blödelten, bis ihre Stimmen verklangen. Also machte Tooly sich wieder in Richtung Uptown auf den Weg, um herauszufinden, wo die Studenten herkamen. Oberhalb der 100th Street gab es jede Menge Pizzerien, die Pizzaschnitten zu herabgesetztem Preis an die College-Meute verkauften. Bettler hockten auf den Gehwegen und sahen übereifrigen Jungsemestern mit Pausbacken und pickliger Stirn nach, wie sie zu Examen eilten und über Anfangsgehälter fachsimpelten.

Tooly schlenderte durchs Eisentor auf den Campus der Columbia und folgte gemächlich dem roten Pflasterweg des College Walk, während Uni-Kids in allen Richtungen an ihr vorbeiströmten. Ob sie für eine von denen gehalten wurde? Für eine Doktorandin der Zoologie, eine Masterkandidatin der Kriminologie, eine Postgraduierte im Fach organische Chemie? – dabei hatte sie keinen Schimmer, was es mit solchen Studiengängen eigentlich auf sich hatte. Sie ließ sich übers Campusgelände treiben und bummelte zu einem einsamen Pfad mit Blick auf den Morningside Park, dessen öffentlicher Bereich eigentlich nur was für Leichtsinnige und Cracksüchtige war. Vögel zwitscherten in den Baumkronen, durch deren Laub man einen Streifen Harlemer Häuserdächer sehen konnte; dann und wann hupte ein Auto.

Ein Schwein watschelte die Steinstufen vom Park hinauf, trottete auf sie zu und rammte sie – kein Versehen, sondern eine gezielte Rempelei. Tooly lachte, erstaunt über diese Unverfrorenheit, und wich dem Tier aus. Es war schwarz und hatte einen übers Pflaster schleifenden Hängebauch, drahtiges Fell und eine Stupsnase, was ihm ein wenig Ähnlichkeit mit dem Mann mittleren Alters verlieh, der ihm folgte, in der Hand eine Leine, die zu dem am Hals des Schweins angebrachten Nietenband führte. Die beiden, Mann und Schwein, überquerten den Morningside Drive und bogen in die 115th Street ein. Tooly folgte ihnen.

Wenn sie Tiere sah, tat sie nichts lieber, als sich zu ihnen hinabzubeugen und sie zu streicheln. Sie hatte nie ein eigenes Haustier gehabt, woran ihr ungeregeltes Leben schuld war. Der Schweinehalter hielt vor einem sechsstöckigen Wohnhaus, zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, schnipste sie in die Gosse und wandte sich dem mit Gaslampen und schnörkeligem Schmiedeeisen verzierten Eingang zu. Das schnaubende Schwein lief zuerst ins Haus, dann der Mann. Tooly eilte ihnen nach und huschte hinein, ehe die Tür zufiel.

Die elegante Fassade verbarg schmutzige Marmorwände, trostlose Postkästen und einen Hohlspiegel am Fahrstuhl, der gewährleisten sollte, dass niemand mit einer Pistole in der Hand hinter der Ecke lauerte. Ein rotes Warnschild forderte: »NO MOVING ON SUNDAY«, und Tooly malte sich aus, wie die Hausbewohner sonntags nicht nur keinerlei Umzüge, sondern auch keine einzige Bewegung machten. Das Schwein musterte sie misstrauisch. Und als sein Herrchen die Wohnungstür erreichte, drehte der Mann sich um und herrschte sie an: »Wohnen Sie hier?«

»Hi«, antwortete sie. »Habe ich mal. Früher, vor ein paar Jahren. Wollte mich nur ein bisschen umsehen, wenn das okay ist. Ich störe auch bestimmt niemanden, versprochen.«

»Wo haben Sie gewohnt?«

»Vierter Stock. An die Nummer kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es war die Wohnung ganz am Ende des Flurs. In der bin ich aufgewachsen.«

Tooly nahm die Treppe; jedes Stockwerk war im Schachbrettmuster gefliest, an den Türen hing über dem Spion ein Messingschild mit der Wohnungsnummer. Im vierten Stock wählte sie eine Tür, blieb davor stehen und malte sich aus, wie es dahinter zuging. Das fand sie am schönsten, fast so, als würde sie ein noch verpacktes Geschenk schütteln und versuchen, den Inhalt zu erraten. Tooly klopfte, drückte auf die Klingel. Nichts.

Na gut – diese Wohnung würde also nicht zum lang vermissten Heim ihrer Kindheit werden. Dann eben eine andere. Sie suchte den Flur ab und bemerkte einen Schlüsselbund, der an einem zerkratzten Yale-Schloss hing, die Tür nur angelehnt. Für den Fall, dass der Bewohner noch in der Nähe war, rief Tooly leise Hallo. Keine Antwort.

Mit der Gummikappe ihrer Chucks stupste sie die Tür an, die bebend aufschwang und den Blick in einen langen Parkettkorridor freigab. Ein junger Mann lag auf dem Rücken, umringt von Einkaufstüten. Er starrte an die Decke, studierte blinzelnd die Flurdecke und ahnte nicht, dass Tooly in seiner Tür stand.

1988

Dein Schlafanzug ist auf links«, meinte Paul.

»Auf links von wo?«

»Zeit fürs Bett, Tooly.«

Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. »Ist doch erst Spatz nach Möwe.«

»Schläfst du in Socken?«

»Ich schlaf doch noch gar nicht.«

»Bevor man ins Bett geht, zieht man die Socken aus.«

»Warum?«

»Tja.« Er sann eine Weile darüber nach. »Gibt eigentlich keinen Grund – also lass sie an.«

»Ich habe eben nachgedacht.«

»Und?«

»Und ich hab mir Sorgen gemacht.«

»Sorgen?«

»Nicht richtig Sorgen

»Aber du hast was von Sorgen gesagt.«

»Ich musste daran denken, dass …« Sie wies auf die leere Vitrine, ging wie von ihrem Zeigefinger angezogen hin, drückte direkt über ihrer Augenhöhe mit der Fingerspitze auf die lackierte Oberfläche, zog den Finger zurück und musterte die leichenblasse Kuppe, in die langsam das Blut zurückströmte. Das machte sie noch mal, drückte fester zu und …

»Also worüber?«, unterbrach er sie.

»Was worüber?«

»Worüber hast du dir Sorgen gemacht?«

»Dass ich sterben muss und dass ich zehn werde.«

»Sterben? Warum solltest du sterben?«

»Muss ich doch, am Ende.«

»Aber noch lange nicht.«

»Und ich werde zehn.«

»Beides geht nicht, Tooly«, sagte er. »Na ja, geht schon, aber dazwischen ist eine lange Zeitspanne.«

Als nähme sie das mit der langen Zeitspanne sehr genau, blieb sie stumm, blies die Backen auf und stieß schließlich den Atem aus. »Wenn ich tot bin, dann bin ich eine Ewigkeit lang tot.«

»Wenn du tot bist, gibt es so was wie die Ewigkeit nicht. Wenn du tot bist, dann gibt’s überhaupt nichts mehr.«

»Und ewig passiert rein gar nichts?«

»Könnte man so sagen.«

»Ach, und dann habe ich mich noch was gefragt«, sagte sie und wirkte vom Gerede übers ewige Nichts kein bisschen beunruhigt, eher gut gelaunt, weil sie ihren Vater in ein Gespräch verwickelt und die Zubettgehzeit hinausgezögert hatte, diese nächtliche Reise in die Unendlichkeit. »Mr Mihelcic hat gesagt, wenn …«

»Wer ist Mr Mihelcic?«

»Mein Physiklehrer. Der, von dem ich gesagt habe, dass er wie ein Rhinozeros aussieht.«

»Ihm ins Gesicht?«

»Nein, nur dir. Dabei mag ich Rhinozerösser.«

»Rhinozerosse.«

Ihr Fehler ließ sie zusammenzucken. »Rhinozerosse dann eben.« Dann fuhr sie fort: »Mr Mihelcic hat gesagt, wenn man in ein Schwarzes Loch fällt, bleibt man drin und kommt nie wieder raus. Wie in Treibsand.«

»Stimmt, Schwarze Löcher sollte man meiden, Tooly. Genau wie Treibsand.«

Abermals drückte sie die Zeigefingerkuppe an der Vitrine weiß und sah zu, wie das Leben langsam zurückkehrte, um sie dann erneut blutleer zu pressen.

Er öffnete den Mund und wollte etwas dazu sagen, doch fiel sein Blick in seinen Schoß, auf das Softwarehandbuch, dem er daraufhin stirnrunzelnd wieder seine volle Aufmerksamkeit widmete.

Tooly drehte drei Runden um den Kaffeetisch und stieg dabei jedes Mal über seine Beine, ehe sie über den dunklen Flur in ihr Zimmer lief. Rhinos hatten gelbe Zähne, und Zoowärter mussten sie mit Besen putzen, auf die sie aus riesigen Tuben Zahnpasta drückten. Wie war es wohl im Maul eines Rhinos?

Nach nicht mal einem Jahr in Australien war dies nun ihre letzte Nacht. Toolys Zimmer war schon komplett ausgeräumt, staubige Ränder zeigten an, wo ihre Sachen gewesen waren. Sie zog den Koffer aus ihrem Zimmer und tat, als müsste sie sich den Schweiß abwischen, obwohl niemand da war. Dann nahm sie Anlauf und schlitterte über den polierten Dielenboden zurück ins Wohnzimmer.

»Du fängst dir noch einen Splitter ein.« Paul legte seine Arbeit hin und verschränkte umständlich die Arme. »Könntest du jetzt bitte endlich schlafen?«

Sie sackte zu einem Häuflein zusammen, als hätte er sie mit einem Fingerschnippen in Tiefschlaf versetzt. Die geschlossenen Augenlider zuckten.

»Ab ins Bett mit dir!«

Tooly schlurfte davon, stolperte im Flur über einen Kofferriemen, stieß sich das Schienbein am Türrahmen an, hechtete mit einem Satz ins Bett und rollte sich auf den Rücken. Dann langte sie unter die Bettdecke und fischte ihr Buch hervor, ließ aber die Nachttischlampe noch aus, weil sie Paul hörte, der vom Flur aus sagte: »Am nächsten Ort wird alles besser.«

1988

Das Ende

Tooly drückte sich die Nase am Flugzeugfenster platt; Atemwölkchen breiteten sich auf dem Glas aus und zogen sich wieder zusammen. Mit dem Handrücken wischte sie die beschlagene Scheibe frei und blickte hinab in die Nacht, so tief wie möglich, sah aber keine aufgewühlte See, auch keine bunten Landmassen wie auf den großen Wandkarten, nur Dunkelheit. Nach dem Start waren sie über Sydneys Opernhaus geflogen, über die Harbour Bridge und die endlose Leere des Outbacks, über die blinkenden Lichter von Bali und Sumatra. Jetzt aber war da unten nichts mehr, so als säße sie in keiner Flugmaschine, sondern in einer mit Sitzen ausstaffierten Metallröhre, deren Fenster man verhängt hatte, solange Bühnenarbeiter auf der anderen Seite Kulissen verschoben und neue Schauspieler nach vorn riefen, um erst danach den Vorhang wieder zu öffnen.

Ein orangefarbener Vorhang, der die Business-Class von der Economy-Class trennte, tanzte, Stewardessen schubsten ihn, von der exclusiven Seite aus, zurück in Position. Ein gläsernes Lachen übertönte das Brummen der Motoren. Die Tabletts mit dem Abendessen waren abgeräumt worden, die Bildschirme hochgeklappt, und das Kabinenpersonal hatte das Licht gedimmt. Die meisten Fluggäste schliefen, nur die Passagiere in einer der dreisitzigen Reihen – Tooly, Paul und am Gang eine unbekannte junge Frau – blieben hellwach. Die Frau zuckte bei jedem Motorengeräusch zusammen. Paul stierte unverwandt in sein abgegriffenes Buch ›The Charm of Birds‹, hatte aber seit zwanzig Minuten nicht mehr umgeblättert. Und Tooly ließ sich das lange, zerzauste Haar ins Gesicht fallen, blies alles bis auf eine Strähne fort, kaute auf ihr herum und behielt die Frau unablässig im Blick.

Sie war nicht der einzige Spion: Ein wölfisch grinsender Mann auf der anderen Gangseite ließ die hübsche junge Frau ebenfalls keinen Moment aus den Augen. Als er sich eine Zigarette ansteckte, weckte das Röstaroma ihre Aufmerksamkeit, und er bot der jungen Frau eine an, ließ sein Zippo-Feuerzeug aufschnappen und hielt ihr die Flamme hin.

Wegen seines Asthmas verlangte Paul normalerweise Sitze in möglichst großem Abstand zum Raucherabteil, aber ihr Flug war überbucht gewesen, und nur in dieser Reihe hatte es noch zwei freie Plätze nebeneinander gegeben. Als der Rauch heranwölkte, drehte Paul sich zur Seite. Tooly suchte in der Rücksitztasche nach seinen Halsbonbons. Verzweifelt, mit gespitzten Lippen und hohlen Wangen lutschte er eines davon.

»Warum«, fragte Tooly, um ihn abzulenken, blickte zum schwarzen Fenster und sah sie beide darin gespiegelt, »warum hört der Blick am Horizont einfach auf? Warum kann man nicht weiter sehen?«

»Weil die Welt rund ist.«

»Und warum sieht sie dann am Rand nicht krumm aus?«

Er wusste darauf keine Antwort, runzelte die Stirn und schnäuzte sich die Nase in eines der vielen Taschentücher, die er in der Hand zerknüllte.

Paul war eine rotrandige Brille mit einem Mann dahinter, der die Arme an den Leib presste, als wollte er auf diesem Planeten so wenig Platz wie nur möglich einnehmen. Zu lange hatte er wie ein Jugendlicher ausgesehen, fast bis Anfang dreißig, worunter sein Selbstvertrauen gelitten hatte. Als junger Mann hatte er sich Runzeln gewünscht und vorm Spiegel ständig Grimassen gezogen. Jahre später waren die Falten dann aufgetaucht, wenn auch ohne den gewünschten Effekt: Sogar beim Schlafen grub sich ihm eine Furche in die Stirn, und um die Brauen bildeten sich Krähenfüße, als hielten sie beunruhigende Gedanken in Klammern. Er war noch keine vierzig, doch sein Haar war bereits weiß.

»Das Blaue überm Horizont«, fuhr Tooly fort, »ist das das Weltall?«

»Das Blaue ist der Himmel«, antwortete er. »Das Blaue ist die Atmosphäre.«

»Und was kommt nach der Atmosphäre?«

»Das Weltall.«

»Was passiert, wenn ein Vogel ins Weltall fliegt?«

»Das geht nicht.«

»Wenn aber doch?«

»Das geht nicht.«

»Wenn es aber doch einer ausnahmsweise schafft?«

Die junge Frau in ihrer Reihe wandte sich vom Wolf auf der anderen Gangseite ab, drückte ihre Zigarette aus und stopfte den lippenstiftverschmierten Filter in den Aschenbecher der Armlehne, die sie sich mit Paul teilte. Er hielt ihr liebenswürdigerweise die Dropsrolle hin. Mit Dank nahm sie ein Bonbon an. Vermutlich hielt sie das Geschenk für einen Flirtversuch, dabei war es nur Teil des von Tooly ausgeheckten Plans, sie von der nächsten Zigarette abzulenken. Ihr Plan scheiterte, denn die junge Frau ließ sich vom Wolf Feuer für eine zweite Zigarette geben, spielte dann nervös mit einer Polaroid und fragte Paul schließlich, ob Fliegen immer so sei.

Er beugte sich zu ihr vor, als wäre er ein wenig taub, warf ein »Hm« oder »Okay« ein, um Aufmerksamkeit zu signalisieren, unterbrach sie aber nur und erweckte so den unzutreffenden Eindruck, das Wort ergreifen zu wollen. Als sie ihm folglich den Vorrang einräumte, reagierte er mit Entsetzen, nahm die Brille ab, kniff die Augen zusammen und suchte angestrengt nach einer Antwort. Tooly wischte mit bloßen Fingern seinen Daumenabdruck von der Brille. Er setzte sie mit vorgekippten Gläsern wieder auf, weshalb er den Kopf nach hinten neigte, was ihn aussehen ließ, als blickte er mit Entsetzen auf diese Welt. »Wie«, schniefte er, »lautete noch mal die Frage?«

»Darf ich ein Foto von Ihnen beiden machen?« Sie erhob sich und richtete die Polaroid auf Vater und Tochter, was Paul nicht zu gefallen schien. Sobald die Kamera das Bild ausgab, wedelte die junge Frau damit herum, bis die Aufnahme sichtbar wurde; dann hielt sie ihnen das Foto hin. Paul nahm es an, dankte für das Geschenk, das nicht als solches gedacht gewesen war, und legte es in sein Buch.

Um diese peinliche Szene nicht mitansehen zu müssen, ließ Tooly wieder ihr Haar nach vorne fallen, langte in die Sitztasche und zog Buch und Malblock heraus. Jede Zeichnung begann mit einem Schnörkel, der einer Nase ähneln sollte, und da ihr Können zu keinen weiteren Gesichtspartien reichte, reihten sich seitenweise Nasen aneinander. Vielleicht sollte sie noch ein paar mehr malen, überlegte sie, entschied sich dann aber fürs Lesen und schlug ›Nicholas Nickleby‹ auf, eines jener vielen Bücher, die Paul auf ihrer niemals endenden Reise gekauft hatte. Er selbst mochte keine Romane, versorgte Tooly aber damit, sooft sie auf einem Flughafen englischsprachige Bücher entdeckten. Er kaufte wahllos, und so las sie auch: ›Die Schatzinsel‹ von Robert Louis Stevenson; ›Cujo‹ von Stephen King; ›Lady Manhattan‹ von Judith Krantz; ›Der Mondstein‹ von Wilkie Collins; ›Angst vorm Fliegen‹ von Erica Jong; ›Wolfsblut‹ von Jack London; ›Shōgun‹ von James Clavell; außerdem jede Menge Bücher von Charles Dickens, darunter eben auch diesen Band, welcher die Geschichte eines rechtschaffenen Engländers des neunzehnten Jahrhunderts erzählt, der an einer schauderhaften Schule für verstoßene Kinder unterrichtet. Tooly hatte den Roman schon gelesen, aber wie bei all ihren Lieblingsbüchern noch vor dem Ende aufgehört. Sie fand es deprimierend, erfahren zu müssen, wie ihre papiernen Gefährten das Leben mit einer Leerstelle am Ende der letzten Seite aushauchten, also hörte sie früher auf, um sich ihnen Monate später wieder zuzuwenden, einige hundert Seiten zurückzublättern und sie erneut so anzutreffen, wie sie sie in Erinnerung behalten hatte, in Gespräche versunken und immer noch dabei, heimtückische Pläne zu schmieden oder zu scharfen Erwiderungen anzusetzen.

Sie glitt von ihrem Sitz und kauerte sich am Boden zusammen. Durch Haarsträhnen hindurch betrachtete sie ihre Umgebung von unten: Teppich, schmierige Sitzgestelle, Handgepäck und abgestreifte Schuhe. Eine hinter ihr sitzende alte Inderin, der es vorhin noch schwergefallen war, das Tablett herunterzuklappen, weshalb sie an Toolys Sitz geruckelt hatte, streckte nun ihre nackten Füße aus. An zwei Zehen steckten Ringe, und Tooly griff unwillkürlich danach. Der Zeh zuckte, wich unwillig beiseite und schlief dann auf einer zerknitterten Zeitung weiter, deren Schlagzeile von einem Treffen zwischen Reagan und Gorbatschow berichtete; daneben prangte ein Foto von Affen in Südkorea, die mit einem Stock Kokosnüsse abschlugen. Darunter stand, sie »arbeiten so viel wie hundert Männer«.

»Was treibst du da unten?«

Sie blickte auf, die Augen trocken vor Müdigkeit. »Was?«

»Ich gehe mal auf die Toilette«, sagte Paul. »Bleib, wo du bist.«

Tooly gehorchte gerade so lange, wie seine Knie brauchten, um sich in den Gang hinauszuentschuldigen. Kaum war Paul weg, musterte sie ausgiebig die Frau in ihrer Reihe: blond, das Haar zu einem Springbrunnen zusammengebunden, verwaschene Jeans mit Reißverschluss am Knöchel. Die Mysterien einer Frau – diese Raffinesse, diese Modeaccessoires – faszinierten Tooly. Abgesehen von Lehrerinnen, Haushaltsgehilfinnen und den Müttern anderer Kinder hatte sie bislang nur wenig mit erwachsenen Frauen zu tun gehabt. Die Geschichte ihrer eigenen Mutter – zumindest jene, die sie allen Außenstehenden erzählten – lautete, sie halte sich in den Staaten auf, um einige persönliche Angelegenheiten zu regeln, würde aber bald wieder zu ihnen stoßen. Bislang hatte sie sich jedoch nicht blicken lassen. Ein weiteres Jahr verging, Tooly und Paul zogen wieder um, und sie erzählten die Geschichte aufs Neue.

»Ein Vogel!«, flunkerte Tooly, um die Aufmerksamkeit der Frau aufs Fenster zu lenken. »Sehen Sie? Er fliegt neben uns her.«

Die Frau beugte sich vor und schirmte die Augen ab, sah aber nur schwarze Dunkelheit.

»Muss ganz schön kalt da draußen sein«, fuhr Tooly fort, ein wenig leiser nun, da die Frau direkt neben ihr war.

Die Frau streifte ein rosafarbenes Gummi vom Handgelenk ab und raffte Toolys zerzaustes Haar so zusammen, wie sie es trug. »Frieren die Vögel denn nicht?«

»Deshalb haben sie ja Trenchcoats an.«

Die Frau lächelte. »Aber schlagen die Flügel nicht gegen die herabhängenden Gürtelenden?«

»Die werden hochgebunden.«

»Aber was, wenn sie in solcher Höhe fliegen und plötzlich müde werden?«

»Bestimmt lassen sie sich dann nach unten gleiten. Paul würde das wissen.«

»Du nennst ihn beim Vornamen?«, fragte die Frau amüsiert, doch dann änderte sich ihre Miene. »Oder warte – ist er gar nicht dein Dad?«

Ein leises Schniefen kündigte Pauls Rückkehr an. Er setzte sich wieder auf den mittleren Platz und kommentierte Toolys Frisur mit einem Stirnrunzeln. Modefragen belustigten ihn. Soweit es ihn betraf, hatte Kleidung den Zweck, eine angenehme Körpertemperatur zu halten und ihren Träger nicht in Verlegenheit zu bringen. Gelang dies über einen angemessenen Zeitraum hinweg – sagen wir zwanzig Jahre – und zudem zum günstigsten Preis, war sie gut. Er selbst zog sich jeden Tag gleich an, ein in die Khakihose gestopftes Polohemd, dazu schwarze Schuhe mit Klettverschluss. »Jetzt sieht dein Kopf wie eine Ananas aus«, erklärte er Tooly. Die Frau auf dem Gangplatz errötete, wandte sich von ihnen ab und ignorierte sie für den Rest des Fluges.

Erst als das Flugzeug zur Landung ansetzte, schloss Tooly die Augen und hoffte auf drei weitere Minuten, aber die Zeit war um. Mit Taschen beladene Passagiere drängten sich auf die Gänge, spähten mit zusammengekniffenen Augen zum Kopf der Warteschlange und stöhnten angesichts jeder weiteren Verzögerung. Als sie dann endlich die Maschine verließen, traten sie mit einem Schritt aus der kühlen Kabine in drückend heiße Tropentemperaturen.

»Ist ein bisschen schwül«, keuchte Paul.

»Einreiseformulare«, sagt der laut denkende Paul und schnappte sich zwei, als sie in der Warteschlange vor der Passkontrolle standen. »Wann bist du geboren?«

»Das weiß ich«, gab er zu, füllte das Feld aus und schaute sich um. Beim leisesten Geräusch schrak er zusammen – war er mit Tooly in der Öffentlichkeit, wirkte er immer äußerst gereizt. An einem seiner Schuhe hatte sich der Klettverschluss gelöst, also kniete sie sich hin, um ihn wieder festzumachen. »Was tust du da?«, fragte er verärgert. »Wir sind fast dran.«

Der Beamte warf einen Blick auf das Mädchen, dann auf Paul – und knallte einige Stempel in ihre Pässe, um sie anschließend durchzuwinken. Paul trieb Tooly zur Eile an, warf beim Verlassen des Terminals prüfende Blicke nach rechts und nach links und stieß sie mit den Fingerknöcheln vorwärts, als fürchtete er, man könnte sie wieder zurückschleifen.

»Wer ist Johnnie Walker?«

»Schmeckt das?«

»Wie ist es, betrunken zu sein?«

»Klingt gut.«

Der Expressway lief in vielspurige, bis zum Horizont zugestaute Stadtstraßen aus. Und auf den Gehwegen wurden Imbissstände umschwärmt. Köche schwenkten eiserne Pfannen, Nudeln zischten, Generatorlampen beleuchteten einen Nachtmarkt, auf dem man Uhren verkaufte, Videokassetten oder Vietnamkriegsramsch. Neonreklame warb für Go-go-Tänzer und Pingpong-Shows; eine flackernde Phantasmagorie, an der an kichernden Girls hängende Ausländer vorüberwankten.

»Guten Morgen, Tooly«, sagte er und gab ihr wie jeden Morgen die Hand. Dieses tägliche Händeschütteln war die einzige Gelegenheit, bei der er sie berührte. Ansonsten vermied er es, sie anzufassen; selbst wenn er ihr den Salzstreuer reichte, rückte er ihn nur in ihre Nähe, statt ihn ihr zu geben.

»In deinem neuen Zimmer. Unserer neuen Wohnung.«

Er zog die Vorhänge ganz auf und gab den Blick frei auf deckenhohe Fenster und die Stadt dahinter. »In Bangkok.«