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Mein erster Jakob Hein
Vorwort von Wladimir Kaminer

Jakob Hein ist ein geheimnisvoller Mensch. Würde ich ihn persönlich nicht kennen und nur seine Geschichten lesen, stellte ich ihn mir so vor: ein Alleswisser Mitte Zwanzig, der gerne und viel redet und dabei ganz viele Bewegungen macht. Er weiß natürlich alles besser als die anderen und kann alles erklären: Was es mit der Sonne und dem Mond auf sich hat, warum nun George Bush und nicht Al Gore gewählt wurde, was Ätiopathogenese bedeutet und überhaupt – wie man richtig zu leben hat. Obwohl jung, weiß er schon, wie man das Finanzamt bescheißt. Er hat zu allem und jedem eine Meinung und muß bestimmt als Kind seinen Eltern tierisch auf die Nerven gegangen sein. Ein selbstbewußtes Kind also: ein Horror für jeden Erzieher. Dieser Eindruck entsteht insbesondere, wenn man die Geschichten über seine Kindergarten- und Grundschulzeit liest. Seine Lehrer mußten sich fürchterlich mit dem Jungen abquälen. Dafür werden sie nun von Jakob Hein belohnt: indem er sie in seinem literarischen Werk verewigt. Dieses Bild hat aber wenig mit dem wirklichen Jakob Hein zu tun. Das kann ich mit ruhigem Gewissen behaupten, weil ich ihn schon eine ganze Weile kenne. Denn wenn man ihn näher kennt, entdeckt man auch schnell einen anderen Jakob Hein, den unermüdlichen Wissenschaftler und Weltforscher, dessen beste Freunde die Lehrbücher sind, sei es nun Physik, Chemie oder Thermodynamik. Ein Lebenstheoretiker, der eine dicke Brille trägt, seine Haare niemals kämmt und in den Bibliotheken verschiedener Universitäten zu früh alt geworden ist – der Typus »verrückter Professor«.

Ist das nun der wahre Jakob? Nein, auch nicht. Liest man in dem Buch weiter, so präsentiert jedes weitere Kapitel den Autor in einer neuen Dimension: Mal erscheint er als erfahrener Jungalkoholiker, ein anderes Mal als überzeugter Sportler und Körperfetischist, später auch als rücksichtsloser Rock 'n' Roller und Frauenheld. Obwohl der Autor selbst von sich behauptet, er habe weder bei Frauen noch bei Männern Erfolg, ist Jakob in all seinen Geschichten stets von vielen Freunden umgeben, die aber eher eine Nebenrolle spielen. Manchmal gibt sich der Autor auch als großer Freidenker, Dissident und Philosoph, eine Mischung aus Charles Bukowski und Heiner Müller, der in der DDR politisch aktiv war und wie viele seiner Zeitgenossen auf beiden Seiten der Barrikade kämpfte.

Man kann sich einen solchen Jakob Hein gut vorstellen: Zigarren rauchend, mit Ironie im Gesicht, Westgeld in der linken Hosentasche und Ostgeld in der rechten. Also: ein Weltmensch made in DDR. Ein Spinner, würde vielleicht mancher sagen. Ein Psychiater! entgegne ich. Das sagt er auch selbst immer, wenn eine seiner Geschichten kein Verständnis bei den Mitmenschen bzw. Zuhörern findet. Dann zuckt Jakob Hein mit den Schultern – »Eigentlich bin ich ja Arzt« – und verzieht sich. Diese Vielseitigkeit von Jakob könnte die breiten Lesermassen verwirren und für alle möglichen Spekulationen über den Ich-Erzähler sorgen. Deswegen möchte ich schon im Vorfeld mit Hilfe dieses Vorworts klären, wer Jakob Hein wirklich ist. Jakob Hein ist ein Staubsauger. Konsequent und unermüdlich saugt er alles auf, was er um sich herum sieht, und verarbeitet die eigene und fremde Realität in akkurate, zweieinhalb Seiten lange Geschichten, die in einer angenehmen, leicht verständlichen Sprache verfaßt sind. Danach stopft er sie in eine Klarsichthülle, die er in einen ziemlich dicken Aktenordner abheftet, auf dessen Rücken »Dr. Jakob Hein« steht. Er ist nämlich ein praktizierender Kinderpsychiater. Jeden Tag muß er um sechs Uhr morgens aufstehen und ins Krankenhaus fahren. Kurz nach Feierabend fliegt er für gewöhnlich nach Boston (USA). Dort spielt er zusammen mit anderen Ärzten Karten. An den Wochenenden geht er auch gerne ins Kaffee Burger (in Berlin Mitte), wo er dann als DJ alte italienische Schlager abspielt. Wenn er nach Hause kommt, im Prenzlauer Berg, wartet schon seine Frau mit einer »heißen Tasse« auf ihn. Als Autor des Buchs »Mein erstes T-Shirt« ist er nun noch mehr beschäftigt. Ständig wird er von allen möglichen Leuten gesucht. »Ich weiß gar nicht, was die alle von mir wollen«, sagte er neulich zu mir und steckte sich eine dicke Zigarre in den Mund.

Gitarre

Es begann bei mir wie bei den meisten, es begann mit einer Gitarre. Christian aus meiner Klasse hatte im Keller eine E-Gitarre gefunden und mußte uns allen davon erzählen. Er war der Typ, der immer jedem etwas echt Wertvolles borgen oder etwas weniger Wertvolles schenken wollte. Seit dem Kindergarten hatte er nicht gelernt, daß man so keine Freunde gewinnen konnte.

Jetzt glaubte er wieder einen Grund gefunden zu haben, uns in der Raucherecke zu belästigen. Eigentlich rauchte er auch und hatte immer Zigaretten dabei, aber ob man in der Raucherecke stehen durfte oder nicht, hatte ja nichts mit Rauchen zu tun. Sogar manche Mädchen durften dabeisein, wenn sie zum Beispiel schwarz gefärbte Haare hatten, total auf diesen ganzen Schönheitskult schissen und außerdem nicht gerade stockhäßlich waren. Jedenfalls kam Christian in die Raucherecke und tönte groß herum, er habe eine Stromgitarre von seinem Vater gefunden. Wir sagten, daß er sich verpissen soll.

Nach der Schule ging ich immer ein Stück gemeinsamen Weg mit ihm. Wenn niemand anders mit war, vor allem keins von den Mädchen, die sich total nicht für Jungs und den ganzen Scheiß interessierten, unterhielt ich mich dann auch mit Christian. Ich fragte ihn, was das mit der Gitarre heute denn eigentlich gesollt habe. Sofort fing er an, die Gitarre zu beschreiben und wie er die seinem »Alten« klauen könnte und daß er so was schon öfter gemacht hat usw. Er war wirklich nicht besonders cool. Dann sagte ich ein paar Sätze, die ganz klarmachten, daß ich mich total gut mit E-Gitarren auskannte. Ich flocht Worte wie »Stratocaster« und »Plektron« in meine Sätze und sagte zum Beispiel: »Hat das Gerät zwei oder drei Tonabnehmer?« »Du kennst dich ja gut mit den Dingern aus, fast so wie Florian«, sagte Christian. »Flo!« Ich konnte nur lachen, »der kennt doch den Unterschied zwischen einer A-Saite und einer K-Saite nicht. Aber wenn du willst, kann ich mir das Teil ja mal anschaun.« »Das hat mir Florian auch schon angeboten.« Flo, dieser alte Arsch! Wollte mir meine Gitarre wegnehmen, obwohl er noch nicht mal einen gemeinsamen Heimweg mit dem Loser hatte. Ich machte mir sofort Zeit und ging mit zu Christian nach Hause.

Ich möchte über das Haus von ihm hier nichts Schlechtes sagen, in Kurzform: seine Eltern waren Zahnärzte. Sein Zimmer war dekoriert mit Plakaten von laschen Heavy-Metal-Kapellen, busenlosen Tittenmäuschen und schlecht angezogenen Popstars. Eigentlich war er ganz o. k., wenn man sich mal nicht so sicher war, dann mußte man nur Christian fragen, ob es ihm gefiel. Sein Geschmack war immer und mit Sicherheit out. Ich hatte Angst, wenn ich zu lange in seinem Zimmer sitzen würde, könnte ich mich an irgendeinen von den Gegenständen dort gewöhnen. Ich wollte sofort hinunter in den Keller.

Es war der ordentlichste Keller, den ich je gesehen hatte. Es gab einen richtigen Fußboden und Licht. Die Decke war hoch, und alles war nicht nur aufgeräumt, sondern auch blütensauber. Es gab einen Tisch mit einem Aschenbecher darauf, wo Christians Vater im Winter rauchen durfte, wenn es auf der Veranda zu kalt war. Christian holte die Gitarre aus einem Schrank hervor, anstatt sie aus irgendeinem Stapel alter Kisten zu zerren. Es war der gruseligste Keller, den ich je gesehen hatte. Die Gitarre war ein Traum! Drei Tonabnehmer und ungeheuer viele Schiebe- und Drehregler! Das Beste daran war, daß Klinkenbuchsen dran waren, ich also berechtigte Hoffnung hatte, Kabel und Stecker dafür zu bekommen. Denn daß es meine Gitarre war, daran gab es für mich keinen Zweifel mehr: Sie war schwarz und verchromt, war schwer und hatte einen Lederriemen. Der war lang genug, daß ich die Gitarre vor den Knien baumeln lassen konnte, so wie die Jungs meiner Lieblingsbands. Es gab sogar einen Hebel, auf dem man die Töne verzerren konnte! Die Gitarre war ein Traum!

Ich hatte zwei Möglichkeiten. Entweder ich ließ den Coolen heraushängen, der »das Gerät« total Scheiße findet und sich aber von Christian anbetteln ließ, es doch wenigstens mal zu Hause auszuprobieren. Oder ich begann zu betteln. Die erste Masche wäre sicherlich konsequenter gewesen, aber auch risikoreicher, denn dann hätte mir Florian meine Gitarre vielleicht weggeschnappt. Also gab ich Christian gegenüber zu, daß mir das Teil echt gut gefiel. Wofür war ich dreizehn, wenn ich konsequent sein wollte?

Er freute sich natürlich sehr und sagte sogar, daß er sie mir borgen würde. Ich hoffe heute, wir waren uns beide darüber im klaren, daß er sie danach nie wiedersehen würde. Aber er wollte einen verdammt hohen Preis, ich sollte bei ihm zu Hause Abendbrot essen und vor seinen Eltern so tun, als ob wir uns gut verstehen. Ich stimmte unter der Bedingung zu, daß keine Fotos gemacht wurden und er keinem anderen Schüler darüber erzählen durfte. Das klingt heute hart, aber ich wollte mich weiter über Cabaret Voltaire und Laibach unterhalten und nicht in der Pia-Zadora- und Aerosmith-Ecke stehen. Christian stimmte zu. Ich machte den Fehler, daß ich nicht »alle Menschen« gesagt hatte, denn seine Mutter sprach in den nächsten Elternversammlungen immer meine Mutter an, daß die Jungs ja so viel gemeinsam unternehmen würden, und meine Mutter konnte damit nichts anfangen. Ich weiß nicht, was Christian so machte, aber ich verbrachte damals viel Zeit damit, mit den Mädchen, die sich überhaupt nicht für Jungs und so interessierten, zu knutschen und herumzufummeln.

Den Rest der Zeit verbrachte ich mit meiner Gitarre. Anfangs hatte ich gesucht, wo man sie in die Steckdose steckte, später wußte ich, daß das alles ganz anders ging.

Ich hatte mir eine Box und ein Kabel besorgt und konnte tierischen Krach machen. Ich wußte, wie verzerren geht, und kannte die unterschiedlichen Klangnuancen bei den Tonabnehmereinstellungen. Ständig nahm ich an irgendwelchen imaginären Fotosessions teil, in denen ich mit meiner Gitarre abgebildet wurde. Ob die Gitarre zwischen den Knien hing oder auf dem Rücken, ob der Hals ganz nach unten oder nach oben zeigte, es war eigentlich alles egal, solange man nur einen eiskalten Blick dabei draufhatte, der andeutete, daß man jederzeit auch ein paar tausend Arschlöcher killen würde. Die Luftblitze der Luftfotografen flashten durch meinen Kopf, und ich machte die Covers der ersten zwölf Alben und etwa hundert Fotos für den »New Musical Express«. Für mein dreizehntes Album hatte ich mir überlegt, die Gitarre einfach vor den Bauch zu hängen und in die Kamera zu grinsen. Das käme dann total ironisch bei meinen Fans rüber. Eine Band mußte also dringendst gegründet werden!

Ein geringfügiges Problem mit der Gitarre bestand darin, daß ich sie nicht spielen konnte. Ich wußte auch nie genau, wie die einzelnen Saiten hießen. Ich kaufte mir ein Buch über Gitarrelernen, dabei wurde von Bünden und Abgreifen geredet, unästhetische Worte, die ich nicht mit meiner Giti in Verbindung bringen konnte. Ich lernte es nie und bin bis heute davon überzeugt, genau deshalb eine besonders innige Verbindung zu ihr behalten zu haben. Denn in jeder guten Beziehung muß es auch Geheimnisse geben, die die Partner einander nicht offenbaren.

Warum ich Antikommunist wurde

Ich habe nicht soviel Erfolg bei den Frauen. Ich glaube auch nicht, daß ich soviel Erfolg bei Männern hätte, denn ich bin mal in eine Kneipe gegangen, die hieß »Adonis XXX Male Love Club«. Als ich dann fragte, ob das hier ’ne Schwulenbar wäre, haben mir alle versichert, daß dem nicht so sei. Komisch.

Jedenfalls probiere ich nun schon seit Jahren, jemandem meine Plattensammlung zu zeigen. Ich habe in einer »Bravo« gelesen, daß das ein toller Verführertrick ist. Deshalb erzähle ich euch was davon. Vielleicht klappt’s ja. In dieser »Bravo« war übrigens auch ein sehr schönes Dunja-Rajter-Poster. Das war meine erste Freundin. Aber zurück zum eigentlichen Thema.

Also, meine erste Platte, die war in der FRÖSI, das hieß »Fröhlich sein und singen«. Eine Ost-Jugendzeitschrift, ganz genau wie »Bravo«, nur ohne Dr. Sommer, ohne Hitparaden, ohne Starfotos und ohne Foto-Love-story. Aber mit Beilage. Mal war’s eine blau-rote Brille, für die 3-D-Geschichte im Heft, mal ein Bastelbogen usw. Und am 100. Geburtstag von Wladimir Illitsch der Vereinten Nationen, da war eine Schallplatte drin, eins der wenigen Tondokumente von ihm. Die Schallplatte bestand aus ähnlichem Material wie die Einkaufstüte für dreißig Pfennig, statt derer man jetzt immer Leinenbeutel kauft. Selbst damals wunderte ich mich, daß eines dieser wenigen Tondokumente aus so billigem Material gefertigt war.

Meine Eltern hatten gerade einen neuen Plattenspieler gekauft, der war super gefedert. (»Gefedert sein« war damals überhaupt noch viel wichtiger. Wir hoben immer unsere Modellautos am Hinterteil an und überprüften dann mit fachmännischem Blick die Reifenfederung. Dabei haben wir einmal bei meinem Schulfreund Jan einen Holz-Intarsientisch kaputtgemacht. Der russische Wolga war nicht gut gefedert.)

Wenn man jedenfalls auf dem neuen Plattenspieler eine Schallplatte abspielte, dann war es so, daß man sich nur noch ganz langsam im Zimmer bewegen konnte. So gut war der gefedert. Meine Eltern hatten bestimmt ein Heidengeld dafür ausgegeben. Bei der kleinsten Bewegung sprang der Abspielarm mindestens eine Minute vor oder zurück. Mein Vater schmiß dann alle tanzbaren Platten weg, als die dritte Plattennadel kaputt war. Selbst »Requiem« war schon grenzwertig.

Da aber meine FRÖSI mit mir den 100. Geburtstag des Vaters der Oktoberrevolution feiern wollte, legte ich mir also meinen Lenin auf und hörte: »chhhhrzzsch, chchchrrr … Што такое, coвeтcкoe влacть?« Das hieß: »Chhhrzzsch, chchchrrr … Was ist das, Sowjetmacht?«

Dann kam mein Vater ins Zimmer und überblickte die Situation. Nur ein kleiner vorsichtiger Schritt, und die für die Menschheit entscheidende Antwort wurde übersprungen. Die Platte war jetzt wieder beim »Chhhhhrr«-Teil. Aber es war unmöglich herauszufinden, ob bei dem am Anfang oder dem am Schluß.

Innerhalb kürzester Zeit wurde ich von meinem Vater über die aktuellen Verhältnisse auf dem Plattenabspielnadel-Preismarkt informiert. Das Ergebnis war, daß das Zimmer mit dem Plattenspieler drin fortan verschlossen wurde. Nun hatte ich also eines der wenigen Tondokumente, mit einer die ganze Welt bewegenden Antwort und konnte es nicht abspielen. Es mußte doch einen Ausweg geben. Mit primitivsten Mitteln baute ich ein Zusatzgerät für unseren Mixer, schnitt mir aufopferungsvoll einen spitzen Fingernagel zurecht. Dabei verlachte ich den Schmerz und die Verstümmelungen, die ich mir anfangs zufügte. (Es geht besser mit rechts.)

Aber dann war es soweit. Mein spitzer Fingernagel blinkte im Schein der Küchenlampe, ich warf den Mixer an. Die Platte drehte sich. Ich setzte auf. Mit 200 bpm drang die Stimme des großen Vorsitzenden direkt in meine Knochen. Fingernagel- und Weichplastikspäne flogen durch die Küche, im bunten Mix. Hoffentlich würde ich noch Finger haben, wenn es zum entscheidenden Teil kam. Endlich, da war sie: die Antwort! »Kommunismus und Elektrifizierung des ganzen Landes.« Das war’s? Das war das Ergebnis wochenlanger Qualen und Entbehrungen? Enttäuscht betrachtete ich meine blutenden Finger. Die Platte und der Mixer hatten auch dran glauben müssen. Und ich konnte froh sein, wenn ich mit der Elektrifizierung der ganzen Küche bis fünf Uhr gut vorankam.

Meine private Hölle

Die Achtziger sind wieder da, die schreckliche Musik der grauen Zeit zwischen 1980 und 1989. Und davon auch nur die unehrliche Musik. Denn in den Achtzigern gab es auch Lieder wie die der »Vorkriegsjugend«: »Ihr macht euch doch nur lächerlich / euch glauben nur noch die Kinder / das Leben ist anders, aber hääärter.«

Das traut sich kein Radiosender zu spielen. Statt dessen werden Bands wie »Wham!« oder die »Triplets« gespielt mit ungesunden Kombinationen von »You don’t have to go home tonight« und danach »Wake me up before you gogo.«

Da werden bei mir schlimmste Erinnerungen wach. Völlig mittellos stromerte ich seinerzeit durch die Straßen Ostberlins. Auf der Suche nach einem Netzhemd zum Über-den-Pullover-Ziehen, nach ein paar Straßsteinen für besagten Pullover, nach einer Disko für unter sechzehn, nach einem Heilmittel gegen Akne vulgaris. Aber in der Diktatur der Arbeiterklasse hatte ich keine Chance. Don Johnson fuhr mit einem Cabrio und Drei-Tage-Bart durch Miami. Für so einen Bart mußte ich mindestens vier Wochen sparen und auf das Cabrio wahrscheinlich noch länger.

Die Mädchen in meiner Klasse hatten sich alle Stars dieser Zeit untereinander aufgeteilt, so wie die Mafia ihre Reviere in New York. Sandra Bier hatte Nic Kershaw, Anja Rogalinski hatte The Cure, Anke Richter hatte A-ha und Andrea Springer George Michael im besonderen und auch Wham! im allgemeinen. Wenn nun eine Popzeitschrift tranchiert wurde, dann gab es keinen Streit, wer welchen Milchreisbubi in sein Portfolio drückte.

Ich saß in Geo neben Andrea Springer. Diese hatte hervorstehende Zähne sowie als erste in der Klasse Brüste und spielte Handball. Daß ich neben ihr saß, war eine Laune unseres Lehrers, sicherlich nicht unseren jeweiligen Wünschen entsprechend. Wenn sie, wie so oft, in der Arbeit nicht weiterwußte, dann schaute sie verzweifelt ihr George Michael DIN-A5-Poster an und rief: »George, hilf mir!« Daraufhin schrieb sie von mir ab.

Mir blieb nur die Ersatzbefriedigung mit Sendungen, die die CIA und ihre Freunde ausstrahlten, um uns Unterdrückten ein wenig von unserem Leid zu nehmen. Da gab es »Disco« mit Ilja Richter, »Peter Illmann Treff« und später auch die Jugendabende, die bescherten: »Achtung jetzt kommt ein Karton!« Die schlimmsten Kapellen kamen immer aus Deutschland. Während ein belgischer Männerchor eine superlangsame Bariton-Version von »Sex Machine« zum besten gab, zeigte der deutsche Frank Farian die Ergebnisse seiner grausigen Vergehen am guten Geschmack. Ungern erinnere ich mich an Boney M. und Dschingis Khan in den Siebzigern, später Milli Vanilli und Sandra in den Achtzigern.