Kapitel 9

Russ hatte in dieser Nacht wieder seinen Lamar-Pye-Traum gehabt. Wie gewöhnlich fing er ganz friedlich an. Er saß in einem Popeye’s-Schnellrestaurant, futterte fettiges Hühnchen mit roten Bohnen, und Lamar kam herein, riesengroß und ausgesprochen freundlich. Die Tatsache, dass er Lamar selbst nie gesehen hatte, sondern nur Fotos von ihm, gab Russ’ Unterbewusstsein die Freiheit, interessante Details für ihn zu erfinden. Heute Nacht beispielsweise trug Lamar ein Clownskostüm mit einem hellroten Tischtennisball als Nase. Seine Zähne wirkten glatt und blitzblank. Er strahlte Macht und Ruhm aus.

Als er Russ dort sitzen sah, kam Lamar herüber und fragte: »Bist du ein scharfer Typ oder ein gewöhnlicher Typ?«

Das schien die zentrale Frage zu sein. Ein weiterer Test. Russ wusste, dass er ihn nicht bestand.

Tapfer antwortete er: »Ich bin ein scharfer Typ.«

Lamars gemeine, aber clevere Augen blickten in seine, zusammengekniffen vor lauter intellektueller Anstrengung. Er musterte Russ von oben bis unten, dann meinte er: »Was du nicht sagst, Junge.«

»Nein, es ist wahr«, behauptete Russ, bevor ihm die Lüge im Hals stecken bleiben konnte. »Wirklich, ich bin scharf. Bin mein Leben lang scharf gewesen.«

Hinter Lamars Clownschminke flackerte eine Wut auf, die einem Rhinozeros alle Ehre gemacht hätte. Sein Verlangen, brutal zuzuschlagen, offenbarte sich in der Verkleinerung seiner Pupillen auf die Größe von Stecknadelköpfen, doch er schaffte es, sich zu beherrschen.

»Ich sage, du bist gewöhnlich, und ich sage: zur Hölle damit.« Nur dass er es wie ›gewöhnch‹ aussprach, mit zwei Silben.

Russ ging vor Lamars Kraft in die Knie. Lamar war riesig und stark und wissend und entscheidungskräftig. Kein Zweifel brachte ihn aus dem Tritt, keine Reue wühlte ihn auf. Definitiv einer von der scharfen Sorte.

»In Ordnung«, lenkte er schließlich ein, »wir werden ja sehen, was für ein Typ du bist.«

Mit einem magischen Wink seiner Hand brachte der Clowngott Lamar das Popeye’s zum Verschwinden. Stattdessen standen die beiden nun im Vorgarten von Russ’ Elternhaus in Lawton, Oklahoma. Ein kleines Ranchhaus auf einem schönen Stück Land, ein abgewohntes Gebäude, in dem Russ und sein Bruder bei ihren Eltern eine sichere, liebevolle Kindheit verbracht hatten. Anhand des Rauchs, der sich über dem Schornstein kräuselte – obwohl in seinem Traum Hochsommer herrschte – erkannte Russ, dass die Familie zu Hause sein musste. Allein durch den Willen Lamars verfügte er im nächsten Moment über eine trashige Art von Röntgenblick, als ob er durch die gute, alte, unsichtbare vierte Wand in ein Haus blickte, das auf einer Bühne stand.

Sein Bruder Jeff stand in seinem Zimmer und schnürte einen Baseball-Handschuh mit einer Hingabe, die ein anderer Junge eher darauf verwendet hätte, sich einen runterzuholen. Doch Jeff zählte nicht zu dieser Sorte. Jeff widmete sich der Sache mit Herz und Seele, strengte sich an, den Sitz des Handschuhs genau richtig hinzubekommen, biegsam, elastisch, locker, aber nicht zu locker. Das gehörte zu den zentralen Herausforderungen seines Lebens.

In der Küche plagten sich Russ und Jeffs Mama Jen, eine hübsche, doch ein wenig stämmige Frau Anfang 50, über einer heißen Herdplatte ab. Mom kochte die ganze Zeit. In seinen Augen war seine Mutter so etwas wie eine Köchin für die ganze Welt. So hatte er sie immer vor Augen – sie schlug alle Aussichten auf Glück und Freiheit in den Wind und verbrachte ihre Zeit stattdessen in der Küche, vertiefte sich in dieses oder jenes Gericht, bereitete raffinierte Abendessen zu und ließ nie auch nur eine Spur von Enttäuschung oder Verzweiflung, Wut oder Groll erkennen. Sie opferte sich für ihre Familie auf.

Unten machte sein Daddy irgendetwas mit einem Gewehr. Sein Vater machte immer irgendetwas mit Gewehren. Er trug seine Polizeiuniform und war ganz in seine eigene Welt versunken, so wie meistens; er werkelte einfach vor sich hin. Bei ihm befand sich eine junge Frau, nackt. Sie sah ihn an und bat ihn, sich zu beeilen, bitte, verdammt noch mal. Sie hatte das Warten satt, und er sagte immer bloß: »Sobald ich diesen Bolzen hier eingeölt habe, können wir abhauen.«

Schließlich sah Russ wieder das Obergeschoss vor sich, und da saß er selbst: ein ernster Junge, der wie üblich nichts anderes tat, außer zu lesen. Mit 15 Jahren hatte er bereits alles gelesen, das es zu lesen gab, schon zum zweiten Mal. Er las wie ein Verrückter, saugte den Inhalt der Bücher förmlich in sich auf, versuchte, daraus zu lernen. Er besaß eine außergewöhnliche Begabung für das geschriebene Wort, aus der, nachdem er seinen Lesestoff mehr schlecht als recht verdaut hatte, sein eigenes, krudes Schreibtalent hervorging. Er schrieb nicht sehr gewandt, hatte dafür aber ein großes Vorstellungsvermögen und genug Zweifel, um mit ihnen ein Schiff zu versenken.

Warum feilte er bloß so hart an diesem Talent? Um Oklahoma zu entkommen? Hielt er sich auf irgendeine Weise für zu gut für Oklahoma, für dieses kleine Leben voller heimeliger Plattitüden, kleiner Betrügereien und leicht zugänglicher Freuden? Er, Russ, hielt sich für zu gut dafür? Verdiente er so wundervolle Dinge in seinem Leben? Verdiente er den Osten, helle Lichter, Berühmtheit, Verehrung? Kein Kleinstadtblues für ihn, oh nein.

»Hör mal, das ist doch nicht gesund«, meinte Lamar. »Hockst bloß da oben rum. Du solltest rausgehen und was unternehmen.«

»Mein Bruder ist die Sportskanone«, erwiderte Russ. »Ich hatte was im Kopf. Und das wollte ich nicht verschwenden.«

»Na ja, hier ist das Angebot«, sagte Lamar. Wie aus dem Nichts zog er eine Kettensäge hervor und riss mit einer dramatischen Bewegung am Starterseil. Das Werkzeug erwachte ratternd zum Leben und erfüllte die Luft mit seinem hohen, kreischenden Lärm. »Das Angebot ist, ich geh da rein und bring all diese Leute um. Du gehst und stellst dich dort neben diesen Baum. Ich werd mir deinen armseligen, kleinen Arsch vorknöpfen, wenn ich wieder rauskomme.«

»Bitte tun Sie das nicht«, bat Russ.

»Oh, und wer soll mich davon abhalten?«

»Mein Dad wird Sie aufhalten.«

»Dein Dad. Alles, was diesem alten Bastard was bedeutet, ist dieses Mädchen, mit dem er ficken kann, und seine Gewehre. Du oder deine Mutter, ihr seid ihm egal.«

»Nein, er wird Sie aufhalten. Sie werden sehen. Er ist ein Held.«

»Er ist kein Held, Söhnchen. Pass gut auf.«

Und so ging Lamar ins Haus und beging eine Gräueltat. Tatsächlich handelte es sich um eine Kopie einiger solcher Szenen, die Russ auf der Leinwand gesehen hatte, daher spielte es sich auch nach den Regeln dieser Filme ab. Lamar trat die Tür ein. Die junge Frau schrie auf. Russ’ Dad griff nach seiner Waffe, doch diesmal reagierte Lamar zu schnell für ihn. Die Säge fraß sich durch beide hindurch und sie gingen zu Boden. Hinter jedem von ihnen erblühte ein Blutspritzer an der Wand wie eine rote Rose, die sich in der Sonne öffnete, ästhetisch perfekt, ein Zeichen für die Hingabe eines äußerst talentierten Art Directors.

»Siehst du«, rief Lamar zurück, »war gar nicht schwer.«

Er stieg die Treppe hinauf. Jen sah ihn an und sagte: »Tun Sie meinen Jungen nicht weh. Bitte.«

»Lady, ich tue jedem weh«, klärte Lamar sie lakonisch auf, einen Moment, bevor er mit der Säge nach ihr ausholte. Er trieb sie rückwärts gegen den Kühlschrank, der so präpariert war, dass er umstürzte, als sie in die Marmeladengläser, Kartons und Dosen krachte. Sie starb in blutiger Pracht inmitten eines Sammelsuriums brillant ausgefeilter Lebensmitteleffekte. Die mahlende Säge ließ Senf, Ketchup und Cola in alle Richtungen fliegen.

Jeff, der ein Held war, hörte den Lärm, nahm einen Baseballschläger und kam angerannt. Doch nur mit einem Schläger und Heldenmut kam man nicht gegen eine Kettensäge an, ausgeschlossen. Lamar erwischte Jeff auf der Treppe und die Kamera, der es am liebsten ist, wenn die Jungen und Zarten zugrunde gehen, zoomte nahe an das Gesicht des armen Jungen heran, mit seinem eigenen Blut befleckt, während das Leben aus seinen Augen wich und lediglich Leere zurückblieb. Jetzt blieb nur noch Russ übrig, der irgendetwas Stumpfsinniges und Bedeutungsloses las, während der Mörder sich ihm näherte. Russ konnte sich nicht wehren, als Lamar sich mit einem Tritt Zugang zu seinem Zimmer verschaffte. Er flehte, er schniefte, er schlotterte, er hob zwei zitternde Hände.

Lamar drehte sich von dem bettelnden, um Gnade winselnden Russ neben seinem Bett zu dem Russ um, der von draußen zuschaute.

»Soll ich dem Knirps den Arsch aufreißen?«

»Bitte bring ihn nicht um, Lamar. Bitte.«

»Kannst du mich aufhalten?«

»Nein, kann ich nicht.«

»Dann bist du weniger wert als ein Haufen Scheiße an einem heißen Tag.«

Er ging mit der Kettensäge in der Hand vorwärts und Russ wachte auf.

Es war wirklich keiner von den richtig schlimmen Träumen, eher ein Ausflug in traumtypische Unlogik und den schädlichen Einfluss von Filmen als in schiere, abscheuliche Gewalt. Auch diese Art von Träumen hatte er gehabt, auch wenn es in letzter Zeit nicht so schlimm gewesen war. Eines Nachts, als er schreiend aufwachte, hatte jemand die Polizei von Princeton gerufen, die ihn mitnahm, um ihn Drogentests zu unterziehen. Ein anderes Mal hatte er sich anscheinend in heller Panik aus dem Bett gerollt und sich dabei eine üble Prellung eingehandelt. Einmal schlug er mitten in der Nacht um sich, schnitt sich dabei und wachte in seinem eigenen Blut auf.

Aber dieser Traum hier war nicht allzu schrecklich gewesen. Zumindest einer, den man überstehen konnte. Wurden sie im Laufe der Zeit etwa sanfter? Er wusste es nicht. Man konnte einfach nicht wissen, wann es einen mit voller Wucht überfiel. Seines Wissens hatte niemand in seiner Familie, nicht einmal sein Vater, diese Träume ertragen müssen.

Denkbar war aber auch, dass er allein die Logik durchschaute, die hinter der Sache steckte: Lamar Pye kam, um sie zu töten. Sie, die Familie. Um Bud Pewtie für seine Vergehen zu bestrafen, brachte er Buds Familie um. Es zählte bloß zu den Wendungen des Schicksals, dass sich das Drama woanders abgespielt hatte und nur Lamar und seine Schergen gestorben waren. Doch das Gewicht dieses Gedankens lastete mit gutem Grund auf Russ: Die Vorstellung, dass Lamar Pye die Pewties nicht willkürlich, nicht versehentlich, nicht bloß aus einer Laune heraus oder aus Bosheit oder durch die schiere Kraft der Irrationalität des Universums zur Auslöschung auserkoren hatte.

Der Gedanke drückte auf Russ’ Brust wie eine dicke, schwarze Katze in der Nacht. Darum verlange nie, zu wissen, zu wem Lamar kommt. Er kommt zu dir.

Russ blinzelte. Er befand sich immer noch im Motelzimmer. Das Tageslicht schien schwach durch die billigen Vorhänge herein. Er fühlte sich verkatert, obwohl er nichts getrunken hatte. Es lag eher an dem Koffein in der Cola Light, die er bei Bob Lee Swagger getrunken hatte und die ihn bis weit nach vier Uhr morgens wachgehalten hatte, während ihm allerlei Ideen, Theorien und Argumente durch den Kopf schossen, die er vorzubringen versäumt hatte. Irgendwann schlief er schließlich doch noch ein. Er sah auf die Uhr. Fast elf Uhr vormittags.

Er konnte nichts tun. Er versuchte, sich seinen nächsten Schritt zurechtzulegen, doch es gab keinen nächsten Schritt. Er dachte daran, in seine Wohnung in Oklahoma City zurückzukehren und dort eine Lösung auszuarbeiten. Aber diese Vorstellung erfüllte ihn mit Langeweile. Sein großes Buch drohte dann den Weg alles Irdischen zu gehen: in Richtung Trägheit, Mattigkeit und, letzten Endes, Nichtexistenz.

Russ duschte, zog sich an, spähte in seine Brieftasche. Ihm blieben weniger als 50 Dollar. Es war eine etwa zehnstündige Fahrt zurück nach Oklahoma City. Sie führte durch New Mexico, quer durch Texas und durch halb Oklahoma. Die Vorstellung erfüllte ihn mit Verzweiflung und Selbstverachtung.

Er schleuderte seine schmutzigen Klamotten in den Koffer und ging hinaus, um ihn in seinem Wagen zu verstauen. Dann beglich er seine Motelrechnung – seine Kreditkarte ließ ihn noch nicht im Stich, noch nicht ganz – und tankte. Auf der Fahrt nach Ajo machte er an der kleinen Kantine halt, in der er so oft zu Mittag gegessen hatte.

Er ging hinein, setzte sich auf seinen Stammplatz an der Bar und bekam, ohne ihn bestellen zu müssen, seinen üblichen Teller mit exzellentem Steak und ein frisch gezapftes Bier serviert. Russ aß und genoss seine Mahlzeit. Diese Frau konnte wirklich kochen.

»Tja«, sagte er zum Barmann, »ich hab zwar nicht ganz 1000 Dollar für Gegrilltes ausgegeben, aber ich kam verdammt nah ran.«

»Das stimmt, Junge«, bestätigte der Barmann. »Und jetzt müssen Sie weiter, nehm ich an?«

»Japp. Hab getan, was ich konnte. Bin zu dem Mann gegangen, hab ihm die Angelegenheit dargelegt und für den Bruchteil einer Sekunde was in seinen Augen gesehen. Aber nein. Er hat Nein gesagt.«

»Sie haben sich nicht weniger Mühe gegeben als die anderen. Aber der Kerl ist ’ne harte Nuss.«

»Das ist er. Tja, jedenfalls, Ihre Steaks sind wirklich köstlich. Kein Scherz, die besten, die ich je gegessen habe. Ich werde sie vermissen. Ich ...«

Doch dann bemerkte er, wie still es in der Bar geworden war, und dass der Barkeeper mit halb offenem Mund und dümmlichem Gesichtsausdruck dastand. Er schaute nach links und rechts. Nichts als Schweigen und stumm starrende Männer umgaben ihn. Dann blickte er in den Spiegel über der Bar und sah endlich den Mann, der hinter ihm stand, groß und sonnengebräunt, mit einem Schopf gelbbrauner Haare und grauen, zusammengekniffenen Augen.

Swagger setzte sich neben ihn.

»Howdy«, sagte er.

»Äh, howdy«, erwiderte Russ.

»Das Steak soll hier ziemlich gut sein, sagt man.«

»Es ist toll«, sagte Russ.

»Tja, eines Tages muss ich’s wohl mal probieren. Haben Sie immer noch Interesse, dieses Buch zu schreiben?«

»Ja, habe ich.«

»Und es wird nichts über Vietnam drinstehen? Nichts über 1992? Gilt diese Abmachung noch?«

»Ja, Sir.«

»Sie haben schon gepackt?«

»Ja, habe ich.«

»Tja, dann«, sagte Bob, »fahren Sie und ich jetzt nach Arkansas.«

Kapitel 10

Die Hauptverwaltung sowohl von Redline Trucking als auch von Bama Construction befindet sich in einer Büroetage in einem protzigen, modernen Bau an der Rogers Avenue im Osten von Fort Smith, Arkansas – so, wie es einer Firma entspricht, die jährlich Gewinne von über 50 Millionen Dollar erwirtschaftet. Tatsächlich wurde der Harry Etheridge Parkway, der in Polk County von Fort Smith aus 70 Meilen in südlicher Richtung nach Blue Eye verläuft, im staatlichen Auftrag von Bama Construction gebaut.

Die Büros, die sich in den beiden oberen Etagen des Gebäudes der Superior Bank befinden, direkt gegenüber von der Central Mall, sind genau so, wie man sie sich bei florierenden Regionalunternehmen mit marktbeherrschender Stellung vorstellt – komplett mit eingetopften Palmen, Wandteppichen mit beruhigenden Mustern, Ledermöbeln und freiliegenden Backsteinen in den öffentlichen Bereichen und Präsentationsflächen. All das wurde entworfen und koordiniert von einem der besten – und teuersten – Innenarchitekten in Little Rock. Keine Firma aus Fort Smith konnte dem Geschmack des Besitzers ganz gerecht werden.

In diesen Büros arbeiten Rechtsanwälte, Sekretärinnen und Ingenieure intensiv an den ehrgeizigen Plänen von Bama Construction, etwa für die Van Buren Mall oder das Wohnbauprojekt in der Planters Road. Währenddessen überwachen Speditionsleiter Hunderte von Strecken und Kunden, die Redline abdeckt. Fort Smith ist der ideale Knotenpunkt für den Transport von Ost nach West, weil sich die Stadt in zentraler Lage an der riesigen US 40 zwischen Little Rock und Tulsa befindet. Alles passt also wunderbar zusammen. Das einzig Merkwürdige ist das riesige Eckbüro, vollgestopft mit Antiquitäten und ausgestattet mit zwei Panoramafenstern, die eine lebendige, beeindruckende Aussicht über die Stadt bieten. Von hier kann man die alte Innenstadt sehen, die Brücke über den mächtigen Arkansas River und sogar einen kleinen Teil von Oklahoma.

Es ist ein schönes Büro, manche finden, es ist das schönste in ganz Fort Smith. An einer Wand hängen Bürgerpreise und Familienandenken, Bilder von Würdenträgern und politischen Akteuren, die zu Besuch gekommen sind – Musterbeispiele für Menschenliebe und bürgerliches Engagement. All dies sind Zeichen einer soliden Karriere und einer noch solideren Verankerung in der Gemeinde. Und doch ist das Büro so gut wie immer leer.

Randall T. ›Red‹ Bama zieht es vor, seine Zeit im Hinterzimmer von Nancy’s Flamingo Lounge am Midland Boulevard im nördlichen Teil von Fort Smith zu verbringen. Hier befindet sich eine spannungsreiche Stammesgrenze; hier geht der schwarze Bezirk in einen armen, weißen Bezirk über, hier hat der überraschend große thailändische Bevölkerungsanteil begonnen, sich dem schon länger hier angesiedelten vietnamesischen entgegenzustellen. Hier kann ein Arbeiter eine ehrliche, aber anspruchsvolle Partie Poolbillard spielen, einen Schnaps und ein Bier bekommen und das alles für weniger als fünf Dollar, und hier kann ein Fremder sich einen eiskalten Blick einfangen, der ihm sagt, dass er bloß ganz schnell Leine ziehen soll.

Vielleicht stellen solche Viertel eine unnötige Zügellosigkeit dar. Um sein Imperium am Laufen zu halten – zumindest den Teil davon, über den die Zeitungen so regelmäßig berichten –, muss Red jeden Tag Dutzende von Anrufen mit seiner mittleren Managementebene führen, da er natürlich alle Entscheidungen selbst trifft. Dabei hilft ihm, dass er einen äußerst organisierten Verstand und eine spezielle Gabe für den Umgang mit Zahlen besitzt. Man erzählt sich, dass er acht dreistellige Ziffern in weniger als zehn Sekunden exakt addieren kann. Das macht ihn zwar nicht zu einem Wunderkind, doch sicherlich zu einem Mann mit einem Gespür für Mathematik.

Red trifft um zehn ein und parkt seinen grauen Mercedes S 600 auf der Straße, wo sich niemand an ihm zu schaffen machen, ihn stehlen, ihm einen Strafzettel anheften oder ihn überhaupt nur anrühren wird. Er fährt immer selbst und genießt die Zeit, die er auf der Fahrt auf dem Cliff Drive vom Anwesen seiner Familie über Fort Smith hierher für sich allein hat, bekommt dabei den Kopf frei für die bevorstehenden Aufgaben des Tages. Doch vor ihm fahren zwei extrem professionelle Männer in einem schwarzen Chevy Caprice. Sie besitzen eine vom Bundesstaat Arkansas ausgestellte Erlaubnis, die halbautomatischen SIG-Sauer-P229-Pistolen im Kaliber 40, die in Schulterholstern unter ihren Jacketts stecken, verdeckt zu tragen. Sie sind hartgesotten, ruhig, entschlossen und ausgezeichnete Schützen. Jeder von ihnen trägt eine Second-Chance-Schutzweste aus Kevlar, die sie vor der Munition sämtlicher Handfeuerwaffen sowie der meisten Schrotflinten schützt. Sie sind nie weit von Red entfernt.

Red sagt nicht Hallo zu Nancy, weil es keine Nancy gibt, und niemand weiß mehr – oder schert sich groß darum –, ob es je eine gegeben hat. Er gelangt in das Hinterzimmer, wo er seine teure Anzugjacke aufhängt, sich an einen Tisch aus Navy-Beständen setzt und schwarzen Kaffee aus Styroporbechern von der Bar trinkt, während ein kontinuierlicher Strom von Bittstellern, Gefolgsleuten, Laufburschen, Sendboten und Herbeizitierten vor ihn tritt, um sein Urteil oder neue Aufträge entgegenzunehmen. Hier erstatten ihm seine 19 Pfandleihhäuser Bericht, seine sieben Pornoläden im weiteren Umfeld von Fort Smith, seine Heroinhändler und die federführenden Kräfte des Crackgeschäfts, das sich meistens im schwarzen Bezirk der Stadt abspielt, seine sechs Bordelle und sieben Provinzspielhallen auf der anderen Seite des Flusses in Oklahoma, sowie das Juwel seines nächtlichen Reiches: der Choctaw Gentleman’s Club in Holden, fünf Meilen weiter westlich an der Route 64. Dort zahlen irgendwelche Landeier fünf Dollar Eintritt, um dazusitzen, überteuertes Bier zu nippen und Ein-Dollar-Scheine zwischen die Silikonbrüste der Stripperinnen zu stecken, die von jedem Dollar 45 Cent an den großen Boss abgeben müssen.

Seine Handlanger und Bezirkshauptmänner kommen, um Bericht zu erstatten. Sie bringen gute oder schlechte Nachrichten, für gewöhnlich gute. Gelegentlich muss Red ernsthafte Konsequenzen für einen Verstoß anordnen – keine angenehme Aufgabe, aber eine notwendige, vor der er sich nie gedrückt hat und es auch nie tun wird. Hier hält er, wenn nötig, Treffen mit Armand Gilenti ab, dem Boss der Unterwelt von Little Rock und Hot Springs, oder mit Jack Deegan, der derzeit Kansas City kontrolliert, manchmal auch mit Carmen St. Angelo von der Organisation in New Orleans und manchmal mit Tex Westwood aus Dallas.

Man erzählt sich, dass Red an dem alten Hinterzimmer in der alten Billardbar hängt, weil hier schon sein Vater, Ray Bama, seine Geschäfte abgewickelt und, wenn auch in kleinerem Maßstab, die brillante Organisation aufgebaut hat, die Red bei seinem Tod (Autobombe, nie gefasster Täter, 1975) geerbt und so energisch weiter ausgebaut hat.

Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht. Ansonsten scheint Red kein sonderlich gefühlsduseliger Mann zu sein. Er ist weithin bekannt für seine Klugheit, seinen Scharfsinn, seine Beharrlichkeit und Zähigkeit, obwohl er drei Kinder aus erster Ehe und zwei Kinder aus der zweiten auf geradezu groteske Weise verwöhnt. Doch sein Vater stellt für ihn eine Art Heiligtum dar – dieser brillante, zähe Mann, der sich im Verlauf einer Generation seinen Weg aus dem Schlamm von Polk County in die Höhen von Fort Smith geebnet und ein ganzes Reich aufgebaut hat. Doch was noch wichtiger ist: Er hat eine Vision erschaffen, um dieses Reich aufrechtzuerhalten. Red hat ihn seinen beiden Frauen gegenüber als die Redneck-Version von Joe Kennedy bezeichnet.

»Tja, ein JFK bist du nicht«, hatte seine erste Frau einmal kampflustig ins Feld geführt, »außer wenn’s ums Rumvögeln geht.«

»Hab ich auch nie behauptet«, quittierte Red ihre Anspielung. »Ich wollte damit nur sagen, dass ich meinen Daddy nicht enttäuschen will.«

Mit 51 Jahren ist er klein und etwas korpulent, hat einen leichten Anflug von Sommersprossen, kurze Stummelfinger, tiefblaue Augen, von denen man sagt, dass sie in der Lage sind, jede Lüge zu durchschauen, sowie eine kahle Stelle auf dem Kopf, bei der er sich vergeblich bemüht, sie zu kaschieren, indem er sein rötlich-blondes Haar in einem Bürstenschnitt trägt. Er bevorzugt graue Nadelstreifen-Anzüge, zugeknöpfte blaue Hemden, rote Krawatten (meist von Brooks Brothers) und schwarze, italienische Halbschuhe. Er trägt eine goldene Rolex und hat nie weniger als 5000 Dollar in kleinen Scheinen bei sich, doch abgesehen von der Uhr verzichtet er auf Schmuck. Auf eine Waffe übrigens auch, schon immer.

Seine erste Frau hat er geliebt und liebt sie noch immer, obwohl er sich von ihr hat scheiden lassen, als sie ihm ein wenig zu alt geworden ist. Sie hat bei der Wahl zur Miss Arkansas 1972 seinerzeit den dritten Platz erreicht. Er liebt seine neue Frau, die 37 Jahre alt und blond ist und bei den Miss-Wahlen von Arkansas 1986 verbürgterweise den zweiten Platz erreicht hat. Und das war damals, als Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben noch echte Titten hatten und es dabei wirklich noch um Schönheit ging und nicht darum, die Wale zu retten, den Schmerz der Obdachlosen nachzuempfinden und um all diese anderen jämmerlichen Gemeinplätze des liberalen Gutmenschentums, die Amerika in den Ruin getrieben haben. Nach dem Thema kann man Red immer fragen: Er wird einem alles darüber erzählen. Das ist sein wunder Punkt.

Er liebt seine Kinder. Er liebt seine Frauen. Er gibt seinen Frauen und seinen Kindern und sich selbst alles, was er will.

Heute sitzt ein mürrischer Mann in der Uniform des Polk County Sheriff’s Department vor ihm, während Reds Augen hungrig die Informationen der Glücksspielrechnungen verschlingen, die vor ihm liegen.

Schließlich blickt Red zu ihm hinüber. Was er sieht, ist das, was er einmal gewesen ist, das Schicksal, dem er entkommen ist, das, wogegen sein Vater sich heldenhaft aufgelehnt und es besiegt hat. Aber Red kennt es gut. Manche würden es als weißen Abschaum bezeichnen: tote Augen, ein schmales, frettchenhaftes Gesicht, ein schlaksiger, ruhiger Körper, zu lange Haare. Das Ganze strahlt sowohl Gefahr als auch Gerissenheit aus, und dazu noch das Beste von allem: Dummheit. Red weiß, dass Männer, die Talent für die größeren Aufgaben besitzen, selten dazu taugen, die lästige Drecksarbeit zu erledigen.

»Also, Duane«, sprach er sein Gegenüber schließlich an. »Mir liegen hier sowohl gute als auch schlechte Berichte über dich vor.«

Duane Peck sagte nichts, sondern machte ein leises, klickendes Geräusch, fuhr mit der Zunge so über sein künstliches Gebiss, dass es knisterte und klackte. Eine nervöse Angewohnheit, ekelhaft, doch niemand hatte je die Nerven besessen, ihm das ins Gesicht zu sagen.

»Du spielst gerne, nicht wahr, Duane? Und in letzter Zeit ist dir das Glück nicht gerade hold gewesen.«

»Schätze nicht«, erwiderte Duane.

»Wie ich sehe, hast du Schulden in den meisten Spielhöllen im östlichen Oklahoma. Du schuldest Ben Kelly 22.000. Keno, Duane? Ist es das, wofür du ’ne Schwäche hast?«

»Nein, Sir«, antwortete Duane. »Eher für Kartenspiele.«

»Duane, hast du ein Auge für Karten?«

Duane kniff die schmalen Augen zusammen, während er sich diese Formulierung durch den Kopf gehen ließ und sie nicht begriff. Dann war ihnen keine Regung mehr zu entnehmen, als er jedes weitere Nachdenken über dieses Thema aufgab.

»Ich meine«, fuhr Red fort, »bleiben dir die Zahlen oder die Gesichter im Gedächtnis? Wirken die Kostüme der Figuren für dich sehr plastisch? Hast du ein Gefühl dafür, ob noch gute Karten kommen oder die Sache schon gelaufen ist? Ein Gespür, ob das, was noch kommt, deine Chancen erhöht oder verschlechtert? Ich rede nicht vom Kartenzählen, das machen nur die Profis, ich meine bloß gute Instinkte. Ein Gefühl. Die meisten guten Kartenspieler haben für so etwas ein Talent. Manche besitzen auch bloß ein gutes Zahlengedächtnis. Duane, was ist 153 plus 241 plus 304?«

»Äh ...« Duanes Augen schmälerten sich. Seine Lippen fingen an, sich zu bewegen.

»Egal, Duane. Also, auf der Haben-Seite sehe ich, dass du einigen Geschäftspartnern von mir hier und da mal einen Gefallen getan hast.«

»Ja, Sir«, erwiderte Duane Peck.

»Du hast ein bisschen Geld eingetrieben und ein paar Forderungen durchgesetzt.«

»Ja, Sir.« Manchmal arbeitete Duane nebenbei an der Lösung seines Schuldenproblems, indem er für Ben Kelly, der eine Spielhölle im Hinterzimmer des Pin-Del-Motels in Talihina, Oklahoma, unterhielt, Geld eintrieb.

»Hmmm, das ist gut. Hast du mal jemanden schwer verletzt?«

»Ich hab ein paar Kiefer und Schädel eingeschlagen, aber nichts, wonach einer nicht ’ne Woche später wieder aufstehen konnte. Einem Kerl musste ich das Bein mit nem Axtstiel brechen. Der hatte sich zu viel rausgenommen.«

»Schon mal jemanden getötet?«

Duanes Blick wurde leer.

»Nein, Sir«, antwortete er.

»Ich meine nicht, seit du für den Sheriff arbeitest, Duane, und ich meine keine Kopfnüsse für Leute mit Spielschulden. Nein, ich meine: jemals?«

»Nein, Sir«, sagte Duane.

»Nun, Duane, eine Sache solltest du dir merken: Lüg mich niemals an. Nie. Also, ich frage dich ein zweites Mal. Hast du schon mal jemanden getötet?«

Duane murmelte etwas.

»An der Arco-Tankstelle«, fuhr Red fort. »In Pensacola, Juni 1977. Du bist bloß ein junger Hinterwäldler mit einem Drogenproblem gewesen. Wolltest ein paar schnelle Dinger drehen, um an Kohle zu kommen. Aber an diesem Abend hast du einen Jungen abgeknallt, nicht wahr, Duane?«

Duane blickte schließlich wieder auf.

»Den hab ich vergessen«, meinte er.

»Tja, aber Randy Wilkes hat es nicht vergessen. Er arbeitet jetzt in New Orleans für gewisse Leute. Wenn man so einen Job hat, tut man gut daran, sich mit seinen Partnern zu verständigen. Wenn man das nicht tut, wirkt das schlampig. Du bist schlampig, nicht wahr, Duane?«

»692«, sagte Duane. »Es ist 692.«

»Nein, Duane, aber du bist nah dran. Es ist 698.«

»Verflucht«, schimpfte Duane. »Auf dem Papier kann ich das.«

»Das hier ist kein Mathe-Test, Duane. Bist du jetzt clean? Hast du ’nen klaren Kopf?«

»Nichts, was richtig reinhaut«, antwortete Duane. »Ich trink am Samstagabend gern mal einen Bourbon.«

»Das tu ich auch, Duane. Also dann: Ich hab einen Job für dich. Bist du interessiert?«

»Ja, Sir«, antwortete Duane, der sich schon die ganze Zeit fragte, weshalb jemand, der im Rang so weit unten stand wie er, von einem so mächtigen Mann zu einer persönlichen Vorsprache geladen wurde.

»Ein privater Job, nur für mich. Deshalb redest du mit mir, Duane, nicht mit Ben Kelly oder sonst jemandem, der zwischen dir und mir steht.«

»Ja, Sir.«

»Duane, deine 21.000 könnten sich in Luft auflösen, wenn du das richtig anpackst.«

»Sir«, sagte Duane, der sich nun endlich aus seiner Trägheit befreite, »ich werde es richtig anpacken. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Duane, ich will ehrlich zu dir sein. Ich wünschte, ich hätte einen Besseren dafür. Aber du hast eine Sache, die ich brauche und die dich für mich wertvoll macht.«

»Ja, Sir.«

»Nicht dein großer Schwanz, Duane. Nicht dein scharfer Verstand. Nein. Deine Polizeimarke.«

Duane schluckte leicht.

»Ich brauche jemanden auf der anderen Seite, um eine Situation unten in Polk im Auge zu behalten, die sonst möglicherweise bald zu einem Problem wird. Wenn ich einen Fremden in diesen kleinen Bezirk schicke, schöpfen die Leute Verdacht. Ich brauche einen Insider, einen Mann, der die Staatsgewalt vertritt, der Orte betreten und Fragen stellen kann, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Bist du dabei, Duane?«

»Ja, Sir, Mr. Bama. Sagen Sie mir einfach, worum es geht.«

»Die Lage könnte brenzlig werden«, fuhr Red fort. »Es könnte sein, dass du dir für mich die Hände schmutzig machen musst. Ich muss mich auf deine Loyalität absolut verlassen können, wenn ich dir gegenüber loyal sein soll.«

»Ja, Sir«, sagte Duane.

»Verstehst du, ich bin ein fairer Mann. Falls es dazu kommt, dass du in den Knast musst, wird das ein guter Knast sein. Du musst nicht das Sexspielzeug irgendeines großen Niggers sein. Du wirst dann beschützt. Klingt das in Ordnung für dich?«

Duane konnte eine Zeit im Gefängnis überstehen, das wusste er. Für die Chance, einen Fuß in die Tür zu bekommen, war er zu beinahe allem bereit.

»Ja, Sir.«

»In Ordnung, Duane, hör gut zu. Vor vielen Jahren hat sich in Polk County eine Tragödie abgespielt. Ein heroischer Polizeisergeant hat sich eine Schießerei mit zwei sehr bösen Jungs geliefert, sie beide getötet. Sie haben ihn dabei auch getötet. Schon mal davon gehört?«

»Nein, Sir.«

»Bist kein Geschichtsfreak, was, Duane?«

Duanes Gesichtsausdruck blieb stumpf: Wie ein Geschichtsfreak sah er nicht gerade aus.

»Na, jedenfalls, ich weiß jetzt aus sicheren Quellen, dass ein junger Journalist aus Oklahoma beschlossen hat, ein Buch über dieses Ereignis zu schreiben. Du weißt schon, Duane, ›basierend auf einer wahren Geschichte‹, so ein Zeug.«

Duane nickte schwerfällig.

»Äh – und das ist etwas, das man sich mal ansehen sollte.«

»Soll ich ihn kaltmachen?«, wollte Duane wissen.

Interessante Frage. Die entscheidende Frage, und Duane war mit seiner Bauernschläue direkt zu ihr vorgedrungen. Man konnte sich dieses Jungen auf die harte Tour entledigen, ihn umbringen, damit alles so blieb, wie es war. Doch genau diese Tat konnte, nach dem Gesetz der ungewollten Konsequenzen, selbst zur Katastrophe führen – zu einer Untersuchung des Falls und dazu, dass Fragen gestellt wurden, die so lange Zeit niemand gestellt hatte.

»Nein, Duane, aber wir sollten es nicht ausschließen. Belassen wir es dabei. Du hältst mich darüber auf dem Laufenden, was passiert: mit wem er sich trifft, was er sie fragt, was er herausfindet. Vielleicht geht es dabei um Dokumente. Welche Dokumente? Du musst eventuell nur wenig tun, lediglich dafür sorgen, dass bestimmte Dokumente verschwinden. Die Sache könnte aber auch drastischere Gegenmaßnahmen erfordern. Falls es dazu kommt, hab ich genug Leute dafür. Aber aus Gründen, die du nicht kennen musst und von denen ich annehme, Duane, dass du sie ohnehin nicht verstehst, ist es wichtig, dass dieser Junge sehr wenig in Erfahrung bringt und sein Buch nicht geschrieben wird. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Sir.«

Red betrachtete den armen Duane. Er fühlte sich wie ein General, der einen Pfadfinder gegen die deutsche Armee ins Feld schickte. Er hatte wesentlich bessere Leute. Er unterhielt Connections zu ehemaligen CIA-Agenten, ehemaligen Green Berets, zu Leuten mit langjähriger Erfahrung in der Unterwelt – extrem kompetenten, aggressiven, erfahrenen Profis. Aber sie waren alle Außenseiter und hatten nicht die leiseste Ahnung von dieser kleinen, engen Welt namens Blue Eye, also wären sie dort gewaltig aufgefallen. Duane, der brutalste und soziopathischste der Hilfssheriffs von Vernon Tell, war zudem noch der korrupteste; man brachte ihm keine besondere Aufmerksamkeit, dafür aber viel Respekt entgegen. Also musste es Duane machen; Duane, der sorgfältig kontrolliert und gelenkt wurde, Duane, der die Chance seines Lebens bekam, und Duane, der, wenn man ihn richtig einsetzte, zu allem fähig war.

»Duane, ich habe hier eine Liste von Leuten, die dieser Junge aller Wahrscheinlichkeit nach befragen wird, und von Büros, die er vermutlich aufsucht. Die wirst du überwachen. Und hier ist eine 800er-Nummer. Du kannst sie gratis von jedem Telefon in den USA anrufen, aber ich werde dir ein sicheres Handy besorgen, in das sie eingespeichert ist, damit du nur noch auf einen Knopf drücken musst. Ich will jeden Tag einen ausführlichen Bericht. Dann bekommst du von mir weitere Anweisungen. Hast du verstanden?«

»Ja, Sir«, antwortete Duane. »Aber ich hab gehört, dass man diese Handys ganz einfach verwanzen kann. Die FBI-Leute machen das ständig.«

Ein gutes Argument. Red war beeindruckt.

»Nein, dieses ist in beide Richtungen sicher und kann ohne Auslesen der verschlüsselten Voreinstellungen und den dazugehörigen Algorithmus nicht abgehört werden. Was sie tun können, ist die Herausgabe der Verbindungsdaten verlangen, damit sie herausfinden, wer mit wem gesprochen hat. Aber ich nehme nicht an, dass die Handyfirma mit ihnen kooperieren wird, jedenfalls in den nächsten Jahren nicht.«

»Warum?«, wollte Duane wissen.

»Weil sie mir gehört«, meinte Red. »Hör zu, Duane, geh feinfühlig vor. Verhalt dich nicht wie ein Rüpel. Man sagt dir nach, du hättest Charme. Kannst du ein Kumpeltyp sein, einer, der mitlacht, einer, der dazugehört? Das ist die Seite von dir, die du in dieser ersten Phase an den Tag legen solltest.«

»Ja, Sir.«

»Du musst jetzt gehen. Ich hänge bei meinem Zeitplan hinterher«, sagte Red Bama mit einem Blick auf seine Rolex. »Und ich will’s gern rechtzeitig zum Fußballspiel meines Sohns schaffen.«