035.tif

JOHN FREELY

ARISTOTELES
IN OXFORD

Wie das finstere Mittelalter
die moderne Wissenschaft begründete

Aus dem Amerikanischen
von Ina Pfitzner

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Before Galileo. The Birth of Modern Science in Medieval Europe.«

im Verlag Duckworth London, New York 2012

© 2012 by John Freely

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlags

Redaktion: Ulf Müller, Köln

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Ausschnittes aus:

Die Erschaffung der Welt, Tauf kapelle Padua

© akg-images/Mondadori Portfolio/Antonio Quattrone

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94854-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10738-8

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

In Liebe für Toots

INHALT

Einleitung

1. Licht im finsteren Mittelalter

2. Eine europäische Bildungsbewegung

3. Die Anschauungen der Araber

4. Eine Renaissance vor der Renaissance

5. Die Christianisierung des Aristoteles

6. Die Metaphysik des Lichts

7. Die experimentelle Methode

8. Die Wissenschaft von der Bewegung

9. Über den Regenbogen

10. Das Wiederaufleben der Astronomie in Ost und West

11. Die Revolution der Himmelssphären

12. Die neue Astronomie

13. Der Widerstreit der Weltsysteme

14. Auf den Schultern von Riesen

Anhang

Zitatnachweis

Bildnachweis

Bibliographie

Dank

Personen- und Ortsregister

EINLEITUNG

Als ich anfing, Physik zu lehren, herrschte die Auffassung, dass die moderne Wissenschaft von Galileo Galilei ihren Ausgang nahm. Sein heroischer Einsatz für das heliozentrische Weltbild des Kopernikus, das im Widerspruch zur geltenden geozentrischen Kosmologie des Aristoteles und des Ptolemaios in Kirche und Universität stand, führte schließlich, so hieß es, zur wissenschaftlichen Revolution. Sie gipfelte in Newtons neuer Physik und Astronomie und eröffnete die naturwissenschaftliche Moderne.

Von den Vorläufern des Kopernikus, Galileis und Newtons war damals kaum die Rede, dabei datieren Mittelalterhistoriker den Beginn der abendländischen Wissenschaft inzwischen auf mehr als ein Jahrtausend früher. Tatsächlich hatte eine Vielzahl von europäischen Gelehrten der wissenschaftlichen Revolution den Weg geebnet, als sie mit ihren Forschungen die Grundlagen für deren bahnbrechende Theorien und Entdeckungen gelegt, ja einige sogar vorweggenommen hatten.

In diesem Buch versuche ich, dieses falsche Bild und diese Ungerechtigkeit der Geschichtsschreibung zu korrigieren − ein Anliegen, das mich schon seit meinem Studium beschäftigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte ich mit einem GI-Stipendium am Iona College in New Rochelle im Bundesstaat New York. Die Christian Brothers aus Irland hatten es gegründet, und gleich am ersten Tag war mir auf dem Campus eine Statue ihres Schutzpatrons aufgefallen, des heiligen Columban, der im 6. Jahrhundert lebte. Nachdem er aus Irland vertrieben worden war, gründete er auf der Insel Iona vor der Westküste Schottlands, der legendären letzten Ruhestätte des Macbeth, ein Kloster. Seine Schüler errichteten später in England und auf dem Kontinent weitere Klosterschulen und brachten damit schon im frühen Mittelalter Bildung ins Abendland zurück – ganz ähnlich wie die Christian Brothers aus Irland, die mein College vermutlich deshalb in einem Vorort von New York City angesiedelt hatten, weil sie meinten, dass Bildung dort vonnöten sei. Ich hatte daran auf jeden Fall Bedarf, denn wie viele meiner Klassenkameraden hatte ich mit siebzehn die Schule abgebrochen, um mich zur US-Navy zu melden.

Mein Physikprofessor am Iona College war Bruder Thomas Bullen, der bei Patrick Maynard Stuart Blackett studiert hatte, dem Nobelpreisträger für Physik von 1948. Blackett war in Cambridge Schüler von Lord Rutherford gewesen, dem Begründer der Nuklearphysik und Nobelpreisträger für Chemie von 1908, und Rutherford hatte wiederum in Cambridge bei Joseph John Thomson studiert, dem Entdecker des Elektrons. Mit Hilfe einer Webseite für Genealogie in den mathematisch-physikalischen Disziplinen konnte ich meinen wissenschaftlichen Stammbaum von Bruder Bullen, Blackett, Rutherford und Thomson in ununterbrochener Linie zurückverfolgen, über Newton, Leibniz, Galilei und Kopernikus bis zu den ersten Griechen, die an italienischen Universitäten studiert hatten. So gelangte ich bis zu Georgios Gemistos Plethon, der sein Studium an der Universität von Konstantinopel um 1375 beendet hatte: Er brachte das griechische Wissen nach Italien und löste damit letztendlich die italienische Renaissance aus. Dass die Ahnenreihe so weit in das Mittelalter zurückreichte, machte mich neugierig. Wer, so fragte ich mich, hatte wohl in der Finsternis des Mittelalters die gelehrte Tradition Europas fortgeführt?

Dieses Buch geht vor allem auf meine Zeit am All Souls College in Oxford zurück, wo ich als Postdoktorand bei Alistair Cameron Crombie studierte, der für seine wegweisende Forschung zur Geschichte der europäischen Wissenschaft des Mittelalters bekannt ist. Später hielt ich an der heutigen Boǧaziçi-Universität selbst Seminare in Geschichte und Astronomie ab, eines davon mit dem Titel »Die Entstehung der modernen Wissenschaft in Orient« und Okzident, in dem ich mich weitgehend auf Crombies Forschungen stützte. Bis zum heutigen Tage füge ich meiner Sammlung immer neues Material über die Wissenschaft des Mittelalters hinzu.

Crombie verdanke ich die These von der Kontinuität der abendländischen Wissenschaft vom frühen Mittelalter bis zu Kopernikus, Galilei und Newton, an der andere wiederum Zweifel haben. So ist für Thomas Kuhn, der Die kopernikanische Revolution (1957) und Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) verfasste, der Paradigmenwechsel durch die heliozentrische Theorie vielmehr der Beweis für den Bruch zwischen der post-kopernikanischen Wissenschaft und der Wissenschaftstradition im europäischen Mittelalter. Sicher hat Kuhns These etwas für sich, doch wie Crombie in seinem Buch Medieval and Early Modern Science (1952) über Kopernikus festhielt: »Er ist das beste Beispiel für jemanden, der die Wissenschaft revolutionierte, indem er altbekannte Tatsachen auf völlig neue Weise interpretierte.« Gemeint sind damit alle Theorien und Forschungsergebnisse, die Kopernikus von seinen Vorläufern im mittelalterlichen Europa und im antiken Griechenland übernahm. Im Folgenden gehe ich ausführlicher darauf ein, vor allem auch auf die Leistungen der islamischen und byzantinischen Wissenschaftler.

Zunächst werfe ich einen Blick nach Europa an der Wende von der Spätantike zum Mittelalter, als mit der Plünderung Roms durch die Goten 410 und mit dem Brand der Bibliothek von Alexandria die griechisch-römische Epoche zu Ende ging und die Wirren und Wanderungen im frühen Mittelalter einsetzten.

Die Sammlung der Bibliothek von Alexandria umfasste alle Werke der griechischen Wissenschaften, von den Vorsokratikern bis zu den bedeutenden mathematischen Physikern und Astronomen der hellenistischen Zeit. Sokrates selbst hinterließ zwar keine Schriften, aber er war der Lehrer Platons, der wiederum Lehrer des Aristoteles war, dessen Schüler Theophrast war und so weiter. Sokrates steht am Anfang einer Kette von Lehrern und Schülern, die durch den Niedergang der römischen Klassik, den Brand der Bibliothek von Alexandria und den Verlust aller dort aufbewahrten Werke jäh abbrach.

Doch einige Klassiker der griechischen Philosophie und Wissenschaft sind uns – dank eines feinen Ariadnefadens von Alexandria über das mittelalterliche Byzanz und die islamische Welt – überliefert worden, im letzteren Fall durch Übersetzungen vom Griechischen ins Aramäische, Persische, Arabische und schließlich ins Lateinische.

Bevor diese lateinischen Übersetzungen das Abendland erreichten, hatten einige zunehmend isolierte römische Gelehrte, so Boëthius und Cassiodor, in ihren Schriften Fragmente des klassischen Wissens bewahrt. Größere Überreste der klassischen Gelehrsamkeit fanden ihren Weg in die ersten irischen Klöster, vor allem in die Gründungen des heiligen Columban, wo auch griechischsprachige Gelehrte Zuflucht gefunden hatten; sie setzten später mit Columban nach Iona über und brachten ihre Bildung ins Abendland zurück. Als Ergebnis dieser Bildungsoffensive konnten immer mehr europäische Gelehrte Werke der griechisch-arabischen Wissenschaft in lateinischer Übersetzung lesen und verstehen, eine Entwicklung, die durch die Gründung der ersten europäischen Universitäten im 12. und 13. Jahrhundert noch beschleunigt wurde.

Doch zunächst mussten die europäischen Gelehrten gewissermaßen ganz von vorn anfangen, von Neugier getrieben und geleitet von ihren Beobachtungen der Welt um sie herum und des Himmels über ihnen. So war die europäische Wissenschaft von Anfang an eher praktisch-empirisch ausgerichtet, im Gegensatz zum eher abstrakten Wesen der griechischen und islamischen Wissenschaft. Das zeigt sich im Werk Newtons, der laut Crombie »die Beziehung zwischen den empirischen Elementen eines wissenschaftlichen Systems und den aus einer Naturphilosophie abgeleiteten hypothetischen Elementen besonders deutlich herausarbeitete«.

Diesen praktischen Empirismus werden wir noch bei Beda Venerabilis (dem Ehrwürdigen) beobachten, der Anfang des 8. Jahrhunderts schrieb, dass »wir, die wir an der Küste des durch Britannien geteilten Meeres leben, wissen«, wie der Wind die Flut beschleunigen oder verzögern kann. Damit kann ich etwas anfangen, denn als Kind habe ich in Irland gelebt. Im Alter von vier bis sieben Jahren wohnte ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits auf der Dingle-Halbinsel im County Kerry, der westlichsten Spitze Europas, wo das Leben von den Gezeiten bestimmt wird. Meinen Großvater Tomas, einen irisch sprechenden Fischer, der nicht lesen und schreiben konnte, nannte man »Tom der Winde«, weil ihm sein schier unendliches Wissen über die Welt anscheinend von den vier Winden zugetragen worden war. Wenn er unweit unserer Hütte am Strand seine Netze auslegte, begleitete ich ihn. Dort hörten wir das Donnern und Rollen der kartoffelgroßen Steine, die mit der Brandung heran- und wieder fortgeschwemmt wurden. Vor dem Ablegen befeuchtete er den Zeigefinger und hielt ihn in die Luft, um die Windrichtung zu bestimmen. Tomas war mein erster Lehrer, und vielleicht geschah es ja im Gespräch mit ihm, dass ich über Dinge wie die Zeit und die Gezeiten nachzudenken begann, über die ich hier schreibe.

Ob Fischer, ob Schuster, ob Physiker: Jeder Mensch braucht einen Lehrer. Darum geht es mir in diesem Buch – um die Wissensvermittlung von einem Menschen zum nächsten, die in Europa im frühen Mittelalter ihren Anfang nahm, 1000 Jahre vor der Geburt Galileis.

001.tif

Der heilige Hieronymus im Gehäus, Gemälde von Domenico Ghirlandaio, 1480.

Kap-1

LICHT IM FINSTEREN MITTELALTER ANFANG UND ENDE DER KLASSISCHEN WISSENSCHAFT

In einem Brief an Principia aus dem Jahr 412 erwähnt Hieronymus »… ein schreckliches Gerücht aus dem Abendlande, Rom werde belagert und das Leben der Bürger um Gold verkauft. Die Geplünderten seien aber von neuem eingeschlossen worden, um nach ihren Gütern auch noch ihr Leben zu verlieren.« Er schrieb weiter: »Das Wort bleibt mir in der Kehle stecken und Schluchzen mischt sich beim Diktieren in meine Stimme. Die Stadt wird erobert, welche die ganze Welt unterjocht hat, ja sie wird eine Beute des Hungers, ehe das Schwert sie schlägt, und kaum einige wenige bleiben übrig, um in die Gefangenschaft geschleppt zu werden.«

Hieronymus schildert hier die Plünderung Roms am 24. August 410 durch die barbarischen Westgoten unter Alarich. Das Schlimmste aber sollte erst noch kommen, denn nachdem Valentinian III., der Kaiser des Weströmischen Reiches, erschlagen worden war, wurde Rom 455 von den Vandalen eingenommen. Sie plünderten die wehrlose Stadt drei Tage lang und richteten dabei wesentlich größere Verwüstungen an als Alarich. Victor von Vita, ein nordafrikanischer Bischof, berichtet von ganzen Schiffsladungen Gefangener, die in die Kyrenaika gebracht und dort auf den Sklavenmärkten verkauft wurden, bis Rom nahezu menschenleer war. Gefallen war die Stadt selbst zwar nicht, doch sie stand in Ruinen und blieb wochenlang mehr oder weniger unbewohnt; Regierungs- und Bildungseinrichtungen funktionierten nicht mehr.

Unter dem Ansturm der »Barbaren« neigte sich die griechisch-römische Welt ihrem Ende zu, und ihre Götter wie ihre Gelehrsamkeit wurden durch das aufkommende Christentum verdrängt. In Alexandria, das nach seiner Gründung durch Alexander den Großen im Jahr 331 v. Chr. Athen als geistiges Zentrum der griechischen Welt abgelöst hatte, glomm das Licht des klassischen Wissens nur noch schwach.

In der Bibliothek von Alexandria, Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. gegründet, wurden alle auf Griechisch verfassten Werke ab der ersten Homer-Ausgabe aufbewahrt, darunter die philosophischen und naturwissenschaftlichen Schriften von Platon, Hippokrates, Aristoteles, Theophrast, Demokrit, Epikur, Euklid, Aristarch, Archimedes, Eratosthenes, Apollonios, Heron, Hipparch, Strabon, Ptolemaios, Galen, Dioskurides und Diophant, um nur die berühmtesten zu nennen.

Kaiser Theodosios I., ein Christ, verfügte im Jahre 391 in einem kaiserlichen Erlass die Schließung der heidnischen Tempel und anderer Einrichtungen im gesamten Reich, darunter die Bibliothek und das Museion in Alexandria. Der letzte Direktor der Bibliothek war der Mathematiker Theon von Alexandria (um 335–405). Theons Tochter Hypatia, eine bedeutende Philosophin und Mathematikerin, wurde im März 415 unter Anführung des Eiferers Lektor Petros von aufgebrachten Mönchen ermordet und zerstückelt. Ungefähr um dieselbe Zeit wurde die Bibliothek zerstört, die, so eine Version, von fanatischen Christen in Brand gesteckt wurde. Jedenfalls war von der Bibliothek Anfang des 5. Jahrhunderts nichts mehr vorhanden und keine einzige der einst dort archivierten Schriftrollen hatte überlebt. Die heute überlieferten Werke der griechischen Antike, die nur einen winzigen Teil der Originalsammlung der Bibliothek ausmachen, sind ausnahmslos spätere Abschriften, die in mittelalterlichen Klöstern überdauert haben – einige im griechischen Original, andere in der arabischen oder lateinischen Übersetzung. Mit dem Brand der Bibliothek von Alexandria gingen über 1000 Jahre griechische Literatur, Geschichte und Wissenschaft verloren.

Die ältesten wissenschaftlichen Werke in der Bibliothek von Alexandria waren die Fragmente der sogenannten Vorsokratiker. Diese wirkten in der zweiten Hälfte der archaischen Zeit (um 750–480 v. Chr.) und am Anfang der klassischen Ära (479–323 v. Chr.) entweder an der ägäischen Küste Kleinasiens oder in der Magna Graecia, den griechischen Kolonien in Süditalien und Sizilien. Die ersten Vorsokratiker waren Thales (um 625–547 v. Chr.), Anaximander (um 610–545 v. Chr.) und Anaximenes (um 546 v. Chr.), die alle aus Milet stammten. Aristoteles bezeichnete sie als Physikoi – Physiker oder Naturphilosophen − vom griechischen Physis für »Natur« im weitesten Sinne: Er stellte sie den früheren Theologoi, den Theologen, gegenüber, weil sie Naturerscheinungen mit natürlichen und nicht mit übernatürlichen Ursachen zu erklären suchten. Die milesischen Physiker glaubten, die materiellen Dinge, also die Natur insgesamt, seien einfach nur verschiedene Ausformungen der Arché, des Urstoffs, der über alle scheinbaren Veränderungen hinweg bestehen bleibe. Für Thales bestand die Arché aus Wasser, Anaximander hielt sie für eine undefinierte Substanz namens Apeiron und für Anaximenes war sie Pneuma, »Luft« oder »Geist«. Thales hatte sich wohl deshalb auf das Wasser verlegt, weil es im Normalzustand flüssig ist, beim Erhitzen zu Dampf (also gasförmig) wird und sich beim Gefrieren in Eis (einen Feststoff) verwandelt. Ein und dieselbe Substanz tritt also je nach Umgebungsbedingungen in allen drei Aggregatzuständen auf. Dies erinnert mich ein bisschen an mich selbst, bin ich doch noch derselbe, der ich als junger Mensch war, zumindest bilde ich mir das ein, trotz aller äußerlichen Veränderungen seither. Allerdings möchte ich mir als Siebzehnjährigem nicht unbedingt über den Weg laufen: Ich dürfte mich zwar wiedererkennen, aber wer weiß, wie der andere auf mein gealtertes Ich reagieren würde!

Für Heraklit von Ephesos (um 500 v. Chr.) lag die beständige Wirklichkeit der Natur nicht im Sein, und somit in der Existenz eines universellen Grundstoffs, sondern im Werden, im fortwährenden Wandel, daher sein berühmter Aphorismus Panta rhei (Alles fließt). In einem seiner überlieferten Fragmente heißt es: »Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht denselben; wir sind es, und wir sind es nicht«, denn nicht nur der Fluss ist in der Zwischenzeit weitergeflossen, auch wir selbst haben uns verändert.

Die gegensätzlichen Auffassungen der Milesier und des Heraklit finden sich auch in den Gesetzen der Physik, die ich in meinen Seminaren unterrichte. Die milesische Auffassung zeigt sich zum Beispiel im Gesetz von der Erhaltung der Masse: Die an einem Vorgang beteiligte Gesamtmasse ist vor einer chemischen Reaktion dieselbe wie danach, auch wenn sich die Massen der einzelnen Bestandteile ändern. Heraklits Ansatz zeigt sich in Theorien, in denen es um Änderungsraten von Massen geht, wie zum Beispiel bei Newtons zweitem Bewegungsgesetz: Die Beschleunigung eines Körpers, also die Änderungsrate seiner Geschwindigkeit, entspricht der darauf einwirkenden Kraft geteilt durch seine Masse.

Nach Pythagoras (um 580–um 500 v. Chr.) ist der berühmte Satz des Pythagoras benannt, der besagt, dass in einem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Hypotenuse der Summe der Quadrate der beiden anderen Seiten entspricht: Diese Erkenntnis markiert den Anfang der griechischen Mathematik. Auf Pythagoras und seine Schüler gehen wahrscheinlich auch die ersten physikalischen Experimente zurück; so untersuchten sie die durch Musikinstrumente erzeugten Töne und entdeckten dabei die numerischen Verhältnisse in der musikalischen Harmonie. Dies führte sie zu der Annahme, dass auch der Kosmos auf harmonischen Prinzipien basiere, die sich – wie jene in der Musiktheorie – in numerischen Beziehungen ausdrücken ließen. Darauf aufbauend formulierten die Pythagoreer ihre Kosmologie, derzufolge die fünf sichtbaren Planeten – Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn ebenso wie Sonne, Mond und Erde um das Weltfeuer oder den Herd des Universums kreisten und sich dabei mit einer Geschwindigkeit bewegten, die ihrer Entfernung zu diesem Zentralfeuer umgekehrt proportional war. Dabei erzeugten die am nächsten gelegenen Himmelskörper, die sich schneller bewegten, einen höheren Ton als die weiter entfernt kreisenden und umgekehrt. Es ist die berühmte Sphärenharmonie oder Sphärenmusik, die bis in die Zeiten des Kopernikus, Keplers und Shakespeares große Faszination ausübte. In Shakespeares Kaufmann von Venedig macht Lorenzo seine Jessica auf die Harmonie der himmlischen Sphären aufmerksam:

Jessica, setz dich. – Sieh, des Himmels Boden

Ist ausgelegt mit hellen goldnen Schalen:

Sogar der kleinste Stern, den du da siehst,

Der singt auf seiner Bahn, so wie ein Engel

Den Cherubim zusingt mit jungen Augen:

So füllt die Harmonie unsterbliche Seelen,

Wir hören sie nur noch nicht, solang diese

Schlammige Hülle des Verfalls uns festhält.

War für Heraklit alles im Fluss und nichts beständig, so gab es für Parmenides (um 515–450 v. Chr.) nur das Sein, das er als das Eine bezeichnet. Dass Veränderung möglich wäre, wies er kategorisch zurück. Der Kosmos war für ihn eine volle (also nicht leere), ungeschaffene, ewige, unzerstörbare, unveränderliche Kugel des Seins, und jegliche Wahrnehmung, die dem widersprach, beruhte auf einer Sinnestäuschung. Ein Fragment des Parmenides lautet: »Es ist entweder oder es ist nicht« – was bedeutete, dass Schöpfung wie auch Zerstörung unmöglich sind.

Parmenides’ unverrückbare Ordnung des Kosmos klang von der Antike bis in die europäische Renaissance immer wieder an, so auch im letzten Gesang der Feenkönigin von Edmund Spenser:

Doch dann denk ich dran, was die Natur erzählte

Von der Zeit, wo kein Wandel mehr wird sein,

Indes nur aller Dinge stete Ruh,

auf Säulen der Ewigkeit fest gestützt;

dem entgegen steht die Wandlungsfähigkeit:

Was sich bewegt, am Wandel sich freut.

Die Atomtheorie des Leukipp (Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr.) und seines berühmtesten Schülers Demokrit (um 470–um 404 v. Chr.) bot einen Ausweg aus diesen unvereinbaren Weltdeutungen. Nach Auffassung Leukipps und Demokrits trat die Arché in Form von Atomen auf, den unteilbaren kleinsten Teilchen alles Stofflichen, die aufgrund ihrer unaufhörlichen Bewegung im Vakuum zusammenstoßen. Dabei können sie die unterschiedlichsten Verbindungen eingehen und auf diese Weise all die vielfältigen, in der Natur zu beobachtenden Formen annehmen. In einem überlieferten Fragment des Leukipp selbst heißt es: »Nichts geschieht aufs Geratewohl, sondern alles aufgrund eines Verhältnisses und infolge von Notwendigkeit.« Damit meinte er, dass die Bewegung der Atome nicht chaotisch ist, sondern den unveränderlichen Gesetzen der Natur gehorcht. Zu Demokrits Lebzeiten konnte sich die Atomtheorie nicht durchsetzen, vor allem wegen ihres Determinismus, der die Möglichkeit des Zufalls, der Wahl oder des freien Willens völlig ausschloss.

Einigen der grundsätzlichen Fragen, die Parmenides aufgeworfen hatte, wandte sich Empedokles (um 482–um 432 v. Chr.) zu. Was die Unverlässlichkeit von Sinneseindrücken betraf, stimmte er Parmenides zu, doch weil diese unser einziger direkter Kontakt zur natürlichen Welt seien, könnten wir uns, so befand er, der Sinneseindrücke bedienen, sofern wir die Informationen, die wir durch sie gewinnen, sorgfältig abwägen. Das Problem der Veränderung versuchte er zu lösen, indem er nicht von einer einzigen Arché, sondern von vier Urstoffen ausging – Erde, Luft, Feuer und Wasser. Diese erzeugen alle materiellen Dinge in der Natur, indem sie sich auf verschiedene Weise mischen – unter Einfluss zweier bewegender Kräfte, die er Liebe und Streit nennt.

Anaxagoras von Klazomenai (um 500–428 v. Chr.) gründete seine Betrachtungen auf einem als Äther bezeichneten Element, das sich in ständiger Drehung befinde und die Himmelskörper mit sich ziehe. Die treibende Kraft des Kosmos war für ihn der Nous, die Vernunft, der einem ansonsten chaotischen Universum eine Ordnung gab. Den Nous verstand er wörtlich als »Geist des Kosmos«, der diesen in derselben Weise ordnet, wie unser Geist in der realen Welt die Dinge um uns herum.

Anaxagoras war der letzte der in Ionien lehrenden Naturphilosophen, denn um das Jahr 462 v. Chr. zog er nach Athen, das sich mit Beginn der klassischen Epoche zum politischen und geistigen Zentrum der griechischen Welt entwickelte. Er war der erste Philosoph, der in Athen lebte, und wurde dort Lehrer und ein enger Freund des großen athenischen Staatsmannes Perikles (um 495–429 v. Chr.).

Als Perikles im Jahr 431 v. Chr. seine berühmte Leichenrede zu Ehren der im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges gefallenen Athener hielt, erinnerte er seine Mitbürger daran, dass sie für die Verteidigung einer freien und demokratischen Gesellschaft kämpften: »Unsere Stadt verwehren wir keinem«, sagte er, und »wir lieben die Geistesdinge«, und deshalb sei die Stadt zur »Schule von Hellas« geworden. »Und mit sichtbaren Zeichen«, führte er aus, »üben wir wahrlich keine unbezeugte Macht, den Heutigen und den Künftigen zur Bewunderung und brauchen keinen Homeros mehr als Sänger unsres Lobes, noch wer sonst mit schönen Worten für den Augenblick entzückt …«

Die berühmteste Schule Athens war die Akademie, die kurz nach 386 v. Chr. von Platon (um 428–um 347 v. Chr.) begründet wurde, einem Schüler des Sokrates (um 470–399 v. Chr.). Platon war einer der jungen Männer, die mit Sokrates diskutierten, wenn er auf der Agorá, dem Marktplatz von Athen, erschien und die Leute ins Gespräch zog. Die Akademie befand sich innerhalb der Mauern des antiken Athens, eine attische Meile vom Dipylon-Tor entfernt an der Heiligen Straße nach Eleusis. Ein großer Teil davon ist schon ausgegraben, und als wir in Athen lebten, folgte ich eines Tages dem Verlauf der Buslinie AKADEME dorthin. Dabei musste ich an Miltons Beschreibung der Akademie in seinem Epos Das wiedergewonnene Paradies denken: »Hier der Akademie Olivenhain / Die Wohnung Platos, wo der att’sche Vogel / Den ganzen Sommer seine Weisen girrt.«

Für Platon war die Mathematik eine Voraussetzung für das dialektische Verfahren, das den künftigen Staatsmännern, die an der Akademie studierten, das notwendige philosophische Rüstzeug für das Regieren des idealen Staates vermitteln sollte, so wie er ihn in Politeia (Der Staat) beschreibt. Platons wichtigster Beitrag zur Wissenschaft war sein Hinweis, die Erforschung der Natur als eine Übung in Geometrie anzugehen. Durch diese »Geometrisierung der Natur«, die vor allem in Disziplinen Anwendung fand, die sich wie die Astronomie entsprechend idealisieren ließen, gelange man zu Gesetzen, die ebenso »gesichert« seien wie die Gesetze in der Geometrie. Im Staat lässt Platon den Sokrates sagen: »Als Aufgaben also … werden wir, so wie die Geometrie, so auch die Astronomie anwenden und auf diese Weise uns an sie machen; hingegen die Erscheinungen am Himmelsgebäude selbst werden wir beiseite lassen …«

Das größte Problem der griechischen Astronomie war es, die Bewegung der Himmelskörper – der Sterne, der Sonne und des Mondes sowie der fünf sichtbaren Planeten – zu erklären. Von der Erde aus betrachtet scheinen sich die Himmelskörper täglich um einen bestimmten Punkt am Himmel zu drehen, den sogenannten Himmelspol. Gemäß der heliozentrischen Theorie des Kopernikus ist der Himmelspol genau genommen eine Projektion des Erdnordpols in die Sterne hinein, und seine scheinbare Bewegung wird eigentlich durch die Achsendrehung der Erde in die entgegengesetzte Richtung verursacht. Obwohl die Sonne jeden Tag im Osten auf- und im Westen untergeht, scheint sie täglich um etwa 1 Grad von Westen nach Osten zu rücken, so dass sie in einem Jahr die zwölf Tierkreiszeichen durchläuft. Diese scheinbare Bewegung entsteht durch die Rotation der Erde um die Sonne; um sie zu erklären, stellten die Griechen mit ihrem geozentrischen Weltbild komplizierte mathematische Theorien auf.

002.eps

Die scheinbare Bewegung typischer Sterne im Nordhimmel.

Die scheinbare Bahn der Sonne durch den Tierkreis, die sogenannte Ekliptik, bildet einen Winkel von ungefähr 23,25 Grad mit dem Himmelsäquator, der Projektion des Erdäquators auf die Himmelskugel. Der Grund dafür liegt darin, dass die Erdachse bezogen auf die Senkrechte der Bahnebene in eben diesem Winkel geneigt ist. Diese Neigung der Erde wiederum ist für den wiederkehrenden Zyklus der Jahreszeiten verantwortlich.

003.eps

Die Neigung der Erdachse als Ursache für die Jahreszeiten.

Die Planeten bewegen sich auf Bahnen entlang der Ekliptik und ziehen gemeinsam mit den Fixsternen von Osten nach Westen durch die Nacht, wobei sie Nacht für Nacht über den Tierkreis von Westen nach Osten zurückwandern. Auch die Planeten weisen periodisch eine rückläufige Bewegung auf, die sich bei der Abbildung auf einer Himmelskugel als Schleife darstellt. Ursache dafür ist die Bewegung der Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne. Sie überholt dabei die langsameren äußeren Planeten und wird ihrerseits von den schnelleren inneren Planeten überholt, wobei es in beiden Fällen so aussieht, als ziehe der Planet eine Zeitlang zwischen den Sternen rückwärts. Diese rätselhafte Rückwärtsbewegung der Planeten forderte die Griechen zu wissenschaftlichen Untersuchungen heraus, die Ordnung in die Himmelsbewegungen bringen sollten.

004.eps

Die scheinbare Bewegung der Sonne durch die Sternbilder Widder und Stier.

005.eps

Die scheinbare Bewegung des Mars durch die Sternbilder Widder und Stier, wobei die rückläufige Bewegung sichtbar wird.

Platon spornte seine Schüler an zu beweisen, »mit welchen Hypothesen sich die Phänomene [die scheinbar rückläufigen Bewegungen] der Planeten anhand einförmiger und ordentlicher Kreisbewegungen erklären ließen«. Als Erster versuchte sich Eudoxos von Knidos (um 400–um 347 v. Chr.), ein jüngerer Zeitgenosse Platons an der Akademie, an einer Lösung. Eudoxos war der bedeutendste Mathematiker der klassischen Epoche; auf ihn gehen einige mathematische Sätze zurück, die sich später bei Euklid und Archimedes finden. Als führender Astronom seiner Zeit stellte er von seiner Sternwarte in Knidos an der Südwestküste Kleinasiens genaue Beobachtungen der Himmelskörper an. Eudoxos erdachte ein kompliziertes mechanisches Modell, die Theorie der homozentrischen Sphären, die die scheinbar rückläufige Bewegung der Planeten erfolgreich nachvollzog, auch wenn sie auf keiner physikalischen Theorie beruhte.

Indessen hatte der berühmte Arzt Hippokrates (um 460–um 370 v. Chr.) auf der Insel Kos eine Medizinschule errichtet. Das sogenannte Corpus Hippocraticum, die Schriften des Hippokrates und seiner Anhänger, umfasst etwa 70 Werke, die von seiner Lebenszeit an bis um 300 v. Chr. entstanden und die Anfänge der griechischen Medizin als Wissenschaft darstellen. Neben Abhandlungen über die verschiedenen Zweige der Medizin finden sich darin Krankenakten und Mitschriften von öffentlichen Vorlesungen zu medizinischen Themen. Eine der Abhandlungen zur Deontologie, zur medizinischen Ethik, enthält den berühmten hippokratischen Eid, den Mediziner in manchen Ländern auch heute noch ablegen. Eine Abhandlung im Corpus Hippocraticum trägt den Titel »Über die heilige Krankheit«, wie man die Epilepsie auch nannte, denn Epileptiker, so meinte man, seien von den Göttern mit dieser Krankheit geschlagen. Nach Ansicht des Verfassers hat die Epilepsie, wie alle anderen Krankheiten auch, eine natürliche Ursache, und diejenigen, die sie als heilig bezeichneten, wollten nur über ihre Unwissenheit hinwegtäuschen: »Um nichts«, heißt es dort, »halte ich sie für göttlicher als die anderen Krankheiten oder für heiliger, sondern sie hat eine natürliche Ursache wie die übrigen Krankheiten, aus der sie entsteht. Die Menschen sind zu der Ansicht, daß sie göttlich sei, infolge ihrer Ratlosigkeit und Verwunderung gelangt; denn in nichts gleiche sie den anderen Krankheiten.«

Platons berühmtester Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) gründete im Jahr 335 v. Chr. am heutigen Standort des griechischen Parlaments in Athen im Lykeion eine Schule. Sie stand der Akademie an Ruhm nicht nach. Aristoteles’ niedergeschriebenes Werk ist enzyklopädisch – mit seinen Schriften zur Logik, Metaphysik, Rhetorik, Theologie, Politik, Ökonomie, Literatur, Ethik, Psychologie, Physik, Mechanik, Astronomie, Meteorologie, Kosmologie, Biologie, Botanik, Naturkunde und Zoologie.

Die vorherrschende Idee in der Naturphilosophie des Aristoteles ist sein Verständnis von Kausalität. Bei der Suche nach der Ursache von etwas müssen wir laut Aristoteles folgende vier Arten von Ursachen unterscheiden: die Materialursache, die Formursache, die Wirkursache und die Zweckursache. Wenn wir wissen, aus welchem Stoff etwas besteht, dann kennen wir die Materialursache. Finden wir die Struktur oder den Entwurf, nach dem etwas geformt ist, dann kennen wir die Formursache. Die Wirkursache benennt die Quelle oder den Verursacher, der etwas hergestellt oder herbeigeführt hat. Die Zweckursache bezeichnet den Grund oder das Ziel eines Geschehens.

Die ersten drei Ursachen – Material-, Form- und Wirkursache – entsprechen den drei Aspekten des Seins, das heißt Materie, Form und Verwirklichung der Form. Diese bestimmen jedoch nicht die Abläufe in der Natur, denn aus einer Eichel wird zum Beispiel immer eine Eiche und keine Zypresse. Die Zweckursache besagt, dass jedem Stoff ein ihm eigener Zweck innewohnt. Demnach muss die Eichel den Zweck oder Konstruktionsplan in sich tragen, dass immer eine Eiche aus ihr wird. Dieser Aspekt des Seins wird mit dem Wort Entelechie bezeichnet; gemeint ist der Zweck, der dazu führt, dass sich die Dinge auf eine bestimmte Weise entwickeln.

Die Kosmologie des Aristoteles geht in ihren Grundzügen auf frühgriechisches Denken zurück, das zwischen der unvollkommenen und vergänglichen irdischen Region unterhalb der Mondsphäre und der vollkommenen und ewigen himmlischen Region darüber unterschied. Von den ionischen Naturphilosophen übernahm er die Idee eines Urstoffs in der Natur und vereinbarte diese mit Empedokles’ Theorie der vier irdischen Elemente – Erde, Wasser, Luft und Feuer –, denen er noch den Äther des Anaxagoras als Grundstoff der Himmelsregion hinzufügte.

In der Kosmologie des Aristoteles sind die vier Elemente ihrer Schwere nach angeordnet: die unbewegliche kugelförmige Erde im Mittelpunkt, umgeben von konzentrischen Schalen aus Wasser (dem Ozean), Luft (der Atmosphäre) und Feuer. Mit Letzterem waren nicht nur Flammen gemeint, sondern auch atmosphärische Erscheinungen wie Blitze, Regenbögen und Kometen. Die natürliche Bewegung der irdischen Elemente verläuft zu ihrem natürlichen Ruhepunkt hin, so dass die Erde, wenn sie in der Luft nach oben bewegt und dann losgelassen wird, in gerader Linie nach unten fällt, während Luft im Wasser aufsteigt, ebenso wie Feuer in der Luft. Diese geradlinige Bewegung der irdischen Elemente ist vorübergehend und endet, wenn diese ihren Ruhepunkt erreicht haben.

Aristoteles versuchte auch zu erklären, warum sich ein Geschoss weiterbewegt, wenn es nicht mehr mit der Anfangskraft in Kontakt ist. Seine originelle, aber falsche Erklärung operiert mit dem hypothetischen Phänomen der Antiperistasis, bei dem die vorn durch das Geschoss verdrängte Luft in ein kurzzeitiges Teilvakuum hinter dem Geschoss zurückfließt und dem Geschoss dadurch die Vorwärtskraft verleiht. Diese Erklärung ist eine von drei irrigen Theorien – nämlich dass sich die Geschwindigkeit eines fallenden Körpers proportional zu seinem Gewicht verhalte, dass ein Vakuum unmöglich sei und dass die Idee der Antiperistasis die beschleunigte Bewegung beschreibe. Diese drei Theorien galten mehr als ein Jahrtausend lang, bis europäische Gelehrte des Mittelalters eine neue Dynamik entwickelten, die schließlich in Isaac Newtons Bewegungsgesetzen gipfelte.

Laut Aristoteles beginnt die Himmelsregion über dem Mond. Dort sind die Sonne, die fünf Planeten und die Fixsterne in kristalline Sphären eingebettet und umkreisen die unbewegliche Erde. Die Himmelskörper bestehen aus Äther, dem Urelement, dessen natürliche Bewegung bei konstanter Geschwindigkeit kreisförmig ist, so dass die Bewegungen der Himmelskörper, anders als die Bewegung der Erdregion, unveränderlich und ewig sind. Für ein physikalisches Modell seiner Weltdeutung bezog sich Aristoteles auf die Theorie der homozentrischen Sphären des Eudoxos. Dieser fügte er noch einige »zurückführende Sphären« hinzu, um die Bewegung aller Himmelskörper integrieren zu können.

Herakleides Pontikos (um 390–nach 322 v. Chr.), gebürtig aus Herakleia am Pontos (dem Schwarzen Meer), war ein Zeitgenosse des Aristoteles und studierte ebenfalls an der Akademie unter Platon. Seine Kosmologie unterscheidet sich in mindestens zwei grundlegenden Fragen von Platons und Aristoteles’ Theorien, vielleicht weil er später bei den Pythagoreern studierte. Zunächst wäre da die Größe des Kosmos: Herakleides hielt ihn für unendlich. Der zweite Unterschied betraf das scheinbare Kreisen der Sterne um den Himmelspol, das Herakleides auf die entgegengesetzte Drehung der Erde um ihre eigene Achse zurückführte. Diese revolutionäre Theorie, die Kopernikus 1900 Jahre später wieder aufgriff, konnte sich bei den Griechen nicht durchsetzen, weil sie dem statischen geozentrischen Modell des Aristoteles und seiner Nachfolger widersprach.

Die Nachfolge als Leiter des Lykeions trat Aristoteles’ Schüler Theophrast (um 371–um 287 v. Chr.) an, dem Aristoteles seine umfangreiche Bibliothek, unter anderem mit sämtlichen eigenen Werken vermachte. Theophrast gilt als zweiter Begründer des Lykeions, weil er es umstrukturierte, erweiterte und 37 Jahre lang leitete.

006.tif

Die Kosmologie des Aristoteles, aus Petrus Apianus’ Cosmographia per Gemma Phrysius Restitua, Antwerpen, um 1539.

Theophrast war ein ebenso produktiver und vielseitiger Autor wie Aristoteles: Er verfasste 227 Bücher, von denen die meisten verlorengegangen sind. Zwei seiner erhaltenen Werke, Die Naturgeschichte der Gewächse und Über die Ursache des Pflanzenwuchses, trugen ihm den Titel »Vater der Botanik« ein. Sein Buch Von den Steinen markiert den Beginn von Geologie und Mineralogie. Charakterbilder, sein Werk über das menschliche Verhalten, enthält faszinierende Beschreibungen der Menschentypen im Athen seiner Zeit.

Anders als die Akademie und das Lykeion waren die beiden anderen Philosophenschulen, die Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. in Athen entstanden, keine festen Einrichtungen, sondern lose organisierte Gruppen, die sich zu Debatten über die Philosophie zusammenfanden. Die eine, genannt »der Garten«, wurde von Epikur von Samos (341–270 v. Chr.) begründet, die andere, die Stoá, wurde von Zenon von Kition (um 335–263 v. Chr.). Beide sind nach dem bevorzugten Versammlungsort ihrer Gründer benannt. Epikur wie auch Zenon erdachten umfassende philosophische Systeme, die aus drei Teilen bestanden: Ethik, Physik und Logik. Letztere waren dem ersten untergeordnet; die Ethik sollte Glück und Daseinsfreude gewährleisten.

Epikurs Physik baute auf der atomistischen Lehre auf, die er um eine neue Idee erweiterte: Dass ein Atom, das sich in einem Vakuum bewegt, jederzeit von seiner Bahn »abtreiben« oder »abweichen« kann. Der strenge Determinismus der Atomtheorie Leukipps und Demokrits war damit hinfällig und somit auch der Grund, warum Verfechter des freien Willens wie die Epikureer diese ablehnten. Zenon und seine Anhänger, die Stoiker, wiesen die Idee des Atoms und des Vakuums zurück, weil sie die Natur in allen ihren Aspekten – Raum, Zeit und Materie – sowie Entstehung und Ausbreitung aller ihrer physikalischen Erscheinungen als Kontinuum betrachteten. Seit der Antike und bis in die Gegenwart befinden sich diese beiden Denkschulen über den Aufbau des Kosmos – Epikurs Atome im Vakuum gegenüber dem Kontinuum der Stoiker – im Widerstreit. Ihre Auffassungen der physischen Realität sind diametral entgegengesetzt.

Am Anfang der hellenistischen Epoche, die mit dem Tod Alexanders des Großen 323 v. Chr. einsetzte, verschob sich das geistige Zentrum der griechischen Welt von Athen nach Alexandria, einer Gründung Alexanders am kanopischen Arm des Nils. Alexandria war die Hauptstadt des ptolemäischen Königreichs, das Ptolemaios I. Soter (reg. 305–283 v. Chr.), einer von Alexanders Generälen, begründet hatte. Unter seiner Regentschaft entwickelte sich die Stadt zu einem wichtigen kulturellen Zentrum, vor allem durch eine neue Forschungseinrichtung, »Museion« genannt, weil sie den Musen gewidmet war. Dazu gehörte eine Bibliothek, die Ptolemaios und seine unmittelbaren Nachfolger in der Dynastie mit den Werken sämtlicher griechischer Autoren seit Homer bestückten.

Das Museion in Alexandria mit der angeschlossenen Bibliothek diente als höhere Lehranstalt und war den Philosophenschulen Athens nachempfunden, vor allem der Akademie und dem Lykeion. In der Tradition der Schule des Aristoteles und Theophrasts war auch das Museion eine Forschungsstätte, mit Schwerpunkt auf den Naturwissenschaften. Der wissenschaftliche Charakter des Museions geht vermutlich auf Straton von Lampsakos (um 340–um 270 v. Chr.) zurück. Er kam um 300 v. Chr. als Erzieher des zukünftigen Ptolemaios II. Philadelphos nach Alexandria und übernahm später bei seiner Rückkehr nach Athen die Leitung des Lykeions von Theophrast. Durch sein Studium bei Straton interessierte sich der Prinz sehr für die Geographie und Zoologie, und dies förderte den weiteren Ausbau des Museions, als er 283 v. Chr. die Nachfolge seines Vaters antrat.

Die Sammlung der Bibliothek geht höchstwahrscheinlich auf Demetrios von Phaleron zurück, den früheren Statthalter von Athen, der 307 v. Chr. aus der Stadt fliehen musste und bei Ptolemaios I. Soter in Alexandria Zuflucht fand. Demetrios, ein früherer Schüler des Theophrast am Athener Lykeion, war vermutlich der erste Direktor der Bibliothek und blieb es bis 284 v. Chr. Laut Aristeas Judaeus, einem jüdischen Gelehrten in der Regierungszeit Ptolemaios’ II. Philadelphos, verfügte Demetrios »über ein großes Budget, um, soweit möglich, alle Bücher der Welt zu sammeln, und mit Hilfe von Ankäufen und Abschriften führte er die Zielvorgabe des Königs aus, so gut er konnte.«

Auch unter Ptolemaios II. Philadelphos und Ptolemaios III. Euergetes (reg. 247–221 v. Chr.) wurde auf diese Weise verfahren. Athenaios von Naukratis berichtet, Ptolemaios II. habe die Bücher von Aristoteles und Theophrast ankaufen und sie »in die schöne Stadt Alexandria« liefern lassen. Unter Ptolemaios III. sollen die Bestände der Bibliothek auf über eine halbe Million Pergamentrollen angewachsen sein.

Ptolemaios III. ließ im Serapeion, dem Tempel des Serapis, eine neue Tochterbibliothek errichten. Epiphanios von Salamis, ein christlicher Gelehrter des 4. Jahrhunderts n. Chr., erwähnt diesen Neubau: »die erste Bibliothek und eine weitere, die im Serapeion erbaut wurde, kleiner als die erste und Tochter der ersten«.

Zenodot von Ephesos löste Demetrios als Bibliotheksdirektor ab und übte das Amt bis 245 v. Chr. aus. Sein wichtigster Assistent war der Dichter Kallimachos von Kyrene (um 305–um 240 v. Chr.), der als Erster die 120 000 Werke im Bibliotheksbestand nach Autor und Sachgebiet ordnete. Sein Katalog, die sogenannten Pinakes (Tafeln), trug den Titel Verzeichnisse aller, die in jeder Literaturgattung Bedeutung hatten, und ihrer Schriften in 120 Büchern und war fünfmal so lang wie Homers Ilias.

Die meisten bedeutenden Wissenschaftler der hellenistischen Zeit wirkten im Umfeld des Museions und der Bibliothek. Eratosthenes von Kyrene (um 275–um 195 v. Chr.), der um 235 v. Chr. zum Direktor der Bibliothek ernannt wurde, ist für seine sorgfältigen Messungen des Erdumfangs bekannt. Er kam auf ein Ergebnis von 252 000 Stadien, eine Abweichung von 20 Prozent gegenüber dem heutigen Wert.

Nach der Methode des Eratosthenes wurden gleichzeitig in Alexandria und in Syene, das auf demselben Meridian weiter südlich liegt, Beobachtungen angestellt. Es erwies sich, dass die Sonne zur Sommersonnenwende mittags genau über Syene stand, während sie auf einer Sonnenuhr in Alexandria einen Schatten von einem Fünfzigstel eines Kreises warf. Davon ausgehend, dass die Sonnenstrahlen in Syene und Alexandria aufgrund der enormen Entfernung der Sonne von der Erde parallel waren, schloss Eratosthenes, dass die Nord-Süd-Entfernung zwischen den beiden Orten einem Fünfzigstel des Erdumfangs entsprach. Somit betrug der Umfang der Erde das Fünfzigfache der Entfernung zwischen Syene und Alexandria, das heißt 250 000 Stadien. Das entspricht etwa 46 671 Kilometern, was in der Größenordnung des tatsächlichen Werts von rund 40 075 Kilometern liegt. Eratosthenes zeichnete auch als Erster eine Karte der bekannten Welt, dabei bediente er sich eines Systems aus Längenmeridianen und Breitenkreisen.

Die berühmte alexandrinische Schule der Mathematik wurde von Euklid (tätig um 295 v. Chr.) begründet, dessen Lehrwerk Elemente das Fundament für die ebene Geometrie wie auch für die Algebra und die Zahlentheorie legte. Euklid wird auch heute noch als bedeutender Mathematiker verehrt: Auf ihn geht die logische Form und Abfolge von Lehrsätzen zurück, die für alle Werke der griechischen Mathematik und mathematischen Physik zum Vorbild wurden. Auch der axiomatische Aufbau der Elemente war von großer Bedeutung, weil sich die Geometrie logisch aus einigen wenigen Annahmen herleitet, die als unweigerlich richtig vorausgesetzt werden. Auf die Physik und Geometrie angewendet bedeutete dies die platonische Geometrisierung der Natur.

Ein überzeugendes Beispiel für die Geometrisierung der Natur findet sich in der Schrift Von den Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes des Aristarch von Samos (um 310–um 230 v. Chr.). Auf der Grundlage dreier astronomischer Beobachtungen errechnete er mittels geometrischer Darstellungen die Größe und Entfernung der Fixsterne und des Mondes und versuchte sich an der Berechnung des Erddurchmessers. Aristarch beobachtete, dass Sonne und Mond am Himmel etwa gleich groß erscheinen. Daraus folgerte er, ihre Durchmesser müssten sich proportional zu ihrer Erdentfernung verhalten. Durch Winkelmessung bei der Dichotomie (Halbphase) des Mondes ermittelte er auch das Verhältnis der Entfernungen von Sonne und Mond zur Erde. Er bestimmte zudem die Breite des Erdschattens, den der Mond zum Zeitpunkt einer Mondfinsternis durchquert. Aus diesen Messergebnissen schloss er, dass die Sonne ungefähr 19-mal so weit von der Erde entfernt ist wie der Mond und dass die Sonne annähernd 6,75-mal so groß und der Mond ungefähr ein Drittel so groß wie die Erde ist. Seine Werte waren aufgrund ungenauer Beobachtungen viel zu niedrig, doch die geometrischen Methoden, die er verwendete, waren verlässlich.

007.eps 008.eps

Geometrische Darstellungen in der Schrift Von den Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes des Aristarch.

Laut Archimedes vertrat Aristarch in einem anderen Buch die Hypothese von der Sonne als Zentrum des Kosmos, um das die Erde und die anderen Planeten kreisen. Bei seinem Zeitgenossen Kleanthes von Assos (um 331–um 232 v. Chr.) heißt es in einem Traktat gegen die heliozentrische Theorie, bei Aristarch wandere die Erde nicht nur auf einer Umlaufbahn um die Sonne, sondern rotiere noch dazu um ihre eigene Achse. Das heliozentrische Weltbild konnte sich in der Antike also nicht durchsetzen, weil es dem unumstößlichen geozentrischen Modell des Aristoteles widersprach.

Ihren Höhepunkt erreichte die griechische mathematische Physik mit Archimedes (um 287–212 v. Chr.) aus Syrakus. Er soll einige Zeit in Ägypten gelebt haben und stand mit Eratosthenes im Briefwechsel. Vermutlich studierte er bei den Nachfolgern Euklids in Alexandria, denn er kannte die Elemente und zitierte ausgiebig daraus.

Von Apollonios von Perge (um 262–um 190 v. Chr.), einem Zeitgenossen des Archimedes, ist nur die Abhandlung Die Kegelschnitte überliefert, und selbst davon ist das letzte Buch verschollen. Sie bietet die erste umfassende und systematische Analyse der drei Typen von Kegelschnitten: Ellipse (darunter der Kreis als Sonderfall), Parabel und Hyperbel.

Darüber hinaus soll Apollonios mathematische Begründungen für die scheinbar rückläufige Bewegung der Planeten formuliert haben. Nach einer dieser Theorien bewegt sich der Planet auf dem Kreisumfang eines Epizykel genannten Kreises, der sich wiederum mit seinem Mittelpunkt auf dem Kreisumfang eines anderen Kreises, des Deferenten, bewegt. In dessen Mitte befindet sich die Erde. Bei der zweiten Theorie bewegt sich der Planet auf dem Kreisumfang eines exzentrischen Kreises, bei dem die Erde nicht im Mittelpunkt liegt. Apollonios wies nach, dass die Epizykel- und die Exzentertheorie äquivalent sind und dass beide die rückläufige Planetenbewegung beschreiben.

Neben den großen Theoretikern gab es in der hellenistischen Zeit auch begnadete Erfinder, die nicht nur die Technik und die angewandten Wissenschaften entscheidend beeinflussten, sondern auch die theoretische Entwicklung der Pneumatik und der Atomtheorie. Die berühmtesten waren Ktesibios von Alexandria (um 270 v. Chr.), Philon von Byzanz (um 250 v. Chr.) und Heron von Alexandria (um 62 n. Chr.).

009.tif

Die Epizykeltheorie des Apollonios zur Erklärung der rückläufigen Bewegung der Planeten.

Der weitaus bedeutendste Astronom der Antike war Hipparch von Nicäa (um 190–um 120 v. Chr.). Er entdeckte die Präzession der Äquinoktien