Tim Moore

GIRONIMO!

Ein Mann, ein Rad und die härteste
Italien-Rundfahrt aller Zeiten

Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper

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Die Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel »Gironimo!

Riding the Very Terrible 1914 Tour of Italy« bei Yellow Jersey Press, London.

© Tim Moore, 2014

Gemäß UK Copyright, Designs and Patents Act 1988

ist Tim Moore der Urheber dieses Werkes.

Tim Moore:

GIRONIMO!

Ein Mann, ein Rad und die härteste Italien-Rundfahrt aller Zeiten

Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper

© der deutschsprachigen Ausgabe: Covadonga Verlag, 2014

Covadonga Verlag, Spindelstr. 58, D-33604 Bielefeld

ISBN (Print): 978-3-936973-97-6

ISBN (E-Book): 978-3-95726-000-0

Illustrationen (Umschlag und Innenteil): Steven Appleby

Umschlaggestaltung und Satz: Covadonga Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Covadonga ist der Verlag für Radsportliteratur.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Ich danke: Paolo Facchinetti, Jim Kent, Matthew Lantos, Lance McCormack, Suneil Basu, Thierry, Émile und den anderen »Tontons«, Fabio von Free-Bike, Paul Ruddle, Matt, Fran und Bethan von Yellow Yersey, C.D. Conelrad und vielen anderen von AS, meinem Hintern und natürlich meiner Mama und meinem Papa.

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PROLOG

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Die Sonne ist soeben hinter den einsamen Gipfeln des Kampanischen Apennins verschwunden. Mit ihr hat sich auch der Sommer verzogen, und für einen kurzen Moment legt sich eine schattige, neblige Stille über die verwahrloste Haltebucht hoch oben auf dem Monte Licinici. Dann nähern sich von unterhalb der letzten Kehre grässliche Geräusche: das verzweifelte Röcheln und Keuchen greiser Mühsal. Schließlich schälen sich die schemenhaften Umrisse eines Fahrrads aus der Dämmerung, und darüber gebeugt die schemenhaften Umrisse eines Mannes. Selbst in diesem diffusen Licht ist zu erkennen, dass beide, Mensch und Maschine, ihr Verfallsdatum lange überschritten haben. Der Mann könnte, zumindest theoretisch, bereits Urgroßvater sein; das Rad wiederum könnte seinem eigenen Urgroßvater gehört haben. Man müsste den beiden eigentlich Respekt für ihre Leistung zollen, trüge der Mann nicht eine übergroße Rubettes-Mütze und eine lederne Schutzbrille mit blauen Gläsern. Als er in der Haltebucht quietschend zum Stillstand kommt, krachen seine in Wolle verpackten Genitalien mit Schmackes aufs Oberrohr.

Die Fortpflanzungsorgane des Mannes sind nicht die einzigen empfindlichen Teile, die ihre ursprüngliche Form längst verloren haben. Auch die beiden Räder seines Gefährts sind nicht mehr ganz so rund, wie man es normalerweise erwarten würde, dafür besitzen sie einen umso höheren Holzanteil. So etwas wie eine Schaltung sucht man an dem gesamten Rad vergeblich, und wer genau hinschaut, kann auf den von grober Hand geschnitzten Bremsklötzen die Worte »VINI DI CHIANTI« erkennen. Ein Kenner der Materie könnte die Maschine, das Gewicht und die Geometrie des rostigen Rahmens in Betracht ziehend, auf die frühesten Kindertage des wettbewerbsmäßigen Ausdauersports datieren. Dieses Rad, würde der Experte korrekt ableiten, ist knapp einhundert Jahre alt. Und der Mann da, würden Sie ihm lapidar entgegnen, ist gerade in Tränen ausgebrochen.

In die Begrenzungsmauer der Haltebucht sind zwei verwitterte Plaketten eingelassen, im Gedenken an zwei verstorbene Rennradfahrer aus der Region. Die unziemlichen Tränen des Mannes sind gewissermaßen ein Tribut an ihre Taten und an ihre Epoche, an die ruhmreiche, unbarmherzige Ära von Fausto Coppi, an eine Zeit, als Radsportler noch strahlende Nationalhelden waren. Er weint um diese Helden und um jeden anderen, der jemals auf einem Fahrrad einen Berg zu weit hinaufgefahren ist. Er weint, mit anderen Worten, vor allem um sich selbst: weil es allmählich dunkel wird und er sich inmitten der einsamen Ödnis des alpinen Nirgendwo völlig verausgabt hat … weil er sich noch nie so weit weg von zu Hause gefühlt hat … weil er und sein altertümliches Ross seit dem Fuße dieses Berges um mindestens zwanzig Jahre gealtert sind … und auch, weil er sich wegen des vornehmlich dekorativen Zwecken dienenden Bremssystems überlegen sollte, ob es nicht gut wäre, sich vor der bevorstehenden Abfahrt schnell noch selbst für eine Plakette an der Gedenkwand der verblichenen Radfahrer vormerken zu lassen.

Er ist ein Mann, der kurz davor steht, alles hinzuschmeißen, denn er hat soeben das eine Mal zu oft alles aus sich herausgeholt. Und dabei hat er bisher kaum die Hälfte einer Strecke hinter sich gebracht, die ein Jahrhundert zuvor ein Feld von Männern dezimierte, die deutlich tapferer und begabter waren als er und auch viel, viel jünger. Alles in allem ist es wohl ganz gut so, dass seine geschundenen Geschlechtsteile längst in ein schmerzresistentes Koma verfallen sind. Sonst würde er vermutlich immer noch da oben stehen und flennen.

I

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»Sie haben etwas, öh, expérience mécanique mit die Fahrräder?«

Der Fragesteller lächelte mich über den fleckigen Boden seiner Garage hinweg an. Überall lagen ausrangierte und zerlegte Maschinen verstreut.

»Ein bisschen«, antwortete ich. »Un peu halt.«

Das war eine unwiderlegbare Tatsache, ausgesprochen im trügerischen Tonfall männlichen Understatements. Ich war ins grüne und feuchte Hinterland der Bretagne gefahren, um diesen Mann namens Max zu treffen und den Berg uralter Fahrradteile zu erwerben, den er zum Kauf anbot. Ich hatte eine Fährüberfahrt im Morgengrauen und mehrere Stunden auf regennassen französischen Landstraßen hinter mir. Ich schaute auf das Durcheinander aus Speichen, Ritzeln, Felgen und Rohren und spürte, wie sich die Zweifel wie hartnäckige Kettenschmiere auf mein Gemüt legten.

»Voilà«, sagte Max, hob eine zerbeulte Dose hohler Vierkantmessingschrauben auf und reichte sie mir. »Très importants

Ich nahm die Dose mit einem fachkundigen Lächeln entgegen und dachte: Was zum Geier sind das für Dinger? Oder, etwas genereller formuliert: Warum zur Hölle trieb ich diesen ganzen bescheuerten Aufwand, nur um dann mein Auto – und anschließend mein Eigenheim – mit rostigen Artefakten vollzupacken, deren Bestimmung mir größtenteils schleierhaft war? Und vor allem: Wie hatte ich es bis hierher geschafft, ohne mir ein einziges Mal die aberwitzige Ungeheuerlichkeit des Unternehmens vor Augen zu führen, das ich mir vorgenommen hatte?

Die Hände, die jetzt diese Dose hielten, hatten sich seit dem Zeitalter der Airfix-Modellbausätze nie mehr einer so anspruchsvollen technischen Herausforderung gestellt. Die Beine, die auf dem ölverschmierten Garagenboden anfingen zu zittern, waren zuletzt zwölf Jahre zuvor zu längerem sportlichen Gebrauch herangezogen worden. Und doch hatte ich mir in den Kopf gesetzt, aus den hundert Jahre alten Einzelteilen, die sich nun vor mir auftürmten, ein fahrtüchtiges Fahrrad zu bauen und darauf die 3.162 Kilometer lange Strecke des härtesten Radrennens aller Zeiten zu absolvieren.

Ich gab Max die Dose zurück und fragte ihn, wo seine Toilette sei.

Die Reise, die mich in diese bretonische Werkstatt führte, hatte 60 Tage zuvor begonnen, als ich die vorletzte Seite meiner Zeitung aufschlug und las, dass die US-Staatsanwaltschaft ihre bereits zwei Jahre währenden Ermittlungen gegen Lance Armstrong und sein früheres Team US Postal wegen Verdachts auf systematisches Doping einstellte. Der Artikel schloss mit einem Zitat des bekanntesten und in meinen Augen auch unsympathischsten Radsportlers der Welt. Es fiel zwar für seine Verhältnisse vergleichsweise zurückhaltend aus, war aber immer noch überheblich genug, um meine Backen mit Splittern wütend zermalmter Bran Flakes zu tapezieren. »Es ist die richtige Entscheidung, und ihnen gebührt Anerkennung dafür, sie so getroffen zu haben.«

Im Juni 2000 fuhr ich auf einem Rennrad die Strecke der Tour de France jenes Jahres ab, eines dreiwöchigen Etappenrennens, das Armstrong wenige Wochen später zum zweiten Mal gewann. Sein erster Sieg im Jahr zuvor war mir wie das ultimative Comebackwunder erschienen: vom Kampf gegen den Krebs zum Triumph bei der härtesten körperlichen Prüfung, die es im Sport gibt. Aber als ich bei seinem zweiten Sieg zuschaute – im Fernsehen und bei ein paar Etappen auch vom Straßenrand aus – begann mir irgendetwas gegen den Strich zu gehen. Nicht nur Armstrong selbst, der ohne Zweifel ein Kotzbrocken allererster Güte war, aber beileibe nicht der einzige Fahrer, der auf rätselhafte Weise zuvor wohlverborgene und für den Toursieg unabdingbare Kletterqualitäten in sich entdeckt hatte. Nein, mich beschlich ein eher allgemeines Unbehagen angesichts der relativen Leichtigkeit, mit der selbst durchschnittlich begabte Radprofis eine Herausforderung meisterten, die aus ihren Vorgängern noch zerstörte, stumpfsinnig nuschelnde Wracks gemacht hatte. Mit der körperlichen Prüfung schien es nicht mehr weit her zu sein.

Meine Zweifel erhärteten sich, als ich inmitten einer Schar flaggenbemalter Trunkenbolde am härtesten Abschnitt des Mont Ventoux stand, einer piniengesäumten Passage, die so steil war, dass wir uns eigentlich hätten anseilen sollen. Armstrong war bereits an uns vorbeigesaust, in einer elitären Gruppe von Fahrern, deren Karriereleistungen mittlerweile aus den Geschichtsbüchern gelöscht oder zumindest mit zahlreichen Sternchen und Anmerkungen versehen worden sind. Als kurz darauf zwei seiner Helfer von US Postal vorbeizockelten – unbedeutende Domestiken, deren Tagwerk vollbracht war –, schenkte ihnen kaum jemand Beachtung. Ich allein schaute ihnen mit großen Augen hinterher. Diese beiden Männer hatten ihren Kapitän gerade 140 Kilometer lang ins Schlepptau genommen, über drei Berge hinweg und auch noch in den unbarmherzigen ersten Kehren des Ventoux, und das alles bei einem durchschnittlichen Tempo von 35 km/h. Ich wusste, was sie hinter sich hatten: Einen Monat zuvor hatte ich das Gleiche durchgemacht, wenn auch wesentlich langsamer und ohne dass mir Armstrong ständig im Nacken saß. Die Erinnerungen an jenen schrecklichen, zermürbenden Tag waren noch frisch und ungetrübt, und jetzt gondelten diese beiden Kerle einen besonders behaglichen Abschnitt mit elf Prozent Steigung hinauf und plauderten dabei auch noch ganz entspannt miteinander, eine Hand am Lenker, die andere ein Ohrläppchen kratzend.

Dies ist vermutlich der falsche Ort, um sich lang und breit über den Fluch des EPO und aller anderen Formen des Blutdopings auszulassen, die den professionellen Radsport in den letzten Jahrzehnten besudelt haben. (Für eine ausführliche Erörterung des Themas verweise ich auf Bad Blood von Jeremy Whittle und The Secret Race [dt. »Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte«] von Armstrongs früherem Teamkollegen Tyler Hamilton). Sagen wir einfach, dass all die bösen Gedanken wieder hochkamen, als ich las, dass Armstrong, der schummeligste Schummler aus Schummelhausen, wieder einmal den Kopf aus der Schlinge gezogen hatte.

Das prägende Erlebnis, das mich zum Radsport brachte, war die Tour de France 1987, die gladiatorengleiche Ankunft von Stephen Roche in La Plagne, als er direkt hinter der Ziellinie zusammenbrach und, mit der Sauerstoffmaske vor dem wächsernen Gesicht und den Blick in weite Ferne gerichtet, viel zu erschlagen war, um zu begreifen, dass seine außergewöhnliche, unmenschliche Leistung ihm den Gesamtsieg so gut wie gesichert hatte. Genau solche Momente waren es, Stephens Mutter möge mir verzeihen, die den Reiz und die ganze Faszination der großen Rundfahrten ausmachten. Als wolle er unterstreichen, wie überholt diese Vorstellung war, musste ich bei der Tour 2001 mitansehen, wie Lance Armstrong angebliche Erschöpfung vortäuschte und theatralisch für die Kameras nach Luft schnappte, bevor er, ohne auch nur ins Schwitzen zu kommen, zum Sieg in Alpe d’Huez eilte.

Dank verbesserter Testmethoden und unter dem Druck öffentlicher Bloßstellungen gelang es in den folgenden Jahren, dem Blutdoping zumindest ein wenig Einhalt zu gebieten. Aber etwas hatte sich verändert, und zwar für immer. Es war nicht mehr nötig, dass sich die Fahrer bis aufs Letzte quälten und schindeten. Die Beine waren frischer und ebenso die Geister. Die Rennen wurden vorhersehbarer, berechenbarer und im wahrsten Sinne des Wortes professioneller. Wenn die Kameras eine Nahaufnahme eines Fahrers einfingen, war dort nur noch selten Leiden zu erkennen. Stattdessen sah man Konzentration.

Der wahre Verlierer des ganzen Schlamassels war natürlich der Sport. Der Sport und ich. Ich hatte mich auf der Tour-de-France-Strecke von 2000 an die erbrecherischen Grenzen meiner Leistungsfähigkeit geschunden, und nun schauten die Leute auf diese hochkonzentrierten, mühelos tretenden Roboter und dachten: Na und? Jedes Rennen, das nicht mit einem Zusammenbruch von rocheanesken Ausmaßen endete, schien meine Leistung zu schmälern. Das Zeitalter von Blut, Schweiß und Tränen – mein Zeitalter – entschwand in die sepiabraungetönte Geschichte.

Drei Monate nach meiner Tour de France fuhr ich nach Manchester, um bei Chris Boardmans Versuch dabei zu sein, Eddy Merckx’ 28 Jahre alten Stundenweltrekord zu brechen. Streng genommen hatte Boardman die Marke schon mehrmals übertroffen und das mit gigantischen Abständen: Vier Jahre zuvor hatte er siebentausend Meter mehr geschafft als die 49,5 Kilometer, die Eddy zu seiner Zeit in 60 Minuten erreicht hatte. Die Intensität seiner Rekordfahrt von 1972 – die er selbst als härteste Strapaze seines Lebens bezeichnete – hatte den großen Mann etwas einbüßen lassen, das er nie wirklich wiedererlangen sollte. Boardman seinerseits war gewiss ein begabter Athlet, aber er war kein Merckx: Vielmehr waren seine Leistungen ein Triumph der Technologie und der windkanalgetesteten Ergonomie einer neuen Ära. Chris Boardman steuerte, die Arme ausgestreckt wie Superman und mit einer großen Plastikträne auf dem Kopf, eine futuristische Kohlefasermaschine mit Scheibenrädern. Eddy Merckx hatte sich einfach seine Lederwürstchenmütze übergestülpt und sich aufs Rad gesetzt.

Kurz nachdem Boardman 56 Kilometer in einer Stunde gefahren war, stellten die Radsportbehörden neue Regeln auf, um die Integrität des Stundenweltrekords zu wahren. Merckx’ Distanz wurde als offizielle Marke wiedereingesetzt. Jeder künftige Rekordversuch würde unter vergleichbaren Bedingungen unternommen werden müssen, also mit althergebrachter Maschine, Ausrüstung und Fahrposition. Als Boardman sich der Herausforderung dennoch stellte, erschien das fast tollkühn. Ich weiß noch, wie ich ihn an der Startlinie auf seinem altbackenen Stahlbahnrad sitzen sah und dachte: Aller Ehren wert, es überhaupt zu versuchen, Chris, aber das packst du nicht. Fast hätte ich Recht behalten. Unter ohrenbetäubendem Jubel im Velodrom katapultierte sich Chris mit einem unglaublichen Kraftakt in den letzten Sekunden noch an Eddys Marke vorbei, um ganze zehn Meter.

Während ich die letzten Bran Flakes löffelte, dachte ich an Boardman und wie es ihm gelungen war, altbewährten Schneid und ebensolches Gerät zu rehabilitieren. Er hatte gezeigt, dass es eben doch möglich war, den Radsport der übertechnisierten und unterkühlten Generation Armstrong zu entreißen, die teilnahmslos ihre elektronischen Schaltungen bediente und den Anweisungen ihrer Pulsmesser und directeurs sportifs im Ohr folgte.

Ich blätterte geräuschvoll die Zeitungsseite um und fühlte ein Kribbeln rechtschaffener Entschlossenheit meine Wirbelsäule hinaufwandern. An jedem anderen Tag wäre dieses neurologische Zucken rasch durch meine Synapsen geflackert und alsbald erloschen. Doch angereichert mit den Worten des Survival-Experten Ray Mears sorgten sie vollkommen unerwartet dafür, mein Hirn mit groben Klumpen ernsthafter Absichten zu verkleben.

Das Interview, das ich zum Abschluss meiner Zeitungslektüre las, brachte zwei zwingende Wahrheiten ans Licht: Zum einen war Ray genauso alt wie ich, zum anderen hing er seinen Tropenhelm an den Nagel. Ray kündigte an, fortan nur noch von vergangenen Abenteuern berichten zu wollen, statt neue Expeditionen zu planen: »Irgendwann erreicht man einen Punkt, an dem man zurückblickt und die Aussicht genießt, weil man sich auf der Leiter nicht mehr so anstrengen muss.« Allmächtiger. Ein Ex-Abenteurer mit 47. War ich auch schon an diesem Punkt angelangt? Von wegen. Du vielleicht, Mears, aber ich hatte noch ein paar Sprossen in mir.

Ich reckte das Kinn und kratzte die borstigen Stoppeln, die darauf wuchsen. Gut, in meinem Alter würde ich wohl nicht mehr im Wald hausen, mich von Baumrinde ernähren und mir aus Singvögeln ein Zelt basteln. Aber gewiss hätte ich noch einige Radkilometer in den Beinen, genug für eine anständige Rundfahrt. Etwas Episches, eine Herausforderung klassischen Zuschnitts. Ein authentisches Abenteuer boardmanscher Prägung, ein Leck-Mich an Lance, ein Tribut an die Helden von damals mit ihren Löwenherzen und käsigen Gesichtern.

Der Stundenweltrekord war etwas, überlegte ich, was Fahrer sich normalerweise gegen Ende ihrer sportlichen Laufbahn vornahmen. Einen solchen krönenden Abschluss wollte auch ich der meinigen verpassen. Ich würde mir ein letztes Mal die Seele aus dem Leib fahren, bevor sie es von alleine tat.

Klar, hätte ich geahnt, dass Lance Armstrong sich in den folgenden Monaten immer tiefer in den Treibsand der Schande hineinstrampeln würde, hätte ich mir – und Ihnen – den ganzen Ärger, der jetzt folgt, ersparen können. Beschweren Sie sich bei Lance. Das machen heutzutage eh alle.

* * *

Wie schön wäre es gewesen, sich meinem Unterfangen in gebührender Weise zu nähern. Beispielsweise durch eine Reihe von Begegnungen in baufälligen Velodromen und mittels der persönlichen Schilderungen von Leid und Ruhm eines greisen Veteranen, die idealerweise auf dem Sterbebett vorgetragen wurden. Aber für einen ungeduldigen Mann im Zeitalter von Google kam das natürlich nicht in Frage.

»Härtestes Etappenrennen aller Zeiten«, gab ich in die Suchmaske ein.

Klick.

Ungefähr 3.900.000 Ergebnisse (0,38 Sekunden)

www.bikeraceinfo.com/giro/giro1914.html

»Der Giro 1914 war zweifellos die härteste große Landesrundfahrt aller Zeiten. Nur acht Fahrer waren in der Lage, dieses atemberaubend schwere Rennen zu beenden.«

Die Bestätigung dieser krassen Einschätzung erhielt ich eine Woche später auf den Seiten einer knappen Zusammenfassung des Rennens, die mit ein paar aussagekräftigen Fotos angereichert war. Das dünne Büchlein war von einem altgedienten italienischen Sportjournalisten in seiner Muttersprache verfasst worden, was gewisse Schwierigkeiten mit sich brachte: 1985 hatte ich einen Kurs in Wirtschaftsitalienisch belegt, um einer umwerfend schönen Frau nah sein zu können, bevor ich ihre beachtlich haarigen Unterarme bemerkte und nach der Hälfte aufgab. Erstaunlicherweise stellte sich diese ausgetrocknete Pfütze an Sprachkenntnissen als ausreichend heraus, um zumindest den Titel von Paolo Facchinettis Abhandlung zu übersetzen. Für Untertitel und Klappentext benötigte ich allerdings eine Online-Hilfe.

DER GIRO D’ITALIA 1914: DER HÄRTESTE ALLER ZEITEN

Diese großartigen Männer auf ihren Tretmaschinen

81 Männer fuhren los, und nur acht kamen an. Schreckliche Witterungsbedingungen, fürchterliche Straßen und 400 Kilometer lange Etappen erwiesen sich selbst für die größten Champions von il ciclismo eroico als zu viel …

Il ciclismo eroico verkörperte, wie ich herausfinden sollte, genau den Geist, den ich wiederzubeleben hoffte. In den letzten Jahren haben die Italiener große Zuneigung für ihr »heroisches Zeitalter des Radsports« entwickelt, als dieser Sport in Italien über allem stand und italienische Fahrer die Szene beherrschten. Zwischen den zwanziger Jahren und den frühen Fünfzigern gewannen Italiener fast ebenso oft die Tour de France wie die Franzosen selbst, während sie ihre eigene Landesrundfahrt, die sich als zweitwichtigste und allerstrapaziöseste etabliert hatte, fast unangefochten dominierten.

Dass das härteste Radrennen aller Zeiten ein Giro gewesen sein musste, erschien mir angesichts seiner furchterregenden Reputation nur folgerichtig. Einige Einschätzungen aus den vergangenen Jahren:

»Der Giro d’Italia: Warum erwachsene Männer weinen«, schrieb das Magazin Peloton über die Ausgabe von 2011.

»Eine ungeheure und brutale physische Prüfung«, urteilte 2012 Dan Hunt, der für die Ausdauerdisziplinen zuständige Cheftrainer der britischen Bahn-Nationalmannschaft.

»Es ist ein noch schlimmeres Gemetzel als die Tour. Man fragt sich immer wieder: Warum zum Geier tue ich mir dieses Scheißrennen an?«, ließ sich Sir Bradley Wiggins zitieren.

Natürlich würde ich mich also dem Giro stellen müssen, dem Rennen, bei dem Lance Armstrong – ha! – nur ein einziges Mal anzutreten gewagt hatte und Elfter geworden war. Das Rennen, mit dem Eddy Merckx im Jahr 1968 seinen Siegeszug bei den großen Landesrundfahrten begann und 1974 auch beendete. Und das Rennen, das Fausto Coppi weltberühmt machte, den Inbegriff des tragischen Helden und eine der vielleicht größten gebrochenen Sportpersönlichkeiten aller Zeiten: einen fünfmaligen Giro-Sieger, der in den 1950er Jahren eine zweimonatige Haftstrafe wegen Ehebruchs verbüßte, offenherzig über den ungezügelten Gebrauch von Aufputschmitteln im Sport plauderte und im Alter von 40 Jahren an Malaria verstarb.

Wegen seiner bescheidenen und unangepassten Art hatte ich immer viel übrig gehabt für Coppi, einen Hänfling von einem Mann mit Vogelgesicht und Hühnerbrust, dessen Körperbau keinen Sinn ergab, bis man ihn auf ein Rad setzte. Sein weicher, unermüdlicher Tritt brachte ihm 1940 mit zwanzig seinen ersten Giro-Sieg ein und zwei Jahre später einen Stundenweltrekord, der 14 Jahre lang Bestand hatte. Mit zweiunddreißig stellte er in Alpe d’Huez auf dem Weg zu seinem zweiten Tour-Sieg eine Bestmarke auf, die drei Jahrzehnte lang niemand zu übertreffen vermochte.

Welchen überirdischen Status Coppi erreicht hatte, verdeutlicht die Tatsache, dass mein Vater – ein Mann, der sich nicht die Bohne für Sport jeglicher Art interessiert – bei einem kürzlich durchgeführten Fotoquiz legendärer Sportler, bei dem unter anderem Pelé, Björn Borg und Muhammed Ali dabei waren, nur ihn identifizieren konnte. (Fairerweise sollte ich anmerken, dass mein Vater einen Teil seiner Kindheit in Rom verbrachte und dort lebte, als Fausto auf dem Weg zu seinem ersten Giro-Sieg durch die Stadt kam. »Auf jeder Mauer in der Stadt stand Viva Coppi«, erzählte er mir. »Aber ehrlich gesagt habe ich sein Gesicht nur wegen des Ehebruch-Prozesses wiedererkannt.«)

Der Giro d’Italia stellte also genau die Art epischer Herausforderung dar, auf die ich aus war: ein hartes Rennen für echte Helden, das man mit Schneid allein gewinnen konnte, ohne danach auszusehen. Ich fing gerade an, mich mit der Aufgabe anzufreunden, als ich den Fehler machte, mich näher mit Paolo Facchinettis Bericht von der ganz besonders beschwerlichen sechsten Ausgabe des Giro zu befassen:

Der »Rekord-Giro« von 1914 in Zahlen:

längste durchschnittliche Etappendistanz aller Zeiten: 396,25 km

geringste Anzahl ins Ziel gekommener Fahrer: 8

höchster Prozentsatz an Aufgaben: 90 %

längste Distanz einer Einzeletappe: 430 km, Lucca–Rom

längste Fahrzeit einer Einzeletappe: 19:34:47 Std., Bari–L’Aquila

Die Aufzählungszeichen des Verderbens aus Paolos Vorwort rückten mein geplantes Unternehmen schlagartig ins rechte Licht – ein gleißendes, entsetzliches Licht. Eine durchschnittliche Distanz von 400 Kilometern? Als ich die Strecke der Tour de France fuhr, hätten mir hundert Kilometer beinahe den Rest gegeben. Und damals war ich der dreißig noch näher als der vierzig. Ich war jünger als der älteste Toursieger. Jünger, viel jünger als David Beckham, als er seinen Rentenvertrag bei Paris St. Germain unterschrieb. Inzwischen war ich jenseits der vierzig und näherte mich längst mit großen Schritten der fünfzig. Mit 35 hat man noch Mumm in den Knochen. Mit 47 ist man froh, wenn man sie noch alle beisammen hat.

Das Beste, was ich in Sachen Inspiration finden konnte, war der Boxprofi Bernard »The Executioner« Hopkins, der soeben im Alter von 46 Jahren die IBO- und WBC-Titel im Halbschwergewicht gewonnen hatte. Aber auch wenn Hopkins ein schönes Beispiel dafür war, zu welchen körperlichen Leistungen man in diesem Alter noch fähig ist, so war er gleichzeitig auch ein alarmierendes Mahnmal, welchen Preis man dafür zu zahlen hatte. Vor einer anschließenden Titelverteidigung äußerte er sich gegenüber der Presse mit den Worten: »Ich habe vor einem Monat erfahren, der Arzt wird vor der Pressekonferenz hoffentlich hier sein, um das näher zu erläutern, aber ich muss gestehen, dass ich nicht menschlich bin. Ich bin ein Alien. Nein, im Ernst, ich bin vom Mars.«

So sehr ich mich auch mühte, sie zu verdrängen, kamen jetzt die Erinnerungen an meine einzige nennenswerte Unternehmung auf zwei Rädern im vorigen Jahrzehnt wieder hoch. Als die Tour de France 2007 in London startete, fuhr ich mit dem Fahrrad die Strecke nach Canterbury ab. Zur Vorbereitung hatte ich ein ähnliches Programm absolviert, wie es mir sieben Jahre zuvor zu Ehre gereicht hatte: einfach gar nichts machen und die Sache mit reiner Willenskraft durchziehen – mit dem »Koffer der Tapferkeit«, wie es der altgediente Radsportkommentator Paul Sherwen einmal so treffend ausgedrückt hat, um Fahrer zu beschreiben, die von irgendwoher die Kraft nehmen, sich weiter zu schinden. Wie ich leider feststellen musste, war daraus bei mir im fortgeschrittenen Alter eher eine »Handtasche der Übelkeit« geworden. Nachdem ich sie in einer Parkbucht nahe Ashford geleert hatte, war bei mir der Ofen aus. Viele unsägliche Stunden später bestieg ich entkräftet einen Zug Richtung Heimat, schob mir Pommes in die blasse Schnauze und ergab mich matt der neuen Realität: Ich war aus dem Alter raus, in dem man mangelnde Vorbereitung noch durch bloße Entschlossenheit wettmachen konnte.

Vielleicht war ich sogar zu alt, um mich noch anständig vorbereiten zu können. Ein paar Jahre nach diesem Debakel fuhr ich mit meinem halbwüchsigen Sohn zum Mountainboarden. Dabei rollten wir auf Skateboards mit Ballonreifen einen Abhang in Surrey hinab. Da wir nur gemütlich dahinkollerten, glaubte ich, größere Probleme ausschließen zu können, aber weit gefehlt. Bei einem scheinbar harmlosen Sturz auf unserer letzten Fahrt riss mir ein wichtiger Schultermuskel, nämlich derjenige, der dafür sorgt, dass man seinen Alltag bewältigen kann, ohne wie ein 498-jähriger Greis aus Chelsea zu wirken.

Die anschließende Reha dauerte vier Monate, so dass ich viel Zeit hatte, um über meine bevorstehende Zukunft im Zustand greisen Siechtums nachzudenken: »Das ist Mr. Moore da drüben beim Fernseher. Der arme Kerl ist letzte Woche leicht gestürzt. Nein, Mr. Moore, das ist nicht die Tour de France, das ist ›Countdown‹ – die Tour startet erst in sechs Monaten … Nein, nicht Minuten, Monate. MO-NA-TE. Schenken Sie ihm ein Lächeln, da freut er sich.«

Jede körperliche Tätigkeit, die ich in Angriff nahm, führte mir unmissverständlich vor Augen, dass ich es locker angehen lassen sollte, statt mir das genaue Gegenteil in den Kopf zu setzen. Ein Jahr lang wöchentliches Badminton bescherte mir einen Tennisarm und kaputte Knie, richtete aber nichts gegen meine grässlich gedeihenden Männermöpse aus. Ich wendete unsere Matratze, so wie ich es in jedem Frühling tat, dann kam ich zwei Tage lang nicht mehr von ihr herunter.

Damit hätte ich einen Schlussstrich unter die ganze blödsinnige Idee ziehen sollen. Den Giro d’Italia von 1914 zu fahren, war, gelinde gesagt, nichts für alte Männer. Andererseits versprach mein geplantes Unternehmen aber auch viele Stunden, ausgefüllt mit herrlich zweckfreien Tätigkeiten – etwas, was den Bedürfnissen von Männern meines Alters im Allgemeinen doch sehr entgegenkommt.

II

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Seitdem Paolos Buch eingetroffen war, hatte mich die Abbildung des Rennrads der Marke Stucchi fasziniert, auf dem der Giro 1914 gewonnen worden war. Den Diamantrahmen mit seinen dünnen Rohren lediglich als schlicht zu bezeichnen, wäre maßlos untertrieben: eine Rennmaschine ganz ohne Schaltung, mit klobigem Lenker und steinhartem Sattel, in der Werkhalle der Mailänder Firma scheinbar aufs Geratewohl aus einzelnen Teilen zusammengezimmert. Ich musste jedes Mal lächeln, wenn ich das Rad sah: unverfälscht, simpel und ehrlich, der anmutige Gegenentwurf zu den heutigen, 6.000 Euro teuren Profirädern mit ihrer reizlosen, von Strömungswiderstand, Werkstoffkunde und Biomechanik bestimmten Geometrie.

Nach einer Weile verhärtete sich dieses Lächeln zur Fratze grimmiger Entschlossenheit. Mit einem Rad wie diesem wäre ich in der Lage, Eddy Merckx und Chris Boardman und il ciclismo eroico auf gebührende Weise die Ehre zu erweisen. Der Generation Armstrong würde ich es schon zeigen: Weg mit Energy-Gels und Titan, her mit Schmalzbroten und schwerem Stahl. War es nicht sterbenslangweilig (und vermutlich auch völlig sinnlos), wenn ich Monate investierte, um für dieses Unterfangen halbwegs in Form zu kommen? Nein, stattdessen würde ich mich fortan einfach auf das konzentrieren, was Männer in meinem Alter eh am besten können: rostigen alten Plunder anhäufen.

Meine ersten Recherchen förderten gute und schlechte Nachrichten zutage: Hundert Jahre alte Rennräder waren weiter verbreitet, als ich erwartet hatte, aber auch wesentlich teurer. Bei eBay wurden für restaurierte Modelle Preise ab 1.500 Pfund aufwärts aufgerufen. Selbst für ein in irgendeinem Schuppen vor sich moderndes Schnäppchen würde ich mindestens 700 Pfund hinblättern müssen. Italiener, wie ich ebenso erfreut wie ernüchtert feststellte, pflegten eine besonders innige Beziehung zu den Rädern aus der goldenen Ära des Sports. Erfreut, weil ich mich schon auf einer Welle der Nostalgie durch malerische Bergdörfer radeln sah, und ernüchtert, weil dies wohl nicht auf einer authentischen italienischen Maschine geschehen würde. Stucchi war eine nicht mehr fabrizierte Marke, deren verbliebene Exemplare offenbar nur noch Ausstellungszwecken dienten. Das Gleiche galt für Räder von Maino, Ganna, Globo und Atala, die 1914 ebenfalls am Start gewesen waren. Das Beste, was ich auftreiben konnte, war ein Bianchi von 1913, damals Stucchis ärgster Konkurrent und die einzige Firma, die auch heute noch produziert. Doch die Pedale passten nicht zusammen, und das gute Stück sollte 3.400 Euro kosten.

Schließlich zwangen mich Ahnungslosigkeit und aufkommende Unruhe dazu, die letzte Grenze männlicher Verzweiflung zu durchbrechen: Ich bat um Hilfe. Auf meiner Suche nach zeitgenössischen Herstellern war mir eine bestimmte Website immer wieder untergekommen, ein französisches Forum für Liebhaber klassischer Räder namens »Tonton Vélo« (was so viel wie »Onkel Stahlross« heißt, aber auf Französisch vermutlich etwas weniger nach dem Spitznamen eines gesuchten Päderasten klingt). Die tontons wussten, wovon sie sprachen, waren gleichzeitig aber erfreulich entspannt bei der Sache. Für jeden fanatischen, bis zum letzten Schräubchen authentischen Nachbau gab es die Geschichte eines verbeulten alten Schrottesels, der in Nachbars Garten aufgetan, in WD-40 eingelegt und durch die Gegend gefahren wurde, bis er in der Mitte durchbrach.

Als Nation, die das Fahrrad erfunden und das erste Radrennen ausgetragen hatte und noch immer die größte dreiwöchige Landesrundfahrt der Welt veranstaltet, hätte ich von Frankreich erwartet, dass es die Relikte aus der damaligen Zeit in allerhöchsten Ehren hielt und mit den entsprechenden Preisschildern versah. Damit lag ich falsch. Wie die schiere Zahl der Berichte über Scheunenfunde vermuten ließ und die dazugehörigen Diskussionen über vergleichsweise bescheidene Summen bestätigten, gab es keinen besseren Ort auf der Welt, um ein äußerst altes Fahrrad zu erstehen. Ich meldete mich bei »Tonton Vélo« an, rief Google Translate auf und bat im Unterforum »Rennräder vor 1945« um Beistand.

Fast sofort erhielt ich eine private Mitteilung von einem Nutzer namens Roger Rivière. Das hätte mir eine Warnung sein sollen: Rivière hatte bei der Tour de France 1960 traurige Berühmtheit erlangt, als er völlig benebelt von Aufputschmitteln eine Begrenzung durchbrach, einen Abhang hinabstürzte und den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbrachte. Wie auch immer, dieser andere Roger machte mich freundlicherweise auf ein Festival für klassische Räder in Nordfrankreich aufmerksam, wo ich vielleicht fündig werden würde. Darüber hinaus schickte er mir einen Link zu einer Anzeige auf Le Bon Coin, dem größten Online-Schnäppchenmarkt seines Landes. Die Anzeige war von Max, der dort den bereits erwähnten Berg ausgedienter Teile für 400 Euro anbot.

Da er schon mit Max gesprochen hatte, hielt Roger das Angebot für einen ziemlich günstigen Deal. Zusätzlich zu einem großen Sortiment willkürlicher Einzelteile umfasste die Sammlung die vollständigen Komponenten zweier altehrwürdiger Maschinen. Eine davon war ein Rennrad aus den 1940er Jahren, das mich außer als Gratis-Dreingabe nicht weiter interessierte. Das andere aber war ein La Française-Diamant.

Nach Ansicht eines per E-Mail geschickten Fotos konnte Roger das Rad lediglich auf den ungefähren Zeitraum zwischen 1910 und 1920 datieren, aber das sollte mir reichen. Ich wusste nicht viel über den Hersteller, aber ich wusste genug: Maurice Garin, der Sieger der allerersten Auflage der Tour de France, hatte damals auf einem La Française-Diamant triumphiert.

Mein Herz machte einen Satz und drohte dann die umliegenden Organe zu erdrücken, als ich bei Google auf eine bewegende Aufnahme stieß, die Garin samt prächtigem Schnauzbart bei der Siegerparade von 1903 auf seinem geschmückten La Française-Diamant zeigte. Eigentlich hatte ich ein italienisches Rad gewollt, aber das vom ersten Tour-de-France-Sieger erwählte Ross war natürlich nicht zu toppen. Aus lauter Begeisterung buchte ich sofort eine Fähre, bevor ich nach draußen ging und den Beifahrersitz aus meinem Auto ausbaute, um Platz zu schaffen für den ganzen wunderbaren Krempel. Dafür brauchte ich vier Stunden, was für das komplexe Bauvorhaben, das vor mir lag, nichts Gutes verhieß.

Von Vorfreude und Energydrinks aus dem Supermarkt befeuert, machte ich mich auf die Reise in den hintersten Winkel der Bretagne, wo mich beim Anblick meiner Beute eine gewisse Beklemmung erfasste. Ich glaubte aus Max’ Worten heraushören zu können – seine Englischkenntnisse schienen sich mit der Begrüßungsformel erschöpft zu haben –, dass das meiste von dem Krempel aus dem Lagerraum eines örtlichen Radgeschäfts stammte, das geschlossen worden war, als der in die Jahre gekommene Betreiber in den Ruhestand ging.

Wenn es mir für einen kurzen Moment gelang, die vor mir stehende mechanische Mammutaufgabe zu vergessen, konnte ich in dem Haufen viel Zauber und Schönheit entdecken. Da war eine braune Papiertüte voller hübsch gravierter Messingklingeln. Ein schöner alter geschwungener Lenker, der aussah, als wäre er aus einem Pariser Metroschild gearbeitet. Mehrere hundert originalverpackte Speichen aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Ein bis zum Rand mit rostigen Ritzeln gefüllter Bleicheimer. Ein halbes Dutzend hölzerner Felgen, eine Kiste mit Bremszubehör und ein Schuhkarton mit Pedalteilen, eine verstaubte Ansammlung von Ledersätteln und Werkzeugtaschen … dazu die bereits erwähnten Vierkantschrauben und ein paar tausend rätselhafte Teile mehr, und eines war klar: Mir würde nun ein ziemlich großer Haufen echt uralten Radplunders gehören. Max, ein untersetzter Bursche mittleren Alter mit kleinem grauen Schnauzbart, hob die Brauen und lächelte erneut. »Il y a beaucoup«, sagte ich.

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Mit meinen spärlichen Französischkenntnissen, die in etwa so eingerostet waren wie der Krempel vor mir, fragte ich Max, wo er den ganzen Ramsch herhabe und warum er ihn jetzt verkaufe. Statt einer Erklärung führte er mich durch die Garage in einen Kellerraum, in dem ein auf Hochglanz poliertes klassisches Motorrad stand.

»Ma Vélocette«, seufzte Max und deutete zärtlich auf diese Sinfonie aus glänzendem schwarzen Lack und Chrom. Ich entnahm seinen Ausführungen, dass er das La Française-Diamant zu seinem nächsten Projekt auserkoren hatte. »Mais, uh, ma femme …« Mit einem resignierten, von bastelwütigen Ehemännern auf der ganzen Welt perfektionierten Achselzucken gab Max mir zu verstehen, warum er das Vorhaben widerwillig auf Eis hatte legen müssen.

Sonderlich weit war er im Übrigen noch nicht gekommen. Eine einzige Bremszange war vernickelt worden, und er hatte den Rahmen grob mit einer weißen Grundierung lackiert. Das bot einen eher traurigen Anblick, aber immerhin hatte Max wohlweislich vorher das Steuerkopfschild mit dem La-Française-Diamant-Emblem vom Rahmen entfernt.

Dieses wurde nun wie eine Reliquie in einem winzigen Gläschen verwahrt: ein Miniaturfirmenschild mit dem Namen der Marke darauf, deren Herkunftsort – Paris – und fünf sternförmig angeordneten Diamanten. Genau das Hersteller-Emblem, das bei der ersten Austragung der Tour de France das Zielband durchtrennt hatte. Ich schaute es mit dem gleichen Entzücken an, mit dem bei Indiana Jones der eine Nazi den verlorenen Schatz geöffnet hatte, dann steckte ich es mir lieber schnell in die Tasche, bevor mein Gesicht zu schmelzen drohte.

Es war fast dunkel, als ich meinen Wagen bis unters Dach mit dem ganzen Schrott vollgepackt hatte und mich mit einem Wendemanöver, das infolge der eingeschränkten Sicht überaus heikel ausfiel, auf den Rückweg durch die Bretagne machte. Während rostige Rohre mich im Nacken kitzelten und ich wegen des säuerlichen Geruchs nach Eisen und Öl permanent die Nase rümpfte, sinnierte ich erneut darüber, welcher Teufel mich geritten hatte, mir eine Aufgabe vorzunehmen, an der schon ein weitaus fähigerer Mann gescheitert war (oder zumindest das Interesse verloren hatte). Bei zahlreichen köstlichen Crêpes, die Madame Max zubereitet und mir mundgerecht gefaltet einverleibt hatte, war ich über die vielen maßgeblichen Qualitäten aufgeklärt worden, die ihren Gatten auszeichneten und mir vollkommen abgingen. Max war gelernter Klempner und ein Bastler vor dem Herrn, der nicht nur alte Motorräder auf Vordermann brachte, sondern auch Modelle japanischer Architektur aus dem 19. Jahrhundert anfertigte. Er hatte die Möbel hergestellt, auf denen wir saßen und an denen wir aßen, und war außerdem Landschaftsgärtner und Kommunist. Es gab aber durchaus Gemeinsamkeiten. Denn wie sich herausstellen sollte, war Max darüber hinaus auch ein gewaltiger Maulheld.

Als ich ein paar Tage später in der Zeitung blätterte, stieß ich auf die große Aufnahme eines demontierten Fahrrads, Teil eines Projekts eines kanadischen Fotokünstlers, der Alltagsgegenstände in ihre einzelnen Komponenten zerlegt und dann ablichtet. Ich hatte mir Fahrräder immer als einen Triumph zweckmäßiger Ingenieurskunst vorgestellt. Für mich waren sie stets eine Erfindung gewesen, deren weltweiter Erfolg vor allem auf ihrer mechanischen Simplizität beruhte. Das demontierte Rad auf dem Foto war ein recht schlichtes Raleigh aus den 1980er Jahren, und doch war diese Maschine, wie ich erfuhr, aus sage und schreibe 893 Teilen zusammengesetzt. Eine überwältigende Menge, die in adretten, nach geometrischen Formen angeordneten Häufchen um den Rahmen gruppiert war. Daneben waren eine auf ähnliche Weise zerlegte Digitalkamera und eine Kettensäge zu sehen, die es zusammen auf 48 Einzelteile brachten.

Ich starrte auf dieses entsetzliche Bild und spürte, wie mir der Appetit verging. Ungewollt wurde vor meinem geistigen Auge meine bisherige Karriere als Radmechaniker abgespult. Das dauerte nicht lange. Mit zwölf konnte ich einen Platten reparieren, sofern dafür nicht die Demontage des Hinterrads erforderlich war, dafür war mein Vater zuständig. Mit vierunddreißig war ich in der Lage, Bremsbeläge auszutauschen. Die Zeit zwischen diesen herausragenden Triumphen war eher vom Scheitern als von Erfolgen geprägt. Mechanisches Geschick war nicht mein Freund. Mechanisches Geschick rief nicht an und schrieb auch nicht. Trotz vieler, mit schmutzigen Händen und ebensolchen Flüchen zugebrachten Stunden war es mir nie auch nur im Ansatz gelungen, die billigen Dreigangschaltungen meiner frühesten Gefährte vernünftig einzustellen. Die Vorrichtungen der Marke Sturmey-Archer neigten dazu, einen genau dann im Stich zu lassen, wenn man sie am dringendsten benötigte, etwa wenn man aus dem Sattel ging, um die ersten steilen Rampen des Hanger Hill zu bewältigen, oder wenn es ratsam war, überstürzt die Flucht vor den Reißzähnen eines unangeleinten Kampfhundes zu ergreifen. Und wenn sie einen im Stich ließen, dann bekam man das auch zu spüren. Hatte man Glück, führte der jähe Verlust des mechanischen Widerstands lediglich dazu, dass man mit dem Unterleib heftig auf den Sattel krachte. Hatte man Pech, war es das Oberrohr.

Anstatt mich damit zu beschäftigen, wie sie funktionierten und was zu tun war, falls sie es einmal nicht taten, konzentrierte sich meine Leidenschaft für Fahrräder fast ausschließlich auf mögliche Verschönerungen. Einen beträchtlichen Teil meiner Kindheit in Ealing verbrachte ich vor dem Schaufenster von B & L Accessories in der St. Mary’s Road, wo ich sehnsüchtig auf Gummiballonhupen und Rallyestreifen-Aufkleber schaute und im Gefühl demütiger Unwürdigkeit auf die ausgestellten Tachometer von Huret. Mein größter Wunsch war es, meinen Lenker mit einer dieser verchromten französischen Schönheiten zu verzieren. Welche Wonne, sich vorzustellen, wie die rote Nadel auf einer rasenden Abfahrt den Hanger Hill hinab zitternd über die Art-Deco-Ziffern wanderte, bis über die bei 40 Meilen pro Stunde endende Skala hinaus. Dann blickte ich mit einem unterdrückten Seufzer auf den Preis – eine vergessene, aber exorbitante Summe – und sah ein, dass ich weiterhin mit meinem kleinen, an der Gabel montierten Kilometerzähler vorlieb nehmen musste, der mir vorgaukelte, der heimische Gunnersbury Park habe in etwa dieselben Ausmaße wie Belgien.

Im Laufe der folgenden Jahre sorgte ein wachsendes Maß an Zuverlässigkeit dafür, dass grobmotorisches Ungeschick und strunzdoofe Unfähigkeit ein immer geringeres Handicap für Radeigentümer darstellten. Als sich das 20. Jahrhundert seinem Ende näherte, befuhr ich den Londoner Südwesten auf einem schäbigen Trekkingbike aus chinesischer Fabrikation, dem auch ein fahrlässiger Verzicht auf jegliche Pflege und Wartung nichts anhaben konnte. Nichts nutzte sich oder brach ab, und sämtliche Probleme, die auftauchten, bewegten sich im Rahmen meiner mechanischen Möglichkeiten, sofern nicht die Demontage des Hinterrads erforderlich war, dafür war mein Bruder zuständig. Das brandneue, recht schnittige Rennrad, mit dem ich im Jahr 2000 meine Tour de France unternahm, war sogar noch genügsamer. Auf einer Strecke von mehr als 3.000 Kilometern hatte ich nur einen einzigen Platten zu beklagen. Hin und wieder lief einer der 27 Gänge nicht mehr ganz rund, aber sobald mir das daraus resultierende drrr-tschick hinlänglich auf den Sack ging, um über mögliche Abhilfemaßnahmen nachzudenken, hörte es auch schon wieder auf. Ich hatte damals ausreichend Werkzeuge und Ersatzteile eingepackt, um beispielsweise eine Robotervogelscheuche bauen zu können, brauchte den ganzen Kram aber nicht ein einziges Mal. Irgendein Dahergelaufener kümmerte sich sogar um den Platten, bevor ich es selbst tun musste.

Aber das war Schnee von gestern. Die Herausforderung, aus einem Haufen Schrott ein fahrtüchtiges Fahrrad der Marke La Française-Diamant zu bauen, stellte eine raue und rostige Rückkehr zur Ära der notdürftigen Flickschusterei dar. Ich war seit einer Woche aus der Bretagne zurück und hockte mit langsam verpuffender Begeisterung auf der Terrasse. Der Haufen der Teile, die ich definitiv nicht brauchen würde – in erster Linie das Rad aus den Vierzigern und drei kaputte Holzfelgen –, wurde von den beiden Haufen mit Teilen, die ich auf jeden Fall oder vielleicht brauchen würde, deutlich in den Schatten gestellt. Den ersten Haufen verstaute ich im Schuppen, den letzten türmte ich unter einer blauen Plastikplane auf, die scheinbar sämtliche Katzen der Gegend mit einem Klo verwechselt hatten. Ich brauchte vier Stunden, um aus dem Rest etwas zusammenzupfuschen, das entfernt an die Pinseleien auf Radwegen erinnerte, und das ganze Gemenge auf meinem neu erworbenen Montageständer aufzubocken.

Aus der Ferne betrachtet sah es gar nicht so übel aus: Sattel, zwei Räder, Lenker, ab dafür. Aber je mehr man sich dem Gerät näherte, desto ersichtlicher wurden die Mängel. Die Holzfelgen, die sich als resistent gegen mein ungeschultes Gefummel erwiesen hatten, waren mehr schlecht als recht mit drei Speichen und Kabelbinder an der Nabe befestigt. Der so hübsch gearbeitete Lenker war durch und durch von dem Rost zerfressen, der meine Hände in den folgenden Monaten mit einer ständigen ockerfarbenen Patina überziehen sollte. Der einzige Sattel, den an der Sattelstütze zu montieren mir gelang, war vermutlich erst vor kurzem an der Somme ausgegraben worden.

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Alles andere glänzte durch Abwesenheit. Aus dem Bremsgedöns, das Max mir überlassen hatte, war ich beim besten Willen nicht schlau geworden – insgesamt waren es vielleicht zwei Dutzend Sets, die in einer hölzernen Bierkiste durch Rost zu einer einzigen Skulptur verschmolzen waren. Ebenso hatte ich gar nicht erst versucht, mich mit den Lagerschalen, den Dichtungen und den verstaubten, ölverschmierten Einmachgläsern voller Kugellager zu beschäftigen. Diese Teile waren alle mehr oder weniger wichtig für das Tretlager, das gewissermaßen als »Motorraum« des kompletten Fahrrads in das kreisrunde Loch unten im Rahmen gehörte, dort, wo Unter- und Sitzrohr zusammenliefen. Daher hatte ich auch noch keine Pedale montiert (acht standen zur Wahl), keine Kurbeln (sechs), kein Kettenblatt (drei) und keine Kette (kreisch, nur die eine).

Ich schaute mir das Teil mit halbgeschlossenen Lidern an, dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es war schon zutreffend, dass sich Fahrräder in den letzten hundert Jahren nicht groß verändert hatten. Es war aber noch weitaus zutreffender, dass dieses Fahrrad hier sich enorm verändern müsste, und zwar bald, wollte ich darauf vor dem ersten Schnee die Alpen hinauffahren. Für einen Optimisten wäre dieses radähnliche Kreuzigungsopfer auf dem Montageständer vielleicht so etwas wie ein Anfang gewesen. Für einen Pessimisten aber – nennen wir ihn Tim – sah es eher nach dem Ende aus, wie ein überambitioniertes, »aufgegebenes« Projekt, das ein ratloser Depp bei eBay reingestellt hatte, um wenigstens ein paar Euro, sagen wir 400, wieder reinzuholen.

Ganz offensichtlich brauchte ich Hilfe, und meine geschätzten tontons konnten mir nach ein paar Mausklicks zumindest ein wenig davon geben. Viele ihrer Ratschläge erwiesen sich als erfreulich unkompliziert. So lernte ich beispielsweise, dass sich die äußeren Spuren der Korrosion durch ein langes Bad in einer reinigenden Lösung aus Zitronensäure wie von Zauberhand beseitigen ließen. Alles an dieser Technik war großartig: die leicht anrüchige Anschaffung und Anlieferung großer Mengen an Chemikalien … der ganze, ein Dutzend Bratenformen und eine Schutzbrille umfassende Prozess des Anrührens und Eintauchens auf der Terrasse … die Mutantenbutterblumen, die inzwischen an der Stelle zwischen den Pflastersteinen wachsen, wo ich etwas von der Lösung verschüttet habe. Und welch wunderbarer Anblick es war, den in Zeitlupe sich vollziehenden Wandel alten Metalls vom korrodierten Schrott zur funkelnden, gebrauchsfertigen Komponente zu verfolgen, das geisterhafte Wiedererscheinen der Seriennummern nach Säurebad und anschließender beherzter Bearbeitung mit der Drahtbürste. Ganz besondere Freude bereiteten mir die ausgewählten Stahlkurbeln, die nach der beschriebenen Behandlung den matten Glanz der Unzerstörbarkeit verströmten, wie etwas, das von einer Dampflokomotive aus viktorianischer Zeit stammte.