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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Prolog: Selene
Datenbank: Der Asteroidengürtel
DREI JAHRE SPÄTER
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Dossier: Oscar Jiminez
Kapitel 4
ZWEI JAHRE SPÄTER
Kapitel 5
Kapitel 6
EINEN MONAT SPÄTER
Die Lady of the Lake
Kapitel 7
Kapitel 8
Dossier: Joyce Takamine
Kapitel 9
Der Pub
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
DREI WOCHEN SPÄTER
Kapitel 15
Dossier: Oscar Jiminez
Kapitel 16
Kapitel 17
Waltzing Matilda
Kapitel 18
Waltzing Matilda
Kapitel 19
Waltzing Matilda
Kapitel 20
Waltzing Matilda
Kapitel 21
Waltzing Matilda
Kapitel 22
Kapitel 23
Waltzing Matilda
Kapitel 24
Dossier: Joyce Takamine
Kapitel 25
Kapitel 26
Waltzing Matilda
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Dossier: Joyce Takamine
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
VIERZEHN MONATE SPÄTER
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Dossier: Joyce Takamine
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Epilog
Copyright

DER AUTOR

Ben Bova, 1932 in Philadelphia geboren, ist einer der bekanntesten Science-Fiction-Autoren unserer Zeit. Insbesondere mit den Romanen aus der so genannten Sonnensystem-Reihe »Mars«, »Venus«, »Jupiter« und zuletzt »Saturn« ist er außerordentlich erfolgreich. Bova lebt und arbeitet in Florida.

Epilog

Dorik Harbin wälzte sich stöhnend im drogeninduzierten Schlaf, während er im Fusionsschiff wieder in den Gürtel flog. Humphries’ Psychologen hatten ihr Bestes bei ihm versucht, doch in seinen Träumen wurde er noch immer vom Bild der zu seinen Füßen sterbenden Diane gequält. Die Drogen vermochten die Erinnerung nicht zu löschen; eher wurde sie noch verstärkt und verfälscht: Manchmal war es Harbins Mutter, die an ihrem eigenen Blut erstickte, während er hilflos zuschaute.

Und nach dem Aufwachen verfolgte die Vision ihres Todes ihn noch immer. Er hörte ihr letztes gurgelndes Stöhnen, sah die kreatürliche Angst in ihren Augen. Sie hatte den Tod verdient, sagte er sich, als er aus dem dicken Quarzbullauge des Raumschiffs in die sternenübersäte Leere hinter der Hülle des Schiffs schaute. Sie hat mich belogen, sie hat mich benutzt, sie hat mich verlacht. Sie hatte den Tod verdient.

Ja, sagte die Stimme in seinem Kopf, die er einfach nicht zum Schweigen bringen konnte. Jeder hat den Tod verdient. Einschließlich dir.

Er schnitt eine Grimasse und erinnerte sich an Khayyam:

Ein Augenblick in der Wüste des Nichts,

Ein Augenblick, um von der Quelle des Lebens zu kosten –

Die Sterne ziehen, und die Karawane bricht auf

Zur Dämmrung des Nichts – oh, beeile dich!

Tief im Asteroidengürtel saß Lars Fuchs unbehaglich auf dem Kommandantensitz der Nautilus und starrte in die öde Leere.

Dieses Schiff ist nun meine ganze Welt, sagte er sich. Dieses Schiff und die sechs Menschen, die seine Besatzung bilden. Amanda ist fort; für mich ist sie gestorben. Alle meine Freunde, mein ganzes Leben, die Frau, die ich liebe – alle verschwunden und tot.

Er fühlte sich wie Adam, nachdem er aus dem Garten Eden vertrieben worden war und von einem Engel mit flammendem Schwert an der Rückkehr gehindert wurde. Für mich gibt es keine Rückkehr. Niemals. Ich werde den Rest meiner Tage hier draußen in dieser Einöde verbringen. Wofür lohnt es sich dann überhaupt noch zu leben?

In seinem Kopf wurde auch gleich die Antwort formuliert. Martin Humphries hat alles, wofür ich gearbeitet habe. Er besitzt meine Frau. Er hat mich ins Exil geschickt. Aber ich werde es ihm heimzahlen. Egal, wie lange es dauert; egal, wie mächtig er ist. Ich werde mich rächen.

Aber nicht wie Adam. Nicht wie dieser Schwächling. Nein, sagte er sich. Wie Samson. Verraten, geblendet, in Ketten gelegt und versklavt. Ohne Augenlicht in Gaza. Und doch hat er obsiegt. Sogar um den Preis seines Lebens hat er Rache geübt. Und die Rache wird auch mein sein.

Kapitel 1

»Ich sagte, dass es einfach wäre«, wiederholte Lars Fuchs. »Ich sagte aber nicht, dass es leicht wäre.«

George Ambrose – Big George für jeden, der ihn kannte – kratzte sich abwesend am dichten roten Bart und schaute nachdenklich aus dem Fenster der Brücke der Starpower 1 auf den dunklen Körper des Asteroiden Ceres, der vor ihnen dräute.

»Ich bin nicht mit hier rausgeflogen, um irgendwelche Spielchen zu spielen, Lars«, sagte er. Seine Stimme war erstaunlich hoch und melodisch für ein solches Urviech von einem Mann.

Für einen langen Moment war das einzige Geräusch im Abteil das ewige Summen der elektrischen Ausrüstung. Dann stieß Fuchs sich zwischen den beiden Pilotensitzen ab und driftete auf George zu. Er bremste sich mit der Hand an der Metalldecke ab und sagte mit einem eindringlichen Flüstern: »Wir können es schaffen. Mit genügend Zeit und den entsprechenden Ressourcen.«

»Das ist der totale Wahnsinn«, murmelte George. Doch er schaute unverwandt auf die geröllübersäte, pockennarbige Oberfläche des Asteroiden.

Sie waren schon ein seltsames Paar: Der große, massige Australier mit der zottigen feuerroten Mähne und dem Bart, der in der Schwerelosigkeit neben dem dunklen, korpulenten Fuchs mit der intensiven Ausstrahlung schwebte.

Drei Jahre im Gürtel hatten Fuchs irgendwie verändert: Er hatte noch immer die gleiche massive Statur, doch das kastanienbraune Haar hatte er so lang wachsen lassen, dass es ihm fast auf den Kragen fiel, und der Ohrring, den er nun trug, war ein polierter Chip aus Asteroidenkupfer. Ein dünnes kupfernes Armband zierte sein linkes Handgelenk. Und doch wirkten die beiden Männer auf ihre Art kraftvoll, entschlossen und sogar gefährlich.

»Im Innern von Ceres zu leben ist schlecht für unsere Gesundheit«, sagte Fuchs.

»Das Gestein bietet aber einen guten Strahlenschutz«, erwiderte George.

»Ich meine die Mikrogravitation«, sagte Fuchs ernst. »Sie ist nicht gut für uns – in körperlicher Hinsicht.«

»Ich mag sie aber.«

»Aber die Knochen werden spröde. Dr. Cardenas sagt, dass die Anzahl der Knochenbrüche stark ansteigt. Du hast es doch selbst gesehen, nicht wahr?«

»Vielleicht«, gestand George widerwillig. Dann grinste er. »Aber der Sex ist phantastisch!«

Fuchs schaute ihn düster an. »Versuch doch mal, ernst zu bleiben, George.«

»In Ordnung, ich weiß, dass du Recht hast«, sagte George, ohne die Augen von Ceres zerschlagenem Antlitz zu wenden. »Aber ein verdammtes O’Neill-Habitat bauen?«

»Es muss gar nicht so groß sein wie die L-5 Habitate um die Erde. Nur so groß, um die paar Hundert Leute hier in Ceres unterzubringen. Fürs Erste.«

Georges schüttelte den zottigen Kopf. »Weißt du überhaupt, was für ein Riesenaufwand das wäre? Allein die Lebenserhaltungsausrüstung würde schon ein Vermögen kosten. Und das wäre erst der Anfang.«

»Aber nein. Das ist gerade der Witz bei meinem Plan«, sagte Fuchs mit einem nervösen Lachen. »Wir kaufen einfach Raumschiffe und montieren sie zusammen. Sie werden das Habitat. Die ganze Lebenserhaltungsausrüstung und den Strahlenschutz haben sie schon eingebaut. Die Triebwerke brauchen wir aber nicht, sodass der Preis viel niedriger sein wird, als du glaubst.«

»Und dann willst du den ganzen Schrott auf ein Ge beschleunigen?«

»Auf Mondschwerkraft«, antwortete Fuchs. »Ein Sechstel Ge reicht völlig aus. Dr. Cardenas sieht das genauso.«

George kratzte sich an seinem dichten, struppigen Bart. »Ich aber nicht, Lars. Wir werden doch im Innern des Felsens leben. Wozu dann der ganze Aufwand und die enormen Kosten?«

»Weil es sein muss!«, insistierte Fuchs. »Das Leben in der Mikrogravitation schadet der Gesundheit. Wir müssen ein besseres Habitat für uns bauen.«

George schien nach wie vor nicht überzeugt, aber er murmelte: »Mondgravitation, sagst du?«

»Ein Sechstel der normalen Erdschwerkraft. Nicht mehr.«

»Und wie viel wird das kosten?«

»Die vorläufigen Schätzungen belaufen sich auf …« Fuchs zögerte, holte Luft und sagte: »Wir werden es schaffen, wenn alle Prospektoren und Bergleute zehn Prozent ihres Einkommens abtreten.«

George grunzte. »Den Zehnten oder was?«

»Zehn Prozent sind nicht viel.«

»Viele Felsenratten erzielen in manchen Jahren überhaupt kein Einkommen.«

»Ich weiß«, sagte Fuchs. »Das habe ich bei der Kalkulation schon berücksichtigt. Natürlich werden wir das Raumschiff in einem Leasingvertrag mit zwanzig oder dreißig Jahren Laufzeit abzahlen müssen. Wie die Hypothek auf ein Haus auf der Erde.«

»Dann verlangst du also von jedem hier in Ceres, sich auf zwanzig Jahre zu verschulden?«

»Vielleicht können wir es auch schon früher abzahlen. Mit ein paar großen Funden könnte das ganze Projekt sich bald selbst finanzieren.«

»Ja, sicher.«

»Willst du mitmachen?«, fragte Fuchs in gespannter Erwartung. »Wenn du zustimmst, werden die meisten anderen Prospektoren auch mitmachen.«

»Wieso nimmst du nicht einen der Konzerne mit ins Boot?«, fragte George. »Astro oder Humphries …« Er verstummte, als er den Ausdruck in Fuchs’ Gesicht sah.

»Nicht Humphries«, knurrte Fuchs. »Weder ihn noch seine Firma. Kommt gar nicht in die Tüte.«

»In Ordnung. Also Astro

Fuchs’ grimmiger Blick verwandelte sich in ein besorgtes Stirnrunzeln. »Ich habe schon mit Pancho darüber gesprochen. Der Astro-Vorstand wird dem nicht zustimmen. Sie werden uns zwar ausgemusterte Raumschiffe verkaufen, aber sie werden sich nicht am Bau des Habitats beteiligen. Das erscheint ihnen nicht profitabel genug.«

»Es interessiert sie nicht, ob wir uns die Knochen brechen«, grunzte George.

»Aber dich interessiert es«, sagte Fuchs nachdrücklich. »Es ist unser Problem, George; wir müssen es lösen. Und wir schaffen es auch, wenn du uns hilfst.«

Big George fuhr sich mit seiner fleischigen Hand durch den roten Haarschopf und sagte: »Du wirst ein Technikteam benötigen, um die Integrationsarbeit zu erledigen. Es gehört mehr dazu, dieses Habitat zusammenzubauen als ein paar Blechbüchsen zusammenzulöten, weißt du. Du wirst ein paar Spezialisten brauchen.«

»Das ist schon in der Kalkulation enthalten«, erwiderte Fuchs.

George stieß einen tiefen Seufzer aus. »In Ordnung, Lars, ich bin dabei. Wenn wir schon eine Basis draußen im Gürtel haben, dann sollte sie wenigstens eine anständige Schwerkraft haben.«

Fuchs lächelte. »Dem Sex kannst du immer noch an Bord deines eigenen Schiffes frönen.«

George erwiderte das Grinsen. »Darauf kannst du einen lassen, Kumpel.«

Fuchs ging mit George zur Hauptluftschleuse des Schiffs und half ihm, in seinen Hartschalenanzug zu steigen.

»Auf Selene werden derzeit Leichtraumanzüge getestet, musst du wissen«, sagte er, als er in den starren Torso schlüpfte und die Arme durch die steifen Ärmel schob. »Sie sind flexibel und leicht anzuziehen.«

»Und der Strahlenschutz?«, fragte Fuchs.

»Der Anzug wird von Magnetfeldern umgeben. Man sagt, er sei besser als dieses Ding.« Er klopfte mit den Knöcheln gegen den Cermet-Panzer des Anzugs.

Fuchs stieß ein leises abfälliges Schnauben aus. »Diese Anzüge müssten erst jahrelang getestet werden, ehe ich mir einen kaufen würde.«

»Das gilt auch für mich«, sagte George, während er die Hände in die Handschuhe schob.

»Danke für dein Einverständnis, George«, sagte Fuchs und reichte ihm den Kugelhelm. »Das bedeutet mir viel.«

George nickte feierlich. »Ich weiß. Ihr beiden wollt Kinder haben.«

Fuchs’ Wangen röteten sich. »Das ist es nicht!«

»Wirklich nicht?«

»Zumindest nicht nur.« Fuchs wandte für einen Moment den Blick von George ab und sagte dann langsam: »Ja, ich mache mir Sorgen wegen Amanda. Ich hätte nie geglaubt, dass sie hier draußen bei mir bleiben will. Und ich hätte auch nicht geglaubt, dass ich so lang hier draußen sein würde.«

»Man kann hier im Gürtel viel Geld verdienen. Richtig viel Geld.«

»Ja, das stimmt schon. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen wegen ihr. Ich will, dass sie an einem sichereren Ort mit einer ausreichend hohen Schwerkraft ist, um einen körperlichen Abbau zu verhindern.«

»Und der ausreichend strahlengeschützt ist, um eine Familie zu gründen«, sagte George grinsend. Dann setzte er den Helm auf, bevor Fuchs noch etwas zu sagen vermochte.

Kapitel 2

Nachdem George den Luftschleusenzyklus der Starpower 1 durchlaufen hatte und zu seinem eigenen Schiff, der Waltzing Matilda zurückgeflogen war, ging Fuchs durch den schmalen Mittelgang des Schiffs zum Abteil, wo seine Frau arbeitete.

Sie schaute vom Wandbildschirm auf, als Fuchs die Tür zum Abteil aufschob. Er sah, dass sie eine Modenschau verfolgte, die von irgendwo auf der Erde übertragen wurde: schlanke, geradezu dürre Models in bunten Kleidern in gewagten Designs. Fuchs runzelte die Stirn; die halbe Weltbevölkerung hatte durch Überschwemmungen und Erdbeben ihre Heimat verloren, fast überall herrschte Hungersnot, und noch immer spielten die Reichen ihre Spielchen.

»Ist George schon gegangen?«, fragte Amanda und schaltete den Wandbildschirm aus.

»Ja. Und er war einverstanden!«

Ihr Lächeln war sehr verhalten. »Wirklich? Du hast nicht allzu lang gebraucht, um ihn zu überzeugen, nicht wahr?«

Sie sprach noch immer mit einem Anflug des Oxford-Akzents, den sie sich vor Jahren in London zugezogen hatte. Sie trug ein zu großes ausgebleichtes Sweatshirt und eine gekürzte Arbeitshose. Das goldblonde Haar hatte sie hochgesteckt; die Frisur wirkte etwas derangiert. Sie war nicht geschminkt und dennoch viel schöner als jedes dieser abgemagerten Mannequins der Modenschau. Fuchs zog sie an sich und küsste sie zärtlich.

»In zwei Jahren, vielleicht schon früher, werden wir eine vernünftige Basis mit Mondschwerkraft im Orbit um Ceres haben.«

Amanda schaute ihrem Mann in die Augen, als ob sie etwas suchte. »Kris Cardenas wird sich freuen, das zu hören«, sagte sie.

»Ja, Dr. Cardenas wird sehr erfreut sein«, pflichtete Fuchs ihr bei. »Wir sollten es ihr sagen, sobald wir angekommen sind.«

»Natürlich.«

»Aber du bist noch nicht einmal angezogen!«

»Ich brauche nur eine Minute«, sagte Amanda. »Wir gehen schließlich nicht auf einen königlichen Empfang. Nicht einmal auf eine Party in Selene«, fügte sie hinzu.

Fuchs wurde sich bewusst, dass Amanda doch nicht so glücklich war, wie er vermutet hatte. »Was ist denn los? Stimmt etwas nicht?«

»Nein«, sagt sie allzu schnell. »Eigentlich nicht.«

»Amanda, mein Liebling. Ich weiß doch, wenn du ›eigentlich nicht‹ sagst, meinst du in Wirklichkeit ›ja‹.«

Nun lächelte sie. »Du kennst mich zu gut.«

»Nein, nicht zu gut. Nur gut genug.« Er küsste sie wieder, diesmal aber ganz sachte. »Also, was ist los? Bitte sag es mir.«

»Ich glaubte, wir wären um diese Zeit schon wieder zu Hause, Lars«, sagte Amanda leise und legte den Kopf an seine Schulter.

»Zu Hause?«

»Auf der Erde. Oder wenigstens auf Selene. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass wir drei Jahre lang im Gürtel bleiben würden.«

Plötzlich nahm Fuchs die verkratzten und verschrammten Metallwände des winzigen Abteils bewusst wahr, den schmalen Durchgang des Schiffs und die anderen beengten Abteile, roch die stickige Luft mit der stechenden Ozonnote, spürte die Hintergrundvibrationen, die das Schiff erschütterten und hörte das Rattern der Pumpen und das Surren der Lüfter. Und er hörte seine eigene Stimme, die blöde fragte:

»Du bist hier nicht glücklich?«

»Lars, ich bin glücklich mit dir. Wo auch immer du bist. Das weißt du. Aber …«

»Aber du wärst lieber wieder auf der Erde. Oder in Selene.«

»Das ist jedenfalls besser, als die ganze Zeit in einem Schiff zu hausen.«

»Er ist immer noch in Selene.«

Sie löste sich etwas von ihm und schaute ihm in die Augen. »Du meinst Martin?«

»Humphries«, sagte Fuchs. »Wen denn sonst?«

»Er hat nichts damit zu tun.«

»Wirklich nicht?«

Nun wirkte sie ernsthaft besorgt. »Lars, du glaubst doch nicht, dass Humphries mir irgendetwas bedeutet?«

Er spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Ein Blick in Amandas unschuldige blaue Augen und auf ihre frauliche Figur, und jeder Mann würde sie haben wollen.

»Ich weiß, dass Martin Humphries scharf auf dich ist«, sagte er mit kalter Ruhe. »Ich glaube, dass du mich nur geheiratet hast, um vor ihm zu fliehen. Ich glaube …«

»Lars, das ist nicht wahr!«

»Wirklich nicht?«

»Ich liebe dich! Um Gottes willen, weißt du das denn nicht? Spürst du es denn nicht?«

Das Eis taute. Er wurde sich bewusst, dass er die schönste Frau in den Armen hielt, die er je gesehen hatte. Dass sie in diese desolate Leere an der Grenze der menschlichen Zivilisation gekommen war, um bei ihm zu sein, ihm zu helfen, ihn zu lieben.

»Es tut mir Leid«, murmelte er beschämt. »Es ist nur so, dass … ich dich so sehr liebe …«

»Und ich liebe dich, Lars. Das ist mein Ernst.«

»Ich weiß.«

»Weißt du das wirklich?«

Er schüttelte zerknirscht den Kopf. »Manchmal frage ich mich, wieso du dich überhaupt mit mir eingelassen hast.«

Sie lächelte und fuhr ihm mit der Fingerspitze über sein spitzes, stoppeliges Kinn. »Wieso nicht? Du hast dich doch auch mit mir eingelassen, nicht wahr?«

»Ich glaubte auch, dass wir um diese Zeit längst wieder auf der Erde wären«, gestand er mit einem Seufzer. »Ich glaubte, dass wir längst reich wären.«

»Aber das sind wir doch. Oder?«

»Auf dem Papier vielleicht. Wir sind besser dran als die meisten anderen Prospektoren. Zumindest gehört uns dieses Schiff …«

Ihm versagte die Stimme. Sie wussten beide warum. Sie besaßen die Starpower, weil Martin Humphries sie ihnen geschenkt hatte.

»Aber die Bilanz stimmt nicht«, sagte Amanda im Versuch, das Thema zu wechseln. »Ich bin sie einmal durchgegangen. Es will uns einfach nicht gelingen, aus den roten Zahlen herauszukommen.«

Fuchs stieß ein Geräusch aus, das irgendwo zwischen einem Grunzen und einem Schnauben lag. »Wenn du unsere Schulden saldierst, sind wir sicher Multimillionäre.«

Sie beide wussten, dass es ein klassisches Problem war.

Ein Prospektor fand einen Asteroiden, der auf dem Papier ein paar Hundert Milliarden wert war, doch die Kosten für das Schürfen der Erze, den Transport zum Erde/Mond-System, die Veredelung – die Kosten für Lebensmittel, Treibstoff und Atemluft – waren so hoch, dass die Prospektoren fast immer auf dem gezackten Grat des Bankrotts wandelten. Dennoch machten sie weiter, immer auf der Suche nach dem einen großen Fund, der es ihnen ermöglichen würde, in den Ruhestand zu gehen und ein Leben im Luxus zu führen. Doch so groß die Reichtümer auch waren, die sie fanden, sie zerrannen ihnen bald unter den Händen.

Und ich will ihnen noch zehn Prozent abnehmen, sagte Fuchs sich. Aber es ist es wert! Sie werden mir noch einmal dafür danken.

»Es ist nicht so, dass wir Verschwender wären«, murmelte Amanda. »Wir werfen das Geld nicht für unnötige Dinge zum Fenster hinaus.«

»Ich hätte dich nie hierher bringen sollen«, sagte Fuchs. »Das war ein Fehler.«

»Nein!«, widersprach sie. »Ich will bei dir sein, Lars. Wo immer du bist.«

»Das ist kein Ort für eine Frau wie dich. Du solltest ein behagliches und glückliches Leben führen …«

Sie legte ihm den Finger auf die Lippen und brachte ihn so zum Schweigen. »Es fehlt mir hier an nichts.«

»Aber auf der Erde wärst du doch glücklicher. Oder in Selene.«

Sie zögerte für einen Sekundenbruchteil und fragte dann: »Du etwa nicht?«

»Ja«, gestand er. »Natürlich. Aber ich werde nicht eher zurückkehren, bis ich dir all die Dinge bieten kann, die du verdienst.«

»Ach Lars, du bist alles, was ich wirklich will.«

Er schaute sie für einen langen Moment an. »Ja, vielleicht. Aber ich will mehr. Viel mehr.«

Amanda sagte nichts.

»Aber solange wir hier draußen sind«, sagte Fuchs mit sich aufheiternder Miene, »werde ich dir wenigstens ein anständiges Zuhause im Ceres-Orbit bieten!«

Sie schenkte ihn ein Lächeln.

Kapitel 3

»Sie wollen ein Habitat bauen, das groß genug ist, um jeden Bewohner von Ceres darin unterzubringen?«, fragte Martin Humphries ungläubig.

»So geht das Gerücht«, sagte seine Assistentin, eine attraktive Brünette mit Mandelaugen und langen Wimpern, einem Schmollmund und einem rasiermesserscharfen Verstand. Obwohl ihre Abbildung auf seinem Schlafzimmerbildschirm nur den Kopf, die Schultern und einen Ausschnitt des Hintergrunds ihres Büros zeigte, geriet Humphries bei ihrem Anblick doch ins Schwärmen.

Er legte sich auf sein breites Lotterbett und versuchte, sich aufs Geschäft zu konzentrieren. Er hatte den Morgen beim Liebesspiel mit einer vollbusigen brünetten Computerspezialistin begonnen, die offiziell in der Logistikabteilung von Humphries Space Systems arbeitete. Sie hatte die Nacht mit Humphries im Bett verbracht, und doch hatte er auf dem Höhepunkt ihrer leidenschaftlichen Übungen die Augen geschlossen und an Amanda gedacht.

Seine Bettgefährtin stand unter der Dusche, und alle Gedanken an sie und Amanda waren verflogen, als Humphries mit seiner Assistentin sprach, deren Büro sich ein paar Etagen über ihm in Selenes unterirdischem Labyrinth aus Korridoren befand.

»Das ist lächerlich«, sagte Humphries. »Wie zuverlässig ist diese Information überhaupt?«

Ein feines Lächeln spielte um die verführerischen Lippen der Assistentin. »Ziemlich zuverlässig, Sir. Das Gerücht ist in aller Munde und verbreitet sich wie ein Lauffeuer von einem Schiff zum andern. Es ist Gesprächsthema Nummer eins im Gürtel.«

»Es ist trotzdem lächerlich«, grummelte Humphries.

»Sie verzeihen, wenn ich widerspreche, Sir«, sagte die Assistentin. Ihre Worte waren respektvoll, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht wirkte beinahe selbstgefällig. »Es ergibt durchaus einen Sinn.«

»Wirklich?«

»Wenn sie in der Lage wären, ein Habitat zu bauen und durch Rotation eine künstliche Schwerkraft zu erzeugen, die annähernd dem Schwerefeld auf dem Mond entspricht, wäre das der Gesundheit der Leute, die für Monate oder gar Jahre dort draußen leben, zuträglicher. Knochen und Muskeln werden über einen langen Zeitraum in der Schwerelosigkeit abgebaut.«

»Hmm.«

»Außerdem, Sir, hätte das Habitat einen Strahlenschutz auf dem Niveau der modernsten Raumschiffe. Oder sogar noch besser.«

»Aber die Prospektoren müssen noch immer in den Gürtel fliegen und ihre Ansprüche an den Asteroiden geltend machen.«

»Sie sind gesetzlich verpflichtet, auf dem jeweiligen Asteroiden präsent zu sein, damit ihr Anspruch rechtskräftig wird«, pflichtete die Assistentin ihm bei. »Anschließend können sie den Felsbrocken jedoch aus der Ferne bearbeiten.«

»Aus der Ferne? Die Entfernungen sind doch viel zu groß für Telepräsenz. Ein Signal würde Stunden brauchen, um den Gürtel zu durchqueren.«

»Sir«, sagte die Assistentin steif, »es befinden sich etwa fünftausend erzhaltige Asteroiden im Radius von einer Lichtminute um Ceres. Das ist nah genug für Telepräsenz, meinen Sie nicht?«

Humphries wollte ihr nicht die Genugtuung verschaffen, Recht zu haben. Stattdessen erwiderte er: »Wir sollten diese Asteroiden lieber von unseren eigenen Leuten sichern lassen, bevor die Felsenratten sie sich alle unter den Nagel reißen.«

»Ich werde das sofort veranlassen«, sagte die Assistentin. Dabei wurden ihre verführerischen Lippen von einem Lächeln gekräuselt, das zeigte, dass sie auch schon mit diesem Gedanken gespielt hatte. »Und Bergbauteams.«

»Die Beanspruchung der verdammten Felsen ist im Moment wichtiger als Bergbau.«

»Verstanden«, sagte sie. »Die Vorstandssitzung findet morgen früh um zehn statt«, fügte sie hinzu. »Sie haben mich gebeten, Sie daran zu erinnern.«

Er nickte. »Ja, ich weiß.« Ohne ein weiteres Wort tippte er auf die Tastatur auf dem Nachttisch, und ihr Bild auf dem Wandbildschirm verblasste.

Er kuschelte sich tiefer in die Kissen und hörte die Frau, mit der er die Nacht verbracht hatte, unter der Dusche singen. Unmelodisch. Nun, dafür hat sie andere Talente, sagte er sich.

Fuchs. Der Gedanke an Lars Fuchs verdrängte alle anderen Gedanken aus seinem Kopf. Er ist mit Amanda dort draußen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie es dort draußen in dieser Wildnis mit ihm aushält. Das ist doch nichts für sie – in einem engen Schiff zu leben wie eine Zigeunerin, wie eine Vagabundin dort draußen im Leerraum umherzustreifen. Sie sollte hier bei mir sein. Sie gehört zu mir.

Ich habe einen Fehler gemacht, was ihn betrifft. Ich habe ihn unterschätzt. Er ist kein Narr. Er betreibt nicht nur Bergbau. Er errichtet ein Imperium dort draußen. Mit Pancho Lanes Hilfe.

Die junge Frau erschien in der Badezimmertür; sie war nackt, und ihre makellose Haut glänzte seidig. Sie warf sich in eine verführerische Pose und lächelte Humphries an.

»Haben wir noch Zeit für eine Nummer? Kannst du schon wieder?« Ihr Lächeln wurde leicht anzüglich.

Wider Willen regte sich etwas bei Humphries. Aber er sagte schroff: »Nicht jetzt. Ich habe zu arbeiten.«

Dieses Fickchen könnte noch zur Sucht werden, sagte er sich. Ich sollte sie besser wieder auf die Erde versetzen lassen.

 

Martin Humphries trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Schreibtisch und wartete darauf, dass diese Trantüten von Technikern die Verbindungen herstellten, damit die Vorstandssitzung endlich beginnen konnte.

Nach all den Jahren sollte man eigentlich meinen, dass die Schaltung einer simplen Virtuelle-Realitätskonferenz mit einem halben Dutzend Idioten, die sich weigern, die Erde zu verlassen, eine leichte Übung wäre, sagte er sich zornig. Er hasste es, zu warten. Überhaupt hasste er es, von irgendjemandem oder irgendetwas abhängig zu sein.

Humphries wollte Selene nicht verlassen. Sein Zuhause war auf dem Mond, sagte er sich, nicht auf der Erde. Alles, wonach es ihn gelüstete, gab es hier in der unterirdischen Stadt, und wenn etwas fehlte, ließ er es eben nach Selene schicken. Im Rechtsstreit mit Selene hatte er einen Vergleich erwirkt, sodass man ihn nicht wieder auf die Erde zurückzuschicken vermochte.

Die Erde war dem Untergang geweiht. Die durch die Klimakatastrophe verursachten Fluten hatten die meisten Küstenstädte zerstört und Hunderte Millionen Menschen obdachlos und zu Nomaden gemacht, die alle vom Hungertod bedroht waren. Ackerland verdorrte, und Tropenkrankheiten breiteten sich in Gebieten aus, die man früher als die gemäßigten Breiten bezeichnet hatte. Die Stromversorgung brach zusammen und wurde nur notdürftig wieder instand gesetzt. Es wurden Wellen von Terroranschlägen mit biologischen Waffen verübt, während zerfallende Nationen ihre Raketen scharf machten und sich gegenseitig mit einem Atomkrieg bedrohten.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, sagte Humphries sich. Trotz aller Anstrengungen der so genannten Weltregierung, trotz der Fundamentalisten der Neuen Moralität  – welche die Zügel der politischen Macht straff anzogen –, trotz der Suspendierung der Bürgerrechte auf dem ganzen Globus, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich mit Atomwaffen gegenseitig im Orkus versenken.

Da ist es hier auf dem Mond entschieden sicherer; hier bin ich weit entfernt von Tod und Vernichtung. Wie pflegte Dan Randolph zu sagen? Wenn es hart auf hart kommt, gehen die harten Jungs – den leichten Weg.

Humphries nickte und setzte sich auf seinen hochlehnigen Stuhl. Er war allein im luxuriösen Büro, kaum zwanzig Meter vom Schlafzimmer entfernt. Die meisten Vorstände von Humphries Space Systems lebten nun auch in Selene, obwohl kaum einer von ihnen Zutritt zu diesem Haus hatte. Sie blieben in ihren eigenen Unterkünften und oder kamen in die HSS-Büros im Turm oben auf der Grand Plaza.

Verdammte Zeitverschwendung, sagte Humphries sich. Der Vorstand ist auch nur eine Versammlung von Pappkameraden. Das einzige Mitglied, das ihm je Schwierigkeiten gemacht hatte, war Dad, und der ist nun tot. Wahrscheinlich versucht er Petrus gerade beizubringen, wie er den Himmel managen soll. Oder, was wahrscheinlicher ist, er zofft sich in der Hölle mit Satan.

»Wir sind so weit, Sir«, ertönte die samtige Stimme der Assistentin in Humphries’ Stereoohrhörern.

»Dann legen Sie los.«

»Und haben Sie auch die Brille auf, Sir?«

»Ich trage die Kontaktlinsen seit fast einer verdammten Viertelstunde!«

»Natürlich.«

Dann sagte die junge Frau nichts mehr. Im nächsten Moment materialisierte der lange Konferenztisch, der nur in Humphries’ Computerchips existierte, vor seinen Augen. Auf jedem Platz saß ein Vorstandsmitglied. Die meisten von ihnen wirkten leicht irritiert, doch nachdem sie sich auf den Stühlen umgedreht und sich davon überzeugt hatten, dass auch alle da waren, unterhielten sie sich ungezwungen miteinander. Das halbe Dutzend, das auf der Erde weilte, war im Nachteil, denn es dauerte fast drei Sekunden, bis ein Signal die Rundreise vom Mond zur Erde und zurück bewältigt hatte. Humphries hatte aber nicht vor, darauf Rücksicht zu nehmen; die sechs alten Furzer hatten eh wenig im Vorstand zu melden, sodass er sich wegen ihnen keine Gedanken machen musste. Natürlich hatte jeder viel zu sagen. Humphries wünschte sich, er hätte sie zum Schweigen bringen können. Und zwar für immer.

 

Er hatte schlechte Laune, als die Sitzung zu Ende ging – er war gereizt und müde. Die Sitzung hatte nichts erbracht außer ein paar Routineentscheidungen, die auch ein Rudel Paviane zu treffen vermocht hätte. Humphries rief über das Interkom die Assistentin an. Nachdem er auf die Toilette gegangen war, die VR-Kontaktlinsen aus den Augen genommen, sich das Gesicht gewaschen und die Haare gekämmt hatte, stand sie im Eingang zum Büro. Sie trug einen kobaltblauen Hosenanzug, der mit Asteroiden-Saphiren geschmückt war.

Ihr Name war Diane Verwoerd. Ihr Vater war Niederländer, ihre Mutter Indonesierin, und sie war ein Teenagermodel in Amsterdam gewesen, als sie mit ihrer dunklen, sinnlichen Erscheinung erstmals Humphries’ Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie war für seinen Geschmack zwar etwas dürr, aber er hatte ihr trotzdem ein Jurastudium finanziert und ihren Aufstieg in seinem Unternehmen verfolgt, ohne dass sie seinen Verführungsversuchen auch nur einmal erlegen wäre. Er schätzte sie umso mehr wegen ihrer Unabhängigkeit; er konnte ihr vertrauen und sich auf ihr Urteil verlassen  – was mehr war, als er von den Frauen zu sagen vermochte, die mit ihm ins Bett gingen.

Zumal sie früher oder später sowieso weich werden wird, sagte er sich. Auch wenn sie weiß, dass es das Ende ihres Jobs in meinem Büro bedeutet, wird sie irgendwann zu mir ins Bett kriechen. Ich habe nur noch nicht die richtige Motivation für sie gefunden. Mit Geld und Status vermag ich sie nicht zu locken – so gut kenne ich sie inzwischen. Vielleicht mit Macht. Wenn sie Macht anstrebt, könnte sie mir allerdings gefährlich werden. Er grinste. Es macht aber manchmal Spaß, mit dem Feuer zu spielen.

Humphries behielt diesen Gedanken jedoch für sich. »Wir müssen die Felsenratten loswerden«, sagte er ohne weitere Einleitung und ging zum Schreibtisch zurück.

Falls diese Aussage sie überraschte, ließ Verwoerd sich jedenfalls nichts anmerken. »Wieso denn?«, fragte sie.

»Simple Ökonomie. Es gibt zu viele dort draußen, die Asteroiden beanspruchen, sodass sie den Preis für Metalle und Mineralien niedrig halten. Angebot und Nachfrage. Sie überschwemmen den Markt.«

»Die Güterpreise sind derzeit generell niedrig, außer für Nahrungsmittel«, pflichtete Verwoerd ihm bei.

»Und sie fallen weiter«, präzisierte Humphries. »Wenn wir aber die Rohstoffversorgung kontrollieren würden …«

»Was bedeuten würde, die Felsenratten zu kontrollieren.«

»Richtig.«

»Wir könnten die Lieferungen an sie einstellen«, regte Verwoerd an.

Humphries wedelte mit der Hand. »Dann würden sie ihre Waren eben von Astro kaufen. Das will ich nun auch wieder nicht.«

Sie nickte.

»Nein, ich glaube, unser erster Schritt sollte darin bestehen, auf Ceres eine Operationsbasis einzurichten.«

»Auf Ceres?«

»Offiziell wird es sich um ein Depot für die Vorräte handeln, die wir den Felsenratten verkaufen«, sagte Humphries und ließ sich in den gemütlichen hochlehnigen Sessel sinken. Wenn er es wünschte, massierte der Sessel ihn oder spendete ihm eine beruhigende Wärmebehandlung. In diesem Moment wollte Humphries jedoch keines von beiden.

Verwoerd vermittelte den Eindruck, als ob sie für eine Weile über seine Worte nachdächte. »Und inoffiziell?«

»Wird es sich um einen Brückenkopf für unsere Leute handeln; eine Basis, um die Felsenratten aus dem Gürtel zu vertreiben.«

Verwoerd lächelte kalt. »Und wenn wir die Basis dann eröffnet haben, senken wir die Preise für die Güter, die wir den Prospektoren und Bergleuten verkaufen.«

»Die Preise senken? Wieso das?«

»Damit sie von HSS kaufen und nicht mehr von Astro. Das nennt man Kundenbindung.«

Humphries nickte und sagte: »Außerdem könnten wir ihnen günstigere Bedingungen fürs Raumschiffleasing anbieten.«

Nun setzte sie sich auf einen der Polsterstühle vor dem Schreibtisch. Sie schlug geistesabwesend die langen Beine übereinander und sagte: »Noch besser, wir senken die Zinsen für Ratenkäufe.«

»Nein, nein. Ich will nicht, dass sie Eigentümer der Schiffe werden. Ich will, dass sie die Raumschiffe bei uns leasen. Ich will sie langfristig an Humphries Space Systems binden.«

»Soll HSS sie unter Vertrag nehmen?«

Humphries lehnte sich im Sessel zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Richtig. Ich will, dass diese Felsenratten für mich arbeiten.«

»Zu Preisen, die Sie festsetzen«, sagte sie.

»Wir sorgen dafür, dass die Preise für Roherz sinken«, sagte Humphries. »Wir ermutigen die Unabhängigen, so viel Erz zu fördern, dass die Preise zwangsläufig immer weiter sinken. Das wird sie früher oder später aus dem Feld schlagen.«

»Sodass nur diejenigen übrig bleiben, die bei HSS unter Vertrag stehen«, sagte Verwoerd.

»Auf diese Art erlangen wir die Kontrolle über die Kosten der Erschließung und des Bergbaus«, sagte er, »und am anderen Ende der Pipeline kontrollieren wir auch die Preise der veredelten Metalle und anderen Rohstoffe, die wir an Selene und die Erde verkaufen.«

»Aber einzelne Felsenratten könnten doch noch auf eigene Rechnung an Unternehmen auf der Erde verkaufen«, gab sie zu bedenken.

»Na und?«, sagte Humphries schroff. »Sie werden sich nur gegenseitig unterbieten und sich schließlich selbst aus dem Geschäft drängen. Sie schneiden sich selbst die Kehle durch.«

»Angebot und Nachfrage«, murmelte Verwoerd.

»Ja. Wenn es uns gelingt, die Felsenratten dazu zu bewegen, ausschließlich für uns zu arbeiten, werden wir das Angebot kontrollieren. Unabhängig von der Nachfrage werden wir dann in der Lage sein, die Preise zu diktieren. Und den Profit zu maximieren.«

»Irgendwie eine krumme Sache.« Sie lächelte trotzdem.

»Bei Rockefeller hat es jedenfalls funktioniert.«

»Bis die Anti-Trust-Gesetze verabschiedet wurden.«

»Es gibt aber keine Anti-Trust-Gesetze im Gürtel«, sagte Humphries. »Im Grunde ist er ein rechtsfreier Raum.«

»Es würde aber einige Zeit dauern, um alle Unabhängigen zu vertreiben«, sagte Verwoerd nach kurzer Überlegung. »Und Astro gilt es auch noch zu berücksichtigen.«

»Ich werde mich zu gegebener Zeit schon noch mit Astro befassen.«

»Dann hätten Sie den Gürtel komplett unter Kontrolle.«

»Was wiederum bedeuten würde, dass es uns langfristig nichts kosten würde, eine Basis auf Ceres zu errichten.« Das war eine Feststellung, keine Frage.

»Die Buchhaltung wird das aber etwas anders sehen.«

Er lachte. »Wieso tun wir es nicht einfach? Wir gründen eine Basis auf Ceres und bringen diese Felsenratten unter Kontrolle.«

Sie musterte ihn prüfend. Es war ein Blick, der sagte: Ich weiß, dass noch mehr an dieser Sache dran ist, als du mir sagst. Du hast eine versteckte Agenda, und ich glaube auch zu wissen, worum es sich handelt.

Aber sie sagte nur: »Wir können diese Basis auf Ceres auch dazu nutzen, die Wartungsarbeiten zu zentralisieren.«

Er nickte zustimmend. »Gute Idee.«

»Wir bieten Wartungsverträge zu möglichst günstigen Konditionen an.«

»Damit die Felsenratten ihre Schiffe bei uns warten lassen«, sagte er.

»Damit sie von Ihnen abhängig werden.«

Er lachte wieder. »Das Motto von Gillette.«

Sie wirkte verwirrt.

»Erst schenke man ihnen den Rasierer«, erklärte er. »Und dann verkaufe man ihnen die Rasierklingen.«

Dossier: Oscar Jiminez

Als der uneheliche Sohn eines unehelichen Sohns wurde Oscar Jiminez während einer der regelmäßigen Razzien der Polizei in den Barrios von Manila aufgegriffen, als er sieben Jahre alt war. Er war klein für sein Alter, aber schon ein ausgebuffter Bettler und Taschendieb, der mühelos an elektronischen Sicherheitssystemen vorbeikam, die eine größere oder weniger wendige Person gestoppt hätten. Die übliche Polizeitaktik bestand darin, unbarmherzig mit den altmodischen Schlagstöcken zuzuschlagen, die Mädchen und die besser aussehenden Jungen zu vergewaltigen, die Gefangenen weit hinaus aufs Land zu bringen und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen. Bis zum nächsten Mal. Oscar hatte indes Glück. Er war zu klein und dürr, um selbst für den perversesten Polizisten attraktiv zu sein und wurde blutend und übel zugerichtet aus einem fahrenden Polizeiauto in den Straßengraben geworfen.

Er hatte insofern Glück, dass man ihn in der Nähe des Eingangs zum regionalen Hauptquartier der Neuen Moralität ausgesetzt hatte. Die Staatsreligion der Philippinen war noch immer der Katholizismus, doch Mutter Kirche hatte widerstrebend zugelassen, dass die protestantischen Reformer mit einem Minimum an Beeinträchtigungen in der Inselnation wirken durften. Schließlich vertraten die konservativen Bischöfe, die die Kirche der Philippinen führten und die Konservativen, die die Neue Moralität leiteten, in vielerlei Hinsicht den gleichen Standpunkt, einschließlich der Geburtenkontrolle und des strengen Gehorsams gegenüber moralischen Autoritäten. Darüber hinaus brachte die Neue Moralität Geld von Amerika zu den Philippinen. Ein kleiner Teil davon gelangte sogar bei den Armen an.

Also wurde Oskar Jiminez ein Mündel der Neuen Moralität. Unter ihrer strengen Obhut endete sein Leben als Straßenjunge. Er wurde auf eine Schule der Neuen Moralität geschickt, wo er lernte, dass gnadenlose psychologische Konditionierungsmethoden noch viel schlimmer waren als Schläge durch die Polizei. Vor allem die Konditionierungssitzungen, bei denen Elektroschocks angewandt wurden.

Oscar avancierte schnell zum Musterschüler.

Kapitel 4

Kris Cardenas sah noch immer kaum älter aus als dreißig. Selbst in einem schmutzigen, schäbigen Weltraum-Habitat, das aus einem von Ceres’ unzähligen Höhlen gehauen war, wirkte sie mit ihren saphirblauen Augen und den athletischen Schultern wie eine kalifornische Surferin.

Das lag daran, dass ihr Körper mit therapeutischen Nanomaschinen gespickt war – virengroßen Geräten, die Fett- und Cholesterolmoleküle im Blut zerlegten, beschädigte Zellen reparierten und die Haut glatt und die Muskeln straff hielten. Die Nanomaschinen fungierten als zielgerichtetes Immunsystem, das den Körper vor eindringenden Mikroben schützte. Nanotechnologie war auf der Erde verboten; Dr. Kristin Cardenas, Nobelpreisträgerin und ehemalige Leiterin des Nanotechnologie-Labors von Selene, war in Ceres im Exil.

Für eine Exilantin, die sich für ein Leben an der Grenze der menschlichen Zivilisation entschieden hatte, wirkte sie jedoch fröhlich und heiter, als sie Amanda und Lars Fuchs begrüßte.

»Wie geht es Ihnen beiden?«, fragte sie und führte sie in ihr Quartier. Der gewundene Tunnel vor der Tür war eine natürliche Lavaröhre, die grob geglättet worden war. Die Luft dort draußen war leicht diesig wegen des Feinstaubs; wenn jemand in Ceres sich bewegte, wirbelte er jedes Mal den Gesteinsstaub auf, und wegen der geringen Schwerkraft des Asteroiden hing der Staub dann ständig in der Luft.

Amanda und Fuchs schlurften über den nackten Felsboden von Cardenas’ Unterkunft und gingen zur Couch – eigentlich zwei Liegesitze, die aus einem Raumschiff ausgebaut worden waren, das auf Ceres notgelandet war. Die Sicherheitsgurte baumelten noch immer an den Seiten. Fuchs hustete, als er sich hinsetzte.

»Ich werde die Ventilatoren einschalten«, sagte Cardenas und ging zum Steuerpult, das in die entgegengesetzte Wand des Raums integriert war. »Damit der Staub sich setzt und das Atmen leichter fällt.«

Amanda hörte das Wimmern eines Lüfters irgendwo hinter den Wänden. Obwohl sie mit einer langärmeligen, hochschließenden Springerkombi bekleidet war, fror sie. Der nackte Fels fühlte sich immer kalt an. Wenigstens war er trocken. Und Cardenas hatte versucht, die unterirdische Kammer mit Holofenstern aufzupeppen, die Ansichten von bewaldeten Hügeln und Blumengärten auf der Erde zeigten. Sie hatte sogar ein dezentes Raumspray versprüht, dessen Duftnote Amanda daran erinnerte, wie sie als Kind in einer richtigen Badewanne mit warmem Wasser und duftender Seife gebadet hatte.

Cardenas zog einen alten Laborhocker unterm Tisch hervor, setzte sich den Besuchern gegenüber und hakte die Beine ein. »Wie geht es Ihnen?«, fragte sie ihre Besucher erneut.

Fuchs schaute sie fragend an. »Wir sind doch hergekommen, damit Sie es herausfinden.«

»Ach so, die Untersuchung.« Cardenas lachte. »Die findet morgen in der Klinik statt. Wie läuft das Geschäft? Was gibt’s Neues?«

»Ich glaube, dass wir imstande sind, das Habitatprojekt voranzutreiben«, antwortete Fuchs mit einem Seitenblick auf Amanda.

»Wirklich? Ist Pancho einverstanden …«

»Nicht mit Astros Hilfe«, sagte er. »Wir werden es aus eigener Kraft schaffen.«

Cardenas’ Augen verengten sich. »Halten Sie das denn für sinnvoll, Lars?«

»Wir haben im Grunde keine Wahl. Pancho würde uns helfen, wenn sie könnte, doch Humphries wird sie sofort blockieren, wenn sie die Sache im Astro-Vorstand auf die Tagesordnung setzt. Ihm ist nicht daran gelegen, dass wir die Lebensbedingungen hier verbessern.«

»Er will hier ein Depot einrichten«, sagt Amanda. »Das heißt, Humphries Space Systems will das tun.«

»Dann werden Sie und die anderen Felsenratten dieses Habitatprogramm also selbst finanzieren?«

»Ja«, sagte Fuchs bestimmt.

Cardenas erwiderte nichts. Sie umfing die Knie und schaukelte mit einem nachdenklichen Ausdruck leicht auf dem Hocker vor und zurück.

»Wir können es schaffen«, bekräftigte Fuchs.

»Sie werden ein Team von Spezialisten brauchen«, sagte Cardenas. »Das ist nichts, was Sie und Ihre Prospektorenkollegen einfach so improvisieren könnten.«

»Ja. Das weiß ich.«

»Lars, ich habe nachgedacht«, sagte Amanda langsam. »Während du an diesem Habitatprojekt arbeitest, wirst du doch hier in Ceres bleiben müssen, nicht wahr?«

Er nickte. »Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, die Starpower an jemanden zu vermieten und für die Dauer des Projekts hier im Asteroiden zu leben.«

»Und wie wollen Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen?«, warf Cardenas ein.

Er breitete die Hände aus. »Ich glaube, ich weiß es«, sagte Amanda, bevor er noch etwas erwidern konnte.

Fuchs schaute sie verwirrt an.

»Wir könnten Lieferanten für die anderen Prospektoren werden«, sagte Amanda. »Wir können ein eigenes Lagerhaus aufmachen.«

Cardenas nickte.

»Wir könnten als Zwischenhändler für Astro auftreten«, fuhr Amanda fort und wurde mit jedem Wort fröhlicher. »Wir beziehen die Waren von Pancho und verkaufen sie an die Prospektoren weiter. Wir könnten auch die Bergleute beliefern.«

»Die meisten Bergbauteams arbeiten aber für Humphries«, erwiderte Fuchs düster. »Oder für Astro

»Aber sie brauchen trotzdem Vorräte«, sagte Amanda nachdrücklich. »Selbst wenn sie die Ausrüstung von den Konzernen bekommen, benötigen sie noch immer Gegenstände des persönlichen Bedarfs: Hygieneartikel, Unterhaltungsvideos, Kleidung …«

Fuchs schnitt eine Grimasse. »Ich glaube nicht, dass du dich mit der Art von Unterhaltungsvideos abgeben willst, die diese Prospektoren bevorzugen.«

»Lars, wir könnten durchaus mit Humphries Space Systems konkurrieren, während du den Bau des Habitats leitest«, sagte Amanda ungerührt.

»Mit Humphries konkurrieren.« Fuchs ließ sich diese Idee förmlich auf der Zunge zergehen und kostete sie genüsslich aus. Dann grinste er, was selten genug vorkam. Sein breites, normalerweise düsteres Gesicht hellte sich auf. »Mit Humphries konkurrieren«, wiederholte er. »Ja. Ja, das können wir schaffen.«

Im Gegensatz zu den anderen sah Amanda die Ironie der ganzen Sache. Sie war die Tochter eines kleinen Krämers in Birmingham und hatte das Mittelklassemilieu und die Unterklassenarbeiter gehasst, mit denen ihr Vater Geschäfte machte. Die Jungs waren im besten Fall nur rüpelhaft und zudringlich, konnten aber genauso schnell gewalttätig werden. Und die Mädchen waren richtige Biester. Amanda entdeckte früh, dass Schönheit Fluch und Segen zugleich war. Sie fiel auf, wohin auch immer sie kam; ihre schiere Präsenz sorgte jedes Mal für Aufsehen. Und wenn sie erst einmal Aufmerksamkeit erregt hatte, musste sie nur noch erreichen, dass die Leute auch den hochintelligenten Menschen hinter dieser attraktiven Fassade wahrnahmen.

Schon als Teenager hatte sie gelernt, ihr gutes Aussehen einzusetzen, um Jungen nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, während sie zugleich ihren scharfen Intellekt nutzte, um ihnen immer einen Schritt voraus zu sein. Dann verließ sie ihr Elternhaus und ging nach London, wo sie sich einer Sprachschulung unterzog, um mit einem Oxford-Akzent zu sprechen und fand – zu ihrem ungläubigen Erstaunen – heraus, dass sie die Intelligenz und Fähigkeit besaß, eine erstklassige Astronautin zu werden. Sie wurde von der Astro Manufacturing Corporation eingestellt, um Missionen zwischen Erde und Mond zu fliegen. Mit dem atemberaubenden Äußeren und der scheinbaren Naivität vermutete fast jeder, dass sie sich nach oben gevögelt hatte. Doch das genaue Gegenteil war der Fall; Amanda hatte ihre liebe Not, sich der Männer – und Frauen – zu erwehren, die sie ins Bett ziehen wollten.

Und in Selene war sie dann Martin Humphries begegnet. Er hatte die bisher größte Gefahr für sie dargestellt: Er wollte Amanda, und er hatte die Macht, sich zu nehmen, was er wollte. Amanda hatte Lars Fuchs auch deshalb geheiratet, um Humphries zu entfliehen, und Lars wusste das.

Und nun stand sie kurz davor, hier an der Grenze der menschlichen Expansion ins Sonnensystem selbst eine Geschäftsfrau zu werden. Vater würde jubeln, sagte sie sich. Die Rache des Vaters: Das Kind trat schließlich doch in die Fußstapfen der Eltern.

»Humphries wird die Konkurrenz aber nicht schätzen«, gab Cardenas zu bedenken.

»Umso besser!«, rief Fuchs.

»Die Konkurrenz wird aber gut für die Prospektoren sein«, sagte Amanda, nachdem sie aus ihren Träumen erwacht war. »Und für die Bergleute. Dadurch werden nämlich die Preise sinken, die sie für Gebrauchsgüter zahlen müssen.«

»Der Ansicht bin ich auch«, sagte Cardenas. »Humphries wird das freilich nicht gefallen. Er wird überhaupt nicht erfreut sein.«

Fuchs lachte laut. »Umso besser«, wiederholte er.