Franz Kabelka

Roman

INHALT

Cover

Titel

Widmung

Prolog

TEIL I

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

TEIL II

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

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TEIL III

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29

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40

Epilog

Glossar

Dank

Impressum

Für Sibylle,

die mir den Weg nach Indien wies

PROLOG

Sie liegt zusammengekauert auf dem nackten Lehmboden.

Kein Teppich, nicht einmal ein billiger Baumwollfetzen, der der fiebrigen Haut unter dem klatschnassen Kunststoffsari als Unterlage dienen würde. Durch die unverglasten Öffnungen unterhalb des Schilfdachs dringt das fahle Licht der Abenddämmerung in den kargen Raum, jener kurzen Dämmerung, die die Bewohner nördlicherer Breitengrade immer wieder zu überraschen pflegt.

Ein niedriger Schemel, zwei löchrige Matratzen. Kein Kasten, nur ein von der Feuchtigkeit verzogenes Regal; auf dessen Bambusrohren, säuberlich geschlichtet, die wenigen Kleidungsstücke, neben den verblichenen Fotos am Bindfaden Meeras ganzer Besitz. In Schwarz-Weiß starren Vater und Mutter auf sie herab, steif und ernst. Davor, aufgefädelt nach Größe, ihre vier Geschwister und sie selbst als Fünfjährige. Niemand auf dem Bild, der lächeln, niemand, der sich für diesen gewichtigen Augenblick entspannen würde. Auch der Fotograf hat sie nicht dazu aufgefordert, hat keinen Witz gemacht, damit sich die herben Mundwinkel womöglich ein bisschen nach oben bewegten. Er kannte die Befindlichkeit dieser Menschen, was sollte er ihnen vormachen. Vermutlich würde es ohnehin das einzige Familienfoto ihres Lebens bleiben. Na schön, vielleicht noch eines anlässlich der Hochzeit des ältesten Sohns. Aber da wären kaum noch dieselben fünf am Leben. Nein, dagegen sprach alle Erfahrung, alle Statistik.

In der Ecke, wo sich der Tonkrug mit dem brackigen Wasser befindet, hat sich etwas bewegt. Sie nimmt es wahr, aber sie reagiert nicht darauf. Dabei war sie, solange sie sich gesund und stark fühlte, immer darauf bedacht, die Kontrolle darüber zu behalten, was sich auf dem Fußboden und entlang der Wände abspielte. Die Kontrolle aller drei Dimensionen. Das ist allen an ihr aufgefallen: ihre unglaubliche Ordnungsliebe. Aditi, ihre Arbeitskollegin in der Fabrik und Zimmergenossin in Kannagi Nagar, hat öfters darüber geschmunzelt; gleichzeitig war sie über Meeras Haltung froh gewesen, kam diese ja letztlich auch ihr zugute. Armut und Sauberkeit mussten einander nicht widersprechen, davon waren sie beide als Angehörige einer der niedrigsten Kasten überzeugt. Ehe Meera ihren Sari abnahm und auf das Regal legte, pflegte sie immer zu überprüfen, ob sich keine Spinne darauf eingenistet hatte. Und ehe sie sich auf ihrem Lager niederließ, inspizierte sie den Boden darunter. Sie hasste es, nächtens auf eine Kakerlake zu treten, wie damals, als sie draußen in der freien Natur ihr Geschäft verrichten wollte. Das Krachen des gepanzerten Insekts hatte sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt. Das wollte sie nie, nie wieder erleben.

Und jetzt hat sie es nicht einmal mehr auf ihre Matratze geschafft.

Die Schlange nähert sich ihr: langsam, lautlos, mit gelegentlichen seitlichen Ausweichmanövern, aber zielsicher und beständig. Das schwarze, fleckige Kettenmuster auf dem Rücken hebt sich trotz der zunehmenden Dunkelheit im Raum deutlich vom erdbraunen Grundton ab, und als sich Kopf und Oberkörper aufrichten, scheint der weiße, gesprenkelte Bauch beinahe von innen her zu leuchten. Luzifer: der Leibhaftige, der Lichtbringer. Wie Vater und Mutter gehört Meera der christlichen Minderheit an, das Bild des Satans als Schlange ist ihr nicht unbekannt. Aber sie ist weit davon entfernt, sich zu fürchten. Weder vor dem Kuss des verkleideten Teufels noch vor dem Biss einer echten Schlange.

Sie hat diese Art schon öfter gesehen, jeder in der Gegend würde sie erkennen. Bei der Feldarbeit stellt die Kettenviper die mit Abstand größte Gefahr dar. Einerseits wegen ihrer enormen Giftigkeit, welche die Blutzellen binnen Sekunden zu zerstören vermag und Gehirnblutungen oder akutes Nierenversagen auslöst, andererseits wegen ihrer Vorliebe, in den Wiesen und Äckern nahe den menschlichen Siedlungen nach Mäusen zu jagen. Die bekanntere Brillenschlange ist dagegen vergleichsweise harmlos, sie scheut die Nähe des Menschen. Manchmal, vor allem zwischen Juli und Dezember, wenn die aggressiven Jungvipern gehäuft auftreten, versuchen die Vorarbeiter mit Stöcken und lauten Rufen die Felder zu säubern, bevor die Arbeiter, in der Hauptsache Frauen, beginnen. Dennoch gibt es jedes Jahr etliche Tote bei der Ernte, das ist Teil des ländlichen Lebens hier, und niemand regt sich darüber auf – bei wem auch?

Nein, sie hat keine Angst, nur Schmerzen. Von der rechten Niere strahlt es in alle Richtungen aus; es, das sie zu Boden geworfen hat und ihr nicht erlaubt, die wenigen Zentimeter Höhenunterschied hinauf zum weißen Laken zu überwinden. Ihr Atem geht laut und hechelnd und dröhnt in ihr wie ein Orkan. Trotz der späten Stunde ist es noch immer stickig und heiß, aber der Schüttelfrost lässt sie zittern und sich noch fester zusammenrollen.

Wie du, denkt sie. Ich werde dir immer ähnlicher, Schlange. Schlangengott.

Sie weiß, dass sie das Gift längst in sich trägt, das ihre Organe zersetzt. Seit Wochen hatte sie gespürt, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Später kamen Sehstörungen und eine nicht enden wollende Übelkeit dazu. Nachdem sie beim Mörsern plötzlich umgefallen und minutenlang nicht mehr zu Bewusstsein gekommen war, stellte Riya, die Vorarbeiterin mit den schmalen, verbissenen Lippen, sie von der Arbeit frei. „Bis auf Weiteres“, sagte sie. Aber das war nun schon viele Wochen her, und angesichts Meeras Zustands, der sich ständig verschlechterte, wäre niemand auf die Idee gekommen, sie wieder zurück in die Fabrik zu holen. Auf die Idee, nach einem Arzt zu rufen, kam allerdings auch keiner.

Stattdessen war eines Tages dieser alte Mann in der Tür gestanden und hatte sie mitgenommen. Gerade einmal hundertfünfzig Kilometer betrug die Strecke von der großen bis zur kleinen Stadt, aber die Busfahrt dauerte fast vier Stunden. Stunden, in denen sie im Mittelgang auf dem Boden kauerte und sich krümmte vor Schmerzen. Bis sie endlich mit den anderen Frauen in jener Hütte untergebracht wurde, wo sie seither lebt, ohne arbeiten zu müssen. Von den Leuten hier wird sie mit dem Wichtigsten versorgt, sogar Tabletten und Spritzen gibt man ihr, wenn die Schmerzen gar zu schlimm werden. Wann in ihrem Leben war ihr dieser Luxus gegönnt gewesen: zu leben, ohne sich dafür abschinden zu müssen?

Jetzt ist es zu hören, worauf Meera längst schon gewartet hat: das alles durchdringende Zischen, mit dem die Viper den Angriff einleitet. Den Flug der Schlange, wie man es nennt, wenn eine Kettenviper beim Zustoßen nahezu mit ihrem gesamten Körper vom Boden abhebt.

Die großen goldgelben Augen mit den senkrechten Pupillen wippen jetzt keine Armlänge von Meeras Kopf entfernt hin und her. Auch die Iris des Tiers scheint zu leuchten, zwei Lämpchen bei hereinfallender Nacht. Eigentlich bist du wunderschön, denkt sie. Trotz der fürchterlichen Krämpfe im Unterleib muss sie lächeln.

„Aber du kommst zu spät, Schlange!“

Ihr Atem trifft auf den flachen, geschuppten Schädel, dessen rundliche Nasenspitze sich nach oben wölbt und der Schlange ein Aussehen verleiht, als würde sie grinsen. Nicht böse, eher mitleidig.

„Wieso“, flüstert sie, „wieso kommst du erst jetzt?“

Sie hört noch, wie die Bastbänder mit den vielen bunten Glasperlen am Türrahmen leise klingelnd geteilt werden.

Dann taucht die Welt in ein alles erlösendes Schwarz.

„Eine Vergiftung ist immer moralisch.“
Francis Picabia, Jesus Christus Rasta

1

„So!“, zischte Frieda, was eigentlich so nicht bedeutete, nicht mit mir. Sie hatte die Schnauze gestrichen voll. Zog eine Zigarette aus der gelben Schachtel und stand auf, um sich zu verdrücken.

„Ich geh nur mal schnell an die frische Luft.“

An jene frische Luft, die gleich nicht mehr so frisch sein würde, weil sie sie jetzt verpesten würde. Krebs hin, vorzeitiger Tod her. Um sich und den Menschen ihrer Umgebung erheblichen Schaden zuzufügen. Wenigstens konnte ihr Gequalme ihrem Kind nichts anhaben. Weil sie keines hatte, haha, und auch keines erwartete. Baby, nein danke!

Wenn es noch einen anderen Grund als ihre Sucht gebraucht hätte, warum sie Leo allein in der andächtig lauschenden Menge zurückließ, hätte sie auf diesen schrägen Vogel aus dem Ländle verweisen können. Ein Vorarlberger Autor, der aus einem höchst nervigen Kriminalroman las. Nicht einmal ein verdammter Kommissar kam darin vor. Wie konnte man etwas Kriminalroman nennen, wenn darin kein Ermittler dem Verbrecher hinterherhechelte! Nur ein Bergfex, der auf über zweitausend Meter Seehöhe aufgewachsen war, konnte so etwas Geschraubtes von sich geben. It needs a mountain to fall that low. Ein Spruch von Lou Reed, oder doch von jemand anders? Kopfschüttelnd zog sie an der Zigarette.

Zwei weitere Literaturflüchtlinge gesellten sich zu ihr in die Kälte, packten ihre Päckchen aus, gaben einander Feuer. Die Raucherzone draußen vor der Tür: der letzte Ort für spontane Bündnisse in dieser entsolidarisierten Gesellschaft. Okay, sie stank ein bisschen, diese Zone, und man fror sich einen ab. Aber war das nicht immer so, wenn ein paar arme Schweine sich zusammenfanden? Vielleicht war ja nur dann etwas von Solidarität zu spüren, wenn es um einen herum so richtig bedrohlich war? So frostig und stinkig wie vor dem Wien Drei in einer Novembernacht, in der der Winter erstmals in diesem Jahr heftig an die Tür klopfte. Der mit den matschigen Stadtstraßen.

Denn der andere, der in ihr, war schon längst ausgebrochen. In aller Härte.

Sie war heute das erste Mal hierhergekommen – Leo zuliebe. Er hatte dieses Faible für Autoren aus dem alemannischen Westen entwickelt, seit er letzten Sommer bei einer von einem Supermarkt organisierten Bodenseefahrt entdeckt zu haben glaubte, dass das Ländle K & K vom Feinsten zu bieten hatte: Käse und Kultur. Seither suchte er auf Brunnen- und Naschmarkt gezielt nach Bergkäse aus dem hinteren Wauld (so nennen die Bregenzerwälder ihre Gegend) und las neuerdings Köhlmeier und Konsorten. Und eben deshalb hatte er sie ins Wien Drei geschleppt. Bloß, weil irgendein Vorarlberger Schriftsteller dort las. Und sie hatte genickt und war ihm nachgetrottet wie … wie ein folgsames Schulmädchen. War das jetzt die sexuelle Hörigkeit, oder was?

Bullshit! Mit Sex und Hörigkeit hatte das zuletzt zu tun. Das war nun echt nicht ihr Thema.

Sie wünschte, es wäre es gewesen!

Wann und wodurch wird eigentlich aus dem LAP, dem Lebensabschnittspartner, ein biederer Lapp im wahrsten Sinn des Wortes? Mit dieser Frage sollte frau sich schon einmal auseinandersetzen. Und sie sollte sich vor allem fragen, wann es an der Zeit wäre, diesen Lebensabschnitt für beendet zu erklären und den Lappen aus dem Bett zu werfen. Und sei es ein sündteures Wasserbett, das er ihr anlässlich seines Einzugs in ihre Wohnung vor fast genau drei Jahren vermacht hatte.

Das Blöde war nur, dass dieser Lapp immer genau dann, wenn sie so weit war, dass sie ihm sein verdammtes Wasserbett nachschmeißen und den Wohnungsschlüssel abknöpfen wollte – endlich, endlich auch zu Hause die Taffe sein, als die man sie in der Arbeit immer hinstellte! –, dass dieser Haderlump akkurat dann eines seiner selbst gekochten viergängigen Menüs für sie hinzauberte, wie es im besten Haubenlokal nicht raffinierter zu kriegen war, mit roten Rosenblüten als Dekoration. Oder dass er sie mit einer Massage verwöhnte, bei der sich im wohligen Rieseln die entschiedensten Trennungsgedanken von einem trennten, trennen mussten, um irgendwo in der Gegend des Steißbeins zu zerstäuben 

Nach dem Menü, nach der Massage dann das Ritual der Selbstvorwürfe: Wie konntest du nur vergessen, wie lieb er doch ist, was er alles für dich tut, wie viel Geborgenheit er dir schenkt. Zweifelsohne gab es Hunderte, ach was, Tausende alleine in dieser Stadt, die mieser waren als er. Wie egoman konnte frau eigentlich sein? Vielleicht lag es ja schlicht an ihr. Vielleicht sollte sie mal an der eigenen Fassade kratzen und, wenn möglich, noch ein bisschen tiefer. Woher rührte nur ihre wabernde Unzufriedenheit? War sie womöglich der Ausfluss aus der ständigen Beschäftigung mit den Grauslichkeiten dieser Welt im Jammertal unseres Jobs, wie Fillinger es neulich so treffend formuliert hatte? Und wenn du einmal über den eigenen Tellerrand schaust, nur ein bisschen, auf all die trauten Pärchen in deinem Bekanntenkreis zum Beispiel, wie sie ticken beziehungsweise eben nicht ticken! Sei ehrlich: Geht es dir da nicht vergleichsweise … ja, was genau? Super, prächtig, passabel? So lala? Wie auch immer, du gibst ihm und dir und dem, was man Beziehung nennt, halt noch eine Chance. Eine letzte oder vorletzte, was soll’s. Baust dich auf an den hausbackenen Leopold’schen Komplimenten, an seinen kleinen Aufmerksamkeiten. Opferst dem lieben LAP einen weiteren Lebensabschnitt, investierst erneut – wenn auch nicht gerade rundum erneuert – in die Beziehung und hasst dich gleichzeitig dafür, dass du Ausdrücke wie investieren und Beziehung verwendest, als wären die beiden kompatibel.

Sie dämpfte die Zigarette mit der Stiefelspitze aus und stapfte zurück ins Lokal. Der Vorarlberger Autor war immer noch nicht fertig mit seiner Lesung. Nach jedem zweiten Satz starrte er irgendwen im Publikum an, vielleicht versuchte er so, die Reaktion auf seine Worte zu testen. Jetzt hatte er Frieda beim Eingang bemerkt und musterte sie mit einem strafenden Blick. Schließlich hatte sie es gewagt, sich für die Dauer einer Zigarettenlänge seiner Aura zu entziehen.

Dann las er weiter aus seinem Buch: „,Cool, Baby!‘ ,grinst er. ,Du musst lernen, der Realität ins Auge zu sehen.‘“

Frieda wusste nicht, was mit ihr passierte. Aber plötzlich musste sie losprusten, deutlich vernehmbar bis in den hintersten Winkel. Das Publikum quittierte es mit einem entrüsteten Murmeln. Frieda konnte dennoch nicht aufhören zu lachen.

Der Schriftsteller legte langsam das aufgeschlagene Buch mit dem Umschlag nach oben auf den Tisch.

„Darf ich fragen, was Sie daran so lustig finden?“, fragte er pikiert.

„Keine Ahnung. Tut mir leid, es hat mich einfach so überkommen. Vielleicht …“, sie hielt sich kurz die Hand vor den Mund, um nicht wieder loszuprusten, „vielleicht liegt es ja an diesem Du musst lernen, der Realität ins Auge zu sehen. Erinnert mich irgendwie an einen alten Humphrey-Bogart-Schinken.“

Der Autor stand auf und knipste demonstrativ die Leselampe auf dem runden Tischchen aus.

„Ich denke, wir machen hier Schluss. Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit – jedenfalls all jenen, die sie mir tatsächlich geschenkt haben.“

Beleidigte Leberwurst! Frieda zuckte mit der Schulter. Ob sie Leberwürste im Ländle überhaupt kannten? Das böse Gemurmel im Raum nahm nach dem vorzeitigen Abgang des Schriftstellers kurz an Intensität zu, für Frieda hörte es sich an wie die akustische Vorhut eines nach Lynchjustiz gierenden Mobs. Sie zog Leo vom Stuhl hoch.

„Komm, wir gehen.“

„Also, ich wollte eigentlich noch …“

„Ich muss hier raus, Poldi – mit dir oder ohne dich!“

Er blickte einen Moment unschlüssig in Richtung Bar, wo dem frustrierten Autor gerade ein Glas Rotwein eingeschenkt wurde. Am Ende will er sich noch bei dem Xiberger für mein Verhalten entschuldigen, schoss es Frieda durch den Kopf.

Aber Leopold Laubers Grund, noch bleiben zu wollen, war ein durch und durch profaner: Er hatte sich die ganze Zeit über schon so auf das Vierterl gefreut, das ihm jetzt nicht vergönnt war. Dabei schmeckte der Zweigelt im Wien Drei hervorragend!

*

Danach hatte sie ihm gegenüber natürlich wieder dieses schlechte Gewissen, eh klar!

Längst hätte sie aus leidvoller Erfahrung wissen müssen, dass ihr schlechtes Gewissen niemals ein sanftes Ruhekissen hergab; schon gar nicht war es etwas, aufgrund dessen sie jemals eine Entscheidung gefällt hatte, die sie nicht sofort wieder bereut hätte. Dennoch, sie konnte auch diesmal nicht umhin, den von ihr provozierten Eklat gleich wiedergutmachen zu wollen. Eine spontane Einladung war das Einzige, was ihr auf die Schnelle einfiel.

„Weißt was, als Entschädigung kommst nächste Woche mit auf unser Symposium, okay? Ich weiß doch, wie du auf so was stehst. Mindestens fünf Stunden Philosophie am Stück. Wer, wenn nicht du, ist dafür der Richtige?“

VMV, der Vienna Medienverlag mit seinem knappen Dutzend an Zeitungen und Zeitschriften, wollte sein zwanzigjähriges Jubiläum mit einem Symposium feiern. Thema: Risken und Chancen des Unvorhersehbaren. Drei hochkarätige Referenten waren dafür angekündigt sowie eine abschließende Podiumsdiskussion, das volle Programm. God himself, im Zivilberuf Chefredakteur von opinion und gesegnet mit dem zu seiner Statur passenden Namen Fillinger, hatte ausdrücklich betont, dass nicht nur sämtliche Journalisten und Verlagsbedienstete eingeladen seien, sondern auch deren Angehörige, Freunde und Verwandte. Und irgendwo dazwischen war ja wohl auch Friedas knuddeliger Lapp anzusiedeln.

Leo war selig über die Einladung. Einem Privatgelehrten wie ihm, der seit Äonen Die Zeit abonniert hatte und diese auch las, der etliche Philosophen zu seinen persönlichen Freunden zählte und keinen öffentlichen Diskurs versäumte, konnte man damit echt Freude machen. Frieda selbst hätte auf das Brimborium gut und gerne verzichten können. Mit ihren Kollegen und Vorgesetzten musste sie nicht auch noch am freien Samstagnachmittag zusammenhocken, aber immerhin: So hatte man wenigstens zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Und dass der Veranstalter nur die besten Tröpfchen und ein erlesenes Buffet auffahren lassen würde, galt als gesichert.

*

Sie saßen in dem aus architektonischer Sicht nicht einmal üblen neuen Veranstaltungssaal im zweiten Bezirk und lauschten den einleitenden Grußadressen. Zuerst gab ein abgetakelter ORF-Reporter in seiner Funktion als Moderator den Ablauf der Veranstaltung bekannt; danach redeten, natürlich allesamt länger als vereinbart, die grüne Vizebürgermeisterin, ein launiger Vertreter der Gewerkschaft und Minister Steindlinger, der die Bedeutung des Vienna Medienverlags für die österreichische Printbranche nicht genug betonen konnte. Wahrscheinlich hofft der Gute, dadurch künftig ein wenig besser in den diversen Organen des VMV abzuschneiden, spekulierte Frieda. Wegen der leidigen Inseratenkampagne, die im Untersuchungsausschuss abgewürgt worden war, hielten sich die Ministerien derzeit ja etwas zurück mit Einschaltungen, welche die Hofberichterstattung fördern sollten.

Endlich waren die Grußadressen erledigt, und der Moderator kündigte die erste Referentin an: eine Frau Dr. Riemer aus Deutschland, die ihr Philosophie- und Sprachstudium summa cum laude abgeschlossen habe.

Als die blonde Dame mit ihrem Headset die Bühne betrat und sich einige Meter vom Rednerpult entfernt platzierte, um zu demonstrieren, dass sie sich nirgendwo anhalten musste, ging ein Raunen durch den Saal: Eine solch hübsche Philosophin hatte man seit der lesbischen Sappho nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Sie charakterisierte sich selbst als praktische Philosophin, die nicht nur ein Beratungsinstitut leite und wissenschaftlich tätig sei, sondern auch einmal pro Woche im Krankenhaus, Sparte Onkologie, arbeite. Nach Eigendefinition eine postanalytische Dekonstruktivistin und, wie sie zu vermitteln versuchte, eine mit unendlicher Erfahrung. Wie alt die Tussi wohl ist, fragte Frieda sich und holte den Programmzettel hervor. Aber das Alter der Referenten war darauf nicht vermerkt, nur deren wichtigste Publikationen.

DDr. Riemer sprach frei und nach allen Regeln der Kunst. Das heißt nach den Regeln der Rhetorik, die sie zweifellos beherrschte. Sie benötigte keinen Spickzettel, artikulierte klar und deutlich, ihre Stimme kippte nie und sie verstand es, mimisch zwischen ernstseriös und lächelnd-vereinnahmend zu changieren. Ihre Gesten unterstützten das Gesagte, ohne zu übertreiben, und die Pausen setzte sie geschult an der richtigen Stelle. Perfekt, ohne Frage, ein seltener Fall von femininer Selbstsicherheit und Bühnenpräsenz. Aber irgendetwas begann bei Frieda Widerstand zu erregen. Sie blickte zu Leopold hinüber, der sein allzeit bereites Notizbuch, das sie ihm letzte Weihnachten geschenkt hatte, aufgeklappt auf dem Schoß liegen hatte. Offenbar hatte er sich bisher noch kein Wort notiert und blickte unverwandt in Richtung Podium. Ob die Schönheit der Referentin ihn so ablenkte, dass er aufs Mitschreiben verzichtete? Als die doppelte Doktorin davon berichtete, ihre jeweiligen Krebspatientinnen gleich zu Beginn der gemeinsamen philosophischen Diskurse mit der Frage Wofür leben Sie? zu konfrontieren, begannen sich bei Frieda die Haare aufzustellen. Und was machst du, wenn eine deiner Patientinnen dir diese Frage zurückgibt? Oder wenn eine doppelt so alte wie du, mit dem Tod Ringende dich verzweifelt anschaut? Zuckst du dann vielleicht doch ein klein bisschen zusammen, wischst du dir die blonde Mähne dann nicht mehr ganz so kokett aus der Stirn?

Frieda verspürte den heftigen Impuls, den Saal zu verlassen. Nicht, weil ihr nach einer Zigarette zumute war, sondern aus dem Gefühl heraus, der aalglatten, geschniegelten Atmosphäre entkommen zu müssen, dieser Mischung aus Selbstinszenierung und gepflegter akademischer Zitiermanie (ein bisschen Nietzsche hier, ein bisschen Seneca da). Aber hatte sie sich nicht geschworen, dieses Mal durchzuhalten, komme, was da wolle? Um sich zu beweisen, dass sie noch gesellschaftsfähig war, und, ja vielleicht, auch ein bisschen Leo zuliebe? Sie atmete tief durch. Von Odysseus war jetzt die Rede, von der Unberechenbarkeit seiner Irrfahrt, die er auf sich genommen und trotz aller Fallen und Gefahren glücklich zu Ende gebracht habe. Und wie erging es seinen Gefährten? Kamen sie nicht allesamt dabei ums Leben?

Als hätte die Referentin Friedas stillen Einwand gehört, erläuterte sie, dass es genau darum nicht gehe. Die von Skylla Verschlungenen oder vom Zyklopen Erschlagenen seien Randfiguren in diesem Mythos, im Zentrum stünde die freiwillige Annahme des jeweiligen, noch so harten Schicksals. Das, und nur das gewähre Freiheit, die Freiheit des Geistes über alle irdischen Bedingtheiten. Das Akzeptieren der eigenen Unzulänglichkeit, der existenziellen Grenzsituation gelte es jeden Tag aufs Neue zu erproben und dem Unberechenbaren, Unerwarteten unerschrocken ins Auge zu sehen. Sich, um im Bild zu bleiben, dem fürchterlichen Blick des Zyklopen auszusetzen, nur um ihm bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mutig den Pfahl ins Auge zu rammen. Auch wenn diese Odyssee zehn Jahre dauern möge oder länger. Und so weiter, und so fort 

Nachdem die schöne Philosophin unter tosendem Applaus die Bühne verlassen hatte, folgte das Referat eines schon leicht ergrauten, aber umso arrivierteren Kriegsberichterstatters, der Frieda sofort an Bernd Lussnig erinnerte. Er erging sich in zahlreichen Anekdoten über die Unwägbarkeiten in arabischen und afrikanischen Kriegsgebieten und betonte, keineswegs aus selbstzerstörerischen Tendenzen heraus immer wieder solch lebensfeindliche Schauplätze aufzusuchen. Warum dann, das sagte er nicht. Nach der dritten Geschichte, in der der edle Held wieder nur um Haaresbreite einem Anschlag oder einer Entführung entkommen war, schaltete Frieda innerlich ab.

Von welchen verdammten Risken und Chancen war da eigentlich die Rede? Welche Präpotenz brauchte es, nach der glücklichen Heimkehr ins sichere Mitteleuropa vom Umgang der Kriegsopfer mit ihren Ängsten und Nöten zu schwafeln? War das nicht auch das Dilemma aller Promiberichterstatter: dass sie den eigenen Standpunkt, die eigene Wahrnehmung mit jener der direkt Betroffenen gleichsetzten? Dass sie ihr eigenes Davongekommensein mit anekdotengewürzten Referaten zu entschuldigen suchten? Es konnte einem übel werden davon, speiübel!

Wissend, dass sie soeben wieder einmal im Begriff war, einen Schwur zu brechen, erhob sie sich von ihrem Sitz und bat Leo, sie hinauszulassen.

„Ich muss nur schnell mal wohin.“

Aber sie kehrte nicht zurück. Schnappte sich stattdessen im Foyer, wo die Kellner bereits damit beschäftigt waren, das Buffet aufzubauen, ohne zu fragen, ein Glas Weißwein und flüchtete damit hinaus in den begrünten Innenhof. Hier würde sie warten, bis der dritte Vortrag, in dem eine Klimaforscherin über die Grenzen der Wissenschaft sprechen sollte, vorbei war. Bei Leo würde sie sich halt für ihre abermalige Desertion entschuldigen müssen. Vielleicht würde er sie dafür mit dem traurigsten Hundeblick bestrafen, zu dem er fähig war. Seis drum. Diese bescheuerten Referate hatten mit ihr so viel zu tun wie … wie die mythischen Sirenen mit jenen neuzeitlichen, die samstags zu Mittag heulten! Das musste sie sich nun wirklich nicht länger geben.

Sie fragte sich, von welchen Risken und Chancen die Rede sein müsste, dass es mit ihr etwas zu tun hätte. Dass auch sie, Frieda Prohaska, sich daran aufbauen könnte. Flaute. Einöde. Kahlschlag. Das waren die Bilder, die ihr einfielen, wenn es ums Eingemachte ging. Um die nüchterne, die ernüchternde Zwischenbilanz, die frau mit knapp achtunddreißig zu ziehen hatte.

Die einzig interessante Story der letzten Jahre war ihr vor fast vier Monaten entzogen worden. Unmittelbar nach Bernds Unfall. Weil man ihr nicht zutraute, in seine Fußstapfen treten zu können. Weil man ihr keine Chance geben wollte, die Sache alleine durchzuziehen. Und vielleicht hatten sie sogar recht gehabt damit.

Vielleicht kannten Fillinger und Glenk sie ja besser als sie sich selbst 

Jedenfalls musste sie sich seit Juli mit lächerlichen Brosamen über Wasser halten. Mit Aufträgen, die weder finanziell noch journalistisch gesehen etwas hergaben. Und den Wechsel zu einem anderen Magazin konnte sie auch vergessen. Sämtliche Bewerbungen waren ein Flop gewesen, meist hatte man sie nicht einmal zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Die Printbranche lag darnieder, so sah es aus. Da konnte Minister Steindlinger daherquatschen, was er wollte.

Sie hockte unter einer Linde, deren Blätter allesamt abgefallen waren, und schlotete still vor sich hin. Es war föhnig, untypisch für einen Novembertag in Wien, sie schätzte die Temperatur auf knapp zwanzig Grad. Aus dem Vortragssaal drang kein Laut, und die hohen Mauern des Innenhofs schirmten den Verkehrslärm fast hundertprozentig ab.

Dennoch hatte sie plötzlich dieses Rauschen in den Ohren.

Auf einen Schlag, ohne jegliche Ankündigung, wie es nun einmal so seine Art war, schlug der alte Tinnitus wieder zu.

*

Sie steht am offenen Grab, umgeben von wenigen Verwandten und Bekannten. Es ist ein Sommertag, es ist heiß. Sie lässt die weiße Rose auf den mit Weihwasser vollgespritzten Sargdeckel fallen. Ein Fallen in Zeitlupe, in Superzeitlupe, bei der alle Geräusche sich verzerren. Das Gemurmel des Pfarrers, der sich trotz allem bereit erklärt hat, ein Begräbnis zu zelebrieren, zu einem Gequietsche entstellt, beendet erst durch eine einzige, entsetzliche Detonation: Die Rose hat eingeschlagen. Hat sich in den massiven Deckel mit dem schlichten Holzkreuz gebohrt und verwandelt sich jetzt, geführt von Geisterhand, in eine Dornenkrone.

Eine Detonation, die es gar nicht geben kann, geben darf.

Und die dennoch einen Tinnitus auslöst, der sie in alle Ewigkeit begleiten wird.

Betäubt klappt sie den Sarg auf, betrachtet das Gesicht der Mutter mit den weit aufgerissenen Augen, mit den schrecklich bleichen Lippen, die vergeblich ein letztes Wort zu formulieren versuchen: Frieda.

Klagend, flehend, im höchsten Diskant: Friiie-da, Friiie-da 

Hör auf, bitte hör endlich auf! Vergib uns unsere Schuld, Mama, vergib wenigstens mir!

Ja, ich hätte dich öfter besuchen müssen, dich nicht so alleine lassen dürfen. Hätte wissen müssen, wie dir zumute ist, nach all den Jahren ohne Mann, ohne Wärme. Du und ich, wir sitzen im selben Boot, hast du mehr als einmal gesagt. Aber ich habe dich nicht verstanden, habe deine Hilferufe nicht gehört. Du hast geschrien, wenn du schweigend in deinem Lehnstuhl gehockt bist, wenn du mich so müde angeschaut hast. Nicht anklagend, nur unendlich müde.

Das Schnitzelmesser, es ist neben dir in der Wanne gelegen.

Ein solides, altes Küchenmesser mit zwei Messingschrauben im Griff. Du hast dafür gesorgt, dass es immer gut geschliffen war. Das zäheste Hammelfleisch hat sich anstandslos damit zerlegen lassen, mit dem Schleifstein hast du umgehen können wie keine sonst. Das kommt davon, wenn man mit der Sense in der Hand auf die Welt gekommen ist – deine Worte! Früher hast du die Wiese hinterm Haus noch selbst gemäht. Alle paar Minuten hast du den grauen, speckigen Schleifstein hervorgezogen und das Sensenblatt damit nachgeschärft. Das Messer war ein Teil der Mitgift, ja, der halbe Hausrat wurde einem nachgeschmissen bei der Hochzeit dazumal, nicht irgendwelche teuren Reisegutscheine wie heutzutage. Deine Eltern haben es bei einem der letzten Messerschmiede in Zwettl anfertigen lassen. Weißt du noch, wie du mir das stolz erzählt hast?

„Echte Qualitätsware“, hast du gesagt: „So etwas geht nie kaputt.“

Und das ist sie auch nicht, obwohl die Klinge schon ganz schmal und dünn war vom vielen Schleifen, wie bei einem richtigen Fleischermesser. Wie viele Schnitzel du damit wohl geschnitten hast? Keines für Papa jedenfalls. Der war nach meiner Geburt schneller weg, als du schauen konntest.

Ich weiß nur eins: Ich werde nie mehr ein Schnitzel essen können, Mama. Mein Lebtag nicht! Denn das Schnitzelmesser habe ich gefunden, finden müssen, das hast du gut arrangiert. Ein altes Schnitzelmesser unter deinem weißen, aufgeschwemmten Körper. Die Pulsadern glatt durchtrennt. Zwei saubere Schnitte. Kein Pfusch.

Weil zu pfuschen, das ist dir zeitlebens gegen den Strich gegangen, Mama.

E-Mail-Verkehr mit Thomas Mitterer, Wien

Von: fpro@gmx.at

Gesendet: Mittwoch, 20. Juni 2012 17 : 47

An: t.mitterer@ecology.at

Betreff: deine fachliche Meinung

Lieber Thomas,

ich habe mich lange nicht mehr bei dir gemeldet, entschuldige! Aber wenn das auch nach einer Ausrede klingen mag: Mir ist es wirklich nicht so gut gegangen in letzter Zeit. Wenigstens hab ich jetzt beruflich etwas Spannendes am Laufen, was auch der Grund für dieses Mail ist.

Ich hätte ein paar fachliche Fragen zu klären, die du als erfahrener Chemiker mir vermutlich aus dem Stand beantworten könntest. Sofern es deine Zeit am Ökologieinstitut erlaubt, würde ich mich gerne mit dir treffen, um ein kleines Interview zu machen. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir einen Termin geben könntest. Gerne komme ich auch zu dir an deine Arbeitsstelle, damit du keine Freizeit opfern musst. Es eilt allerdings ziemlich, wenn ich das so direkt sagen darf, denn ich stecke bereits mitten in den Recherchen.

Nur so viel dazu: Es geht um Kritik an ayurvedischen Praktiken. Soweit ich weiß, bist du mit dem Thema vertraut, immerhin hast du zwei Jahre lang in Kalkutta gearbeitet. Konkret würde mich deine fachliche Meinung zu einer amerikanischen Studie interessieren, die ich dir ebenso beilege wie eine aktuelle Zurückweisung dieser Studie durch indische Ärzte. Vielleicht findest du Zeit, dir beides vor unserem Gespräch anzuschauen.

Auf eine baldige Antwort freut sich

deine alte Studienkollegin

Frieda Prohaska

Von: t.mitterer@ecology.at

Gesendet: Freitag, 22. Juni 2012 11 : 03

An: fpro@gmx.at

Betreff: Re: deine fachliche Meinung

Liebe Frieda,

ich hab geschwind einmal in deine Unterlagen hineingeschaut und rede natürlich gerne mit dir darüber, auch wenn ich schon viele Jahre nicht mehr in dieser Sparte tätig bin. Andererseits: Die Grundprinzipien vergisst man wohl nie.

Ich bin derzeit noch in Berlin, ab nächsten Mittwoch aber wieder in Wien. Während der Zugfahrt werde ich mir das Material noch genauer zu Gemüte führen. Ruf mich einfach ab Donnerstag an, dann machen wir uns einen Termin aus, einverstanden?

Herzlich dein

Thomas

Transkript: Interview mit Dr. Thomas Mitterer, Ökologieinstitut, 29. 6. 2012

FP: Danke, Thomas, dass du dir für dieses Gespräch Zeit genommen hast. Es geht, wie gesagt, um deine Einschätzung jener Studie, die Dr. Richard Piper von der Boston University gemacht hat und die unlängst im Journal of the American Medical Association publiziert wurde. Die Studie kam zum Ergebnis, dass vierzig Prozent der im Internet verkauften ayurvedischen Produkte, welche unter Rasa shastra laufen, massive Überschreitungen der Grenzwerte bei Quecksilber, Blei und Arsen aufweisen. Diverse Ayurvedaverbände in den USA und Europa haben auf die Ergebnisse von Pipers Studie reagiert und die Aussagekraft dieser Untersuchungen bestritten. Meine erste Frage an dich: Wie schätzt du das Ganze ein?

TM: Okay, zuerst einmal einige Anmerkungen zur Studie selbst. Was ich für problematisch halte, ist, dass da immer von soundso viel Mikrogramm Schwermetall pro Kilo die Rede ist. Es wird nicht unterschieden, ob es sich um Schwermetalle in löslicher oder nicht löslicher Form handelt. Genau das macht in der Praxis aber den Unterschied zwischen gefährlich und ungefährlich aus. 

Weiters stört mich die ständige Bezugnahme auf den sogenannten Durchschnittsmenschen. Ich habe diese Kategorie noch nie verstanden. Wo sind etwa Kinder oder Alte und Schwache anzusiedeln? Aber man kann den Studienverfassern natürlich zugutehalten, dass ihr Untersuchungsgegenstand nicht die Erfassung der gesundheitlichen Effekte am Patienten war, wie bei einer klinischen Studie, sondern nur die Bestimmung des Schwermetallgehalts in verschiedenen Produkten.

FP: Und wie siehst du die kategorische Ablehnung dieser Studienergebnisse durch die Ayurvedacommunity? Sie lehnt den chemisch-analytischen Zugang ja prinzipiell ab.

TM: Nun, das ist eine sehr komplexe Geschichte. Erst einmal muss ich bekennen, dass sich meine Einstellung zur westlichen Naturwissenschaft im Verlauf der letzten Jahre einigermaßen geändert hat. Das klingt aus dem Mund eines Chemikers vielleicht eigenartig, aber ich bin überzeugt, dass es Dinge jenseits unseres Horizonts gibt. Dinge, die wir mit unseren evidenzbasierten physikalischen oder chemischen Methoden alleine nicht in den Griff bekommen. Denk nur an die Homöopathie. Es ist doch hochinteressant, dass sie bei uns immer stärker angenommen wird – gerade von den höheren Bildungsschichten.

Für mich kommt da eben ein wichtiger Aspekt ins Spiel, und der lautet Systembetrachtung. Die klassische Chemie, so wie du und ich sie gelernt haben, beruht ja darauf, dass man die Dinge erst in ihre Einzelteile zerlegt und dann wieder zusammenbaut. In den letzten Jahren ist man aber dazu übergegangen, die Systemwirkung mitzuberücksichtigen. Um es einfach zu sagen: Ein und dieselbe pflanzliche Substanz kann isoliert oder im Verbund mit anderen sehr unterschiedliche Wirkungen haben. 

FP: Entschuldige, aber es geht hier ja nicht um Pflanzen – es geht um Schwermetalle wie Quecksilber, Blei, Arsen oder Kadmium! 

TM: Ich weiß, ich weiß. Aber wie ich schon sagte, man kann nicht einmal davon ausgehen, dass Schwermetalle in jedem Fall negative Auswirkungen haben. Wie du weißt, ist beispielsweise Quecksilber in purem Zustand geschluckt überhaupt nicht gefährlich – der Körper scheidet es einfach wieder aus. Oder denk an das Quecksilberamalgam, das sich vielleicht auch als Füllung in deinen Zähnen befindet. Andere Hg-Verbindungen sind hingegen hochgiftig. Und natürlich macht die Dosis viel aus, ebenso wie die Frage Lang- oder Kurzzeiteinnahme. Eine bestimmte Substanz ein einziges Mal in großer Konzentration eingenommen kann zum Beispiel weitaus stärker wirken als eine häufige Einnahme in niedriger Konzentration oder umgekehrt. Dazu kommt noch die Konstitutionsfrage: Medikamente werden ja in der Regel von kranken Menschen eingenommen und treffen deshalb auf einen geschwächten Organismus, der völlig anders reagieren kann wie ein gesunder. Alle diese Aspekte spielen eine nicht unbedeutende Rolle – und deshalb ist eben die isolierte Betrachtung einer Substanz nicht zielführend.

FP: Genau so argumentieren auch die Vertreter des Ayurveda. Aber geht es letztlich nicht darum, ob sich die chemische Struktur, etwa von Quecksilber, durch eine ayurvedische Zubereitungsprozedur grundsätzlich ändern kann oder nicht? Ob das, was im Ayurveda unter Shodana verstanden wird, wissenschaftlich betrachtet überhaupt möglich ist: nämlich die Reinigung der Metalle von sämtlichen toxischen Nebenwirkungen? Kannst du dir das vorstellen?

TM: Ob ich mir das vorstellen kann? Ach Gott, wir wissen spätestens seit der Quantenphysik, dass es Dinge gibt, die uns Normalsterblichen schwer verständlich sind. Stichwort Informationsübertragung. Außerdem reden wir hier ja von einem Systemwechsel. Und ich denke, dass es generell schwierig bis unmöglich ist, mit den Methoden der einen Wissenschaft eine andere zu bewerten. 

FP: Okay, lass uns einen Schritt zurück machen. Der Grund, warum im Rasa-shastra-Verfahren pflanzliche Stoffe mit Schwermetallen vermengt werden, ist ja, dass dadurch die Heilkraft und Haltbarkeit der Präparate erhöht werden soll. Es geht also, wohlgemerkt, nicht um zufällige Verunreinigungen, etwa durch Düngemittel, mit denen die Pflanzen in Kontakt kommen, sondern um eine bewusste Beimengung von Quecksilber oder Blei gemäß einer jahrtausendealten Tradition, niedergeschrieben in den ayurvedischen Rezepturen. Verstehe ich dich richtig: Du hältst eine solch wundersame Verwandlung eines giftigen Schwermetalls in ein heilsames Medikament für grundsätzlich möglich? Von der Beantwortung dieser Frage hängt immerhin ab, ob es angezeigt ist, schwermetallhaltige Produkte zu verbieten oder in unseren Apotheken zuzulassen.

TM: Wir bewegen uns im Kreis. Ich kenne mich bei Ayurveda doch viel zu wenig aus, um deine Frage eindeutig beantworten zu können.

FP: Aber du musst doch als Chemiker sagen können, ob eine Eliminierung der toxischen Eigenschaften von Schwermetallen durch Kalzinierung et cetera grundsätzlich denkbar ist? 

TM: Meine Antwort darauf ist ein klares Jein. Als Chemiker müsste ich natürlich sagen, dass das nicht geht. Aber wie eben dargelegt, bin ich nicht mehr davon überzeugt, dass unsere Vorstellung von Chemie das alleinig Seligmachende ist. Ich maße mir auch nicht an, Zugänge jenseits der westlichen Chemie zu beurteilen.

FP: Aber Thomas 

TM: Nein, warte, ich versuche es mit einem simplen Beispiel zu verdeutlichen. Wir wissen doch, dass Chinesen Kuhmilch schlecht vertragen. Nun, heute lässt sich das natürlich leicht erklären – ihnen fehlt einfach ein Enzym, um die Milch zu verdauen. Aber vor zweihundert Jahren hat kein Mensch den Grund gekannt. Und selbst wenn eine Gesellschaft grundsätzlich über ein komplexes Wissen wie die Quantenphysik verfügt, heißt das noch lange nicht, dass damit viele etwas anfangen können. Das sollte uns doch zu denken geben, nicht wahr, und vorsichtiger sein lassen bei der Beurteilung fremder Systeme!

FP: Du lässt diese Frage also offen?

TM: Exakt. Sollen die sich damit beschäftigen, die beide Systeme gleich gut kennen. Ich zähle nicht dazu.

Was mich bedeutend mehr interessiert, ist die Frage: Was steckt dahinter, dass so viele westliche Menschen heute ihr Heil in etwas komplett Fremdem, Andersartigem suchen? Wieso kommt es bei uns überhaupt zu einem Ayurvedaboom? Ist eine solche, in einer anderen Kultur gewachsene Medizin überhaupt auf uns übertragbar? Ich meine, das ist ja schon bei einfachen Dingen so, dass sie an unterschiedlichen Orten unterschiedlich wirken. Wenn du eine Flasche des Weins, der dir im Urlaub so phantastisch geschmeckt hat, zu Hause aufmachst, fragst du dich vielleicht, was du da bloß für einen Fusel gekauft hast. Dabei hat sich der Wein nicht geändert – bloß das kulturelle Umfeld, in dem er getrunken wird, ist ein anderes.

FP: Manche halten diese Tradition der Mischung von Schwermetallen und pflanzlichen Substanzen für einen von der modernen Chemie längst überwundenen alchemistischen Irrglauben. Und sie fragen sich, wie diese Schwermetalle, wenn sie denn in angeblich ungefährlicher, nicht löslicher Form vorliegen, überhaupt eine Wirkung geschweige denn eine heilende haben sollen.

TM: Weil es nach ayurvedischer Meinung eben nicht um die stoffliche Wirkung, sondern um eine andere Art von Informationsübertragung geht. Ähnlich wie in der Homöopathie.

FP: Aber wie bitte stellt sich ein Chemiker vor, dass Informationen übertragen werden, die nicht an Moleküle gebunden sind?

TM: Ich tu mir persönlich schon schwer, den Welle-Teilchen-Dualismus zu verstehen, und der ist ja auch schwer verständlich in den makroskopischen Kategorien, in denen wir gelernt haben zu denken. Bezüglich der Frage, ob es absolute Wahrheiten gibt oder nur kulturell determinierte, tendiere ich mittlerweile eher zu Letzterem. Ich stelle fest, dass in anderen Kulturen seit Jahrtausenden andere Wege als bei uns beschritten werden und die Menschen dort offenbar auch nicht kränker sind.

FP: Aber ist ein solcher Relativismus nicht problematisch? Wenn etwa die Food and Drug Administration in den USA Obergrenzen bei Schwermetallen festlegt, tut sie das wohl deshalb, weil sie Menschen damit schützen will. Egal, welchen kulturellen Hintergrund sie haben.

TM: Genauso kannst du fragen, welche Interessen dahinterstehen, dass es punkto Schwermetalle alleine in den USA vier unterschiedliche Grenzwerte gibt.

FP: Die aber allesamt, wie Pipers Studie belegt, bei Quecksilber, Blei und Arsen um das Tausendfache überschritten werden. Umso überraschender, dass in den USA nicht mehr Vergiftungsfälle bekannt sind als die etwa siebzig, von denen derzeit ausgegangen wird. Und aus Indien, wo Ayurveda ja einen viel höheren Stellenwert hat, sind noch weniger Fälle bekannt.

TM: Na, das überrascht mich jetzt nicht sonderlich. Es gibt auch eine große Dunkelziffer nicht erfasster Morde, weil einfach viele Opfer nie als solche erkannt werden. Opfer von Giftanschlägen zum Beispiel. Nicht jeder Tote wird gerichtsmedizinisch untersucht.

FP: Abgesehen von den Gefahren für jene, die diese zweifelhaften Substanzen schlucken: Denkst du nicht auch, dass insbesondere die Arbeiterinnen und Arbeiter, die bei der Herstellung schwermetallhaltiger Präparate eingesetzt werden, besonders gefährdet sind?

TM: Na klar, schon wegen der anfallenden Dämpfe. Und nach meiner Erfahrung mit indischen Betrieben kümmert sich dort selten jemand um den Schutz der Belegschaft. Warum verlagern westliche Pharmaunternehmen ihre Produktion in solche Schwellenländer? Weil, abgesehen von den lächerlichen Löhnen, dort auch die staatlichen Auflagen und Sicherheitsstandards niedriger sind, was wiederum Kosten senkt.

FP: Abschließende Frage: Worauf würdest du besonders achten, wenn du so einen Produktionsbetrieb zu kontrollieren hättest?

TM: Zuerst einmal müsste klar sein, mit welchen chemischen Verbindungen in dem betreffenden Betrieb hantiert wird. Erst danach kann man sich mit den nötigen Schutzmaßnahmen beschäftigen und überprüfen, ob es für alle, die mit gefährlichen Substanzen in Berührung kommen, eine entsprechende Arbeitskleidung oder Atemschutzmasken gibt, die auch tatsächlich verwendet werden bzw. funktionieren. All das ist nämlich keineswegs selbstverständlich.

Ein simples Beispiel: Auch in Indien gilt längst die Helmpflicht für Motorradfahrer. Im Alltag wirst du aber feststellen, dass die meisten den Helm lieber am Handgelenk als auf dem Kopf tragen. Das bloße Vorhandensein einer Schutzkleidung in einer chemischen Produktionsstätte sagt also noch gar nichts über deren Verwendung aus. Vielleicht gilt es ja einfach als uncool, sich in einen Schutzanzug zu zwängen, weil der die Haartracht ruiniert? Es gibt tausend Gründe, warum die Sicherheit am Arbeitsplatz nicht ernst genommen wird – vor allem, wenn, wie in Indien, das Leben des Einzelnen weniger wert ist als der mögliche Profit für ein Unternehmen. Darauf würde ich also bei einer Inspektion vor allem achten: auf den Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

FP: Thomas, ich danke dir für das Gespräch.

2

Ajith Nair lehnte sich zufrieden zurück in den dicken Polster und streckte die Beine aus. Er verspürte nicht den geringsten Jetlag, und das Essen in dem von einem Nepalesen geführten Restaurant, von dem aus sich ihm ein schöner Blick auf den Charles River bot, hatte hervorragend gemundet. Von den vegetarischen Momos in Tomatensauce hatte er sogar noch eine Portion nachbestellt.

Sein Gegenüber war da weitaus weniger entspannt. Kein Wunder, dachte er. Sein Besuch war R. S. Murugan schließlich erst einen Tag vor Ajiths Abflug angekündigt worden, und in dem Telefonat waren nur einige wenige Eckdaten genannt worden: Wann genau Ajith am Flughafen Boston abzuholen sei, dass der ältere Bruder ausdrücklich eine persönliche Abholung wünsche und dass Ajith angemessen, also in einem ordentlichen Hotel, aber unter falschem Namen, unterzubringen sei. Mehr nicht. Murugan hatte immer nur yes und of course gemurmelt. Dabei hatte er vermutlich an nichts anderes denken können als an die wenig erfreuliche Perspektive, wegen des überraschenden Besuchs aus Chennai alle möglichen Termine schleunigst absagen zu müssen. Ohne Wenn und Aber. Egal, wie wichtig sie auch sein mochten.

Während des dreigängigen Menüs hatten sie nur belangloses Zeug geplaudert. Wie es den Eltern gehe, was die Kinder so trieben (Ajith hatte keine, weshalb sich das Thema rasch erledigt hatte) und wie hoch der Benzinpreis in Indien respektive in den USA derzeit sei, die übliche Palette eben. Wenn Murugan sich auch rechtschaffen bemühte, Interesse an der momentanen Situation in seiner ehemaligen Heimat zu bekunden, entging Ajiths geschärften Sinnen nicht, wie hektisch die Blicke des Brokers waren, wie fahrig seine Bewegungen. Ständig nickend und lächelnd vermied er tunlichst die eine, die einzig interessante Frage: jene nach Ajiths Auftrag. Das hätte schon beim Besuch eines nahestehenden Freundes als unhöflich gegolten; wie viel mehr galt das erst für ihre Beziehung. Die gar keine war, in der engeren Bedeutung des Wortes. Oder konnte man es als eine Art indirekter Verwandtschaft bezeichnen, wenn der ältere Bruder über ihnen beiden als überdimensionaler Scheinwerfer strahlte, als Fixstern am Firmament? Ein Stern, der alles sah und über allem wachte. Immerzu präsent, doch von den Menschen erst wahrzunehmen, wenn die Dunkelheit hereinbricht.

Nachdem der Besitzer des Lokals höchstpersönlich den Kaffee serviert hatte, fand Ajith es an der Zeit, zum geschäftlichen Teil überzugehen.

„Ich soll dir von unserem älteren Bruder die besten Grüße ausrichten. Wie man hört, läuft bei dir geschäftlich ja alles äußerst zufriedenstellend.“

Wie man hört … Es konnte nicht schaden, von Anfang an klarzustellen, wer die Kontrolle innehatte. Egal, wie weit die amerikanische von der indischen Ostküste entfernt war.

In Murugans Gesicht zuckte ein kleiner Muskel. Ganz kurz nur, aber Ajith registrierte es mit Wohlgefallen.

„Ich bedanke mich“, sagte der andere. Es klang, als machte seine Stimme dabei einen tiefen Bückling. „Und was die Geschäfte angeht, bin ich in der Tat sehr zufrieden.“

„Ja“, bestätigte Ajith mit einem Blick auf Murugans Anzug. Der dunkle Stoff schimmerte dezent und saß wie angegossen. So etwas gab es nicht von der Stange. „Unser älterer Bruder sorgt für uns wie ein wahrer Vater. Das sollten wir nie vergessen.“

Murugan nickte, vielleicht nicht ganz so enthusiastisch, wie man es sich hätte erwarten dürfen. Schließlich wusste Ajith nur zu genau, was bzw. wer den dunkelhäutigen Tamilen in die Lage versetzt hatte, so hoch auf der gesellschaftlichen Leiter zu klettern, dass er es sich leisten konnte, von seinem Arbeitsplatz an der Wall Street zurück zu seinem feudalen Häuschen im besten Bostoner Viertel zu fliegen, wann immer ihm danach war. Businessclass natürlich.

Ajith hatte noch nie ein derart teures Tuch auf der Haut gespürt, aber er beneidete den anderen nicht darum. Er machte sich nichts aus Statussymbolen. Zog es sogar vor, schlicht und möglichst locker gekleidet seiner Arbeit nachzugehen. Wenn er, wie momentan, selbst einen Anzug trug, dann nur deshalb, weil das in gewissen Situationen einfach unvermeidlich war. Weil man nicht auffallen durfte, sich anzupassen hatte wie ein Chamäleon. Das war in seiner Branche eines der ungeschriebenen Gesetze. Wobei diese die einzig wichtigen waren, davon konnte er ein Lied singen.