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Als die große Martha Graham 1992 starb, begann eine bittere juristische Auseinandersetzung um ihre künstlerische Hinterlassenschaft. Grahams Haupterbe Ronald Protas vertrat die Auffassung, die Tänze seien sein Eigentum, während die Martha Graham Dance Company argumentierte, die Tänze gehörten dem Ensemble. Dabei standen die Juristen vor der großen Herausforderung zu klären, was überhaupt ein Tanz im juristischen Sinne ist und ob man eine Bewegungsfolge besitzen kann.

Nach zehn Jahren entschied ein Bundesgericht, dass Protas nur ein Tanz (»Seraphische Dialoge«) gehöre, während mehr als fünfzig Tänze dem Ensemble gehörten, da Martha Graham diese im rechtlichen Sinne als Auftragsarbeiten für die Company inszeniert habe. Weitere zehn Tänze würden der Öffentlichkeit gehören, weil diese Tänze durch Film und Fernsehen allgemein bekannt seien.

Um meinen Erben ähnliche Auseinandersetzungen über mein tänzerisches Erbe zu ersparen, möchte ich meine diesbezüglichen Angelegenheiten im Folgenden regeln.

A.P.

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Prolog oder: Der Jimmy Glitschi

Beigebracht wurde uns die Bewegung zur Musik im Kindergarten. Wir mussten uns im Kreis aufstellen, und ein Bi-Ba-Butzemann tanzte um unser Haus herum, der Regen fiel, Frau Sonne lachte. Wie wir uns dazu bewegen durften, gab die Kindergartentante vor. Wir nannten die Kindergartentanten bei ihren Nachnamen, die besonders freundlichen erlaubten uns, sie trotzdem zu duzen. Das klang so wie heute im Kaufhaus: »Du, Frau Becker, guck mal!« Meine Kindergartentante hieß Frau Kant. Sie war dick, kurzatmig, schlecht gelaunt und trug eine Kittelschürze aus Nylon über ihren Stützstrümpfen. Bewegung zu Musik machte sie mit uns nur, weil es Vorschrift war, weil in ihrer offiziellen Bedienungsanleitung für Kinder geschrieben stand, dass eine Kindergärtnerin mindestens zweimal monatlich mit den ihr unterstellten Kindern Tanz- und Singspiele einüben musste.

Frau Kant hasste Musik und Bewegung, und Musik und Bewegung hassten Frau Kant. Alle paar Augenblicke griff sie in die Kitteltasche, holte ein Stofftaschentuch heraus und wischte sich damit den Schweiß von der hochroten Stirn. Die Sonne waren zwei Arme, die wir von unten kreisförmig nach außen bringen mussten. Wenn sich ein Kind im Überschwang der Gefühle spontan anders als vorgeschrieben bewegte, brüllte Frau Kant herum. Bei wiederholtem Abweichen gegen die Bewegungsmuster drohten Nachholstunden. Mit Tanzen hatte das nichts zu tun.

Auf dem Spielplatz gab es Chauli und Jimmy Glitschi, unsere selbst erfundenen Sagenfiguren. Chauli, das war der Kumpel, der robuste Kämpfer, der verlässliche Gefährte mit Bauarbeiterhelm oder Polizeimütze, Jimmy Glitschi war niemand. Er war nur ein sagenumwobener Held aus einem umfangreichen Gedichtzyklus, der ausschließlich aus Zweizeilern bestand und auch sonst von ungeheuerer formaler Strenge gekennzeichnet war. Die erste Zeile war immer gleich. Sie lautete: »Jimmy Glitschi, der Mann ohne Knochen.« Auch die zweite Zeile kannte nur minimale Abweichungen. Es variierten lediglich die Tätigkeit und der Körperteil, den sich Jimmy angeblich gebrochen hatte. Ein typisches Beispiel:

»Jimmy Glitschi, der Mann ohne Knochen,

hat sich beim Furzen den Hintern gebrochen.«

Trotz der stets tragisch endenden Geschichten entbehrten die Gedichte über Jimmy Glitschi nicht einer gewissen Komik, die sich vor allem Menschen unter acht Jahren erschloss.

In meinen ersten Sommerferien verschifften mich meine Eltern ins Ferienlager. In einem Brief, den ich ihnen am zweiten Tag schickte, schrieb ich über das Ferienlager: »Alles Scheißdreck«, mein Befinden beschrieb ich mit den Worten: »Es geht mir scheiße.« Dann kam die erste Diskothek meines Lebens. Der dicke Harald hatte seinen Koffer mit Tonbandkassetten in den Esssaal getragen und zwei Kassettenrekorder mit den Lautsprechern auf volle Lautstärke gedreht. Da brach es aus mir heraus: Ich bewegte meine Gliedmaßen im Takt der Musik, allerdings jeden meiner Arme, jedes Bein in seinem eigenen Rhythmus, die Augen hinter den Brillengläsern fest geschlossen und den Mund leicht geöffnet. Für einen Außenstehenden mag es vielleicht so ausgesehen haben, als hätte ich gerade einen Krampfanfall, aber ich tanzte den Jimmy Glitschi. All mein Heimweh und meine Wut ließ ich aus mir heraus und identifizierte mich in meinem Tanz mit dem berühmten Helden, der sich der Legende nach beim Beischlaf sein Geschlechtsteil gebrochen haben sollte.

Ich sah bestimmt schrecklich aus, ich sah bestimmt lächerlich aus, ich sah erbärmlich aus, aber ich fühlte mich großartig. Denn an diesem Nachmittag, hinter den geschlossenen Gardinen des Gemeinschaftsraums, entdeckte ich die Kraft des Tanzes, wie Musik die Seele dazu bringen kann, in direkte Verbindung zum Körper zu treten, um durch Bewegungen Dinge auszudrücken, die der Mund nicht sagen kann.

Danach wurde alles besser.

Als meine Eltern, aufgeschreckt durch meinen Brief, drei Tage später vor dem Ferienlager standen, um mich vorzeitig abzuholen, schaute ich sie nur verständnislos an.

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Stillstand des Systems

Unsere politische Bildung wurde durchgeführt, indem wir vom ersten Grundschuljahr an einerseits täglich, andererseits mit einer gewissen Lustlosigkeit indoktriniert wurden. Der Lehrplan war voll von sozialistischen Phrasen, die sich in den Jahrzehnten niemand herauszustreichen getraut hatte. Die Realität hatte das meiste davon längst überholt, aber die Verabreichung der Phrasen an die Kinder war zu einer folkloristischen Tradition geworden, von der man sich nicht trennen wollte. Gelangweilt verlangten unsere in Westklamotten gekleideten Lehrer, dass wir den allseitigen Sieg des Sozialismus im Kampf der Systeme verkündeten. Nur dafür gab es die Note Eins. Der Sozialismus stellte sich uns als eine Art atheistischer Konfession vor, bei der lieber niemand mehr fragte, ob man denn wirklich glaube, sondern wo es darauf ankam, die zentralen Glaubenssätze an der richtigen Stelle wiedergeben zu können.

Ute zum Beispiel, von der es hieß, dass sie in der Kirche sei, sollte sich nicht aus allen gesellschaftlichen Fragen heraushalten dürfen und wurde deswegen zur Klassenverantwortlichen für die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft gemacht. Und theoretisch hätte nun das christliche Mädchen Ute diese Position nutzen und ausbauen können, um einen Spitzenplatz in den Annalen des politischen Kampfes Minderjähriger einzunehmen. Sie hätte Schulen in unserer sowjetischen Partnerstadt anschreiben können, sie hätte Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges auf Kosten des Staates zu Pioniernachmittagen einfliegen lassen und Super-8-Filme vom letzten Parteitag der KPdSU im Heimatkundeunterricht zeigen können. Niemand hätte sie daran hindern können, die Lehrer hätten sie sogar unterstützen müssen. Doch solche Ambitionen lagen Ute fern. Sie beschränkte die Erfüllung ihrer Aufgabe darauf, einmal jährlich im März eine Mark zwanzig von jedem Mitschüler einzusammeln und dann die zwölf Monatsmarken zum Einkleben ins blaue DSF-Mitgliedsbuch auszuhändigen. Wer sein Geld zum Stichtag vergessen hatte, für den legte Ute erst mal aus.

Jeder konnte, ja jeder sollte geradezu ein bisschen Macht ausüben. Es erinnerte an ein gemeinschaftlich begangenes Verbrechen, bei dem sich noch das kleinste Bandenmitglied auch die Hände schmutzig machen sollte, damit später niemand vor Gericht auf unschuldig plädieren könnte. Die Lehrer drängten uns auch, angeblichen Eliteorganisationen beizutreten, in denen nichts von uns erwartet wurde. Wer etwas bewegen wollte, wurde als Störer empfunden. Der gesellschaftliche Kompromiss beruhte auf einer allgemeinen Ambitionslosigkeit.

Gleichzeitig konnte jeder auch über seine Ohnmacht und den allgemeinen Stillstand jammern. Wenn etwas nicht funktionierte, die Bahn zu spät kam, der Schnürsenkel zerriss oder die Milch sauer wurde, brüllte man sofort: »So ein Osten!«, und wenn etwas gut war, sagte man gern: »Das ist ja wie im Westen!« Wer wirklich grundlegend etwas gegen den Staat hatte, konnte einen Ausreiseantrag stellen. Offiziell war das das Schlimmste, was man tun konnte, aber wenn die so Verbannten zwei Monate später Postkarten von der Cotê d’Azur schickten, wirkte diese Strafe wenig bedrohlich.

Diese Lethargie, den Stillstand verkörperte ich auch in meiner neuen Tanzinstallation vor der inzwischen vertrauten Kulisse meines Ferienlagers im Vogtland. Sicher spielte dabei auch eine Rolle, dass die Mädchen in den vergangenen zwei Jahren zunehmend über meinen »Jimmy Glitschi« gekichert hatten, und ich vermutete, dass das Kichern nicht den Erlebnissen des Jimmy galt, sondern darin möglicherweise ein Tropfen der Häme über mich gemischt war. Also schaute ich mir den Tanz ab, mit dem man kein Aufsehen erregte, und nahm ihn in mein Repertoire auf. Und so sah das aus: auf die Tanzfläche gehen und Grundstellung einnehmen, bis der dicke Harald, der natürlich immer noch unser Diskotheker war, seinen coolen Spruch beendet und die Play-Taste gedrückt hatte. Dann: die Arme anwinkeln, ein Gesicht machen, als säße man auf der Toilette, und: rechtes Bein nach rechts, linkes Bein neben rechtes Bein, linkes Bein nach links, rechtes Bein folgt. Nach einigen Minuten versuchen, im richtigen Takt zum Lied zu tanzen, nach dem Drücken der Stopp-Taste wieder Grundstellung einnehmen und abwarten. So tanzte ich ganze Abende hindurch, leistete meinen Beitrag pflichtgemäß, trank meine vorgesehene Ration Cola und tat, was ich tun konnte. Freude oder Trauer gab es nicht. Wenn ich noch ein paar Jahre so durchgehalten hätte, dann hätte mir als verdientem Tänzer des Volkes eines Tages vielleicht eine Hellerau-Schrankwand mit beleuchteter Glasvitrine zugestanden.

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Die richtige Richtung

In der sechsten Klasse hatte ich eine Zeit lang Nora Zielinski geliebt, die Udo Burgstetter aus der siebten liebte, der wiederum ausschließlich Udo Burgstetter selbst liebte. Nora hatte lange, wehende schwarze Haare, große, sensible Augen, eine sanfte Stimme, und sie hörte Yazoo, was von den damals verfügbaren Möglichkeiten für Sechstklässlerinnen das Originellste war. Udo stand zwei Jahre lang in jeder Pause auf dem Schulhof, las weithin sichtbar in einer alten Taschenbuchausgabe von Sartres Die Worte und strich sich dabei die Haare aus der sorgenumwölkten Stirn. Klar, dass er Schwarm aller Mädchen war, sie wollten ihn retten. Ich versuchte, Noras Liebe zu gewinnen, indem ich ihr immer ein verständnisvolles Ohr lieh, wenn sie mir von ihrer Liebe zu Udo Burgstetter erzählte. Irgendwann würde Nora einsehen, dass mein Einfühlungsvermögen und meine Sensibilität viel liebenswerter waren als Udos überhebliches Draufgängertum. Zusätzlich hatte ich Nora mit Postern und Aufklebern ihrer Lieblingsband beschenkt, damit ihr in einer schlaflosen Nacht ein Licht aufginge, wer eigentlich ihr Innerstes wirklich verstand.

Vielleicht bewegte ich mich mit meinem Konzept in die richtige Richtung, ganz bestimmt aber zu langsam. Eines Tages schenkte ihr Udo eine überspielte Kassette von Frankie goes to Hollywood und überrannte damit die letzten Bastionen ihres wenig wehrhaften Herzens. Dass die Musiker von Frankie sämtlich schwul waren, wusste damals niemand von uns. Es wäre sonst für einen Jungen undenkbar gewesen, die Band öffentlich gut zu finden. Am selben Abend noch schob Nora auf der Schülerdisko mit Udo ab, was damals bloß wildes Zungenküssen hieß.

Mein passives Konzept war gescheitert, so dass ich die nächste Herrscherin meines Herzens mit aktiveren Mitteln zu erobern versuchte. Rahel war Mitglied der Clique an der Tischtennisplatte in den Betonfluchten von Friedrichsfelde-Ost, Treffpunkt der vorpubertären Jugend, aber niemand spielte dort jemals Tischtennis. Was sollten wir tun? Das Einzige, was wir mit Sicherheit wussten, war, dass wir keine Kinder mehr waren. Darüber hinaus war wenig klar. In die richtigen Klubs kamen wir noch nicht herein, für die Kinderdisko von 16 bis 20 Uhr waren wir uns schon zu schade, und von Zigaretten bekamen wir noch Durchfall.

So schlurfte die Jugend von Friedrichsfelde-Ost am Müllschlucker auf der Etage vorbei in den Fahrstuhl, fuhr ins Erdgeschoss ihrer Hochhäuser und schlurfte weiter zur Tischtennisplatte. Dort ließ man aus einem Kassettenrekorder die ganze Power von zweimal 3 Watt über die Betonwüste dröhnen. Problematisch für mich war nur, dass ich fast eine Stunde fahren musste, um mich dann gekonnt mit den anderen zu langweilen. Das war so gekommen: Mein Klassenkamerad Marko, der hier wohnte, hatte mich ein paarmal zur Tischtennisplatte mitgenommen. Weil ich bei mir zu Hause so eine Clique nicht kannte, machte ich einfach hier in Friedrichsfelde-Ost mit. Bestimmt gab es Ähnliches auch bei mir in der Gegend, aber ich konnte mir ja schlecht eine Clique in meiner Gegend aussuchen, mich dazustellen und einen Aufnahmeantrag ausfüllen.

So blieb der Fahrweg. Um die Verbindungen zu schaffen, hetzte ich in Ostkreuz oder Thälmannpark die S-Bahn-Treppen rauf oder runter, ging dann kurz vor dem Zielgebiet in ein äußeres und inneres Schlurfen über, grüßte mit einem gelangweilten: »Ha-loo«, hörte, oft ohne jedes Gespräch, gelangweilt depressive Musik, sagte irgendwann: »Ich geh dann jetzt wieder, egal« und begann außer Sichtweite, nach Hause zu rennen, weil ich sonst zu spät gekommen wäre.

Das Beste an dieser Clique war die Unkonventionalität. Wir brachen mit althergebrachten Regeln des Zusammenseins und küssten uns zur Begrüßung auf den Mund, nur Jungs küssten sich gegenseitig auf die Wange. Und vor allem deshalb hetzte ich mich immer so ab, denn dann konnte ich Rahel zur Begrüßung auf den Mund küssen, einfach so, ganz locker. Als sie eines Abends betrunken war, weil irgendjemand eine Flasche Weinbrand mitgebracht hatte, da knutschte und fummelte ich mit ihr, als gäbe es kein Morgen. Als Rahel am nächsten Tag wieder nüchtern war, sollte sich diese Befürchtung als vollkommen richtig herausstellen. Es gab kein Morgen für mich mit Rahel.

Zwar drehte ich in ihrer Gegenwart mächtig auf, erzählte Witze und mehr oder weniger wahre Geschichten aus meinem Schulalltag, in denen ich meist als gewitztes Bürschchen wegkam, oder brachte irgendwelche überspielten Kassetten mit. Ich gab mir Mühe, in ihrer Nähe zu stehen. Es war wie ein neuzeitlicher Minnesang, schöne Worte, die das Herz der Liebsten aufschließen sollen. Ich bildete mir ein, dass die wortlose Rahel unter ihrer weiß geschminkten Trauermiene in ihrem schönen Inneren jauchzte und jubilierte ob meiner gekonnten Elogen auf ihre Schönheit. Eines Tages reagierte sie endlich auch und richtete das Wort an mich. Sie schaute mir mit ihren dunkelbraunen Augen direkt in die Seele, öffnete ihre vollen tiefroten Lippen und sagte: »Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?« Ein paar Tage später nahm Rahel Rico die Zigarette aus dem Mund und steckte ihre Zunge hinein. Damit war die Sache für mich eigentlich erledigt.

Aus Gewohnheit fuhr ich noch eine Weile weiter zu der Tischtennisplatte in Friedrichsfelde-Ost, die zu einer Tischtennisplatte des vollkommenen Schweigens wurde. Der Bruch kam für mich an einem Tag im frühen März. Wir standen an der Platte, froren und schwiegen. Irgendwann tauchte Steffen auf, ein Mitglied unserer Clique. »Und?«, fragte er. »Was los gewesen?« Marko, der irgendwie das inoffizielle Oberhaupt der Clique war, sagte: »Ja, war eigentlich ganz gut gewesen. Wir haben Musik gehört, geraucht, bisschen Scheiße gebaut. Cool eben.« Erst da wurde mir klar, dass nichts bevorstand, dass wir uns auf nichts vorbereiteten, was wir eigentlich machen wollten, dass wir hier einfach nur sinnlos herumstanden. Es war der letzte Nachmittag, an dem ich die kostbare Zeit meiner Jugend gedankenlos über diese Tischtennisplatte fliegen ließ.

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Mr. Robots Flucht nach vorn

Sicher wäre es glanzvoller zu behaupten, dass mich der große Roman eines unsterblichen Toten damals geprägt hätte. Doch das wäre pompös gelogen. Stattdessen hatte der Musikfilm Beat Street großen Einfluss auf mein Leben. In gewisser Hinsicht beschleunigte er sogar mein Erwachsenwerden, da ich mir für diesen Film einen falschen Personalausweis ausstellte, um mit dem gefälschten Dokument durch die Kontrollen zu kommen. Der Film war ab vierzehn Jahren zugelassen, und genauso alt musste man sein, um einen Personalausweis zu bekommen. Also kontrollierten die Kartenverkäufer nur, ob man einen Personalausweis besaß, nicht das Geburtsjahr. Aus einem Urlaubsfoto schnitt ich mein Gesicht wie ein Passfoto heraus und schob es hinter einer Plastikhülle im Ausweis meines Bruders über sein Foto. Oft genug kam ich damit durch und sah den Film dann Dutzende Male im stets ausverkauften Kino Toni.

Dass der Film überhaupt eine Handlung hatte, fand ich nur heraus, weil ich ihn so oft ansah. Es ging wohl um den Kampf sozial schwacher Jugendlicher in New York und ihren Sieg über das Schicksal. Aber ich konnte mich kaum auf die Handlung konzentrieren. Viel wichtiger waren die grellbunten, illegalen Graffiti an den Wänden, die illegalen Klubs in leer stehenden Wohnungen, natürlich die Musik und der Breakdance! Das alles war so unvorstellbar cool. Als ob sie in New York eine ganz andere, uns weit überlegene Art von Jugendlichen züchteten oder als ob diese Jugendlichen doppelt so lange Zeit hatten, richtig cool zu werden, wofür uns nur achtzehn Jahre blieben.

Für einen Ausreiseantrag nach New York hätte ich wahrscheinlich die Unterschrift meiner Eltern gebraucht, und es war zu vermuten, dass die da nicht mitspielten. So blieb mir nur die Flucht in eine Scheinwelt. Wieder wurde mein Podium das Sommerferienlager in Leubnitz bei Plauen, ich wusste noch nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Hier gab es Denny, und der konnte Breakdance. Es kostete mich alle Süßigkeiten aus meinem Paket von zu Hause und fünf Zigaretten der Marke Club, damit Denny mich den Breakdance lehrte. Ich lernte als »Breaker« vorwärts- und rückwärtszugehen, an einer Wand zu tanzen und an einer Ecke zu lehnen. Denny selbst konnte noch zwei Sprünge, die er mir beizubringen versuchte. Aber trotz fleißigen Übens konnte ich die Bewegungen einfach nicht meistern. Ich arbeitete also lieber an der Perfektion meines vorhandenen Repertoires.

In der Ortsapotheke kaufte ich mir ein Paar Baumwollhandschuhe für Neurodermitiskranke, von unserer Gruppenleiterin borgte ich mir eine tropfenförmige Sonnenbrille mit Goldrand aus, bei deren Gläsern die Tönung von oben nach unten abblasste. Dazu zog ich meinen bedruckten Pullover aus dem Westen, eine Jeans und ein Paar weißer Germina-Turnschuhe mit zwei blauen Streifen an, die den Westoriginalen nicht gerade zum Verwechseln ähnlich sahen. Als der dicke Axel endlich »Rock it« von Herbie Hancock auflegte, war es so weit. Ich tanzte meine Flucht in die bessere Welt der drogenverseuchten Gettos der South Bronx. Mit mir tanzte mein weiser Lehrer, der dreizehnjährige Denny aus Potsdam-Babelsberg. Um uns herum bildete sich ein Kreis von Ferienlagerkindern, die im Takt mitklatschten. Es war wie im Film. Wir törnten die Menge mit unseren Pantomimekrachern an, es lief bestens. Dann zeigte Denny seine zwei Sprünge, und die Menge tobte. Auf die linke Hand und darauf drehen und so eine Art Kasatschok im Zerhackertempo. Denny stand wieder auf, tänzelte mich an und übergab mir die Bühne, indem er auf meine weißen Baumwollhandschuhe klatschte.

Ich konnte jetzt nicht weiter an einer imaginierten Wand entlanglaufen, und auch mein Plan, den Rückwärtsgang als Höhepunkt meiner gesamten Show zu präsentieren, war in diesem Augenblick gescheitert. Mir passierte das Schlimmste, das einem Bühnenkünstler passieren kann: Während der Vorstellung begann ich an meinem Material zu zweifeln. Mir wurde bewusst, dass ich hier nur eine schlechte Pantomime zeigte, wenn ich meinem Publikum nicht mehr zu bieten hatte. Es gab jetzt nur noch die Flucht nach vorn. Schließlich hatte ich die Sprünge lange geübt, und vielleicht hatte mir nur das Adrenalin gefehlt. Vielleicht würde es mir jetzt hier vor all den Leuten gelingen. Ich entschied mich für die Bodenwelle, einen schlangenartigen Bauchsprung auf beide Hände, nach dem ich mich auf den Rücken werfen und wie eine Schildkröte herumwirbeln wollte. Ich hob ab, hatte das Gefühl, dass bei meiner Landung etwas in meiner rechten Hand zerbrach, und rollte zwar auf den Rücken, aber vor Schmerzen gekrümmt und unter unsouveränen Schreien. Die Umstehenden glotzten, der dicke Harald machte die Musik aus und das Licht an. Ein Rettungswagen fuhr mich ins Krankenhaus. Glücklicherweise war es die Abschlussdisko gewesen.

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Haus der Pioniere

Von allen Orten dieser Welt lernte ich Sarah ausgerechnet im Haus der Pioniere »German Titow« kennen. Titow war wohl der zweite Russe im Weltall gewesen, und die Ironie seines Vornamens war den Funktionären offensichtlich entgangen, weil sie sonst vielleicht nur den Nachnamen oder die Initiale seines Vornamens verwendet hätten. Dort jedenfalls war ich Sarah in der »Arbeitsgemeinschaft Junge Informatiker« begegnet.

AG