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Dieses Buch widme ich meiner Mutter Margret.

Liebe die ganze Menschheit.

Hilf allen Lebewesen.

Sei glücklich. Sei höflich.

Sei eine Quelle unerschöpflicher Freude.

Erkenne Gott und das Gute in jedem Gesicht.

Kein Heiliger ist ohne Vergangenheit, kein Sünder ohne Zukunft.

Sprich Gutes über jeden.

Kannst Du für jemanden kein Lob finden, so lasse ihn aus Deinem Leben gehen.

Sei originell. Sei erfinderisch.

Sei mutig – schöpfe Mut, immer und immer wieder.

Ahme nicht nach. Sei stark. Sei aufrichtig.

Stütze Dich nicht auf die Krücken anderer.

Denke mit Deinem eigenen Kopf. Sei Du selbst.

Alle Vollkommenheit und Tugend Gottes sind in Dir verborgen – offenbare sie.

Auch Weisheit ist bereits in Dir – schenke sie der Welt.

Lasse zu, dass die Gnade Gottes Dich frei macht.

Lasse Dein Leben das einer Rose sein – schweigend spricht sie die Sprache des Duftes.

Shri Babaji Haidakhan, 1984

GRUSS AN DIE LESER

Liebe Leser,

es ist schon ein ziemliches Ding, dass jemand, dessen Namen man im deutschen Sprachraum nicht einmal wirklich kennt, großspurig ein Buch über seine Kindheit verfasst.

Tatsächlich kann sich kaum jemand meinen Namen wirklich merken, auch wenn ich selbst inzwischen recht bekannt bin. Es würde mich zum Beispiel überhaupt nicht wundern, wenn Sie nicht wüssten, wie mein Name eigentlich geschrieben wird. Ach, geben Sie es doch zu! Vermutlich müssen Sie genau in diesem Moment auf dem Buchdeckel nachsehen. Dort angekommen, werden Sie dann etwas perplex feststellen, dass ich eben nicht Harpe Kerpelin, Herpes Ferkeling, Herbert Harleking oder Hete Kerkerdings heiße, sondern schlicht: Hape Kerkeling.

Obwohl ich so ja eigentlich auch nicht heiße. Tatsächlich ist und war mein Vorname immer Hans-Peter. So steht er auch im Pass.

Hape Kerkeling!? Tja, wer soll sich diesen knappen, skandinavisch anmutenden Vornamen auch schon merken können oder wollen – zumal in Verbindung mit dem besonders auswärtig klingenden Zunamen, welcher hochdeutsche Ohren vermutlich ans Zuchthaus denken lässt? Abgesehen natürlich von meinen treuesten Fans Dinah und Moreen aus Magdeburg. Auch so Namen, die immer falsch geschrieben oder schlecht verstanden werden. Welch humoriger kleiner Zufall.

Hape also! Diese radikale Verstümmelung meines Taufnamens zu Karrierezwecken war im fernen Jahre 1984 die glorreiche Idee meines ersten Managers Manfred Schmidt. Man hätte mich damals auch auf den Namen Silvio La Palma oder Tino Teufel taufen können. Ich hätte das wahrscheinlich mitgemacht, ganz toll gefunden und mit einem halben Liter klebrig süßem Prosecco beschwingt darauf angestoßen.

Franz Elstner, Uwe Jürgens oder Ulli Glas. So hätte ich mich mal nennen sollen. Das sind Namen, die sich ein geneigtes deutsches Publikum wenigstens hätte merken können. Tatsache ist: Für manchen Bayern bin ich »der Harpe«, in Sachsen »der Herbe« und im Rest der Welt vermutlich »der Dings aus dem Ruhrpott«. Manche denken auch, ich heiße Hefe. Dazu verkneife ich mir jetzt mal jeden Kommentar zu meiner Figur.

Mittlerweile habe ich allerdings meinen Frieden mit meinem zweisilbigen Künstlervornamen gemacht. Vor allem seitdem mir meine liebe Freundin Penny McLean – ihres Zeichens Welt- und Popstar der späten 1970er-Jahre sowie vor allem auch Numerologin – erläutert hat, welch mysteriöse Kraft angeblich hinter dieser Abkürzung steckt. Ohne den »Hape« hätte ich ihrer Auffassung nach niemals einen so erfolgreichen Lebensweg beschritten.

»Ha-« steht demnach für das erleichterte Seufzen des Herzens und, wie kann es anders sein, für ein befreites Lachen.

»-pe« hingegen steht für Vitalität und Macht.

Also steht Hape für ein mächtiges Herz, welches vital lacht. Gar kein schlechtes Bild.

Kerkeling hingegen ist niederländisch oder auch niederdeutsch und bedeutet nichts anderes als: Kirchling. Also jemand, der nahe bei der Kirche, der Kerke, lebt, sie auffallend oft in frommer Absicht besucht oder schlicht als Küster arbeitet. Mit meinem Buch Ich bin dann mal weg scheine ich der in meinem Nachnamen verankerten religiösen Strebung meiner niederländischen Urahnen schlussendlich brav nachgegeben zu haben und ihr auf angenehme Weise erlegen zu sein.

Gleich hier im Vorwort muss ich unumwunden und ganz offen etwas bekennen. Trotz der scheinbar schicksalhaft richtigen Vornamenwahl habe ich dennoch den falschen Beruf gewählt. Definitiv! Was allerdings ein großes Glück war. Denn was hätte ich alles für verrückte, erschreckende und schöne Erfahrungen nicht gemacht, wenn ich die Weichen nicht von Anfang an so gänzlich falsch gestellt hätte …

Vielleicht merken sich einige auch genau deshalb meinen Namen nicht, weil sie unterschwellig spüren: Hey, dieser gemütliche, tapsige Typ passt doch gar nicht ins grelle Rampenlicht!?

Wie dem auch sei: Egal, wo in Deutschland ich sitze, liege oder stehe, tue ich das inzwischen als sogenannte öffentliche Person. Und das, obwohl ich es eigentlich eher ruhig und beschaulich mag und es mir lieber ist, wenn ich nicht der Mittelpunkt des Geschehens bin. Rote Teppiche finde ich dämlich und unnütz. Call me Mr. Boring!

Kunstlicht setzt meinen Augen massiv zu. Mein Augenarzt hat mir mehrfach eindringlich empfohlen, doch besser den Beruf zu wechseln. Fernseh- und Filmproduktionen überstehe ich nur mit verschreibungspflichtigen Augentropfen, die ich mir quasi ampullenweise in mein Sehorgan eintröpfele, um den beißenden Schmerz auf der geröteten Netzhaut zu lindern.

Wenn also auf jemanden die unschöne Titulierung »Rampensau« eigentlich nicht zutrifft, dann auf mich!

Was, um Himmels willen, hat mich dann ins gleißende Scheinwerferlicht getrieben und somit mitten unter die Showwölfe? Warum wollte ich bereits im zarten Kindesalter mit aller Macht »berühmt werden«? Und wieso hat das dann tatsächlich geklappt, und zwar sehr viel besser, als ich es mir in meiner kindlichen Naivität jemals hätte vorstellen können? Nun, vielleicht einfach deshalb, weil ich es meiner Oma Anna als sechsjähriger Knirps genau so versprechen musste.

Jeder Lebensroman ist einmalig, und allein diese Tatsache macht ihn bedeutsam. Dies ist meine Geschichte. Oder besser gesagt: der entscheidende Teil meines bisherigen Lebensfilms. Ein schlichter Holzstuhl am Küchenfenster spielt dabei keine ganz unbedeutende Rolle.

Wenn Sie mich nun begleiten wollen auf der Reise durch meine Memoiren, dann sind Sie herzlich eingeladen. Immer hat da irgendwer schützend seine Hand über mich gehalten, manchmal ganz konkret, manchmal auf mir unbegreifliche Weise.

Jetzt sollen Sie mich mal kennenlernen. Ich habe jetzt schon Kreislauf!

In diesem Sinne: Prosit!

KAPITEL 1

NIEMAND BETRITT DIESEN GARTEN

Niemand, behaupte ich, kann

so überzeugend harmlos und

ungefährlich dreinschauen wie ich.

»Niemand betritt diesen Garten. Was meinen Sie, warum wir einen Zaun drum herum gebaut haben? Wahrscheinlich, damit jeder hier durchlatscht, wie er will? Haben Sie das Schild draußen nicht gelesen?«

Der grauhaarige, griesgrämige Wärter mit dem dicken Schlüsselbund in der sonnengegerbten Hand spricht zwar nur gebrochenes Englisch, ist aber trotzdem unerbittlich. Obwohl uns die Sonne schon jetzt am frühen Morgen wieder erbarmungslos auf den Pelz brennt, bleibt mein Produzent und Regisseur wie stets höflich und distinguiert. Genau auf diese Art und Weise hat Gero von Boehm zum Wohle unserer gemeinsamen Fernseharbeit noch fast immer seinen Willen durchgesetzt.

Auf der Jagd nach spektakulären und einzigartigen bewegten Bildern für unsere sechsteilige und aufwendige ZDF-Dokumentation »Unterwegs in der Weltgeschichte« sind der Produzent, sein Team und ich bis zum Oktober dieses abenteuerlichen Jahres 2009 bereits einmal fast um den gesamten Erdball gejettet und haben unter anderem die Pyramiden in Mexiko und die Freiheitsstatue in New York fernsehtechnisch »abgefrühstückt« und in das rechte historische Licht gerückt.

»Dann lassen wir das eben mit dem Dreh in dem Garten!«, sage ich resignierend, wohl auch ein bisschen überreizt infolge meines Dauer-Jetlags.

Während ich mir den Schweiß mit einem penetrant nach billigem Fliederparfüm riechenden Papiertaschentuch von der Stirn wische, arbeite ich allerdings innerlich an einer möglichst konstruktiven Alternative. Schließlich schlage ich vor: »Wir könnten doch über den Zaun hinweg drehen. Ganz einfach!«

Der Produzent schaut mich verdutzt an. So, als wollte er sagen: Haben wir uns auch nur ein einziges Mal während unserer Dreharbeiten mit dem Nein eines mürrischen Schwellenwächters zufriedengegeben?

Wo wir überall eigentlich nicht hätten drehen dürfen! In der Blauen Moschee in Istanbul, im Herzen des Vatikans oder auch im großen Tempel in Luxor. Überall hieß es: Nein! Nicht mit uns! Wir haben uns trotzdem nicht vertreiben lassen. Und auch diesmal bleibt unser Produzent auf charmante Weise ungehorsam. Er weiß, dass die jeweils Verantwortlichen es nie bereuen, ihren anfänglich rigorosen Widerstand schlussendlich aufgegeben zu haben.

Es ist uns stets gelungen, ihren guten Willen nicht zu enttäuschen, und das, obwohl wir zum fahrenden Volk der »Fernsehfuzzis« gehören. Und so lautet Gero von Boehms etwas halsstarrige Antwort nun vollkommen zu Recht: »Das kommt gar nicht infrage! Das Bild, das wir für den Film brauchen, bist du im Garten und nicht irgendwo vor einem Eisengitter. Von außen ansehen darf sich den Ort ja jeder Tourist.«

Der Produzent hält dem skeptischen Wärter entgegen, dass wir eigens aus Deutschland angereist seien und eine Drehgenehmigung vom zuständigen Ministerium für das gesamte Areal in der Tasche hätten. Im Übrigen würde ich – der Moderator der Sendung – selbstverständlich nur schweigend und andächtig durch den geheimnisumwitterten Garten wandeln.

Das ist ein wirklich kluger Schachzug, denke ich, auch wenn mir diese Tatsache völlig neu ist. Denn ich hätte eigentlich einen zwar poetischen, aber doch ellenlangen Text im Garten zu sprechen gehabt. Der wird nun aus gegebenem Anlass gestrichen. Bilder sind eben manchmal aussagekräftiger als Worte. Eine Stärke jedoch werfe auch ich in den Ring, um Gero stumm lächelnd zu unterstützen. Ich gucke harmlos! Niemand, behaupte ich, kann so überzeugend harmlos und ungefährlich dreinschauen wie ich, zumindest wenn es, so wie jetzt, darauf ankommt.

Die Argumente und vor allem aber die hypnotisierende Ausstrahlung unseres Produzenten scheinen indes auf fruchtbaren Boden zu fallen, denn der störrische Wärter des Allerheiligsten wirft einen nachdenklichen Blick auf seinen Schlüsselbund und verkündet dann verschwörerisch, während er dabei auf mich deutet:

»Okay. Aber nur fünf Minuten, und er darf im Garten nicht sprechen!«

Er greift nach einem der halb verrosteten Schlüssel am Bund und öffnet tatsächlich das kleine schmiedeeiserne Tor zum Garten Gethsemane in Jerusalem. Dem letzten Zufluchtsort Jesu vor seiner Kreuzigung. Der Platz, an dem der Messias verraten wurde.

Was schier unmöglich schien, ist mit einem Mal und allein durch Herrn von Boehms diplomatisches Geschick und sein Fingerspitzengefühl zum Greifen nahe. Mit einer knappen und wenig einladenden Geste fordert mich der grimmige Wärter auf, den Garten zu betreten. Er selbst setzt den Fuß nicht einmal auf die Schwelle und bleibt mahnend am Tor stehen. Der Kameramann folgt mir samt seinem technischen Equipment still ins Allerheiligste.

Es ist ein eigenartiges Gefühl der besonderen Ehre, welches uns beschleicht, als wir zwei diesen zweifellos bedeutenden Ort der Menschheitsgeschichte betreten dürfen.

Ein schlichter kleiner sonnendurchfluteter Olivenhain mit exakt acht uralten und ehrwürdigen Bäumen; mehr ist es zunächst gar nicht. Ein sanfter Wind lässt die Blätter an den Olivenbäumen leise rascheln. Das also ist der Lieblingsplatz Jesu.

Eigentlich bin ich jemand, der heiligen Stätten oder sogenannten spirituellen Orten eher skeptisch gegenübertritt, da diese Plätze meist nur das sind, was Menschen unbedingt in ihnen sehen wollen.

Aber dieser Garten ist ganz anders als alles, was ich bisher an Vergleichbarem sehen durfte. Er besitzt so etwas wie eine eigenständige Wirksamkeit, die unabhängig von meinem Wünschen, Wollen, Denken oder Betrachten arbeitet. Mit einem Mal wird etwas in mir sanft »verrückt« oder, besser gesagt, gerade gerückt. Wild durcheinanderkreisende Gedanken in meinem Kopf scheinen sich hier wie von selbst in einer sinnvollen Reihenfolge zu ordnen.

Das karge Wäldchen durchströmt spürbar eine liebevolle Kraft, der ich mich, selbst wenn ich es wollte, nicht erwehren kann. Energetisch ist hier alles im harmonischen Fluss, mein Geist und mein Körper geraten automatisch in Einklang mit dieser zarten und friedvollen Schwingung.

Seltsam befreiend fühlt es sich an, still durch diesen Garten zu wandeln. Die heilsame Kraft, die von diesem grünen Fleck ausgeht, ist für mich körperlich wahrnehmbar und beschert mir unerwartet einen der schönsten und damit unvergesslichsten Momente meines Lebens. Tatsächlich empfinde ich es als eine Art Gnade, meinen Fuß in dieses gut bewachte Heiligtum setzen zu dürfen.

Der Ort selbst wirkt dabei so verletzlich. Ein falsches, lautes oder unbedachtes Wort an diesem Platz würde die friedensstiftende Energie vermutlich trüben, und ein einziger glühender Funke würde ausreichen, um das trockene Grün innerhalb kürzester Zeit lichterloh in Flammen aufgehen zu lassen.

Wie hat dieser fragile Ort bloß die vergangenen 2000 Jahre vollkommen schadlos überstanden? Und das quasi mitten im von Krisen und Krieg geplagten Jerusalem? Vermutlich muss man vielen Generationen von argwöhnisch dreinschauenden Wächtern dafür danken, dass der Ort noch intakt ist. Die ungewöhnliche Widerborstigkeit des wachhabenden Hüters kann ich nun nachvollziehen. Es muss im Innersten des Gartens allzeit absolute meditative Stille herrschen. Der hier gewirkt hat, hat seine nachhaltigen Spuren im Schatten der Olivenbäume fühlbar hinterlassen.

Als wir den Garten, förmlich verwandelt, durch das kleine Tor nach gut fünf Minuten wieder verlassen, steht da immer noch der schlecht gelaunte Wärter und raunzt mir leise zu: »Haben Sie es gespürt?«

Zwar bin ich etwas verblüfft über seine Frage, sage aber dann doch freiheraus: » Ja, das habe ich in der Tat!«

»Gut!«

Mit diesem gegrummelten Wort verschließt er das Tor auch wieder. Der Produzent lächelt mehr als zufrieden. Und für mich bleibt Jerusalem der bewegendste Ort, an dem ich je sein durfte. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Das, was ich im Oktober des Jahres 2009 in diesem Garten gespürt habe, es festigt meinen Glauben.

Dass mein kurioser Weg als Fernsehkomiker und Moderator mich nach knapp 26 Berufsjahren in den Garten Gethsemane führen würde, hätte ich wohl selbst für am wenigsten wahrscheinlich gehalten. Eine selten glückliche und durchaus schräge Fügung. Letztlich war der kurze Aufenthalt in Gethsemane ausschlaggebend dafür, dass ich die Kraft und die Überwindung aufbringen konnte, das vorliegende, für mich stellenweise schwierige Buch überhaupt zu schreiben.

Glaubt man der Kabbala, der uralten mystischen Tradition des Judentums, dann steckt hinter jedem Namen oder Wort neben seiner offensichtlichen noch eine verborgene Bedeutung. Anagrammspezialisten würfeln die Buchstabenfolge eines Wortes so oft neu zusammen, bis sich ihnen ein neuer, geheimer Sinn des Namens erschließt. Ein an der Kabbala interessierter Leser hat das mit dem Titel meines ersten Buches versucht und ist zu einem frappierenden Ergebnis gelangt. Ich bin dann mal weg wird zu: »Weib, Mann, Ding, lach!«

Diesen Satz dürfen Sie gern als dringende Lebensempfehlung meinerseits verstehen. Aber wozu wird wohl Der Junge muss an die frische Luft? Ich bin gespannt.

KAPITEL 2

DU BIST WIE ICH, HORST SCHLÄMMER!

Erkenne Gott und das Gute

in jedem Gesicht.

Der 11. 11. 2011 ist ein matschig verregneter, nasskalter Tag in Düsseldorf. Ob allein aufgrund des miesen Wetters oder der drolligen Schnapszahl wegen, das weiß ich nicht genau, jedenfalls bedeutet dieser Tag eine Zäsur in meinem Leben. Es endet etwas Altvertrautes, und etwas aufregend Neues scheint sich Bahn zu brechen.

Richtig hell ist es den ganzen Tag nicht geworden; jetzt am frühen Nachmittag ist es eigentlich schon wieder dunkel. Selbst in Reykjavik ist das Wetter heute wahrscheinlich freundlicher. Die fünfte, närrische Jahreszeit hält im Rheinland in diesem Jahr eher schlapp ihren Einzug, zu hören ist bestenfalls ein ganz maues Helau, das sich am liebsten wohl unter einem Regenschirm verschanzen würde. Bei diesem Aschermittwochwetter bleibt selbst der närrischste Jeck zu Hause, um jetzt schon für die kleinen Sünden zu büßen, welche er noch gar nicht begangen hat und die er, wenn das Wetter so bleibt, aus purer Lustlosigkeit auch nie begehen wird.

Der ockerfarbene Horst-Schlämmer-Mantel und das dazugehörige schwarze Herrenhandtäschchen aus billigem Kunstleder mit Griffschlaufe liegen auf der ausladenden waidmannsgrünen Samtcouch zum Einsatz parat. Alles andere, was noch zur Maskerade gehört, wird Inge später mitbringen. Mein Blick aus dem Fenster der irgendwie altdeutsch eingerichteten und überheizten Schleiflack-Präsidentensuite im mondänen Parkhotel trifft auf die größte und wahrscheinlich auch dezibelstärkste Baustelle Europas.

Mitten in der schlimmsten und von uns Deutschen mitverschuldeten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg macht Düsseldorf auf richtig dicke Hose und verlegt eine mehrspurige Brückentrasse mit aller Gewalt unter die Erde. In ferner Zukunft soll hier eine autofreie Grünfläche für erholungsbedürftige Düsseldorfer entstehen. Die Erholung werden sie auch bitter nötig haben nach all dem Radau.

Im Moment sieht es hier noch so aus wie kurz nach einem Bombenangriff. Genau deswegen kann man im Hotel auch besonders preiswert wohnen, und ich begreife, wieso ich ausnahmsweise mal in einer Präsidentensuite logieren darf.

Heute Abend findet die Vorpremiere des Musicals Hape Kerkelings Kein Pardon im Düsseldorfer Capitol Theater statt, morgen dann die eigentliche sogenannte Welturaufführung, in Anwesenheit vieler aufgebrezelter Fernsehpromis, mit all dem dazugehörigen Medientamtam.

Diese Baustelle funktioniert gewissermaßen wie eine Metapher für mein eigenes Leben, denn so wie sich Düsseldorf gerade mit diesem Großbauprojekt ein wenig übernimmt, so übernehme ich mich wieder einmal mit meinem Job … und überhaupt.

Dieses klaffende, wunde Loch mitten in der ansehnlichen Landeshauptstadt steht für das mühsame Werden einer vermutlich in Zukunft einmal wunderschönen Oase. Wenn man nicht genau wüsste, was sie da unten lautstark inmitten der ohnehin quirligen Metropole Düsseldorf treiben, könnte man den verantwortlichen Projektleiter getrost für komplett verrückt halten. Es sieht im Moment einfach nicht so aus, als würde oberhalb dieser schlammigen und lärmenden Grube jemals eine blühende kleine Landschaft entstehen wollen.

War mein Leben zu Beginn nicht auch eine ziemlich aufgewühlte Baustelle und ein einziges Chaos? Gab es da nicht auch eine klaffende Wunde, die einfach nicht heilen wollte? Hätte ich jemals ernsthaft annehmen können, dass aus dieser Wunde über die Jahrzehnte etwas derart Schönes entsteht?

Aus dem Film Kein Pardon von 1993 ist jedenfalls unter der Federführung von Thomas Hermanns ein ausgesprochen gelungenes Comedy-Musical geworden.

Viele inhaltliche und konzeptionelle Diskussionen, Castings, kalte und heiße Proben, ziemlich blöde und ausgesprochen nette Interview- und Fototermine haben mich deshalb in den vergangenen Monaten immer wieder in meine geliebte alte Wahlheimat geführt.

Als ich jenen Streifen damals gemeinsam mit dem unvergesslichen Filmproduzenten Horst Wendlandt verwirklichen durfte, flog mir parallel dazu das Angebot des ZDF ins Haus, Wetten, dass..? von Thomas Gottschalk zu übernehmen. Ich lehnte umgehend und dankend ab, und zwar mit einem klaren: »Nein danke. Ich möchte nicht.«

Und nun, knapp 18 Jahre später, wird aus dem Film das Musical, und vor exakt einer Woche habe ich Wetten, dass..? zum zweiten Mal abgelehnt. Diesmal live und im Fernsehen! Direkt neben Thomas Gottschalk, auf dessen berühmter Couch hockend, und somit vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit. Ich hab sie doch nicht mehr alle!? So etwas sagt man nämlich nicht vor laufender Kamera ab, sondern schlicht mit einem knappen und amüsanten Pressestatement.

Habe ich das jetzt aus verirrtem Größenwahn oder aus purer Erschöpfung getan? Tatsache ist: Ich hab’s getan. Im Rückblick einfach nur peinlich.

In den vergangenen Jahren ist mir jedoch so einiges an Schönem, leider aber auch an weniger Erbaulichem in die Quere gekommen. Manche Dinge sind mir dadurch schlicht aus dem Ruder gelaufen. Diese Jahre, von 2009 bis 2011, waren für mich besonders ereignisreich, geprägt von jeder Menge Abenteuer und Wirbel.

Mein bereits 2006 erschienener Erstling Ich bin dann mal weg!, der tatsächlich von Gott und der Welt handelt, avancierte gegen alle meine Erwartungen zum erfolgreichsten deutschen Sachbuch der Nachkriegszeit und ist in 16 Sprachen übersetzt worden. Ulkiger und ehrenvoller Nebeneffekt dieses überwältigenden Erfolges war, dass mich der spanische König wegen besonderer Verdienste um Spanien im Jahre 2011 zum »Illustrissime« ernannte und ich somit quasi zum niederen spanischen Adel gehöre. Natürlich gab es bei allem Rummel um diesen Erfolg vereinzelt auch harsche Kritik. Dilettantisch, unpersönlich, fade, schlecht geschrieben, naiv, nicht nachvollziehbar, eitel, esoterisch, langweilig, redundant, verkorkst und nicht der Rede wert – dies waren die negativen Begriffe, mit denen man das Buch und somit auch mich belegte. Und gelegentlich habe ich auch diese Dinge an mich herangelassen.

Mit dem bereits eingangs erwähnten Gero von Boehm und seinem großartigen Team habe ich die sechsteilige ZDF-Reihe Unterwegs in der Weltgeschichte gedreht. Eine Mammutaufgabe. Auf dem eng gestrickten Arbeitsplan standen als Drehorte die Türkei, Ägypten, Israel, Spanien, Italien, Großbritannien, die Niederlande, die Tschechische Republik, Frankreich, Russland, die USA, Mexiko, die Wartburg und obendrein der neblige Teutoburger Wald. Das alles innerhalb nur eines Jahres.

Parallel dazu beschlossen mein langjähriger Lebenspartner Angelo und ich schweren Herzens, getrennte Wege zu gehen. Mitten in dieser schlimmen Lebenskrise verschlug es mich paradoxerweise also immer wieder an die schönsten Orte des Erdballs. Das will dann alles auch einfach mal verdaut werden.

Nur wann eigentlich? An friedliches Innehalten und stille Reflexion ist gar nicht zu denken. Denn an wie vielen atemberaubenden Schauplätzen und in wie vielen unterschiedlichen Klima- und Zeitzonen an wie viel Tagen wir gedreht haben, das weiß ich beim besten Willen nicht mehr genau. Es waren unzählige, und manchmal ist die Arbeit auch eine willkommene Ablenkung gewesen.

So schön und erlebnisreich das Leben eines Weltenbummlers auch sein mag, ganz ehrlich, die berühmten Sätze: »Willkommen an Bord!« und »Die Schwimmwesten befinden sich unter Ihrem Sitz!« kann ich eine ganze Weile lang einfach nicht mehr hören.

Manchmal frage ich mich, wie ich über all die Jahre in dieser durchaus auch kaputten Branche überhaupt halbwegs heil geblieben bin. Ein Wunder, dass ich nicht tatsächlich so aussehe wie Horst Schlämmer! Zugegeben – der Stress im Showbusiness ist nichts weiter als ein massives Luxusproblem, für das ich zumeist sogar dankbar bin. Es gibt Schlimmeres. Viel Schlimmeres. Davon soll gleich noch die Rede sein.

Vor all den Premierenzirkus am heutigen 11. 11. 11 hat der liebe Gott nämlich noch einen wirklich wichtigen Termin gesetzt.

Vor zwei Stunden sind mein Freund Henning und ich, aus Berlin kommend, am Düsseldorfer Flughafen gelandet und haben es uns nun in dieser rheinischen Luxusresidenz an der Kö so gemütlich wie nur eben möglich gemacht. Selbst bei geschlossenem Fenster hat man das Gefühl, dass man live auf der Baustelle beim Presslufthämmern mit dabei wäre.

Wie zum Trotz einen melancholischen alten Schlager trällernd macht Henning sich im Bad nebenan frisch. Er hat einfach immer gute Laune; auch an einem so schwierigen Tag wie heute bleibt er sonnig bis heiter. Mir gefällt das. Und hat er mal schlechte Laune, dann handelt es sich bei ihm immer noch um eine abgespeckte Variante von guter Laune. Er ist ein Wunder für mich! Seit gut einem Jahr.

Pünktlich um 17.00 Uhr steht Inge vor unserer Hotelzimmertür. Meine Maskenbildnerin. Eine temperamentvolle, dunkelhaarige, herztüchtige Fränkin. Wir kennen und schätzen uns seit 1985 – das ist schon verdammt lange. Alles fühlt sich heute irgendwie so an, als wäre es lange her. Länger als sonst, komischerweise …

Nach einer herzlichen Umarmung, einem kurzen Plausch bei einer Zigarette und einem schönen, schnöden Filterkaffee kramt Inge wie schon so oft die grau gelockte Perücke, die schiefen Zähne und den dazugehörigen verfilzten Schnauzbart aus den Untiefen ihres Maskenkoffers hervor. Beim bloßen Anblick dieser drei Gegenstände bekomme ich wahlweise entweder Kreislauf oder Rücken. Und das ist normalerweise auch gut so.

Sie legt alles, so als handele es sich um die Kronjuwelen des niederländischen Königshauses, behutsam auf den kurzerhand zum Schminktisch umfunktionierten Biedermeiersekretär.

Oft werde ich den schmierigen grauen Schlämmer-Kittel nicht mehr anziehen können, schießt es mir bei einer eingehenden Untersuchung des abgegriffenen Mantels durch den Kopf. An den Ärmeln gibt der inzwischen transparente Stoff infolge des siebenjährigen Einsatzes bereits bedrohlich nach.

»Wie bin ich bloß auf die bescheuerte Idee gekommen, derart hässliche Kleidung und eine so abartige Maskerade zur besten Sendezeit im Deutschen Fernsehen zu tragen?«, denke ich laut.

Inge lacht, und zwar so, wie sie es immer tut. Schallend, herzlich und ansteckend. »Na, da gab es aber schon weitaus schlechtere Ideen als diese!«

Ob es allerdings so eine gute Idee ist, ausgerechnet heute in diese Kostümierung zu steigen, dessen bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Was für ein verrücktes Phänomen, dass meine schmuddelige und nuschelnde Kunstfigur Horst im Prinzip bekannter und beliebter ist als ich, ihr Darsteller.

Henning ist mittlerweile dem Bad entschwunden und hat sich in seinen feinsten, silbergrau schimmernden Zwirn geworfen.

»Toll siehst du aus!«, entfährt es Inge – und sie meint damit nicht mich. Denn ich lasse mich gerade auf eigenen Wunsch ja höchst professionell von ihr verunstalten.

»Also, wie machen wir das jetzt?«, will Henning vorsichtig in Erfahrung bringen. »Ich gehe mit … oder? Es ist, glaube ich, gut, wenn ich dich heute begleite.«

»Allein schaffe ich das nicht«, sage ich mit belegter Stimme. »Es wäre schon toll, wenn du dabei bist!«

In solchen Situationen legt sich immer ein klebriger und gegen alle Linderungsversuche resistenter Film auf meine Stimmbänder, der es mir partout nicht mehr gestattet, etwas in normaler Zimmerlautstärke zu äußern.

Inge ihrerseits bekundet wie immer Solidarität und absolute Loyalität.

»Wenn du willst, gehe ich auch mit! Kein Thema!«

Dass sie mich heute schminkt und ganz nebenbei auch moralisch stärkt, kostet niemanden einen Cent. Sie ist gekommen, weil sie es für richtig hält.

»Nein, lass mal, Inge …«, sage ich zwar dankend, aber trotzdem bestimmt. »Es sollten auch nicht zu viele Menschen dabei sein. Ich kenne das Mädchen doch gar nicht.«

Mit dem breiten Mastix-Pinsel verteilt Inge inzwischen großzügig den gleichnamigen Perückenkleber unter meiner Nase. Der Schnauzbart muss ja schließlich irgendwie halten. Dieses eklige Zeug mit dem schönfärbenden Namen »Mastix« hat die bösartige Eigenschaft, bei direktem Hautkontakt schlagartig eiskalt und gleichzeitig ätzend heiß zu werden. Dabei stinkt es penetrant nach einer Mischung aus Harz, Dieselkraftstoff und ranzigem Marzipan. Irgendwie liebreizend süßlich, aber auch verdorben sauer. Und fragen Sie mich bitte nicht, woher ich weiß, wie ranziges Marzipan riecht, ich weiß es natürlich nicht. Aber eines weiß ich, nämlich, dass Mastix genau so riecht. Bäh! Und das meistens direkt unter meiner Nase.

Wieder und wieder habe ich mir in den vergangenen fast dreißig Jahren diese zähflüssige Teufelstinktur unter die Nase, an die Schläfen, auf die Stirn, ans Kinn oder sonst wohin schmieren oder reiben lassen, damit irgendein Fremdhaar zu mehr oder weniger gelungenen Fernsehunterhaltungszwecken bombenfest in meinem Gesicht oder auf dem Kopf halten konnte. So wurde ich zu Hannilein, Siggi Schwäbli, Beatrix, dem Hurz-Sänger Miroslav Lemm, Rico Mielke, Gisela, Uschi Blum, der Paartherapeutin Evje van Dampen und – last, but not least – zu Horst Schlämmer.

Meine Maskerade ist perfekt. Der Kleber ätzt und riecht streng, und ich sehe nun so aus, als würde ich dasselbe tun. Heute passiert das alles allerdings nur auf Wunsch einer einzelnen jungen Dame. Melanie. So heißt die kleine Duisburgerin. Sie ist gerade einmal neun Jahre alt und hat nach Aussage ihrer behandelnden Ärzte nicht mehr viel Zeit auf diesem komischen und manchmal recht zickigen Planeten.

Eine Organisation, die todkranken Kindern ihren letzten Wunsch erfüllt, hat mich angeschrieben und mir von Melanie erzählt. »Eine Ballonfahrt und einmal Horst Schlämmer treffen!« Das stand auf ihrem bescheidenen Wunschzettel.

Ballon gefahren ist sie bereits, und es soll toll gewesen sein. Nun will sie Horst Schlämmer kennenlernen. Wohlgemerkt, nicht mich. Von mir hat sie wahrscheinlich noch nie etwas gehört.

In Ich bin dann mal weg habe ich eine ähnliche Begegnung bereits beschrieben. Damals, 1992, begegnete ich – übrigens auch in Düsseldorf – der 15-jährigen Alexandra. Das Erlebnis hat mich erschüttert und verändert. Deswegen weiß ich von der Kraft und der Wucht, die in derart endgültigen Begegnungen steckt. In meinen frühen Sketchen spielte ich oft eine von mir erfundene Melanie, die pausbäckig, frech und sehr lustig war – die kleinere Schwester des vorlauten Hannilein. Auf was für eine Melanie werde ich heute treffen?

Es klopft an die Tür. Das muss Nancy sein.

Meine wuselige, kessblonde Managerin Elke hat in ihrer Heimatstadt Berlin zu tun, und so wird ihre weitaus ruhigere Assistentin sich um die Koordination der heutigen Termine kümmern. Ich öffne die Tür.

»Melanie und ihre Eltern sind gerade unten in der Lobby angekommen. Das Hotel war so freundlich und hat extra eine andere Suite vorbereitet, wo ihr euch in Ruhe treffen könnt. Du bist ja schon umgezogen. Ich begleite dich hinauf, okay?«, bereitet Nancy mich vor.

Wie vor jedem Auftritt mustert mich meine Maskenbildnerin noch einmal eingehend und kritisch. Etwas scheint nicht zu stimmen, denn Inges suchender Blick landet mit weit aufgerissenen Augen auf dem Sofa.

»O Gott, bloß nicht den Schnapper aus Nappa vergessen!« Inge reißt die Herrenhandtasche vom Sitzmöbel und wirft sie mir entschlossen zu.

Recht hat sie. An dem Herrenhandtäschchen hält sich Horst Schlämmer nämlich immer fest. Sonst weiß er partout nicht, wohin mit den Händen. Ohne diese Tasche ist er nicht er selbst.

Gemeinsam mit Nancy fahren Henning und ich mit dem Aufzug in die oberste Etage des schicken Hauses, um kurz danach die stilvolle und angenehm beleuchtete Suite zu betreten. Eigentlich ein sehr schöner Ort. Die Hotelangestellten wussten von der geplanten Begegnung und haben alles auf berührende Weise liebevoll hergerichtet.

»Gut. Dann werde ich deinen Gast jetzt in der Lobby in Empfang nehmen und hierher begleiten«, erklärt Nancy in besänftigendem Tonfall und zieht die Tür wieder leise hinter sich ins Schloss.

Der Baustellenlärm verebbt, und so herrscht bald eine eigentümlich friedvolle Feierabendstimmung in den Räumlichkeiten.

An der schwarzen Herrenhandtasche nestelnd, setze ich mich in einen der schweren grünen Sessel – und Herr Schlämmer versinkt fast darin.

»Das sieht sicher lustig aus«, denke ich laut, »und Horst wirkt dadurch kleiner.« Vielleicht ist das gut? Oder eher nicht? Wie lege ich Horst Schlämmer eigentlich an? Dies ist kein Auftritt wie alle anderen, sondern das gnadenlose Leben.

»Meinst du, ich sollte mich im Laufe des Gesprächs mit Melanie langsam demaskieren? Damit sie sieht, wer ich wirklich bin?«, frage ich Henning.

»Bloß nicht! Sie will Horst Schlämmer treffen«, bremst er mich laut flüsternd. »Das musst du so gut gelaunt wie nur eben möglich durchziehen. Sonst ist sie vielleicht enttäuscht.«

Vielleicht sollte ich einfach an Horsts durchschlagenden Erfolg bei Damen jeden Alters glauben? Er kriegt das schon hin, und wahrscheinlich sogar besser als ich.

Es klopft. Von einem Hotelangestellten wird die schwere Tür von außen geöffnet. Aus dem Flur ist eine neugierige Kinderstimme zu hören: »Und da ist er jetzt wirklich drin?«

»Ja, er wartet da drinnen auf dich!«, höre ich Nancy noch sagen, bevor die Tür sich wieder schließt und Melanie, in einem großen Rollstuhl sitzend, von ihren Eltern sanft und fast lautlos ins Zimmer gefahren wird.

Sie strahlt über das ganze Gesicht und kommt mir vor wie eine kleine Königin.

Von der Krankheit ist sie schwer gezeichnet, und nicht nur die sehr kurzen Haare lassen erahnen, dass sie in der Therapie durch die Hölle gegangen sein muss. Trotzdem ist auch ihr sonniges Gemüt einfach nicht zu übersehen. Sie sieht frech, aufgeweckt, hübsch und pausbäckig aus. Genau wie die kleine Melanie in meinen Sketchen.

»Booooaaaah, Horst Schlämmer! … Ist das cool!!!«, prustet es laut aus ihr heraus, und dabei klatscht sie mit der linken Hand heftig auf die Lehne ihres Rollstuhls. Die rechte Hand bleibt reglos in ihrem Schoß liegen.

»Schätzelein, du has’ heute aber den ganz großen Auftritt, chrrr, weisse Bescheid …«, grunze ich ihr gewohnt aufdringlich und unter Zuhilfenahme meines ganzen Körpers entgegen. Sie kichert herrlich unkontrolliert in die kleine Runde, während ihr Vater den Rollstuhl so neben meinem Sessel platziert, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen können.

Melanie ist aufgeregt, ihre Augen strahlen. Irgendwie komme ich mir grad vor wie der Nikolaus persönlich, und deswegen lege ich Horst Schlämmer heute auch genauso an, indem ich nahezu unverständlich nuschele:

»Sach ma’, Schätzelein, wie isch disch so einschätze, hasse sischer einen Mordsappetit auf Schokolade. Wat meinsse … du und isch und ’ne schöne Tafel Schokolade … bisse dabei?«

»Hast du Schokolade hier?«

Melanie ist begeistert. Die Idee scheint also nicht so schlecht gewesen zu sein. Ihre Mutter, die nun neben ihrem Mann und Henning auf dem Sofa Platz genommen hat, nickt schüchtern und gibt damit ihr Einverständnis.

So stakse ich, immer noch nervös an meinem Handtäschchen fummelnd, zur Minibar, und wie es sich für ein Hotel der Spitzenklasse gehört, befinden sich darin auch drei kleine Tafeln Schokolade eines namhaften Schweizer Herstellers.

»Sach ma, und wat trinkste, mein Engelschen? Apfelsaft oder Doornkaat?«

»Natürlich Doooooornkaaaaaaat, Horst!«, quietscht sie erheitert, um dann gespielt vernünftig fortzufahren: »Aber weil Mama heute dabei ist, lieber nur Apfelsaft!«

Die Atmosphäre entspannt sich mithilfe der Schokolade zusehends, und so lasse ich mich auf einen unterhaltsamen Schlagabtausch mit der schlauen Melanie ein. Ähnlich wie Horst Schlämmer ist sie ein lustiger Platzhirsch mit viel Selbstbewusstsein. Wie schön!

»Wieso wollse denn ausgerechnet misch treffen, Schätzelein? Wie komme isch zu der Ehre? Wollse mir wat erzählen?«

»Nö! Ich find dich cool, Horst! Total cool!«, lautet ihre knappe, aber überzeugende Antwort.

»Ja, weisse, dat liescht daran, dat isch ’nen unheimlischen Schlag bei Frauen hab, weil isch so mördermässisch jut aussehe. Wusstese dat, Melanie?«, flöte ich voller Überzeugung im dröhnenden Bass vor mich hin.

Alles, was Melanie bis zu diesem Zeitpunkt in ihrem Mund hatte, fliegt nun im hohen Bogen Richtung Edelsitzecke. Mich streift das Apfelsaft-Schokoladen-Konzentrat zum Glück nur knapp. Die Kleine lacht das ganze Hotel zusammen. Das ist ansteckend. Wenn Kinder so lachen, muss ich mitlachen und falle komplett aus allen Rollen.

»Wie war denn eigentlisch deine Ballonfahrt, du verrückter Hase?«, schlämmere ich mich, nachdem ich die Fassung wiedergewonnen habe, zurück in die Rolle.

»Ganz toll! Ich bin über unser Haus geflogen und hab den Garten und meine Geschwister gesehen. Alles von oben. Hast du das auch schon mal gemacht, Horst?«

In ihrer Beschreibung schwingt Wehmut, aber auch Freude mit.

»Nee, hab isch nisch … bisse verrückt!? Weisse wat, Melanie, eigentlisch is dein Horstilein nämlisch ein Angsthase!«, sage ich über Horst und meine natürlich mich.

»Du bist doch kein Angsthase!«, empört sie sich. »Du bist wie ich. Du sagst immer ehrlich, was du denkst. Das gefällt mir!«

Der Satz trifft mich voll ins Herz, und ich ringe innerlich um Fassung. Es gehört nämlich Mut dazu, immer zu sagen, was man denkt – was mir persönlich auch nicht immer gelingt. Was für eine Lektion, die mir dieses kleine kraftstrotzende und todkranke Mädchen da mit auf den Weg gibt. Jetzt hat sie mich bei einer Schwäche ertappt!

Melanie hat offensichtlich nicht nur eine Mordsaufregung mitgebracht, sondern auch einen ebensolchen Appetit, denn im Verlauf unseres Gesprächs verputzt sie genüsslich alle drei Tafeln Schokolade.

Als ich für einen flüchtigen Moment darüber nachdenke, mich zu demaskieren, und die Perücke und die schiefen Zähne ablegen will, frage ich Melanie beim Griff ans gelbe Plastikgebiss: »Soll isch …?«

Sie hält meine Hand fest und sagt leise: »Neeee, lass mal lieber, Horst! So ist es gut.«

Natürlich sprechen wir in der kleinen Runde auch offen über ihre dramatische Situation und den damit verbundenen seelischen und körperlichen Schmerz.

Das zutiefst Beeindruckende an dieser Begegnung mit Melanie ist für mich: Ihr Körper beginnt zwar zu sterben, aber ihre Seele und ihr Geist sind strotzend vital. Sie wirkt – fast traue ich mich nicht, es zu sagen – auf seltsame Weise glücklich und frei von Angst. Ihre sprühende Offenheit, ihr stilles Vertrauen und ihre geistige Klarheit sind imponierend.

Wie macht sie das? Dieses kluge, kleine, stolze und lebenslustige Menschenkind? So ganz in Frieden mit sich und ihrer Welt zu sein? Es bleibt ihr Geheimnis.

»Und Mama?! Wie jeht et uns heute so?«, versuche ich, als ein ungewöhnlich gutmütiger und naiver Horst Schlämmer Melanies Mutter nach ihrem aktuellen Gemütszustand zu befragen.

»Ach!«, stöhnt die ebenfalls schwer geprüfte Mutter zunächst, um dann aber hinzuzufügen: »Mama geht’s mal so … und mal so. Aber so unglaublich es klingen mag, Melanie gibt mir ganz viel Kraft.«

Das glaube ich der bezaubernden Mutter aufs Wort. Zum Abschluss unserer Begegnung drücke ich Melanie stumm und ganz fest an mich. Mein Gott, es fällt mir so schwer, dieses Kind einfach wieder loszulassen.

»Erkenne Gott und das Gute in jedem Gesicht.«

Diesen evangelischen Kalenderspruch habe ich mal auf einem muffigen Krankenhausflur im Vorbeigehen auf einer vergilbten Pinnwand gelesen, und er ist mir seither in Erinnerung geblieben. Nie war die Umsetzung dieser Aufforderung leichter für mich als in diesem Moment.

Wenige Wochen nach unserer Begegnung wird Melanie friedlich einschlafen und diese Welt mit unbekanntem Ziel verlassen.

Mit einem vernehmbaren »Puh!« öffne ich unsere Zimmertür. Inge ist bereits wieder auf dem Heimweg durch den prasselnden Novemberregen, und ich lasse mich erschöpft auf das Sofa plumpsen.

Über das soeben Erlebte reden Henning und ich nicht. Was sollte man auch sagen? Es war schmerzhaft, aber eben auch schön. Manchmal vereint das Leben beide Gefühle in ein und demselben Moment. Das lässt sich nicht erörtern, sondern nur still wahrnehmen.

Henning geht schweigend ins Nebenzimmer, um, wie ich am Klappergeräusch der Kleiderbügel höre, einige Hemden in den Schrank zu hängen. Dazu sind wir beide heute noch nicht gekommen. Wir sind noch gar nicht richtig angekommen in diesem Zimmer und eigentlich ebenso wenig auf diesem Planeten. Die Hindus haben recht: Die Welt ist ein vorübereilendes Schauspiel.

Als ich, auf der Couch liegend, an die weiße Decke starre, sagt mir mein Gefühl: Das war Horsts letzter und vielleicht sein wichtigster Auftritt. Horsts komische Mission ist erfüllt. Für ein paar Minuten schließe ich die Augen und denke natürlich an Melanie. Ihre eindringlichen Worte klingen in mir nach.

»Du bist doch kein Angsthase! Du bist wie ich. Du sagst immer ehrlich, was du denkst. Das gefällt mir!«

Schließt sich für mich heute, an diesem seltsam jecken Tag, etwa ein Kreis mit ihrem Appell an mich? War ich als neunjähriges Kind eigentlich auch so angstfrei und offen? Vielleicht muss ich doch irgendwann einmal die Ereignisse meiner eigenen Kindheit mutig Revue passieren lassen?

KAPITEL 3

DER JUNGE SPRICHT NICHT VIEL

Vielleicht kann die eigene Geschichte

anderen ein bisschen

Lebensmut geben.

Während ich in meinem Hotelzimmer auf dem Sofa liege, verirren sich meine Gedanken nach Maputo, in die Hauptstadt von Mosambik. Die Erinnerung an die Begegnung mit einem besonders starken, zehnjährigen, HIV-positiven Jungen flammt in mir auf. Luis.

Seit knapp 15 Jahren engagiere ich mich im Rahmen meiner Möglichkeiten für die Deutsche Aids-Stiftung. Dr. Ulrich Heide, der ideenreiche Geschäftsführer, lässt sich in seinem Bonner Büro ständig etwas Neues einfallen, um seine Mitarbeiter und eben manchmal auch mich auf Trab zu halten und so den nationalen und weltweiten Projekten die dringend benötigte finanzielle Unterstützung zu sichern. So überrascht er mich eines Tages mit dem folgenden, etwas umständlichen Anruf:

»Heide hier! Guten Tag. Sie können sich sicher denken, warum ich Sie mal wieder anrufe, mein lieber Herr Kerkeling. Was kann ich schon von Ihnen wollen? Ihre Unterstützung!«

Genau das mag ich, neben vielem anderem, an Ulrich. Er kommt immer schnell auf den Punkt, und das nie, ohne eine gehörige Prise Humor beizumischen. Der promovierte Historiker ist Realist, aber auch Humorist – und damit einer der wenigen Menschen, die mich mit voller Absicht herzlich zum Lachen bringen können.

Allein deshalb habe ich wahrscheinlich fast alles, was er mir in den vergangenen zehn Jahren an Benefizaktionen zugunsten der von HIV und Aids betroffenen Menschen so vorgeschlagen hat, nahezu widerstandslos erfüllt und beispielsweise die eine oder andere Kunstauktion oder Operngala moderiert. Jetzt am Telefon ringt Dr. Ulrich Heide weiter um die passenden Worte:

»Ich weiß zwar schon, was Sie mir auf meine durchaus heikle und vielleicht in Ihren Augen auch anmaßende Frage antworten werden, aber ich hoffe inständig, dass Ihre Antwort doch anders ausfallen wird, als ich es jetzt gerade, während wir telefonieren, befürchte!«

O Gott! Hält er mich tatsächlich für so einen schwierigen Charakter? Vorsichtshalber entscheide ich mich spontan für folgende Antwort:

»Also, verehrter Herr Dr. Heide, wenn Sie Ihr Anliegen schon so umständlich vorbringen, dann ist meine Antwort natürlich: Nein! Das klingt mir zu kompliziert, also lassen wir es gleich.«

Ich posaune meine Sätze vollmundig in den Hörer, um möglichst entschieden zu klingen. Wer weiß, was er sich da wieder ausgedacht hat?

»Sehen Sie, und genau das dachte ich mir! Mhmhmh. Was machen wir zwei denn nun?«

Wie schon so oft lässt er eine wohldosierte, blecherne Kunstpause durch den Hörer auf seinen Gesprächspartner einwirken. Und welcher Naivling fällt darauf herein? Ich!

Wie vermutlich von Ulrich gewünscht und einkalkuliert, frage ich neugierig: »Wollen Sie mir denn wenigstens verraten, was ich Ihnen jetzt so unwirsch und ungalant abgesagt habe?«

Mann, ich bin aber auch leicht durchschaubar. Es gibt nun einmal ein paar Menschen, die mich spielend um den Finger wickeln können. Ulrich weiß ganz genau, dass er zu dieser seltenen, sympathischen Spezies gehört. Er hat das Herz auf dem rechten Fleck und ist dabei noch besonders lustig. Dagegen kann ich mich nicht wehren, ich werde sofort zu Wachs. Dr. Ulrich Heide kommt nun ohne Umschweife zum Punkt:

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