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Anschläge von Einzeltätern und der Europlot

Am 2. März 2011 erlebte Deutschland seinen ersten Terroranschlag seit den Tagen der linksextremistischen Rote Armee Fraktion (1970–1998) und die erste von einem Dschihadisten durchgeführte Attacke. Am Frankfurter Flughafen tötete ein junger kosovarischer Muslim aus Frankfurt zwei amerikanische Soldaten und verletzte zwei weitere schwer. Der einundzwanzigjährige Arid Uka agierte offenbar als »einsamer Wolf« – ein Begriff, den die Sicherheitsdienste manchmal für einen Terroristen verwenden, der allein und unabhängig von einer größeren Organisation vorgeht. Er war 1994 mit seiner Familie nach Deutschland gekommen und zeigte Berichten zufolge vor den Anschlägen keine dschihadistischen Neigungen. Doch seit dem Spätsommer 2010 radikalisierte sich Uka in ganz kurzer Zeit. Wie auf seiner Facebook-Seite unter dem Pseudonym »Abu Reyyan« (Abu heißt »Vater von«) ersichtlich, pflegte er in den zwei bis drei Wochen vor seinem Anschlag Online-Kontakte zu bekannten salafistischen Predigern, woraus Experten schlossen, seine Radikalisierung sei zum Zeitpunkt des Anschlags noch nicht abgeschlossen gewesen. Der prominenteste unter seinen Kontaktleuten war der marokkanische Aktivist Abdallatif Rouali, der in Frankfurt als wichtiger dschihadistischer Ideologe gilt.1 Der Prediger leugnete den Kontakt mit dem Mörder. Die Polizei hatte jedoch in der Woche vor dem Anschlag Roualis Wohnung und die mehrerer seiner Gefolgsleute durchsucht, weil sie vermutete, der Prediger habe Freiwillige für den bewaffneten Kampf in Afghanistan rekrutiert. Weil Uka Berichten zufolge versuchte, an den Hindukusch zu gelangen, warf Roualis mögliche Rolle einige Zweifel auf. Dennoch wurden bis Mitte 2014 keine Beweise für die Existenz eines größeren Netzwerks zutage gefördert.

Seit Januar 2011 hatte Uka als Sortierer im internationalen Briefzentrum der Deutschen Post am Flughafen Frankfurt gearbeitet. So konnte er leicht herausfinden, wo die Busse des US-Militärs hielten, die zum Luftwaffenstützpunkt Ramstein rund 130 Kilometer südwestlich von Frankfurt pendelten. Er ging auf einen Bus zu, vor dem Mitglieder eines Teams der Air Force Security Forces, einer Art Militärpolizei, auf die Abfahrt nach Ramstein warteten, bat einen amerikanischen Soldaten um eine Zigarette und fragte, ob die Soldaten im Bus tatsächlich nach Afghanistan unterwegs seien.2 Als der Soldat das bestätigte, zog Uka seine Waffe und schoss einem anderen vor dem Bus wartenden Militärpolizisten zweimal in den Hinterkopf. Dann bestieg er den Bus, wo er den Fahrer niederstreckte und einem dritten Soldaten in den Kopf schoss. Das vierte Opfer wurde durch einen Schuss in die Brust lebensgefährlich verletzt. Als Uka versuchte, einen fünften Soldaten in den Kopf zu schießen, blockierte seine Pistole trotz zweier Schussversuche. Daraufhin versuchte er zu fliehen, wurde aber von dem fünften Soldaten verfolgt und schließlich von der deutschen Polizei festgenommen. Hätte die Pistole nicht blockiert, hätte Uka vermutlich noch viel mehr Menschen getötet, denn er führte noch eine Menge Reservemunition mit sich.

Bei der ersten Vernehmung versuchte Uka seine Tat als präventive Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Seiner Aussage zufolge hatte er am Abend vor dem Anschlag einen von der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) produzierten Propagandafilm gesehen, der angebliches Doku-Material zu sexuellen Übergriffen von Amerikanern auf irakische und afghanische Frauen zeigte. Das Video war für den deutschen Markt hergestellt worden und enthielt eine längere deutschsprachige Sequenz, in der der Deutschmarokkaner Yassin Chouka (alias Abu Ibrahim al-Almani) Muslime aufrief, muslimische Frauen im Irak und in Afghanistan gegen Vergewaltiger aus den Reihen der Amerikaner und ihrer Verbündeten zu verteidigen. Uka erklärte den Vernehmungsbeamten, zu seiner Tat veranlasst habe ihn eine Szene, die die Vergewaltigung eines afghanischen Mädchens durch amerikanische Soldaten zeigte. Was er allerdings nicht wusste: Die IBU hatte diese Szene aus dem Film Redacted von Brian De Palma übernommen. Der 2007 erschienene Spielfilm behandelt das Massaker von Mahmudiya im März 2006, als fünf amerikanische Soldaten in einem Dorf unweit der zentralirakischen Stadt Mahmudiya südlich von Bagdad eine vierzehnjährige Irakerin vergewaltigten und das Mädchen und dessen gesamte Familie töteten. Die IBU-Propagandisten hatten diese Filmsequenz der größeren Wirkung wegen verwendet.

Uka erklärte, nach einer schlaflosen Nacht sei er in der Absicht zum Flughafen gefahren, amerikanische Soldaten zu töten, die nach Afghanistan unterwegs waren, um damit weitere Gräuel, wie sie in dem Video gezeigt wurden, zu verhindern. Aus diesem Grund habe er einen der Soldaten gefragt, ob er nach Afghanistan gehe. Uka behauptete sogar, er hätte die Amerikaner nicht niedergeschossen, wenn sie auf dem Rückweg vom Hindukusch gewesen wären. Mehr als eine halbe Stunde habe er wartend im Terminal verbracht. Als er bereits gehen wollte, habe er gesehen, wie der Busfahrer die Flughafenhalle betrat und einen Blick auf die Ankunftstafel warf. Als die anderen Soldaten kamen, folgte Uka seinen Opfern nach draußen, wo der Bus für die Fahrt nach Ramstein wartete.

Der offenbar gut trainierte, schlaksige junge Mann, eins fünfundsiebzig groß, war ein Jahr vor dem Abitur von der Schule abgegangen. Obwohl er ein guter Schüler war, erlebte er in der 12. Klasse eine depressive Phase. Morgens fiel es ihm schwer aufzustehen, er versäumte öfter den Unterricht, sodass er von der Schule verwiesen wurde. Uka, der noch bei seinen Eltern lebte, verschwieg ihnen seinen Rauswurf und nahm Gelegenheitsjobs an, bis er schließlich im Briefzentrum des Flughafens landete. Vom Spätsommer 2010 an wandte er sich jedoch immer mehr der Religion zu und passte sein Äußeres den Regeln des salafistischen Islam an. Er mochte keine bis zu den Füßen reichenden Hosen mehr tragen, weil die Salafisten glauben, dass der Prophet Kleidung verboten hat, die die Knöchel bedeckt. Bei einer Online-Sprachenschule belegte er einen Arabischkurs, musste aber ausscheiden, weil er seine Hausaufgaben nicht machte. Wie es scheint, befand er sich mitten in einem Radikalisierungsprozess, der bis zu den Anschlägen andauerte. Uka hatte jedoch Schwierigkeiten, das salafistische Musikverbot zu akzeptieren, und ging erst wenige Tage vor dem Anschlag dazu über, nur noch Dschihad-Hymnen zu hören (nashid, Plural anashid), die bei den Salafisten nicht verboten sind.

Am wichtigsten ist aber, dass Uka die Welt des Dschihadismus offenbar ausschließlich über das Internet kennenlernte, wo er die Nachrichten aus den Kampfgebieten verfolgte, dschihadistische Predigten hörte und Videos sah. Er beschäftigte sich intensiv mit der Ideologie und Politik der Dschihadisten-Bewegung, aber seine Radikalisierung vollzog sich ohne aktive Beteiligung von ideologischen Einpeitschern, religiösen Autoritäten oder Anführern. Nach wenigen Monaten war Uka bereit, im Irak oder in Afghanistan in den Kampf zu ziehen, später verriet er aber seinen Vernehmern – zu deren Verwunderung –, er habe nicht die nötigen Kontakte gehabt.3 Daher habe er sich nach dem Vergewaltigungsvideo entschlossen, allein zu handeln und Amerikaner zu töten, die nach Afghanistan unterwegs waren.

Die IBU-Propaganda beeinflusste Uka offenbar entscheidend. Die Polizei stellte später fest, dass er unterwegs zum Flughafen mehrfach eine deutschsprachige Dschihad-Hymne mit dem Titel »Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad« hörte, gesungen von Yassin Choukas Bruder Monir und erschienen im September 2010.4

Mutter, bleibe standhaft, ich bin im Dschihad.
Trauer nicht um mich und wisse, er hat mich erweckt.
Die Umma ist geblendet, doch ich wurde geehrt.
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.
Die Umma ist geblendet, doch ich wurde geehrt.

Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.
Die Schreie wurden lauter, die Wunden nahmen zu.
Die unerfüllte Pflicht, sie ließ mir keine Ruhe.
Noch heute muss ich gehen, morgen wär es schon zu spät.
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.

Mich auf meinen Herrn verlassend, machte ich mich auf den Weg.
Fi sabili llah [auf dem Weg Gottes], egal, wohin es geht.
Egal wie weit die Wüste und egal wie hoch der Berg,
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.
Egal wie weit die Wüste und egal wie hoch der Berg,
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.

Mutter, siehst du nicht, was geschieht in Filastin?5
Mutter, hörst du nicht die Bomben im Irak?
Unsere Geschwister sind gefangen, darüber werden wir befragt.
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.

Mutter, während deine Tränen tropfen, fließt das Blut im Shishan.6
Die Juden und die Christen sind hier in Khorassan.7
Man beleidigt den Propheten, und man tritt auf den Koran.
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.
Man beleidigt den Propheten, und man tritt auf den Koran.
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.

Mutter, wenn ich auf dem Schlachtfeld falle, dann glaub nicht, ich sei tot.
Vielmehr bin ich lebendig an einem bessren Ort.
In einem grünen Vogel fliegend, werd ich von meinem Herrn versorgt.
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.
In einem grünen Vogel fliegend, werd ich von meinem Herrn versorgt.

Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.
Mutter, bleibe standhaft, ich bin im Dschihad.
Trauer nicht um mich und wisse, er hat mich erweckt.
Die Umma ist geblendet, doch ich wurde geehrt.
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.
Die Umma ist geblendet, doch ich wurde geehrt.
Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.

Auffallend ist, und das machte dieses Ereignis deutlich, wie wichtig das Internet in den letzten Jahren für die Radikalisierung junger Muslime geworden ist und wie gefährlich ein Einzeltäter sein kann, denn er gibt den Sicherheitsbehörden keine Chance, seine Pläne zu vereiteln. Überdies zeigte das für den deutschen Markt produzierte IBU-Propagandamaterial, welche Bedeutung die vielen deutschen Freiwilligen in den pakistanischen Camps von al-Qaida und ähnlichen Organisationen hatten.

Tatsächlich bestätigte dieser Vorfall einen Trend. Deutschland allgemein und insbesondere Amerikaner in Deutschland sind zunehmend wichtige Ziele für Dschihadisten geworden. Am 17. November 2010, nur fünf Monate vor dem Flughafenanschlag, warnte Innenminister Thomas de Maizière mit noch nie da gewesener Offenheit vor möglichen Anschlägen in Deutschland. Zum ersten Mal, so stellte er fest, gebe es konkrete Hinweise auf einen in Deutschland geplanten Anschlag, der noch vor Ende November verübt werden könnte. Maizière gab überdies bekannt, er habe bereits eine verstärkte Präsenz der Bundespolizei an Flughäfen und Bahnhöfen angeordnet.8 In den folgenden zwei Wochen wurden schwer bewaffnete Polizisten zum festen Bestandteil des öffentlichen Lebens im Land.

Die Warnung basierte auf zwei unterschiedlichen Beobachtungen. Seit 2007 hatten al-Qaida und andere dschihadistische Organisationen mehr als einmal klargestellt, dass Angriffe auf deutsche Ziele – um die Bundesregierung zum Rückzug aus Afghanistan zu zwingen – zu ihren Prioritäten gehörten. Gleichzeitig hatte eine wachsende Zahl junger Deutscher unterschiedlicher Herkunft den Weg in die Ausbildungslager al-Qaidas und anderer Gruppen in Pakistan gefunden, sodass die Dschihadisten über Rekruten verfügten, um eine Terrorkampagne gegen Deutschland zu starten. In einem Fall hatte die usbekische Organisation Islamische Dschihad-Union (IJU, Ittihad al-Jihad al-Islami) bereits 2006 vier deutsche Freiwillige – die Sauerland-Gruppe – zurück nach Deutschland geschickt, wo sie einen Anschlag auf amerikanische und usbekische Ziele verüben sollten. Die deutschen Behörden hatten den Plan der Gruppe mit amerikanischer Unterstützung vereitelt, aber die Gesamtbedrohung nahm wegen der rasch wachsenden Zahl deutscher Freiwilliger zu, die seit 2007 nach Pakistan aufgebrochen waren.

Im Spätsommer 2010 kamen Informationen über ein neues Terrorkomplott ans Licht und gewannen an Glaubwürdigkeit, zumal drei voneinander unabhängige Informationsstränge entscheidenden Einfluss auf die drastische Einschätzung der Situation hatten. Der Erste, der über den »Europlot« sprach, wie Yassin Musharbash von Spiegel online die Planungen nannte, war Ahmad Wali Sidiqi (geb. 1974), ein Deutschafghane aus Hamburg, der sich zunächst der IBU angeschlossen hatte, dann zu al-Qaida in Pakistan ging und schließlich im Juli 2010 in Kabul verhaftet wurde. Den amerikanischen Vernehmungsoffizieren im Gefängnis Bagram nördlich von Kabul erzählte Sidiqi, er sei im Frühsommer 2010 in Mir Ali in den pakistanischen Stammesgebieten Yunus al-Muritani (Yunus der Mauretanier, Abdarrahman Wuld Muhammad al-Husain), einem al-Qaida-Kommandeur der mittleren Ebene, vorgestellt worden. Bei der Unterhaltung, die offenbar auf eine Rekrutierung abzielte, sprach Muritani mit Sidiqi über geplante Anschläge in Europa, wobei er sich auf Deutschland, Großbritannien und Frankreich konzentrierte. Diese Neuigkeit schreckte amerikanische und europäische Terrorismusermittler auf, denn die meisten nahmen die Vernehmungsergebnisse ernst. Sidiqis Aussagen wurden zudem beim Verhör eines zweiten deutschen Häftlings, Rami Makanesi (geb. 1985), bestätigt, einem Deutschsyrer, der im Juni 2010 in Pakistan festgenommen und anschließend nach Deutschland abgeschoben worden war.9

In einem zweiten Informationsstrang versorgten amerikanische Sicherheitsdienste die Bundesregierung mit Nachrichten über mehrere Terroristen, die bereits aus der afghanisch-pakistanischen Grenzregion aufgebrochen und nach Europa unterwegs waren. Eine angeblich (aber wahrscheinlich nicht) schiitisch-indische Gruppe namens »Saif« (arabisch für »Schwert«) hatte mit al-Qaida eine Vereinbarung getroffen und entsandte Terroristen nach Deutschland, die Anschläge im »Mumbai-Stil« verüben sollten – die Bezeichnung bezog sich auf die Attentate des 26. November 2008, als zehn Mitglieder der pakistanischen Terrororganisation Lashkar-e Tayyiba (Armee der Reinen), bewaffnet mit Automatikgewehren und Handgranaten, verstreut über die Innenstadt der indischen Metropole 166 Menschen töteten, 304 weitere verletzten und in internationalen Hotels, Restaurants, einem größeren Bahnhof, einem Krankenhaus und einem jüdischen Kulturzentrum Geiseln nahmen. In der Folge äußerten Sicherheitsexperten in aller Welt die Sorge, dass andere Terrorgruppen den Anschlag von Mumbai nachahmen könnten, der weltweit die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zog und das Leben in der Wirtschaftsmetropole Indiens lahmlegte. Seither bezieht sich der Ausdruck »Anschlag im Mumbai-Stil« auf Kommandoaktionen, bei denen eine schwer bewaffnete Gruppe Anschläge mit Schusswaffen und Handgranaten ausführt, in oder im Umkreis von wichtigen Gebäuden einer Großstadt Geiseln nimmt und ihre Stellungen verteidigt, wobei sie maximalen Schaden anrichtet.10

Der dritte und letzte Informationsstrang stammte aus einer weiteren dubiosen Quelle. Im Oktober 2010 nahm ein in Pakistan lebender deutscher Dschihadist telefonisch Kontakt mit den deutschen Behörden auf und sprach eine detaillierte Warnung vor einem Anschlag aus, ähnlich dem von Mumbai, der für Februar oder März 2011 geplant sei. Dem Zeugen zufolge waren bereits zwei Verschwörer in Deutschland eingetroffen und in Berlin untergetaucht. Vier weitere warteten in Pakistan auf ihren Reisebefehl.11 Der Informant war Emrah Erdoğan (geb. 1988), ein Dschihadist aus Wuppertal, der möglicherweise bis Juni 2010 der Gruppe Deutsche Taliban Mudschahidin angehörte. Als diese sich etwa zeitgleich auflöste, schloss er sich al-Qaida an.12

Die Terrorwarnungen lösten unter Sicherheitsexperten eine hitzige Debatte aus und führten zu Spannungen zwischen den Behörden, wobei – wie es seit den Anschlägen vom 11. September 2001 so oft der Fall ist – das Bundeskriminalamt auf der einen Seite steht und die Nachrichtendienste auf der anderen. Während die Polizei dafür eintrat, die Warnungen ernst zu nehmen, weil sie konkrete Einzelheiten enthielten, neigten die Nachrichtendienste dazu, den Wert der Hinweise zu verharmlosen.13 Niemand bestritt jedoch, dass Deutschland bereits seit einigen Jahren ein hochrangiges Angriffsziel für Dschihadisten war und die deutsche Dschihadisten-Szene – obwohl noch klein – seit 2007 die größte Dynamik in Europa aufwies.

Kapitel 1, Unerwarteter Internationalismus: Die Deutschen in der dschihadistischen Bewegung, stellt die Entstehung des Dschihadismus in Deutschland in den größeren Kontext der Entwicklung der dschihadistischen Bewegung seit 2001 und der Internationalisierung der Ideologie, der Strategien und der sozialen Basis des Dschihadismus. Kapitel 2, Zwei Hamburger Zellen: Eine Geschichte des Dschihadismus in Deutschland, liefert eine detaillierte Analyse der Geschichte der deutschen Dschihadisten-Gemeinde, beleuchtet Kontinuitäten und Unterschiede zwischen der ersten Hamburger Zelle – aus der drei der vier Piloten der Anschläge des 11. September 2001 hervorgingen – und den Reisegruppen, die seit 2006 aus Deutschland aufbrechen, um sich in Pakistan al-Qaida und anderen dschihadistischen Organisationen anzuschließen. Kapitel 3, »Ein zweiter 11. September«: Das Sauerland-Komplott, behandelt das wichtigste Terrorkomplott, das nach 2001 in Deutschland geplant wurde. Dieser Fall von 2007 wurde in mehrfacher Hinsicht zu einem Meilenstein des deutschen Dschihadismus, vor allen Dingen deshalb, weil die Sauerland-Gruppe den Weg für Dutzende neuer Rekruten ebnete, die in den folgenden Jahren nach Pakistan gingen. Die meisten von ihnen schlossen sich der IJU an, die Gegenstand von Kapitel 4, »Der erste deutsche Selbstmordattentäter«: Die Deutschen in der Islamischen Dschihad-Union, ist.

Die Türkei ist die wichtigste Zwischenstation und das logistische Drehkreuz für die meisten deutschen Dschihadisten, denn viele von ihnen sind ethnische Türken oder Kurden, deshalb gibt Kapitel 5, Mehr als nur Logistikdrehscheibe: Die Türkei, ihre Dschihadisten und die Deutschen, einen Überblick zur Situation in der Türkei, zur Rolle der Türken in Bosnien, Tschetschenien und Afghanistan sowie zu ihren Kontakten in Deutschland. Kapitel 6, »Kuffaristan verlassen«: Radikalisierung und Rekrutierung in Deutschland, konzentriert sich auf Methoden der Radikalisierung und Rekrutierung in Deutschland und beschäftigt sich mit der Frage, warum eine wachsende Zahl junger Dschihadisten das Land nach 2006 verließ und nach Pakistan aufbrach. Kapitel 7, Unvollendete Terrororganisation: Die Deutschen Taliban Mudschahidin, behandelt die erste ausschließlich deutsche Dschihadisten-Gruppe, die sich infolge des Zustroms deutscher Rekruten 2009 in Pakistan gründete. Der in Kapitel 1 analysierte Internationalisierungsprozess beeinflusste auch Organisationen wie die IBU, die wiederum seit 2008 rund ein Dutzend Deutsche in ihre Reihen aufnahm und eine zunehmend antideutsche Ideologie entwickelte – eine Entwicklung, die in Kapitel 8, »Der schlimmste Feind des Islam«: Die Islamische Bewegung Usbekistans gegen Deutschland, dargestellt ist. Die Auswirkungen dieses Prozesses der Internationalisierung wurden besonders im deutschen Operationsgebiet in Nordafghanistan spürbar, wo die Bundeswehr nicht nur mit afghanischen Aufständischen konfrontiert, sondern auch einer wachsenden Bedrohung durch IBU-Kämpfer ausgesetzt war, unter ihnen 2010 auch die ersten Deutschen. Um dieses Thema geht es in Kapitel 9, »Ich kann es nicht erwarten, Deutsche zu töten«: Aufstandsbekämpfung in Kunduz, an das sich Kapitel 10, Der neue »Boden der Ehre«: Deutsche Dschihadisten im syrischen Bürgerkrieg, über die deutschen Syrienkämpfer in Syrien und im Irak seit 2012 und die Bedrohung durch Rückkehrer anschließt. Es folgt als letztes Kapitel »Dies ist das letzte Jahr Amerika«: Gefahren und Perspektiven, in dem die Bedrohung Deutschlands im Besonderen und die Zukunft der dschihadistischen Bewegung im Allgemeinen Thema ist, ergänzt durch Vorschläge für mögliche Strategien zur Abwehr dieser Gefahr.

1. Unerwarteter Internationalismus.
Die Deutschen in der dschihadistischen Bewegung

Im März 2010 endete der bis dahin aufsehenerregendste Prozess gegen islamistische Terroristen in Deutschland mit Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren für die vier Angeklagten. Die Gruppe unter Führung des deutschen Islamkonvertiten Fritz Gelowicz war im September 2007 beim Bombenbasteln überrascht und verhaftet worden. Die Sauerland-Zelle, wie sie in den deutschen Medien hieß, hatte Anschläge auf Diskotheken geplant, in denen amerikanische Militärangehörige verkehrten, möglicherweise auch einen Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt Ramstein, die größte militärische Einrichtung der US-Streitkräfte in Deutschland. Zwar führte Arid Uka den bis 2011 einzigen erfolgreichen dschihadistischen Anschlag in Deutschland durch, aber das Sauerland-Komplott war der potenziell gefährlichste terroristische Plan, der seit den Tagen der am 11. September beteiligten Hamburger Zelle auf deutschem Boden ausgeheckt worden war.

Für Gelowicz und seine Freunde Adem Yilmaz, Daniel Schneider und Atilla Selek war es ein weiter Weg von ihrem Leben in deutschen Provinzstädten zu einer Karriere als bekannteste Terrorverdächtige der jüngsten deutschen Geschichte. Zwischen 2004 und 2007 unternahmen die Verschwörer ausgedehnte Reisen, die sie zunächst in die Türkei führten, das logistische Drehkreuz der Dschihadisten und Durchgangsstation zwischen Europa, dem Nahen Osten und Südasien. Anschließend ging es weiter zu Arabisch-Sprachschulen in Syrien und Ägypten und dann in den Iran, von wo aus sie schließlich in die pakistanischen Stammesgebiete geschleust wurden – das Epizentrum des internationalen islamistischen Terrorismus, seitdem sich al-Qaida und ihre Verbündeten aus Afghanistan über die Grenze nach Pakistan zurückgezogen hatten.

Das Komplott nahm kurz nach dem 11. September 2001 im schwäbischen Ulm und dem benachbarten Neu-Ulm seinen Anfang. Der spätere Kopf der Sauerland-Gruppe Fritz Gelowicz und sein Freund Atilla Selek gehörten zu einem kleinen Netzwerk junger Deutscher, Türken und Araber, die im Multikulturhaus in Neu-Ulm, einem Zentrum der Salafisten, radikalisiert worden waren. Die zentrale Gestalt der Ulmer Szene war ein ägyptischer Imam, der seit Anfang der 1990er Jahre in islamistischen Kreisen Deutschlands zum Begriff geworden war und bekanntermaßen gute Kontakte zu Dschihadisten in aller Welt pflegte. In die Fußstapfen von Freunden tretend, die bereits im April 2002 aus Ulm und Neu-Ulm in den Kaukasus aufgebrochen waren, suchte Gelowicz 2004 nach Möglichkeiten, sich den Rebellen in Tschetschenien anzuschließen. Als er von Kontaktleuten in Istanbul hörte, eine Fahrt nach Tschetschenien sei nicht machbar, pilgerten er und seine Freunde im Januar 2005 zunächst nach Mekka und reisten von dort weiter nach Syrien und Ägypten, um Arabisch zu lernen und die Möglichkeit auszuloten, sich den Aufständischen im Irak anzuschließen.

Nach den späteren Geständnissen der vier jungen Männer traten in der syrischen Hauptstadt Damaskus einige Dschihadisten aus Aserbaidschan an Gelowicz und Yilmaz heran und erboten sich, sie mit nach Tschetschenien zu nehmen. Ihre neuen Freunde wiesen sie jedoch darauf hin, dass, wenn sie sich den tschetschenischen Rebellen anschließen wollten, sie zunächst ein militärisches Training absolvieren müssten. Zu diesem Zweck schickten die Aserbaidschaner sie nach Pakistan, wo sie im Camp einer kleinen usbekischen Organisation, der Islamischen Dschihad-Union (IJU), ausgebildet werden sollten. Im April 2006 traten die vier Freiwilligen ihre Reise über die Türkei und den Iran nach Pakistan an. In den Stammesgebieten Nord-Waziristans nahe der afghanischen Grenze schlossen sie sich der IJU an. Doch schon bald schickte die Führung der Organisation die jungen Männer mit dem Auftrag nach Deutschland zurück, Anschläge auf amerikanische Ziele zu verüben.

Ihre Reiseroute und ihre Kontakte wiesen das Sauerland-Quartett als echte Internationalisten aus, auch wenn die beiden deutschen Konvertiten und die beiden ethnischen Türken offenbar schlecht gerüstet waren für die Reise von Deutschland in den Nahen Osten und dann nach Südasien, wo sie sich einer zentralasiatischen Organisation anschlossen. Keiner der jungen Männer sprach Englisch oder eine andere Fremdsprache außer Türkisch, ihre Schulbildung ließ zu wünschen übrig, und vor 2005 beschränkte sich ihre internationale Erfahrung auf kurze Aufenthalte in der Türkei. Weder ihre Erziehung noch ihre Ausbildung prädestinierte sie für den Weg, der vor ihnen lag, sondern das salafistische Milieu, in das sie eintauchten, eine zunehmend internationalistische Dschihadisten-Ideologie, die sie sich aneigneten, und die Bereitschaft militanter Netzwerke, die deutsch-türkischen Neulinge aufzunehmen. All diese Faktoren ermöglichten es den Mitgliedern dieser kleinen Gruppe, um die halbe Welt zu reisen, um sich den Dschihadisten anzuschließen, und den vielleicht gefährlichsten terroristischen Anschlagsplan der deutschen Geschichte vorzubereiten.

Die Internationalisierung des dschihadistischen Terrorismus

Mehr als zehn Jahre nach dem 11. September 2001 herrscht eine ganz andere Situation. Al-Qaida und die dschihadistische Bewegung allgemein haben einen tief greifenden Prozess der »Internationalisierung« hinter sich. Nationale, regionale und ethnische Trennlinien haben ihre einstige Bedeutung verloren und einer in einem umfassenderen Sinn globalen Bewegung Platz gemacht. Die Organisation, die noch 2001 ein ausschließlich arabisches Phänomen war, zog in den darauffolgenden Jahren zunehmend Pakistaner, Afghanen, Türken, Kurden und europäische Konvertiten unterschiedlicher Nationalität in ihren Bann. In der noch 2001 von Ägyptern und Arabern aus den Golfstaaten dominierten und von anderen Arabern als rein ägyptisch-saudi-arabisches Unterfangen betrachteten Organisation gewannen jetzt Nordafrikaner, Jordanier, Palästinenser und Iraker an Einfluss, was der Bildung regionaler Filialen im Irak, in Algerien und im Jemen zu verdanken war. Der Prozess der Internationalisierung – der in den Biografien und den Reiserouten der Sauerland-Gruppe und vieler anderer deutscher Dschihadisten so deutlich abzulesen ist – begann vor dem 11. September und hat sich seither fortgesetzt. Am offenkundigsten ist dies im Hinblick auf die nationale und ethnische Basis der Dschihadisten-Bewegung, aber der Prozess besitzt überdies auch ideologische und strategische Dimensionen.

Internationalistische Ideologie und Ideologen

2001 herrschte in der Dschihadisten-Bewegung noch das Paradigma des »nahen Feindes«, aber bereits die spektakulären al-Qaida-Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Ostafrika von 1998 und auf den Zerstörer USS Cole im Hafen von Aden im Oktober 2000 hatten bin Laden und seine Anhänger an die Spitze der Bewegung katapultiert. Bin Ladens und Aiman az-Zawahiris Strategie wurde in militanten Kreisen hitzig debattiert, weil viele Dschihadisten nach wie vor an der Strategie des »nahen Feindes« festhielten und das Ziel verfolgten, in ihren Heimatländern nationale Revolutionen zu entfachen. Vor allem die Ägypter hatten sich seit Anfang der 1980er Jahre auf den Kampf gegen das Regime von Präsident Hosni Mubarak vorbereitet. Viele von ihnen waren nicht bereit, ihre Prioritäten zurückzustellen und stattdessen den Kampf gegen die Vereinigten Staaten und deren Verbündete aufzunehmen, der einigen als unrealistisches Unterfangen erschien. Dieser Zweig der Dschihadisten-Bewegung verlor jedoch nach dem 11. September 2001 an Einfluss, als Amerikas »Krieg gegen den Terror« sich nicht nur gegen die Internationalisten richtete, die für die Anschläge verantwortlich waren, sondern auch gegen die nationalistischen Revolutionäre, die gar nicht vorhatten, den fernen Feind anzugreifen. Für Letztere wurde es immer schwieriger, überzeugend darzulegen, dass der Kampf gegen die Regime ihrer Heimatländer von dem umfassenderen Kampf, der nun stattfand, getrennt werden konnte.

Überdies wurden nach dem 11. September viele führende Vertreter des islamo-nationalistischen Flügels innerhalb der Bewegung, darunter einige Ägypter und Libyer, getötet oder festgenommen; andere schworen der Gewalt ab.22 An die Stelle der führenden Intellektuellen war eine neue Generation von Ideologen und religiösen Denkern getreten, die zunehmend eine internationalistische Argumentationslinie vertraten. Der Aufstieg des Libyers Hasan Muhammad Qaid (alias Abu Yahia al-Libi) steht stellvertretend für diesen Trend. Von 2006 bis zu seinem Tod im Juni 2012 etablierte sich Libi als wichtigster internationalistischer Ideologe der dschihadistischen Bewegung und als einflussreichste religiöse Autorität innerhalb der Führungsriege von al-Qaida in Pakistan.

Libis Karriere ist beispielhaft, weil er als Mitglied einer streng nationalistisch eingestellten Dschihadisten-Organisation anfing, der Libyschen Islamischen Kämpfenden Gruppe (LIKG, al-Jama‘a al-Islamiya al-Muqatila bi-Libiya). Seit ihrer Gründung Anfang der 1990er Jahre arbeitete die LIKG ausschließlich auf den Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi hin. Von 1995 bis 1998 führte die LIKG einen lokal begrenzten Aufstand in Ostlibyen, musste aber nach drei Jahren schwerer Kämpfe wegen der Übermacht des libyschen Sicherheitsapparats aufgeben. Aufgrund ihrer islamo-nationalistischen Orientierung wahrte die Organisation Distanz zu al-Qaida, allerdings hielten sich in den 1990er Jahren viele ihrer Mitglieder im engeren Umkreis von bin Laden, Zawahiri und deren Anhängern im Sudan, in Afghanistan und Pakistan auf. Wie die übrigen nationalen Gruppierungen profitierten auch die Libyer enorm von dem Schutz, den ihnen der Talibanstaat in Afghanistan gewährte. Im Gegensatz zu al-Qaida und den Internationalisten suchten sie jedoch engere Beziehungen zu ihren (ebenfalls nationalistisch eingestellten) afghanischen Gastgebern als zu den anderen Arabern. Viele LIKG-Anführer kritisierten al-Qaida unverhohlen, weil deren Angriffe auf amerikanische Ziele die Invasion in Afghanistan provoziert hatten, die Ende 2001 zum Sturz des Taliban-Regimes führte.23

Geboren in Südlibyen irgendwann zwischen 1963 und Ende der 1960er Jahre, kam Abu Yahia al-Libi, der jüngere Bruder eines führenden LIKG-Funktionärs, um 1990 erstmals nach Afghanistan. Kurz danach wählte die LIKG-Führung Libi aus, als sie in Pakistan und Afghanistan nach vielversprechenden jungen Leuten in ihren Reihen suchte, die in Mauretanien eine religiöse Schulung absolvieren sollten.24 Dieses Vorgehen zeigt, dass die LIKG schon in der Anfangszeit ein klares Bewusstsein dafür entwickelte, wie wichtig religiöse Autorität für die Zukunft der Dschihadisten-Bewegung war. Dschihadistische Organisationen müssen ihre Anhänger mit einer überzeugenden Ideologie ausstatten, die von religiös gebildeten, charismatischen und glaubwürdigen Denkern propagiert wird. Nur mit Unterstützung solcher Persönlichkeiten und einer religiösen, ideologischen und strategischen Schulung können dschihadistische Organisationen darauf hoffen, ihr Personal hinreichend zu motivieren und eine geschlossene, dauerhafte Organisationsstruktur mit gemeinsamer Strategie und Zielsetzung zu entwickeln. Gezieltes ideologisches Training kann diesen Gruppen helfen, selbst in einem extrem feindseligen Umfeld zu überleben.25

Nach einer rund zweijährigen Schulung in Mauretanien kehrte Libi nach Afghanistan zurück, wo die Taliban inzwischen die Macht übernommen hatten und militanten Arabern sichere Zuflucht boten. Libi bereiste die Trainingscamps der arabischen Freiwilligen, predigte ihnen und galt fortan unter seinen Mitstreitern als Religionsgelehrter. Zwar war sein religiöses Wissen alles andere als tief schürfend, aber es reichte aus, dass seine Gesinnungsgenossen es lohnend fanden, seinen Predigten und Vorträgen zu lauschen. Tatsächlich war im Lichte seiner Veröffentlichungen nach 2005 sein Verständnis des dschihadistischen Denkens akzeptabel, selbst im Vergleich zu bekannteren religiösen Autoritäten der Bewegung wie Abu Qutada al-Filastini und Abu Muhammad al-Maqdisi, deren akademische Qualifikationen zwar ausnahmslos unzulänglich sind, die aber trotzdem als die großen Dschihadisten-Gelehrten gelten.26 Obwohl Libi sich unter den Arabern in Afghanistan und Pakistan einen Namen machte, kam er über den Mittelbau der LIKG nicht hinaus und musste sich an die ideologischen Richtlinien halten, die von Sami Mustafa as-Saidi (alias Abu l-Mundhir as-Saidi), dem wichtigsten religiösen Denker der Bewegung, vorgegeben wurden. Vor allem aber warb er nach wie vor für die islamo-nationalistische Ideologie der LIKG.

Irgendwann zwischen 2001 und 2005 wurde aus Libi, dem Anhänger einer stramm nationalistischen Organisation, ein Verfechter des dschihadistischen Internationalismus. 2002 wurde er in Karatschi von den pakistanischen Behörden festgenommen und an die Vereinigten Staaten ausgeliefert. Die folgenden drei Jahre verbrachte er im Militärgefängnis Bagram in Afghanistan, wo er – nach eigener Aussage – von den amerikanischen Bewachern mit verschiedensten Foltermethoden und Demütigungen gequält wurde. Am 10. Juli 2005 gelang Libi und drei anderen prominenten Dschihadisten die Flucht aus dem Gefängnis.27 Der Ausbruch war für die US-Regierung höchst peinlich, nicht nur, weil wichtige al-Qaida-Mitglieder aus einem der drei weltweit berüchtigtsten amerikanischen Gefängnisse entkommen waren (die beiden anderen waren Guantánamo und Abu Ghraib), sondern weil Libi kurz danach im September 2005 auf dschihadistischen Websites einen Bericht über seine Haft in Bagram veröffentlichte, der in Dschihadisten-Kreisen bald als Standardlektüre zur Behandlung von Gefangenen durch die Amerikaner gehandelt wurde.28 Libi schlug sich in die pakistanischen Berge durch, wo er sich den Aufständischen und al-Qaida anschloss. Sein erstes Propagandavideo wurde im November 2005 vom arabischsprachigen Nachrichtensender al-Arabiya ausgestrahlt.29

Seit Ende 2005 etablierte sich Libi rasch als internationalistischer Chefpropagandist der al-Qaida und vollzog einen klaren Bruch mit der LIKG-Ideologie. Videos seiner Reden erschienen im Internet und fanden bei einem wachsenden, internationalistisch eingestellten Publikum weltweit Verbreitung. Libi nahm nun die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, den »fernen Feind«, ins Visier. In Anlehnung an die bekannten Botschaften Osama bin Ladens und Aiman az-Zawahiris rief er seine Glaubensbrüder auf, gegen die »Ungläubigen« (die Vereinigten Staaten und ihre westlichen Verbündeten) und die »Abtrünnigen« (also die nominell muslimischen Regime) in Afghanistan und Pakistan zu kämpfen. Überdies wurde er in den Debatten über die Legitimität und das Ausmaß der Gewalt gegen schiitische und sunnitische Zivilisten im Irak zu einer wichtigen Stimme und konnte sich als Autorität für Dschihadisten in Somalia, dem Jemen, Nordafrika, Zentralasien und Europa durchsetzen. Libi, der neben seiner Muttersprache Arabisch vermutlich auch Paschtu und Urdu fließend beherrschte, unternahm enorme Anstrengungen, um die ethnischen und nationalen Trennlinien zu überwinden, die das Erstarken der dschihadistischen Bewegung zu einer globalen Kraft nach wie vor verhinderten. Für das Thema dieses Buches vielleicht am wichtigsten ist die Tatsache, dass er von der usbekischen IJU als religiöse Autorität anerkannt wurde, jener Gruppe, die zwischen 2006 und 2009 die meisten deutschen Dschihadisten aufnahm. In einem IJU-Video, das Anfang Juni 2009 erschien, rief Libi in einer Rede seine Zuhörer auf, den Dschihad fortzusetzen und Märtyrer zu werden. Das Video zeigt ihn sitzend in einem geschlossenen Raum höchstwahrscheinlich in einem Dorf der pakistanischen Stammesregion Nord-Waziristan, umgeben von IJU-Angehörigen. Neben ihm sitzt der militärische Führer und spätere IJU-Oberbefehlshaber Abdallah Fatih, der aufmerksam zuhört.30 Für Deutsche und Angehörige anderer Nationalitäten war Abu Yahia al-Libi die wichtigste Stimme geworden, die eine Globalisierung der dschihadistischen Ideologie forderte.

Es ist bedeutsam zu verstehen, welche Gründe hinter Libis Bekenntnis zum dschihadistischen Internationalismus und seinem zunehmenden Antiamerikanismus stehen. Ein Grund mag darin liegen, dass die US-Regierung das LIKG-Führungsmitglied Abdallah Sadiq (alias Abdalhakim Belhaj) und den religiösen Führer der Organisation Abu l-Mundhir as-Saidi verhaftet hatte, die in Bangkok beziehungsweise Hongkong untergetaucht waren. Beide wurden 2004 an Libyen ausgeliefert, wo ihnen drakonische Strafen durch das libysche Regime drohten.31 Wichtiger ist aber, dass sich Libi infolge seiner Behandlung im Gefängnis und seines anschließenden Aufenthalts auf den Schlachtfeldern der pakistanischen Stammesgebiete, die unter ständigem amerikanischen Beschuss standen, zum dschihadistischen Internationalismus bekehrte.32 (Im Dezember 2009 wurde irrtümlich gemeldet, er sei bei einem amerikanischen Drohnenangriff getötet worden.) Libi wurde zum wichtigsten Vertreter einer jüngeren Generation von Dschihadisten, die in den langen Jahren des Krieges in Afghanistan bekannt wurden und – aufgrund ihrer Erfahrungen seit 2001 – die Vereinigten Staaten als ihren gefährlichsten Feind ansehen.

Libis Aufstieg hatte auch organisatorische Folgen. Während die ehemaligen (islamo-nationalistischen) Anführer im Gefängnis saßen, bereiteten die in Pakistan und Afghanistan verbliebenen Libyer im November 2007 einen Zusammenschluss der Reste der LIKG mit al-Qaida vor. Abu Yahia al-Libi steuerte die theoretischen Grundlagen für diesen Schritt bei, sein libyscher Landsmann Ali Ammar ar-Ruqay‘i (Abu Laith al-Libi) trat unterdessen als kommissarischer Chef des LIKG-Kontingents bei der Fusion auf.33 Wie der Umschwung in Abu Yahias Karriere war der Zusammenschluss der LIKG mit ihrer früheren Konkurrentin ein Beleg für den wachsenden Trend zur Internationalisierung.

Internationalistische Strategien

Als sich die LIKG Ende 2007 al-Qaida anschloss, hatte dies keine tief greifenden Auswirkungen auf die Dschihadisten-Szene, weil die LIKG zu der Zeit zerschlagen zu sein schien. Der gescheiterte Aufstand in den 1990er Jahren hatte deutlich gezeigt, dass die Organisation in ihrem Heimatland nicht genügend öffentliche Unterstützung fand, und sie war für das Gaddafi-Regime nie auch nur annähernd eine Bedrohung. Mit dem Verlust von Afghanistan als Zufluchtsort und der Inhaftierung ihrer Führungsriege hörte die Organisation praktisch auf zu existieren, sodass die Fusion mit al-Qaida eher einem Propagandacoup glich als einem Zusammenschluss von zwei Partnern. Groben Schätzungen zufolge befanden sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als zwei Dutzend Libyer in Pakistan und Afghanistan.34 Allerdings übernahmen nach 2001 andere, gefährlichere Organisationen eine internationalistische Strategie und veränderten damit das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb der dschihadistischen Bewegung. Die wichtigste war die Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC, Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat oder al-Jama‘a as-Salafiya li-d-Da‘wa wa-l-Qital), die sich im Januar 2007 al-Qaida anschloss.

Algerien war eines der Hauptkampfgebiete militanter Islamisten seit den frühen 1990er Jahren, als ein blutiger Bürgerkrieg ausbrach, der erst nach 1995 abflaute. Zwar kämpften in den 1980er Jahren viele Algerier in Afghanistan, aber die algerische Dschihadisten-Szene blieb stark auf einen Regimewechsel in der Heimat fixiert, auch wenn für unparteiische Beobachter schon früh klar war, dass die Islamisten das Regime nicht würden stürzen können. Trotzdem waren dschihadistische Einheiten auch nach dem Ende des Bürgerkriegs in der Lage weiterzukämpfen. Diese Gruppen zogen sich in das unwegsame Bergland östlich, südöstlich und westlich der Hauptstadt Algier zurück, wo sie bis heute gegen algerische Sicherheitskräfte kämpfen.

Mit der ungebrochenen Präsenz der Dschihadisten im eigenen Land unterscheidet sich die algerische Szene maßgeblich von der ägyptischen, wo der militante Untergrund nach dem Scheitern des Aufstands 1997 durch Sicherheitskräfte buchstäblich ausgelöscht wurde. Infolge dieser massiven Schwächung konnten die ägyptischen Dschihadisten nur hoffen, sich im Ausland zu reorganisieren und sich mit ihren Brüdern aus anderen Ländern zusammenzuschließen. Aiman az-Zawahiris Bündnis mit Osama bin Laden und der Aufstieg al-Qaidas waren die unmittelbare Folge dieser Entwicklung. In Algerien blieb den Dschihadisten die Möglichkeit erhalten, auf algerischem Boden zu kämpfen, und 1998 wurde die GSPC zur stärksten Organisation vor Ort. Sie wurde im selben Jahr als Splittergruppe der älteren GIA (Groupe Islamique Armé oder al-Jama‘a al-Islamiya al-Musallaha, Bewaffnete Islamische Gruppe) gegründet, die wegen ihrer blinden Gewalt gegen Zivilisten den Rückhalt in der Öffentlichkeit verlor. Dschihadistischer Internationalismus war der GSPC fremd, und bis 2003 bestand ihr einziges Ziel im Sturz des Regimes in Algier und der Errichtung eines islamischen Staates.

Im Oktober 2003 änderte sich allerdings die Situation, als der damalige GSPC-Chef Nabil Sahraoui (gest. 2004) verkündete, die GSPC habe sich Osama bin Laden und dem Taliban-Führer Mullah Omar unterstellt.35 In den folgenden Jahren festigte die Gruppe ihre Verbindungen zur al-Qaida-Tochter im Irak und zur Führung der Organisation in Pakistan. Schließlich erklärte die GSPC im Januar 2007 ihre Fusion mit al-Qaida und bezeichnete sich fortan als »al-Qaida im Islamischen Maghreb« (Maghreb ist der arabische Name für die westlichen Regionen der arabischen Welt – Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen). Auf diesen Schritt folgte ein Strategiewechsel der Gruppe. Im Dezember 2007 verübte die GSPC einen Anschlag auf das Hauptquartier der Vereinten Nationen und das Gebäude des Verfassungsgerichts in Algier, bei dem 41 Menschen getötet und 170 weitere verletzt wurden.36

Die Fusion mit al-Qaida und die Angriffe auf internationale Ziele überzeugten viele junge Nordafrikaner, dass sich die algerischen Dschihadisten nunmehr zum dschihadistischen Internationalismus bekannten. Daher rekrutierte die algerische al-Qaida zunehmend nicht algerische Nordafrikaner sowie Kämpfer aus Mali, Niger und Nigeria, was in nordafrikanischen Dschihadisten-Kreisen einen Prozess der »Pan-Maghrebisierung« ankurbelte. Die Folge waren vor allem verstärkte Terroraktivitäten in Mauretanien und die Verschlechterung der Sicherheitslage in Marokko, Tunesien und den Sahelstaaten südlich von Algerien.37 In vielen Fällen wurden französische und spanische Staatsbürger Opfer sporadischer Anschläge und Entführungen. Der Logik des dschihadistischen Internationalismus folgend, hätten nun Anschläge auf dem Territorium der wichtigsten Staaten verübt werden müssen, die das algerische Regime unterstützten. Der Emir der algerischen al-Qaida drohte zwar 2009 Frankreich mit Anschlägen auf französischem Territorium, doch die Anschläge blieben aus.

Frankreich hatte Algerien 132 Jahre lang beherrscht und die Unabhängigkeit der Kolonie erst nach einem acht Jahre dauernden Krieg akzeptiert, der 1962 endete. Die gemeinsame Geschichte zog häufige Spannungen nach sich, aber die beiden Länder sind – militärisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell – nach wie vor eng verbunden. Von den 3 bis 3,5 Millionen Menschen nordafrikanischer Herkunft, die heute in Frankreich leben, sind rund 1,5 Millionen algerischer Abstammung.38 Für die islamistische Opposition stand im Vordergrund, dass Frankreich den Kampf des Regimes gegen militante Gruppen im Bürgerkrieg unterstützte. Mit der Folge, dass Frankreich zum Opfer einer ersten Welle islamistischer Terroranschläge zwischen 1994 und 1996 wurde. Am Heiligabend des Jahres 1994 warfen die Anschläge vom 11. September 2001 in New York ihre Schatten voraus. Algerische Terroristen entführten eine Air-France-Maschine auf dem Weg von Paris nach Algier, um das Flugzeug als Bombe in den Eiffelturm zu lenken. Glücklicherweise konnten französische Sicherheitskräfte bei einem Zwischenstopp in Marseille die Maschine stürmen und die Terroristen töten.39

Seit 2003 beobachten die französischen Sicherheitsbehörden die Ereignisse in und um Algerien mit wachsender Sorge und machten sich auf das Schlimmste gefasst. Nicht minder beunruhigt war Spanien, das seit 2001 zu einem Hauptanschlagsziel für nordafrikanische Terroristen wurde. Im März 2004 verübte eine aus Nordafrikanern bestehende Zelle Bombenanschläge in fünf Pendlerzügen in der Hauptstadt Madrid, bei denen 192 Menschen ums Leben kamen und Hunderte verletzt wurden. Die Zahl der Einwanderer aus Nordafrika und vor allem aus Marokko nach Spanien ist seit dem Jahr 2000 stark gestiegen und liegt inzwischen bei rund einer Million. Die Regierungen Belgiens und der Niederlande waren ebenfalls besorgt. Und selbst in Deutschland, wo die Zahl der nordafrikanischen Einwanderer (260.000 bis 300.000)40 im Vergleich zu Westeuropa erheblich niedriger ist, befürchteten hochrangige Regierungsvertreter 2007/2008, dass die neue algerische al-Qaida-Zweigstelle die kurzfristig größte Bedrohung für alle Länder darstelle, in denen erhebliche nordafrikanische Migrantengemeinden leben.41

Die Internationalisierung der GSPC wurde durch zwei Faktoren ausgelöst: den Irakkrieg und die verstärkte amerikanische und europäische Intervention auf Seiten algerischer Sicherheitskräfte gegen Terrorgruppen. Nach 2001 und insbesondere 2003 geriet die GSPC innerhalb Algeriens und von außerhalb unter Druck. Es bestand die Gefahr, im Irakkrieg an einem fernen Dschihad-Schauplatz Rekruten zu verlieren; sie war besonders deshalb ernst zu nehmen, weil sich die GSPC bereits seit Jahren in der Defensive befand. Welche Anziehungskraft der Internationalismus auf das Fußvolk ausübte, zeigte sich in der wachsenden Zahl algerischer Dschihadisten, die sich ab 2003 entschlossen, in den Irak zu reisen und sich dort den Aufständischen anzuschließen.42 Um potenzielle Rekruten daran zu hindern, Algerien zu verlassen, entschied die GSPC, ihre Glaubwürdigkeit durch eine Internationalisierung ihrer Strategie und Propagandaarbeit zu erhöhen. Tatsächlich hat das neue Etikett al-Qaida offenbar eine neue, stärker internationalistisch ausgerichtete und radikalere Generation junger Dschihadisten veranlasst, gegen die Amerikaner und deren Verbündete auf algerischem Boden zu kämpfen.

Der zweite und wohl wichtigere Grund für den Strategiewechsel bestand darin, dass die algerische Regierung mithilfe der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten ihre Kapazitäten zur Terrorbekämpfung ausgebaut und verbessert hatte. Diese Unterstützung trat besonders deutlich zutage, als im Februar 2003 zweiunddreißig europäische Touristen – vor allem Deutsche, Schweizer und Österreicher – in Südalgerien gekidnappt wurden. Eine Deutsche starb an einem Hitzeschlag, ehe das Lösegeld bezahlt war und die Geiseln freigelassen wurden. Während und nach dem Vorfall erhielt die algerische Regierung noch mehr Hilfe zur Terrorbekämpfung von den Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland, unter anderem Schulungen, Ausrüstung und Geld. So wurden die Vereinigten Staaten in Algerien wegen ihrer Allianz mit dem herrschenden Regime ebenso zum Ziel von dschihadistischen Gruppen wie in Ägypten und Saudi-Arabien. Der Unterschied bestand im Fall Algeriens darin, dass in dieser Situation auch Frankreich eine wichtige Rolle spielte. Abdalmalik Drukdal (alias Abu Musab Abdalwudud), der Emir der GSPC, erklärte 2008 in einem Interview mit der New York Times, die US-amerikanische Intervention auf Seiten der algerischen Regierung sei der Hauptgrund für die Fusion der GSPC mit al-Qaida:

Als wir Waffen trugen, erklärten wir, dass wir gegen die Agenten der Kreuzzügler unter jenen Herrschern kämpfen, die sich gegen den Islam aussprachen und Verbrechen der Korruption, der Tyrannei und des Hochverrats gegen die Religion und die Nation begingen. Und wir sagten, dass wir die Stellung des Islam im Land und die Herrschaft des Koran über die Menschen wieder festigen und der Nation die Rechte zurückgeben wollen, die ihr genommen wurden. Aber dann kam der Westen ins Spiel. Er versorgte [die algerische Regierung] mit Unterstützung aller Art und ermunterte sie und unterstützte sie in den [internationalen] Foren. Damit nicht genug, er ging sogar bis zur direkten Intervention. Dann fanden wir uns mit dem Etikett des Terrorismus auf einer schwarzen Liste der US-Regierung wieder. Dann stellten wir fest, dass Amerika im Süden unseres Landes Militärbasen errichtete und militärische Übungen durchführte, unser Öl plünderte und plante, sich unser Gas zu holen. Überdies wurde in unserer Hauptstadt ein FBI-Büro eingerichtet, und es begann eine eigentümliche christliche Bekehrungskampagne, damit unsere Jugendlichen ihre Religion wechseln, sodass unter uns religiöse Minderheiten entstehen.

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