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Über dieses Buch:

Liebe ist wie Wasser. Sie findet immer einen Weg.

Die Goldschmiedin Nina traut ihren Augen kaum: Der attraktive Amerikaner Benjamin bittet sie, ein Familienerbstück zu restaurieren – das genaue Gegenstück zu jenem Medaillon, das sich in ihrem Besitz befindet! Aber wie ist das möglich? Nina beschließt, ihre Großmutter zu fragen, der das Schmuckstück früher gehörte. So erfährt sie, wie Natascha einst in die Wirren der russischen Revolution geriet. Wie es sie in das leuchtende Paris der dreißiger Jahre verschlug – und was dort mit ihr geschah. Je mehr Nina über die Vergangenheit herausfindet, umso drängender wird in ihr eine Frage: Was weiß sie eigentlich über das Leben und die Liebe? Und reicht es wirklich, mit dem zufrieden zu sein, was man kennt?

Die Presse über Die Spur des Medaillons: »Zwei wunderschöne Liebesgeschichten, die über die Jahrzehnte hinweg durch ein Schmuckstück verbunden werden.« MDR Hörfunk

Über die Autorin:

Tania Schlie, geboren 1961, studierte Literaturwissenschaften und Politik in Hamburg und Paris. Bevor sie anfing zu schreiben, war sie Lektorin in einem großen Verlag. Heute lebt sie als erfolgreiche Autorin in der Nähe von Hamburg.

Bei dotbooks veröffentlicht Tania Schlie, die auch unter den Namen Greta Hansen und Caroline Bernard erfolgreich ist, die Romane »Der Duft von Rosmarin und Schokolade«, »Der Duft von Sommerregen«, »Eine Liebe in der Provence«, »Ein Sommer in Bonneville«, »Die Liebe der Mademoiselle Godard«, und – auch als Sammelband unter dem Titel »Auf den Flügeln der Hoffnung« erhältlich – »Elsas Erbe«, »Zwischen uns der Ozean« und »Die Jahre ohne dich«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2014

Copyright © der Originalausgabe 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Koroleva Katerina

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-007-0

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Tania Schlie

Die Spur des Medaillons

Roman

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Kapitel 1

Ungeduldig strich Nina die störende dunkelblonde Locke aus dem Gesicht, die sofort wieder an ihren vorherigen Platz zurückfiel. Ihre Arbeit erforderte ihre ganze Konzentration, besonders wenn sie, wie jetzt, ein Stück fast fertiggestellt hatte und es darum ging, die allerletzten Handgriffe auszuführen, die Teile zusammenzufügen, die ihm seine Einzigartigkeit und Perfektion geben sollten und die sie bisher nur auf der Skizze und in ihrem Kopf vereint gesehen hatte. Wäre sie ein Kind gewesen, sie wäre vielleicht mit der Zunge von einem Mundwinkel zum anderen gefahren, so wie Kinder es tun. Ihre Art sich zu konzentrieren bestand aber darin, die störrische Haarsträhne mit der Hand zurückzustreichen. Sie hatte diese Bewegung in der vergangenen Stunde mindestens ein dutzendmal gemacht, ohne es zu bemerken.

Behutsam nahm sie jetzt den roten Stein aus seinem Etui aus dunkelgrünem, weichem Samt. Mit sicheren Bewegungen, die die lange Erfahrung verrieten, setzte sie nun den Rubin in die Fassung aus Weißgold.

Genauso hatte ich es mir vorgestellt, dachte sie zufrieden bei sich. Sie nahm den Ring hoch, um ihn im Licht der Lampe noch einmal zu begutachten, nickte anerkennend und legte ihn mit einer Geste, die man zärtlich nennen konnte, in sein grünes Samtbett zurück.

Als sie aufstand und sich reckte, bemerkte sie den Schmerz in Armen und Schultern. Ihr Blick fiel auf die Uhr, und sie sah, daß es schon wieder acht geworden war. Sie würde es nicht mehr schaffen, rechtzeitig zu ihrer Verabredung mit Martin zu kommen.

»Wie kannst du es nur an diesem muffigen Ort so lange aushalten?« pflegte er sie leicht gekränkt zu fragen, wenn sie wie üblich atemlos und viel zu spät erschien. »Vor allem, wenn du weißt, daß ich auf dich warte?« Es sollte neckisch klingen, aber Nina hörte den leisen Vorwurf in seiner Stimme. Sie mußte ihm recht geben. Wenn sie ehrlich war, dann hatte ihr kleiner Laden wirklich etwas Verstaubtes an sich. Der Verkaufsraum, zu dem die Kunden über zwei ausgetretene Stufen hinab-, nicht hinaufsteigen mußten, bestand aus einem alten, dunkelholzigen Tresen mit zwei grünbezogenen Hockern davor; eine runde Vitrine, die von außen durch ein kleines Fenster einsehbar war, gab einen Einblick in ihre Arbeiten. An den Verkaufsraum, nur durch einen offenen Durchgang getrennt, schloß sich ihre winzige Werkstatt an, in der es sofort stickig und heiß wurde, wenn sie mit dem Lötkolben arbeitete. »Kein Wunder, daß du nicht genug Kunden hast. Du bist so gut und versteckst dein Talent in einem Souterrain«, hörte sie ihren Freund sagen.

Aber Nina liebte ihr kleines Atelier. Als sie den leerstehenden Laden in einem der Hinterhöfe in Berlin Mitte ein halbes Jahr zuvor entdeckt hatte, hatte sie sofort gewußt, daß sie ihn mieten würde. Sie liebte den täglichen Weg durch den vorderen Hof, dieses backsteindunkle Viereck, in dessen Ecke Fahrräder und Mülltonnen aufgereiht waren, wo in den letzten Monaten aber auch ein kleiner Blumengarten und ein Spielplatz entstanden waren. Um die Mittagszeit, wenn die Kinder aus der Schule kamen, hörte sie ihr Lachen und Kreischen und die zunehmend ungeduldigen Stimmen der Mütter, die sie zum Essen riefen. Ninas Atelier lag im zweiten Hof, den man durch eine große, halbrund gewölbte Durchfahrt erreichte. Besonders gegen Abend nahm er etwas Beschauliches an, denn dann gehörte er den Alten der umliegenden Häuser, die auf den Bänken unter der mächtigen Kastanie saßen und plauderten.

Anfangs war ihr Laden – in früheren Zeiten eine Schuhmacherei, wie die verwaschene Inschrift über der Tür noch anzeigte – der einzige gewesen, aber in der Zwischenzeit hatten immer mehr kleine Geschäfte die Vorteile der zentralen Lage bei gleichzeitiger Intimität der Höfe schätzengelernt. Jetzt gab es in der Nachbarschaft Kunsthandwerker und Boutiquen, ein kleines Café, sogar einen Herrenfriseur, der sich nostalgisch gab und zu dem die meisten Kunden wegen einer Rasur kamen. Sie alle profitierten von dem wachsenden Interesse, das die ehemalige Mitte Berlins nach der Wende fand. Immer mehr kleine, unabhängige Galerien siedelten sich in den umliegenden Straßen des ehemaligen jüdischen Viertels an, und die ersten Immobiliengesellschaften interessierten sich für die Gegend. Nina hatte recht behalten, als sie sich gegen Martins ausdrücklichen Rat dazu entschlossen hatte, genau hier ein Geschäft zu eröffnen.

Sie lächelte, als sie an die schwäbische Reisegruppe dachte, die am Nachmittag ihren Laden geradezu überfallen hatte. Das Viertel wurde tatsächlich immer mehr vom Geheimtip zur Touristenmeile. Touristen auf der Suche nach einem Souvenir bildeten einen Großteil ihrer Kunden. Für sie stellte sie preiswerte Ringe und Ohrschmuck her, die ein wenig aus der Reihe der Massenware fielen, aber dennoch den allgemeinen Geschmack bedienten. Ihre ganze Leidenschaft als Goldschmiedin gehörte jedoch ihren Entwürfen und Einzelanfertigungen.

Dieser Ring mit dem makellosen Stein und der ausgefallenen Fassung, die wie die Blätter eines Rosenkelches wirkte, gehörte dazu. Die Idee dazu hatte sie schon lange mit sich herumgetragen, und vor einigen Wochen war eine junge Frau erschienen, die eine kleine Erbschaft gemacht hatte und zur Erinnerung an ihre verstorbene Großmutter ein besonderes Schmuckstück kaufen wollte. Beim Anblick des feuerroten Haars der Kundin hatte Nina ihr die Zeichnung vorgelegt, und die Frau war begeistert gewesen.

»So müßte es immer sein«, dachte sie und nahm den Ring noch einmal aus seiner Schatulle, um ihn zu drehen und zu wenden, »ein Schmuckstück, das für einen ganz bestimmten Menschen gemacht ist und nur zu ihm gehört.« Sie konnte kein Verständnis für Kunden aufbringen, die Schmuck als Kapitalanlage, als Bestechungsgabe nach einem Seitensprung, als verlegenes Dankeschön für eine Liebesnacht kauften. Manchmal verirrte sich einer dieser Käufer in ihren Laden, und sie bedauerte jedesmal die künftige Trägerin des Schmucks. Wie sollte sie eine Beziehung zu dem Geschenk entwickeln?

Sie hätte wohl noch länger ihren Gedanken nachgehangen, wenn in diesem Moment nicht das Telefon geklingelt hätte. Es war Martin.

»Wo bleibst du denn? Ich warte schon seit fast einer Stunde auf dich. Kannst du wieder nicht aus deinem Kellerloch herausfinden?« Er war ungehalten, und Nina hörte, daß er nicht mehr ganz nüchtern war. Bei dem Wort »Kellerloch« zuckte sie zusammen.

»Es tut mir leid, ich hatte noch zu tun und habe darüber die Zeit vergessen. Ich mach' mich sofort auf den Weg und bin in zehn Minuten da.«

Nina legte den Hörer auf und griff nach ihrem Rucksack, der in der Werkstatt neben dem Arbeitstisch stand. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel. An ihrem Haar ließ sich nichts ändern, es fiel, wie es wollte, manchmal gefiel ihr das, dann wieder ärgerte sie sich darüber. Aber sie legte ein wenig Puder auf und zog die Lippen nach. Eigentlich war sie zufrieden mit ihrem Aussehen, nur der ein wenig müde oder vielleicht sogar resignierte Ausdruck um die Augen störte sie. Dabei waren ihre Augen etwas ganz Besonderes. Eines war blau, bei dem anderen jedoch war die untere Hälfte der Iris grünbraun. Sie hatte sich angewöhnt, die Menschen, die sie kennenlernte, danach einzuteilen, ob sie diese kleine Anomalie bemerkten oder nicht. Es gab Fremde, die ihr gleich bei der ersten Begrüßung ein Kompliment für ihre wunderschönen Augen machten, und dann hatte sie langjährige Freunde, denen sie noch nie aufgefallen waren. Sie mußte zugeben, daß sie selber auch zu dieser Sorte der Unaufmerksamen gehörte. Eine neue Brille, ein abrasierter Bart entgingen ihrer Aufmerksamkeit völlig. Mehr als einmal war ihr deshalb Interesselosigkeit vorgeworfen worden, und sie rechtfertigte sich mit dem Gedanken, daß sie ihr Augenmerk eher auf Charaktereigenschaften legte oder auf das, was ihr Gegenüber sagte.

»So ein Mist. Jetzt sitze ich hier schon wieder und hänge meinen Gedanken nach. Nun aber los!« Rasch legte sie den wertvollen Ring in den Tresor und löschte das Licht in der Werkstatt. Während sie ihren Sommermantel überwarf, suchte sie in den Taschen nach dem Schlüssel für die Ladentür.

»Verdammt, können Sie denn nicht aufpassen!« Wütend zischte sie den Mann an, der die Tür mit kräftigem Schwung aufgestoßen und ihr an die Stirn geknallt hatte.

»Lassen Sie mich mal sehen. Na, das wird eine schöne Beule geben, aber zum Glück ist die Haut nicht geplatzt. Wieso sehen Sie auch nach unten, während Sie geradeaus stürmen?«

Was fiel dem Kerl ein? Kein Wort der Entschuldigung, sondern auch noch Vorwürfe! Nina wußte nicht, welches Gefühl überwog: der Schmerz über der linken Augenbraue oder die Wut über die Ungehobeltheit des Fremden. In einer ungeduldigen Bewegung machte sie ihren Arm von ihm los und verlor dabei das Gleichgewicht.

Sie wäre gefallen, wenn er sie nicht gestützt hätte. »Jetzt beruhigen Sie sich doch erst einmal. Ich will Ihnen ja nur helfen. Sie setzen sich jetzt dort auf den Stuhl, bis es Ihnen bessergeht«, befahl er, und sie mußte gehorchen, denn sie war benommen von der Wucht des Stoßes. Sie saß auf einem der grünen Hocker, den Ellenbogen auf dem Tresen, und hielt sich die Stirn, in der das Blut pochte. Durch ihre Finger beobachtete sie mißtrauisch den Fremden, der sich suchend umsah. Wie ein Trickdieb sah er gerade nicht aus, aber man konnte ja nie wissen.

»Haben Sie hier keinen Verbandskasten?« erklang seine Stimme aus der Werkstatt.

»Wie bitte? Wozu brauchen Sie den? Ach so ... das rote Schränkchen über dem Waschbecken«, gab sie zurück.

Der Mann verwirrte sie derart, daß sie nicht einmal mehr in der Lage war, in ganzen Sätzen zu reden. Es tat ihr leid, daß sie vorhin so aufgebraust war. Sie hatte ja wirklich nicht nach vorn gesehen. Und wenn sie auch in diesem Punkt ehrlich war, mußte sie zugeben, daß sie sich ständig an irgendwelchen Ecken stieß. Sie riß, wenn sie sich aufregte, in ihren ungestümen Bewegungen Gegenstände von Tischen und Regalen. Ihre ganze Geschicklichkeit und Anmut schien sie für ihre Arbeit zu benötigen. Sie lauschte der tiefen, wohlklingenden Stimme des Fremden, der vor dem kleinen Medizinschrank stand und in sehr gewähltem, teils fast ein wenig antiquiertem Deutsch, allerdings mit einem amerikanischen Akzent, vor sich hin murmelte. Sie atmete tief ein und nahm dabei seinen Geruch wahr, der am Ärmel ihres Mantels haftete. Sah er eigentlich so gut aus, wie er roch? Sie konnte von ihrem Hocker aus nur seine große, gutgekleidete Gestalt und das dichte, fast schwarze Haar erkennen, sein Gesicht hatte sie noch gar nicht richtig wahrgenommen.

Was wollte dieser elegante Amerikaner eigentlich ausgerechnet in ihrem Laden?

»Halten Sie das mal.« Mit diesen Worten drückte er ihr sein Taschentuch, das er in kaltes Wasser getaucht hatte, sanft gegen die schmerzende Stirn. (Ein Mann, der Stofftaschentücher benutzt, noch etwas, das ihn altmodisch erscheinen läßt, dachte Nina.)

»Etwas Besseres habe ich in Ihrer Apotheke leider nicht finden können, aber Hauptsache, die Schwellung wird gekühlt. Wie ist Ihnen? Fühlen Sie sich noch schwindlig?« fragte er, während er ihr forschend ins Gesicht sah.

Nina blickte in Augen von einem intensiven Grau, die durch die kleine randlose Brille noch leuchtender wirkten. Kleine Fältchen an den gebräunten Schläfen ließen auf Lebenslust und Humor schließen. Die gerade Nase wies auf einen feingeschnittenen Mund, der von glattrasierten Wangen gerahmt war, auf denen sie die Spuren von zwei senkrechten Lachfalten bemerkte; sie traten in diesem Moment deutlich zutage, weil er sie amüsiert anlächelte.

»Wie Sie aussehen, weiß ich jetzt. Auch daß Sie stürmisch sind und ganz schön wütend werden können. Wenn ich jetzt noch Ihren Namen wüßte ... Meiner ist übrigens Benjamin Turner. Ich bin aus Boston, wie Sie vielleicht schon an meinem grausigen Deutsch gehört haben.«

»Ich heiße Nina Kolzin, und mir gehört dieses Geschäft. Ich frage mich, was Sie als Amerikaner ausgerechnet in einer Goldschmiede in einem Berliner Hinterhof wollen. Unschuldige Frauen anrempeln? Haben Sie in Amerika keine Juweliere? Außerdem ist Ihr Akzent kaum hörbar, Sie sprechen sehr gut Deutsch. Wie kommt denn das?«

Nina wollte weiterfragen, doch er unterbrach sie mit einem Lachen. »Moment, geben Sie mir eine Chance zu antworten. Sie sind ja schlimmer als die Inquisition.«

Auch Nina mußte lachen, griff sich jedoch gleich darauf an die schmerzende Stirn. »Also gut, antworten Sie!«

Er setzte sich ihr gegenüber auf den zweiten Hocker, ihre Knie berührten sich fast. »Meine Eltern sind noch in Deutschland geboren, und bei uns zu Hause wurde deutsch gesprochen. An Ihrem Laden bin ich eher zufällig vorbeigekommen, als ich die Gegend hier durchstreift habe. Allerdings habe ich vor, in Berlin einen Goldschmied mit einer Arbeit zu beauftragen, und als ich Ihr kleines Geschäft gesehen habe, bin ich einfach reingekommen. Ich konnte ja nicht ahnen, daß ich gleich die Besitzerin umhauen würde.«

Er haut mich tatsächlich um, sogar im doppelten Sinne, dachte Nina. Sie holte tief Luft.

»Eigentlich habe ich ja schon geschlossen, aber was kann ich denn für Sie tun?« fragte sie so geschäftsmäßig wie möglich.

»Sind Sie sicher, daß ...«

»Aber ja«, lachte sie. »Ich gebe zu, daß es weh tut, aber ich werde es überleben.«

Benjamin griff in die Tasche seiner Jacke und förderte ein schlichtes Juwelieretui hervor, das er auf den Ladentisch zwischen Nina und sich stellte und behutsam öffnete. Darin lag ein ovales Medaillon. Auf der Vorderseite trug es einen tiefblauen, fast violetten Stein, einen Saphir von ganz außergewöhnlicher Farbe. Der daumennagelgroße Edelstein war gerahmt von einem geflochtenen Band aus hochkarätigem Gold, das an den oberen Enden in einer Art durchbrochener Schleife auslief, in die der Aufhänger gearbeitet war.

»Darf ich es mir ansehen?« fragte Nina, die von einer Sekunde auf die andere ihre schmerzende Stirn vergessen hatte. Sie machte Licht, um das Schmuckstück genauer betrachten zu können. Er fühlte sich sehr schwer an, als sie es aus der Schatulle nahm, und von dem Stein ging ein schwaches Leuchten aus, das sich in dem perfekten Schliff immer wieder neu brach und sie seltsam berührte. Zum zweitenmal, seit sie Benjamin Turner begegnet war, überfiel Nina ein Schwindelgefühl. Sie kannte diesen Anhänger, aber sie hatte nicht die Spur einer Erklärung dafür, wie das möglich war. Als sie den Stein rasch herumdrehte, war da, wie sie es erwartet hatte, auf der rechten Seite der winzige Knopf, mit dem sich die Kammer auf der Rückseite des Anhängers öffnen ließ. Wahrscheinlich verbarg sich auch hinter diesem Deckel ein verglaster Rahmen, der Platz für ein Foto oder ein Miniaturgemälde bot. Nur klemmte hier der Mechanismus, weil der Schmuck verunreinigt und mit kleinen Ablagerungen behaftet war. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, ihn zu reinigen.

In Ninas Kopf jagten die Gedanken einander. Sie war so verblüfft von dem, was sie sah, daß ihr die Worte fehlten. Sie hatte immer geglaubt, daß der Anhänger, den sie vor langer Zeit von ihrem Vater erhalten hatte, ein exklusives Original war. Und nun kam ein Fremder in ihr Atelier und legte ihr das perfekte Gegenstück auf den Ladentisch. Sie konnte keine plausible Erklärung dafür finden und kam zu dem Schluß, daß sie sich irren mußte. Die Schmuckstücke waren sich vielleicht ähnlich, derartige ein wenig sentimentale Anhänger waren früher schließlich ein beliebtes Liebespfand gewesen, aber sie waren bestimmt nicht identisch. Und außerdem hatte sie ihr Exemplar schon seit Jahren nicht mehr hervorgeholt, sie war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, wie es aussah. Nein, sie würde Benjamin nichts sagen, er mußte das für eine plumpe Anmache halten, wenn sie ihm jetzt sagte, sie hätte zu Hause genauso einen Anhänger wie er. Es war einfach zu absurd!

Mit einem Räuspern machte Benjamin auf sich aufmerksam. »Ich bin auf der Suche nach einem Fachmann, der den Anhänger reinigt und überholt. Außerdem würde ich gern etwas über seine Herkunft und den Wert erfahren, wenn das überhaupt möglich ist. Ich habe Hinweise darauf, daß der Schmuck aus Europa stammt, möglicherweise aus Deutschland, und deshalb möchte ich einen hiesigen Goldschmied beauftragen und keinen amerikanischen. Ich bin aber leider nur einige Tage in Berlin. Meinen Sie, daß Sie das bis übermorgen nachmittag erledigen können?«

»Natürlich, das läßt sich machen«, antwortete Nina. Sie konnte sich nicht beherrschen hinzuzufügen: »Wenn es auch eine Fachfrau sein darf?«

Er überging die Bemerkung, und sie ärgerte sich.

»Sehr gut. Jetzt würde ich Sie gern irgendwo absetzen. Ich habe den Eindruck, daß Sie immer noch benommen sind. Sehen Sie mir noch einmal gerade in die Augen.«

Nina hielt dem Blick aus seinen Augen, die jetzt von einem sanften Grau waren, nur wenige Augenblicke stand. Verwirrt wandte sie sich ab.

»Ich bin völlig wiederhergestellt«, versicherte sie ihm. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich.«

»Würden Sie dann ein Glas mit mir trinken, auf den Schrecken sozusagen?«

»Ich fürchte, Sie haben sich lange genug um mich gekümmert. Bitte entschuldigen Sie, daß ich vorhin so grob war, ich habe es nicht so gemeint. Aber jetzt habe ich eine Verabredung.«

»Wie Sie wollen«, sagte er mit leisem Bedauern. »Dann werde ich den Abend allein verbringen. Ich komme dann übermorgen, um den Schmuck wieder abzuholen.« Mit diesen Worten wandte er sich zur Tür.

Als die Glocke ging, fiel es Nina ein. »Moment, Sie brauchen eine Quittung.«

»Lassen Sie nur. Ich vertraue Ihnen.« Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch er besann sich eines anderen, verließ den Laden und stieg die zwei Stufen hinauf. Nina sah ihn einen Moment unschlüssig vor der Tür stehen, dann wandte er sich nach rechts, und sie schaute ihm nach, wie er durch die Hofeinfahrt verschwand. Sie war wütend auf sich selber. Warum hatte sie seine Einladung ausgeschlagen? Sie hätte ihn gern näher kennengelernt, der Mann interessierte sie. Verflixt, warum überlegte sie nie, bevor sie den Mund auftat?

Noch lange stand sie in ihrem kleinen Laden. Sie wußte nicht, was sie mehr verwirrte, dieser Mann oder das Medaillon. In einer plötzlichen Eingebung schloß sie ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Ihre Verabredung mit Martin hatte sie völlig vergessen. Es war ohnehin viel zu spät dafür geworden.

***

Eigentlich hatte sie es eilig. Sie nahm dennoch nicht die U-Bahn wie gewöhnlich, denn sie war so in Gedanken versunken, daß sie an der Haltestelle vorbeilief und ihren Fehler erst eine Straßenecke weiter bemerkte. Also konnte sie auch den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Zu Hause angekommen, ging sie zuerst ins Badezimmer, um sich die Beule anzusehen, die immer noch ziemlich schmerzte. Sie wurde zwar durch ihr Haar ein wenig verdeckt, aber wer genau hinschaute, würde sie nicht übersehen können. Sie schnitt eine Grimasse, dann ging sie in die Küche, um sich ein Glas Weißwein einzuschenken. Mit dem Glas in der Hand ließ sie sich in ihren knallroten Lieblingssessel im Wohnzimmer fallen, um sich auszuruhen und ihre innere Balance wiederzufinden. Den ganzen Heimweg hatte sie über Benjamin Turner und sein Medaillon nachgedacht, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Es war einfach zu absurd, daß ein wildfremder Amerikaner in ihren Laden kam, sie sich Hals über Kopf in ihn verknallte und daß er dann auch noch einen Anhänger auf ihren Tresen legte, dessen genaues Gegenstück sich in ihrem Besitz befand. Würde ihr jemand eine derart an den Haaren herbeigezogene Geschichte auftischen, sie würde ihn für verrückt erklären. Sie stand auf und schaltete den Fernseher an, zappte durch die Programme, ohne daß etwas ihre Aufmerksamkeit fesseln konnte. Sie holte sich ein neues Glas Wein und blätterte in dem Stapel Magazine, der auf dem Tisch vor ihr lag. Aber sie bemühte sich vergeblich, die Angelegenheit aus ihrem Kopf zu verdrängen; schließlich konnte sie ihre Ungeduld nicht länger zügeln und stand so hastig auf, daß der Wein aus dem Glas schwappte.

In der hinteren Ecke eines der Fächer ihres alten Sekretärs fand sie, was sie suchte. Sie hatte ganz vergessen, wie zierlich das Kästchen war, eine russische Holzarbeit mit mehrfarbigen Intarsien auf dem Deckel, die eine Allee zeigten, welche auf eine Art Landhaus zuführte. Ihr Vater hatte ihr die Schatulle zum achtzehnten Geburtstag geschenkt, seitdem war sie ihr wohl nur ein- oder zweimal zufällig in die Hände geraten, als sie nach etwas ganz anderem gesucht hatte. Als sie den Deckel öffnete, lag vor ihr ein Medaillon mit einem blauen Stein. Es sah aus wie der Zwilling des Steins, den Benjamin Turner ihr vor einer Stunde anvertraut hatte.

Selbstverständlich konnten zwei natürliche Steine nie absolut identisch sein, es gab immer Unterschiede in der Farbgebung oder durch haarfeine Einschlüsse. Aber diese beiden Medaillons gehörten zusammen, der geflochtene Rahmen, der Aufhänger, alles war identisch. Wieder spürte Nina, wie das seltsame Leuchten des Steins sie gefangen nahm. Als sie den Saphir in die Hand nahm, fühlte sie seine beruhigende Kühle und Glätte.

Sie drehte das Medaillon herum. Auf der rechten Seite, dort, wo auf einem Zifferblatt die Drei gewesen wäre, sah sie das Ornament, eine winzige Faust, die um das Amulett herumzugreifen schien und deren Mittelfinger leicht vorgeschoben war. Sie drückte den kleinen Knopf an der rechten Seite, bei einer Uhr wäre er der Knopf zum Verstellen der Zeit gewesen. Dieser Knopf aktivierte eine Feder, die den Mittelfinger der Hand aufschnappen ließ. Der Deckel sprang sofort leicht und mit einem kaum hörbaren surrenden Geräusch auf. Er gab das Brustporträt eines Mannes frei.

Der Mann trug einen Anzug, wie er vor dem Krieg modern gewesen war, wirkte aber etwas steif darin, so als ob er nicht daran gewöhnt war, ein solches Kleidungsstück zu tragen. Das hervorstechendste Merkmal in seinem Gesicht waren die Augen. In ihnen war etwas, das Nina wie magisch anzog. Sie waren leicht zusammengekniffen, er mußte offensichtlich gegen die Sonne schauen. Der Mund war ernst, das ganze Gesicht wirkte angespannt, aber es lag auch eine gewisse Zärtlichkeit in seinem Blick, die dem Fotografen zu gelten schien. In seinem Rücken war ein Gewässer auszumachen, ein großer See oder das Meer. Das Foto war keine Spur vergilbt, obwohl es schon vor Jahrzehnten aufgenommen worden sein mußte. Auf der Innenseite des Deckels stand eine kyrillische Inschrift, die Nina nicht lesen konnte.

***

Noch lange nachdem sie ins Bett gegangen war, konnte Nina keinen Schlaf finden. Längst vergangene Bilder tauchten wieder auf.

Jonas Fischer, ihr Vater, ein verträumter Mathematiker in einer großen Münchner Firma. Sie kannte ihn zuwenig, um zu wissen, was ihre Mutter damals zu ihm hingezogen hatte. Auf jeden Fall nicht genug, um ihn zu heiraten, als sie schwanger wurde. Und nicht genug, um mehr als einige Jahre bei ihm zu bleiben. Irgendwann war er aus Ninas Leben verschwunden, bis auf eine Postkarte zu Weihnachten und zum Geburtstag. Und an ihrem achtzehnten Geburtstag hatte er plötzlich vor ihrer Tür gestanden, linkisch und nicht wissend, was er sagen sollte. Sie hatte Gäste gehabt, und er paßte nicht in diese Gesellschaft. Als er schließlich wieder gegangen war, hatte er ihr das Holzkästchen gegeben. »Ich habe es kürzlich in einem alten Koffer gefunden, der damals irgendwie mit nach München gekommen ist. Es hat deiner Mutter gehört, und ich dachte, du solltest es haben.« Er hatte vermutet, daß der Anhänger eines der wenigen Stücke war, die aus dem ehemals großen Besitz der Familie übriggeblieben waren. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen, und Nina hatte sich damit zufriedengegeben. Es hatte sie nicht weiter interessiert.

Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie achtzehn war. Damals, kurz nach dem Abitur, hatte sie von ihrer Familie nichts wissen, geschweige denn ihren alten Schmuck tragen wollen. Ihre Mutter war gestorben, als sie sieben war, ihr chaotischer Vater hatte kein Interesse an ihr, und die einzige Verwandte, die sich um sie kümmerte, ihre Großmutter, erschien ihr so unendlich alt und konservativ, daß sie sich manchmal für sie schämte. Sie hatte das Kästchen in irgendeine Ecke getan und über die Jahre vergessen.

Doch nun waren die Geister der Vergangenheit mit Macht zurückgekehrt. Nina knipste das Licht wieder an, um noch einen Blick auf das Porträt zu werfen. Sie fragte sich, wer der gutaussehende Mann sein mochte und was er mit ihr zu tun hatte. Wie kam sein Abbild in ein Schmuckstück, das der Familie gehörte? Vom Alter her hätte er ihr Großvater sein können, den Nina nicht mehr kennengelernt hatte. Er war irgendwie während des Krieges gestorben, wahrscheinlich gefallen, so genau wußte Nina das nicht. Aber sie hatte Fotos von ihm gesehen, und er ähnelte dem Mann von dem Porträt überhaupt nicht.

Was weiß ich eigentlich über meine Herkunft und meine Vorfahren? dachte sie. Gar nichts oder nur sehr wenig. An meine Mutter kann ich mich nur noch schwach erinnern, ich weiß nicht einmal, ob die Dinge, die ich von ihr in Erinnerung habe, wahr sind oder ob sie mir später so erzählt wurden. Meinen Vater habe ich seit ihrem Tod höchstens einmal im Jahr gesehen, weil er sich nicht um mich kümmern konnte oder wollte. Geschwister, Tanten oder andere Verwandte habe ich nicht. Eigentlich besteht meine Familie nur aus Natascha, und auch von ihrer Vergangenheit weiß ich so gut wie nichts.

Am meisten bewegte sie aber die Frage, wie ein Fremder aus Amerika an das genaue Gegenstück dieses Medaillons gekommen war und was ihn ausgerechnet zu ihr trieb. Und wessen Porträt verbarg sich wohl in seinem Exemplar? Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt Natascha, ihrer russischen Großmutter. Wenn überhaupt jemand Antworten auf Ninas Fragen hatte, dann sie.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen erwachte Nina früher als gewöhnlich. Noch bevor sie die Augen aufschlug, standen die Fragen wieder vor ihr, mit denen sie am Abend schlafen gegangen war, und sie hatte das Gefühl, als hätten sie sich auch in ihre Träume gedrängt. Ein unangenehmes Bild aus der Nacht kehrte zurück: Sie stand an einer Wegscheide. Der eine der beiden Wege führte hoch an einer grünbewachsenen Steilklippe entlang, der andere verlor sich in sanften Windungen hinter einem Hügel. Benjamin kam auf einem Motorrad hinter ihr her und forderte sie auf, sich für einen der beiden Wege zu entscheiden. Sie spürte noch deutlich das Gefühl aus ihrem Traum: Es war ungeheuer wichtig für ihr weiteres Leben, daß sie den richtigen Weg wählte, und verzweifelt lief sie mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung, weil sie nicht wußte, wohin sie sollte.

Kurz entschlossen sprang sie aus dem Bett; sie wußte, sie würde ohnehin nicht wieder einschlafen können. Wenn sie die Erinnerung an den unangenehmen Traum verscheuchen wollte, dann mußte sie sofort den Tag beginnen. Sie sah auf ihre Armbanduhr und beschloß, jetzt gleich Natascha aufzusuchen. Sie hatte noch Zeit, bevor sie den Laden öffnen mußte, und wenn sie ein wenig zu spät kam, machte das auch nichts. Touristen waren Langschläfer. Rasch zog sie eine Jeans und den neuen kamelhaarfarbenen Pullover an, den sie vor einigen Tagen gekauft hatte, schon in Erwartung des Herbstes, der vor der Tür stand. Wahrscheinlich würde ihr am Nachmittag zu warm darin werden, aber sie hatte das Bedürfnis, sich zurechtzumachen. Vor dem Spiegel im Bad band sie das blonde Haar locker im Nacken zusammen und zupfte einige Haarsträhnen in die Stirn, auf der ein purpurner Fleck prangte. Den Versuch, ihn mit Puder abzudecken, gab sie gleich wieder auf, denn die leichteste Berührung bereitete ihr Schmerzen. Leise fluchend ging sie ins Wohnzimmer.

Sie rief ihre Großmutter an, um zu sagen, daß sie vorbeikäme, dann verließ sie das Haus.

Ihr gegenüber in der U-Bahn nahm ein Ehepaar mittleren Alters Platz. Wortlos saßen sie nebeneinander, bemüht, sich nicht zu berühren. Einmal rutschte der Mann auf dem Sitz hin und her und setzte sich versehentlich auf den Schoß des Jacketts seiner Frau. Unwirsch stieß sie ihn daraufhin in die Seite. Er erhob sich wortlos gerade so weit, daß sie das Kleidungsstück unter ihm hervorziehen konnte. Dann sahen beide mürrisch vor sich hin, bis er am Nollendorfplatz ausstieg. Wieder ohne ein Wort.

Nina machte die Szene traurig. Warum taten sie sich das an? Es sah nicht so aus, als hätten sie sich nur gerade leidenschaftlich gestritten und freuten sich bereits auf die Versöhnung, die am Abend stattfinden würde, vielleicht in ihrem Lieblingsrestaurant oder zu Hause bei Champagner und Rosen. Schweigen und gegenseitige Abneigung schienen zwischen ihnen an der Tagesordnung zu sein.

Nina mußte an Martin denken. Meine Güte, sie hatte ihn am Vorabend versetzt und ihn bisher nicht einmal angerufen, um sich zu entschuldigen. Jetzt würde er mit Recht schmollen, und sie würde sich viel Mühe geben müssen, um ihn wieder zu besänftigen. Martin konnte sehr nachtragend sein. Eigentlich sahen sie sich gar nicht so häufig in der letzten Zeit, mit dem wachsenden Erfolg seiner Kanzlei hatte er jetzt oft auch abends Termine mit Klienten. Und doch nahm er sich das Recht heraus, eifersüchtig zu sein, wenn sie ohne ihn ausging. Er mochte Malou, ihre beste Freundin, nicht. Er hätte es zwar nie zugegeben, aber im Grunde war es ihm ein Dorn im Auge, daß sie ihre Goldschmiede eröffnet hatte. Mehr als alles andere störte ihn jedoch ihre hartnäckige Weigerung, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen.

»Wir sind jetzt sieben Jahre zusammen, so langsam solltest du wissen, was du eigentlich willst. Außerdem wäre es doch auch finanziell wesentlich günstiger für uns beide.« »Finanziell«, das war so ziemlich alles, an das Martin denken konnte, seitdem er mit seiner Kanzlei richtig Geld verdiente.

»Ich liebe meine Wohnung nun mal, sie ist nah am Atelier, aber für zwei einfach zu klein«, versuchte sie sich herauszureden.

»Ach was! Ich habe manchmal das Gefühl, du liebst mich nicht mehr richtig, sonst müßtest doch auch du den Wunsch haben, daß wir morgens zusammen aufwachen.«

Morgens gemeinsam aufzuwachen konnte sie sich ja gerade noch vorstellen. Aber sie wußte, daß Martin eigentlich meinte, daß sie Abend für Abend auf ihn wartete, wenn er aus dem Büro kam, ein Abendessen vorbereitet hatte, an seinen Lippen hing, um sich anzuhören, womit er seinen anstrengenden Tag verbracht hatte. Der Höhepunkt dieser Abende in trauter Zweisamkeit wäre dann ein Liebesfilm im Fernsehen. Nina wollte ein solches Leben nicht, das wurde ihr beim Anblick der mürrischen Frau, die ihr gegenübersaß, auf einmal deutlich. Und was wäre eigentlich zwischen dem Liebesfilm und dem gemeinsamen Aufwachen? Verblüfft und ein wenig beschämt stellte sie fest, daß sie schon seit einigen Monaten nicht mehr miteinander geschlafen hatten, und noch mehr verbitterte sie, daß sie Sex während der ganzen Zeit nicht einmal vermißt hatte. Wenn Martin sie nach einem gemeinsamen Abend vor ihrer Haustür küßte und fragte, ob er mit raufkommen dürfe, erfand sie jedesmal eine andere Ausrede, weil sie einfach keine Lust auf ihn hatte. Und er reagierte auch nicht gerade übermäßig frustriert auf ihre Ablehnung, das mußte sie zugeben. Doch sah so eine Beziehung mit Zukunft aus?

War es möglich, daß der Traum der vergangenen Nacht sie zu diesen Gedanken getrieben hatte? Nina spürte in sich das sichere Gefühl, daß die Begegnung mit Benjamin ihr vertrautes Leben erschüttert hatte. Sie stand vor einer wichtigen Entscheidung. Genau wie in ihrem Traum.

***

»Ja, ich komme ja schon. Meine Güte, was ist denn los mit dir? Du hast schon am Telefon so aufgeregt geklungen. Hast du im Lotto gewonnen oder Robert Redford in der U-Bahn getroffen?«

Natascha Kolzin, Natascha Maximilianowna Kolzin mit ihrem russischen Vatersnamen, zog ihre Enkelin energisch in die Wohnung und bugsierte sie in einen der beiden wuchtigen grün-gold gepolsterten Ohrensessel, die den Mittelpunkt des Wohnzimmers bildeten.

»Ich mache jetzt erst mal einen guten Tee, während du dich wieder beruhigst. Und dann möchte ich einen ausführlichen Bericht. Hoffentlich lohnt sich die ganze Aufregung auch.«

Nina war wirklich ganz außer Atem. Sie war so rasch die zwei Treppen hinaufgestürmt, daß ihre Stirn wieder zu schmerzen begonnen hatte. Dankbar lehnte sie sich zurück und nahm die altmodische Atmosphäre des Zimmers in sich auf, das mit merkwürdigem Nippes und Dingen, die heute niemand mehr benutzte, vollgestellt war. Im Leben ihrer Großmutter hatten sich Erinnerungsstücke aus vieler Herren Länder angesammelt, die wie ein Spiegel des Jahrhunderts waren. Auf und hinter den Glastüren einer riesigen Mahagoni-Anrichte mit abgerundeten Seitenschränken, für die man heute ein Vermögen hergeben müßte und für die die meisten modernen Wohnungen ohnehin zu klein waren, standen einzelne Kristallgläser und -karaffen in allen Farben und Schliffen neben gerahmten Fotos und Postkarten, vergilbte Schleifen und Tanzkarten lagen neben silbernen Gebäckhebern. Eine kleine russische Bibliothek, darunter wertvolle Ausgaben von Tolstois Anna Karenina und Puschkins Eugen Onegin, stand neben einem Stapel großformatiger Modezeitschriften aus dem Paris der zwanziger und dreißiger Jahre. Was sich in den kleinen und größeren, mit Seide bespannten Kästchen befand, die sorgfältig nach ihrer Größe sortiert aufeinandergestapelt waren, konnte Nina nicht sagen. Wahrscheinlich alte Briefe, Restaurantquittungen, Eintrittskarten und Streichholzbriefchen. Am Fenster stand eine alte Tischnähmaschine tschechischer Fabrikation mit einem unaussprechlichen, langen Namen. Als Kind hatte sie ihn oft vor sich hin gesungen, jetzt jedoch längst vergessen, wie sie überrascht und traurig feststellte. Den Samowar hatte sie früher immer poliert, bis er in der Sonne glänzte, wenn sie auf das kleine Tischchen fiel, das neben dem alten, knarzenden Ledersofa stand. Über allem schwebte ein leichter Duft von Bergamotte, der zu Natascha gehörte, solange Nina sie kannte.

Das Leben ihrer Großmutter mußte wechselvoll gewesen sein, aber sie wußte nur sehr wenig darüber. Wie geheimnisvoll war dieses Zimmer mit seinen ihr verborgenen Erinnerungen, wie üppig und farbenreich im Gegensatz zu ihrer eigenen schlichten, mit wenigen Möbeln eingerichteten Wohnung.

»So, hier kommt der Tee, und nun erzählst du mir, was eigentlich los ist.« Mit diesen Worten betrat Natascha den Raum, vor sich ein Tablett mit einer Teekanne, Tassen und gebuttertem Toast.

Ihre Großmutter machte auf Nina immer den Eindruck einer großen Dame. Mit ihren über neunzig Jahren war sie hochgewachsen und schlank, ohne die Hagerkeit vieler älterer Frauen zu haben. Natascha kleidete sich mit Sorgfalt, auch wenn ihre Kostüme nicht der letzten Mode entsprachen. Dafür waren die Stoffe und die Verarbeitung von ausgesuchter Qualität, denn sie hatte sie selber entworfen und genäht. Ihren Beruf als Modeschneiderin hatte sie längst aufgegeben, aber Nina erinnerte sich wehmütig an die langen gemütlichen Nachmittage, als sie neben der Großmutter und der ratternden Nähmaschine saß und Puppenkleider nähte. Natascha hatte niemals zu ihr solche dummen Sprüche gesagt wie »Langes Fädchen, faules Mädchen«, die sie sich in der Schule von der Handarbeitslehrerin hatte anhören müssen, und hier durfte sie auch schrille Phantasiekleider für ihre Puppen nähen, die in der Schule verboten waren.

Mit einem leisen Klirren stellte Natascha das Tablett auf den Tisch und kontrollierte mit der rechten Hand den Sitz ihrer Frisur. Nina hatte das Haar der Großmutter immer besonders geliebt, das weich und in leichten Wellen ihren Kopf umrahmte und im Nacken zu einem großen sanften Knoten geschlungen war. Es hatte lange so ausgesehen, als würde ihr Haar bis zuletzt das dunkle Blond behalten, doch in den letzten Jahren hatten sich dann doch immer dichtere graue Strähnen hineingemogelt und so einen interessanten Kontrast geschaffen. Trotz ihres hohen Alters besaß Natascha einen wachen Verstand, und ihre dunkelgrauen Augen blickten aufmerksam und interessiert.

Mit einem unnachahmlichen Schwung, bei dem der Tee zwischen Ausgießer und Tasse einer kühnen, beinahe dramatischen Linie folgte, goß Natascha das heiße Getränk aus der alten Kanne in das fast durchsichtige Porzellan. Bei dem Versuch, dieses Kunststück nachzumachen, hatte Nina bereits zwei Tassen zerbrochen, und von da an hatte sie es sein lassen. Natascha setzte sich ihr gegenüber in den zweiten grünen Sessel und sah sie erwartungsvoll an.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Nina. »Mir ist gestern abend etwas passiert, was mich ganz durcheinanderbringt. Ich habe darüber sogar meine Verabredung mit Martin vergessen, und er wird bestimmt wütend auf mich sein. Und dann muß ich ständig an unsere Familie denken und daß ich im Grunde nichts über uns weiß, und an dieses Schmuckstück ...«

»Na, dann weiß ich ja jetzt Bescheid«, fiel ihr Natascha ins Wort.

Nina sah ihr amüsiertes Lächeln und hob hilflos die Arme.

»Entschuldige bitte, aber ich habe so viel gegrübelt, daß ich schon gar nicht mehr weiß, was ich daherrede. Also, da ist gestern dieser Mann in meinen Laden gekommen, ein Amerikaner ...«

Dann begann sie zu erzählen, wie sie Benjamin Turner kennengelernt hatte.

»Weißt du, es hat so viel Spaß gemacht, mit ihm zu reden. Ich habe in der kurzen Zeit mit ihm mehr gelacht und gefühlt als mit Martin während eines ganzen Abends. Mir ist aufgefallen, daß ich ohnehin fast nie mit anderen Männern rede, es sei denn, du zählst den Mann an der Fleischtheke im Supermarkt oder den Postboten dazu. Ich habe mich gestern abend total ungeschickt angestellt, wie ein kleines Mädchen. Martin ist der einzige Mann, mit dem ich ausgehe, und wir kennen uns schon seit einer Ewigkeit.«

»Du weißt, ich halte Martin für einen netten jungen Mann, aber daß er mich langweilt, habe ich dir nie verschwiegen. Du bist jung, und du hast ein Recht auf Liebe ...«, sie beugte sich verschwörerisch vor, »ich meine wirkliche Liebe und keine lauwarme Zuneigung, gemischt mit einer gehörigen Portion Gewöhnung und der Angst vor Veränderung. So wie du deine Reaktion auf diesen Benjamin beschreibst, hört es sich für mich so an, als hättest du dich schwer verliebt«, schloß Natascha triumphierend.

»Verliebt? Wie kommst du denn darauf? Ich habe lediglich gesagt, daß ich Mühe hatte, mit einem Mann, den ich zufällig getroffen habe, eine einigermaßen geistreiche Unterhaltung zu führen«, brauste Nina auf.

»Genau«, antwortete Natascha verschmitzt, »genau das passiert, wenn man sich verliebt. Aber woher solltest du das auch wissen. Deine Erfahrungen beschränken sich ja auf deinen Don Juan von Martin.«

Auch Nina mußte ungewollt lächeln. Als einen Don Juan konnte man Martin wirklich nicht bezeichnen. Seit sie sich vor sieben Jahren auf der Party einer gemeinsamen Freundin begegnet waren – er hatte gerade sein zweites Staatsexamen als Jurist mit Auszeichnung bestanden, sie war, nach einem abgebrochenen Studium der Kunstgeschichte, mitten in der Ausbildung zur Goldschmiedin –, hing er an ihr, war wie ein treuer Hund immer zur Stelle, wenn sie jemanden brauchte, um die Waschmaschine zu reparieren oder sich auszuheulen. Seine hartnäckige Anhänglichkeit hatte ihr imponiert. Martin war lieb und zuverlässig, aber ein Prickeln war zwischen ihnen nie aufgekommen. Er war stillschweigend davon ausgegangen, daß sie eines Tages heiraten und eine Familie gründen würden. Als Nina dann aber ihren Laden aufgemacht hatte und sich nicht zur Heirat, noch nicht einmal zur gemeinsamen Wohnung entschließen konnte, hatte sich ihr Verhältnis zunehmend abgekühlt. Fast jedesmal, wenn sie sich sahen, brachte er das Gespräch auf ihre gemeinsame Zukunft, Nina wich aus, Martin verlangte eine Erklärung, die sie ihm nicht geben konnte, und wurde am Ende wütend. Nina wollte es vor sich selber nicht zugeben, aber sie hatte Angst vor einer Ehe mit Martin, gleichzeitig fürchtete sie sich aber auch davor, sich von ihm zu trennen. Zerknirscht mußte sie zugeben, daß es stimmte, was Natascha von der Bequemlichkeit und der Gewöhnung gesagt hatte. Zu diesem Gefühl der Zerknirschung kam ein schlechtes Gewissen gegenüber Martin. Daß sie ihn so hinhielt, hatte er nicht verdient.

Seit dem gestrigen Abend jedoch, seit ihrer Begegnung mit Benjamin Turner, glaubte sie zu ahnen, daß es Männer gab, die im Leben einer Frau alles verändern konnten. Aber sie war noch nicht bereit, dieser Ahnung zu vertrauen. Mein Gott, sie hatte diesen Amerikaner nur kurz gesehen, und er würde Berlin sowieso wieder verlassen! Der Gedanke versetzte ihr einen Stich in der Herzgegend.

Natascha riß sie aus ihren Gedanken.

»Weißt du, was vor langer Zeit, noch vor dem Zweiten Weltkrieg, einmal jemand zu mir gesagt hat? Ich wüßte gar nicht, daß es so etwas wie wahre Liebe gibt. Und dabei war ich damals schon lange verheiratet! Ich bin unglaublich wütend geworden und fühlte mich gedemütigt. Aber einige Jahre später wußte ich, daß Olga recht gehabt hatte.«

»Olga? Welche Olga? Du hast mir nie von ihr erzählt.«

»Oh, habe ich das tatsächlich nie getan? Nun, sie war die beste Freundin, die ich je im Leben hatte, eine wunderschöne, gescheite Frau, die nach Paris gekommen war, um dort reich und berühmt zu werden. Sie ist schon lange tot.«

Beide saßen für einen Moment stumm da und hingen ihren Gedanken nach. Dann nahm Natascha einen Schluck Tee und fragte:

»Aber wolltest du mir nicht noch etwas anderes erzählen? Irgendwas mit einem Schmuckstück? Hat das auch mit diesem Amerikaner zu tun?«

»Ja, hat es, und jetzt wird es richtig merkwürdig. Benjamin hat mir nämlich ein Medaillon zum Überholen gegeben, und du wirst es nicht glauben, aber ich habe das gleiche Schmuckstück von meinem Vater zu meinem achtzehnten Geburtstag bekommen. Kannst du dir das vorstellen? Du kennst ja Jonas, er hat kaum einen Sinn für Schönheit, und ich habe ihn gefragt, wie er an so außergewöhnlichen Schmuck gekommen ist, und er hat mir geantwortet, daß er ihn in irgendeinem alten Koffer gefunden hat. Er meinte, daß er Mama gehört hat. Woher sie ihn hatte, wußte er aber nicht. Ich hatte diesen Anhänger völlig vergessen, aber als Benjamin gestern mit dem Gegenstück in meinen Laden kam, habe ich mich erinnert, und da kam mir die Idee, ob du vielleicht etwas darüber weißt. Es ist ein ziemlich wertvolles Stück, ein blauer Stein, ein Saphir, in Gold gerahmt, und innen trägt es das Porträt eines Mannes ...«

Natascha hatte anfangs interessiert zugehört, im Laufe von Ninas Erzählung hatte sie sich jedoch vorgebeugt und die Augen zusammengekniffen, wie sie es immer tat, wenn sie angestrengt nachdachte. Jetzt schnappte sie hörbar nach Luft, und Nina sah, daß alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Rasch fragte sie: »Hast du es dabei?«

»Ja, ich wollte es dir doch zeigen.« Nina holte das kleine Holzkästchen hervor. »Hier, dies ist das Exemplar, das ich von Jonas habe. Den anderen Anhänger habe ich im Tresor im Laden.«

Natascha riß ihr das Kästchen förmlich aus der Hand. Ihre Hände zitterten vor Erregung, als sie es öffnete und den blauen Stein herausnahm. Lange hielt sie ihn in der Hand, dann, nach einem Zögern, so als müßte sie sich sammeln oder sich Mut zusprechen, drehte sie ihn um und drückte auf den kleinen Knopf, um das Porträt zu betrachten.

»Du kennst das Medaillon«, sagte Nina verblüfft.

Und dann sah sie, wie sich Tränen in Nataschas Augen sammelten und über die zarten Wangen liefen. Natascha wischte sie nicht ab, sie saß nur still da, und ihr Blick war in die Ferne gerichtet. »Wie ist das möglich nach so vielen Jahren ... ich hatte dich für immer verloren geglaubt. Mischa ...«

Nina traute ihren Augen nicht. Ihre Großmutter hatte nie große Gefühle gezeigt. Ihre beinahe aristokratische Gefaßtheit hatte sie oft verletzt, als sie noch ein Kind gewesen war. Wenn sie damals völlig aufgelöst zu ihr gekommen war, um sich über eine Ungerechtigkeit zu beklagen, die ihr widerfahren war, dann hatte Natascha meistens unwirsch abgewinkt. »Mädchen, stell dich nicht so an«, hatte sie zu ihr gesagt. Und Nina hatte lange gebraucht, um zu erkennen, daß sich dahinter keine Gefühllosigkeit verbarg, sondern eine Art Ergebenheit in die kleinen Schicksalsschläge des Lebens. Natascha nahm sich nicht wichtig genug, um über die Widrigkeiten des Daseins zu klagen.

Und nun weinte sie! Nina ging zu ihr hinüber und legte zärtlich den Arm um sie. »Bascha, was ist denn los? Bitte sprich mit mir.« Bascha, so nannte sie Natascha, wenn sie es besonders zärtlich meinte. Es war beinahe der einzige russische Ausdruck, an den sie sich noch aus ihrer Kindheit erinnern konnte, eine Verschmelzung von Babuschka, Großmutter, und Natascha.

Natascha sah mit einem tränenverschwommenen Lächeln zu ihr hoch, holte dann umständlich ein spitzenbesetztes Taschentuch aus ihrer Jackentasche und putzte sich ausgiebig die Nase. Danach schien sie sich etwas gefaßt zu haben.