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Hans-Christian Kirsch

Route 66

Auf der Straße der Träume von Chicago nach L.A.

FUEGO

– Über dieses Buch –

Hans-Christian Kirsch erzählt hier Geschichten von dem legendären Highway, wie sie in klassischen Reiseführern nicht vor kommen – mit jeder Menge Details und Infos über diese legendäre Straße. Dabei geht der Autor auf das Land, die Leute, ihre Sitten und Bräuche ein. Er schildert kuriose und spannende Dinge welche sich immer auf die Route 66 beziehen. Er berichtet über die Städte, die an der Route 66 liegen. Er schildert historische Begebenheiten - von der Zeit Al Capones in Chicago, über die indianische Vergangenheit in Oklahoma, über das Leben des Folk-Sängers Woodie Guthrie. Das Buch beinhaltet viele Zitate und Auszüge aus anderen Werken und bietet eine gute Grundlage für weitere Recherchen. Eine etwas andere Art Reisebericht, das, was in den neuesten Reiseführern nicht steht, lesenswert und spannend.

 

Eine unterhaltsame Anregung für eine gedankliche Traumreise, aber natürlich auch unentbehrlich zur Vorbereitung auf die große Tour.

»Wir suchen im Schriftsteller den Freund, mit dem wir Intimes austauschen. Wir wünschen ihn, mehr als in ausgerundeten Romanen und gestellten Kulissen, in Tagebüchern und Briefen über seinem mystischen Eigentum anzutreffen und dort Signale mit ihm zu tauschen, in denen er sich, wir uns, endgültig und vorbehaltlos zu erkennen geben. Das ist hilfreich. Das führt uns in brüderlicher Vereinigung durch die Gewalten der Gegenwart...«

Werner Helwig

 

»Alle reden von ›community‹. In einer Zeit, in der das Wehgeschrei über den Verfall der Werte und traditionellen Bindungen groß ist, hat die Gemeinde Konjunktur. (...) Es war der Barbershop, der Kleiderladen, das Schmuckgeschäft, das Kino, wo das wahre Amerika wohnte. Der Ort, wo sich alle noch mit dem Namen grüßten, war die Mainstreet. Der Dichter Sinclair Lewis hat ihr in seinem gleichnamigen, 1920 erschienenen Roman ein literarisches Denkmal gesetzt. Die US 66 nannte man auch deshalb die ›Mainstreet of America‹, weil sie durch das Herz des Landes führte und dabei Hunderte kleiner Ortschaften und deren Hauptstraßen berührte.«

Bernd Polster und Phil Patton,

Highway — Amerikas endloser Traum

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Vorwort

Hallo Petra, Carol, Gaby, Barbara und noch einmal Barbara; hallo Rita, Maria, Antje, Beatrix, Dagmar, Ingrid, Marietta, Regina, Sandra, Irmi, Martina, abermals Petra und Regine. Hallo Rolf, Rainer, Franz, Martin, Hanspeter, Jürgen, Bernd, Frank, Alexander, Joachim, Arne (wie geht’s dem Armreif, der dich heilen sollte?). He, Volker (was macht die Wetterfahne aus Santa Fe?). Ein Hallo auch dir, Bernd-Friedrich, Sheriff mit dem einen PS. Wo steckt ihr alle in the best of all possible worlds? Wie Heinrich Heine sagte:

 

»Eine große Landstraß’ ist unsere Erd’,

Wir Menschen sind Passagiere;

Man rennet und jaget, zu Fuß und zu Pferd,

Wie Läufer oder Kuriere.

 

Man fährt vorüber, man nicket, man grüßt

Mit dem Taschentuch aus der Karosse;

Man hätte sich gerne geherzt und geküßt,

Doch jagen von hinnen die Rosse.«

 

Ab und zu bekommt man eine Karte aus San Francisco, Bombay, Berkeley oder Hongkong. Dies ist eine Welt der Reisenden! Keine Angst, nachdem ich euch (hoffentlich alle) begrüßt habe, werde ich euch nie mehr erwähnen. Nicht all die Happy Hours mit Whiskey, Gin Tonic und kalifornischem Wein, nicht die durchtanzten Nächte – wo war das noch gleich ...? In Amarillo oder in Santa Fe? Nicht die im Grand Canyon beinahe nötig gewordene Rettungsaktion mit der amerikanischen Bergwacht! Guess for whom? Nicht die gewonnenen und verspielten Dollarsummen in Las Vegas. Nicht die Einkaufsorgien in Santa Fe und L.A. Also, es war und ist so: Ich bin mit 31 Frauen und Männern von Chicago über St. Louis, Tulsa, Santa Fe, Las Vegas auf der Route 66 nach Los Angeles gefahren. Eine wunderbare Reise! Für jeden von uns. Aber viel zu kurz. Hin und wieder habe ich auf dieser Reise Geschichten erzählt. Von jener Straße, auf der wir fuhren, wie sie entstand, unterging und als Legende wieder auferstand; von Städten und Landschaften, von weißen Rednecks, Schwarzen, eigentlich Afroamericans (»Neger« zu sagen verbietet die Political Correctness), Mejicanos und Indianern (nicht doch: American Natives heißt das!), von der Musik auf und an dieser Straße, Jazz und Country, von ihren Reisenden, von den Büchern, die unter dem Himmel über ihr und an ihrem Straßenrand geschrieben worden sind, von den Menschen, die hier und dort neben ihr Wurzeln schlugen, von all den verrückten Bars, Hotels, Tipis, Restaurants, Spelunken, in denen man einkehren kann. Von den Getränken und Speisen, die einem vorgesetzt werden. »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei!« Das gilt diesmal nicht für mich. Denn jetzt trete ich diese Reise noch einmal an, in der Phantasie. Ich hole noch einmal Atem, ich beginne noch einmal zu erzählen. Denn es gibt noch viel mehr Geschichten, und es könnte ja sein, es verlangte euch danach, noch einmal diesem unwiderstehlichen amerikanischen Verlangen zu folgen, nach Westen zu reisen, immer weiter nach Westen, bis es nicht mehr weiter geht, weil da das Meer ist, die wilde Brandung des Pazifik und die Nebel, mit denen sie L.A. einhüllt ...

American Memories

»Und ich warte auf eine Wiedergeburt des Wunders.

Und ich warte darauf, dass jemand wirklich Amerika entdeckt und klagt.

Und ich warte auf die Entdeckung einer neuen Western Frontier.

Und ich warte, dass der amerikanische Adler seine Flügel ausbreitet und wirklich fliegt ...«

Lawrence Ferlinghetti, I am waiting

Etwas nüchterner lässt sich das, was den Leser in diesem Buch erwartet, etwa so umschreiben: eine Sammlung von Geschichte(n) zum kulturellen Hintergrund der Route 66 - zum Teil in literarischer Form. Das, was in den neuesten Reiseführern nicht steht, was Touristen oft entgeht. Ich werde von dem berichten, was mir an diesem Stück Land gefällt, durch das die Route 66 führt, welche Gedanken ich mir dazu machte, während wir reisten; was ich hier und dort erlebt, entdeckt, gehört, gesehen, geträumt, gelesen und gekritzelt habe.

Zu solchen Entdeckungen lade ich ein.

1. Chicago Blues

Das Touristenbüro teilt mir mit, in Chicago seien erfunden worden: die Rollerskates (1884), die Stahlskelett-Bauweise für Hochhäuser – also Wolkenkratzer (1885), das erste Gebäude dieser Art war neun Stockwerke hoch! –, der Fensterbriefumschlag (1902), die Farbsprühdose (späte 40er Jahre), das erste McDonalds-Restaurant (1955). Auch so etwas charakterisiert eine Stadt. Aber nun etwas ernsthafter:

Man hat Chicago eine Stadt genannt, die sein musste. Das bezieht sich auf ihre günstige Lage zwischen der Prärie, den Großen Seen und dem Chicago River. Hier sammelte sich am Ende der Eiszeit genügend Gletscherschutt, um eine Wasserscheide zwischen dem System der Großen Seen, dem St. Lorenz-Strom und dem Mississippi zu schaffen. Chicago entstand an einer Route vom Lake Erie in Kanada zum Mississippi, die schon die Indianer benutzten, noch ehe die Weißen kamen. Der Frankokanadier Louis Joliet und Pater Jacques Marquette, die 1673 den sogenannten Chicago-Portage überquerten, erkannten die Möglichkeit, an diesem zentralen Punkt Transportwege kreuzen zu lassen. Und dann kam der Trapper Jean Baptiste Point DuSable, ein Mann afro-kanadisch-französischer Abstammung, und gründete hier den ersten Handelsposten. 1833 zählte die kleine Siedlung am Chicago River gerade 300 Einwohner, und von diesem Jahr an hieß sie dann Chicago. Sie wurde rasch zum Verbindungspunkt zwischen den landwirtschaftlich erschlossenen Gebieten des »Wilden Westens« und dem zivilisierten, bereits weiter entwickelten Osten. Durch einen Kanal, der 1848 entstand, gab es nun einen inländischen Wasserweg zwischen dem Nordatlantik und dem Golf von Mexiko. Nach den Kanalbauern kamen in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts Streckenbauarbeiter in das kleine Dorf an der Grenze, das damals nur ein paar Hundert Einwohner zählte. Der alte Kanal, der nicht viel mehr war als ein breiter Graben, wurde 1900 durch einen breiteren und tieferen ersetzt.

American Memories

»Meine Gefühle gegenüber Chicago sind, solange ich mich erinnern kann, wild ambivalent. Nelson Algren scheint es mir vor vierzehn Jahren treffend und poetisch ausgedrückt zu haben:

›Es ist nicht so sehr eine Stadt wie eine Station unterwegs, auf der anderthalb Millionen Zweibeiner mit einem einzigen Schrei ausschwärmen: Eine Schulter oder ein Bein ab. Hier komm’ ich. Jedermann in dieser gemieteten Luft ist auf sich allein gestellt.

Aber wenn man einmal Teil dieses besonderen Fleckens geworden ist, wird man nie mehr einen anderen mögen. Es ist, als seist du in eine Frau mit einer gebrochenen Nase verliebt. Andere Hübsche mögen besser aussehen. Aber keine ist so real wie sie.‹«

Studs Terkel, Division Street

1870 wurden die Schlachthöfe gegründet, für die Chicago bis in unser Jahrhundert hinein berühmt und berüchtigt sein wird. Carl Sandburg, ein bekannter amerikanischer Lyriker der 20er Jahre, wird die Stadt in seinen Gedichten den »Schweineschlächter der Welt« nennen. Heute ist von den Schlachthöfen nur noch das Eingangstor, gewissermaßen als Symbol, stehen geblieben. Die Bevölkerung verdoppelte und verdreifachte sich innerhalb weniger Jahre. Die damals gebräuchlichste Hausform war der Balloon Frame, ein dünnwandiger Holzbau, der rasch zu errichten war. Einwanderer aus Deutschland, Irland, Polen, Italien, Schweden und Juden ließen sich in solchen Holzhäusern nieder: Sie legten den Grundstock für die multi-ethnische Bevölkerung der Stadt. Charakteristisch für das Stadtbild waren damals die endlosen, hölzernen Gehsteige, die angelegt worden waren, um das tiefer gelegene natürliche Niveau anzuheben.

Das frühe Chicago bestand fast ausschließlich aus Holz. Dann kam das große Feuer des Jahres 1871. Angeblich soll die Kuh einer gewissen Misses O’Leary eine Lampe umgestoßen haben. Danach brannten die drei Quadratmeilen des Stadtzentrums fast völlig nieder. Bis auf das Wohnhaus der guten Frau. Das lag im Windschatten und blieb unberührt. Da die Feuerwehr zunächst zur falschen Adresse ausrückte, nahmen die Brände katastrophale Ausmaße an. Angefacht von einem starken Südweststurm, wütete das Feuer dreißig Stunden lang und machte ein Drittel aller Häuser dem Erdboden gleich. Im Grunde war die Katastrophe ein Glücksfall für die Stadt. Der Brandschutt wurde zur Landgewinnung am See verwendet, und noch heute ist ein großer Teil der 47 Kilometer langen Uferstrecke am Michigan-See Parkgebiet.

2. Chicago – Ort sozialer Konflikte

Wenn man Chicago den Spitznamen Windy City gegeben hat, so spielt das nicht nur auf ein meteorologisches Phänomen an. Das Wort »windig« hat, wie im Deutschen, eine Doppelbedeutung. Windy im Sinne von häufigem Wind und im Sinne von fragwürdig, hemdsärmelig, skrupellos - das bezieht sich vor allem auf die Zeit des Ellenbogen-Frühkapitalismus: 1886 kommt es zu dem sogenannten Haymarket Riot, bei dem mit einer Bombe sieben Polizisten in die Luft gesprengt werden. Es lohnt sich, die Hintergründe dieses Ereignisses etwas näher zu betrachten.

Im Jahre 1884 beschloss der in Chicago tagende Jahreskongress des »Verbands der Gesellschaften und Arbeitervereine«, den Kampf für den Achtstundentag zu verstärken. Ihren Höhepunkt erreichten diese Aktionen am 1. Mai 1886, an dem 300.000 Arbeiter in den USA, davon allein 40.000 in Chicago, streikten, was einem Generalstreik gleichkam. Am 3. Mai 1886 wurden vor der Fabrik für Erntemaschinen von McCormick in Chicago zwei streikende Arbeiter von der Polizei erschossen und mehrere schwer verletzt, nachdem sie Streikbrecher angegriffen hatten. Aus diesem Anlass fand am nächsten Abend auf dem Haymarket eine friedliche Protestkundgebung statt. Kurz vor Ende der Versammlung – die Mehrheit der ursprünglich 3000 Anwesenden war schon gegangen – marschierte eine Polizeitruppe auf den Platz, obwohl Chicagos Bürgermeister Carter Herrison sich persönlich vom friedlichen Verlauf der Kundgebung überzeugt und den bereitstehenden Polizeikräften den Rückzug befohlen hatte. Nun verlangte die Polizei plötzlich das Ende und die Auflösung der Kundgebung. Bevor die Anwesenden dem Folgeleisten konnten, warf ein Unbekannter eine Bombe in Richtung Polizei, worauf diese das Feuer eröffnete. Sieben Polizisten und eine nie eindeutig geklärte Zahl von Zivilisten kamen ums Leben. Von der explodierenden Bombe wurde der Polizist Matthias J. Degan getötet. Alle übrigen Polizisten kamen nachweislich durch Revolverschüsse zu Tode. Die meisten, wenn nicht sogar alle dieser tödlichen Schüsse, waren jedoch nicht von Zivilisten, sondern von den Kameraden der getöteten Polizisten abgefeuert worden:

Nach dem 4. Mai 1886 herrschte in Chicago praktisch der Ausnahmezustand. Anarchisten und andere Radikale wurden verhaftet. Die Presse war voll von Horrorberichten über Verschwörungen und geplante Bombenattentate. Am 27. Mai verkündete das Gericht die Anklage gegen die Agitatoren der Protestversammlung: Sie lautete auf Mord. Zusammen mit 21 weiteren Arbeitern sollten sie sich darüber hinaus wegen Verschwörung, Aufruhr und Verstoß gegen das Versammlungsrecht verantworten. Drei Deutsche unter ihnen - die Zahl der deutschen Einwanderer nach Chicago war zu dieser Zeit erheblich – erkauften sich die Freiheit, indem sie als Kronzeugen aussagten. Am 21. Juni 1886 begann der Prozess mit der Auswahl der Geschworenen. Der damit beauftragte Gerichtsdiener Henry Ryce erklärte öffentlich: »Ich betreue diesen Fall, und ich weiß, was ich tue. Diese Kerle werden gehängt. Das ist so sicher wie der Tod. Ich lade nur solche Kandidaten vor, die die Verteidigung der Reihe nach alle ablehnen muss, so dass die Zahl ihrer Ablehnungsanträge bald erschöpft ist. Die Verteidigung muss dann mit den Geschworenen zufrieden sein, die der Staatsanwalt will.« Obwohl Bestechungsgelder, Gewalt und Bedrohung eingesetzt wurden, konnte der Staatsanwalt seine ursprüngliche Mordanklage nicht aufrechterhalten. Sie wurde im Laufe des Prozesses in »Verschwörung mit dem Ziel des Umsturzes der bestehenden gesetzlichen Ordnung« umgewandelt. Die Anarchisten von Chicago hatten tatsächlich gewaltsame Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele bejaht. Allerdings verstanden sie Gewalt als Selbstverteidigung gegen die Gewalt des Staates. Am 30. August 1886 verkündeten die Geschworenen das Urteil. Alle sechs Angeklagten wurden für schuldig befunden und bis auf einen zum Tode verurteilt. Im September 1887 wurde das Urteil an vier der Angeklagten vollstreckt. Zwei wurden begnadigt. Die Verfasser des Lexikons der Anarchie kommen bei der Einschätzung des Prozesses zu folgender Feststellung: »Die Ermordung der Arbeiter am 3. und 4. Mai, die nachfolgende national-chauvinistische Repression, die den Anarchismus als unamerikanisch bezeichnete und mit den Immigranten identifizierte, brachen dem US-amerikanischen Anarchismus trotz großer Solidaritätskampagnen das Rückgrat. Die amerikanische Arbeiterbewegung wurde insgesamt entscheidend geschwächt. Die Gewerkschaften distanzierten sich nach der Haymarket-Bombe von den Anarchisten und säuberten ihre Reihen von linksradikalen Mitgliedern; dies isolierte die Anarchisten, während es die Gewerkschaften (vorübergehend) zu relativer Bedeutungslosigkeit führte.« Chicago aber blieb ein Ort starker sozialer Spannungen.

1893 veranstaltete die Boomtown Chicago zum 300. Jahrestag der Entdeckung Amerikas die World Columbian Exposition. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie zum Symbol eines im Zeichen des Kapitalismus aufblühenden Amerikas, oder wie die zeitgenössische Presse schrieb, »zum größten Spektakel moderner Zeiten« wurde. Als Präsident Groover Cleveland am 1. Mai symbolisch einen Schlüssel bewegte, summten die Dynamos, begannen Maschinen zu stampfen, Fontänen zu sprühen, Fahnen wurden an den Masten hochgezogen, ein Chor von 5000 Sängern stimmte seine Lieder an, und 150.000 Besucher klatschten Beifall.

American Memories

»Chicago hat eine North Side, eine South Side und eine West Side.

An East Side hat es nicht viel zu bieten. Wenn man zu weit in diese Richtung läuft, landet man im Michigan-See. Schwimmend – oder man ertrinkt. Dort sind die Strände der Stadt. Je weiter man nach Süden kommt, desto mehr weicht der See zurück ...«

Studs Terkel,

Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen

Das Zeitalter der Elektrizität, der Welt von morgen, der »Weißen Stadt«, hatte begonnen. Es wurde Licht in Amerika. Die große Leistungsschau mit den Wundern von Wissenschaft und Industrie zog zwischen Mai und Oktober 25 Millionen Besucher an. Sie strömten aus den Farmen und den Kleinstädten des Umlandes wie auch aus dem Ausland nach Chicago. Ein staunender Besucher schrieb an seine Eltern: »Verkauft euren Kochherd, wenn nicht anders, und kommt!« Ein anderer Besucher versicherte seiner daheimgebliebenen Ehefrau: »Du musst die Ausstellung sehen, und wenn das Geld, das wir für die Beerdigung zurückgelegt haben, draufgeht!« Die Venus von Milo war in Schokolade nachgebildet, ein lebensgroßer Ritter zu Pferde stellte getrocknete Pflaumen her, Deutschland, eine der 77 vertretenen Nationen, hatte ein gewaltiges Küstengeschütz aufgestellt, das ein tonnenschweres Geschoss über 16 Meilen schießen konnte. Als die Ausstellung schloss, schrieb die Chicago Tribune, was Millionen von Besuchern dachten: Man hatte eine »kleine, ideale Welt« gesehen, »eine Realisation von Utopia, in der die überbordende Phantasie der Künstler und Architekten einen in der Zukunft liegenden Zustand vorwegzunehmen scheint, bei dem die ganze Erde so rein, so schön und so freudig sich darstellen wird, wie heute die Weiße Stadt«.

Doch schon ein Jahr später, 1894, zeigte sich auch die andere Seite der Medaille. Die Arbeiter der Pullman Car Company verbündeten sich mit den Arbeitern der Eisenbahngesellschaften und streikten. Chicagos Arbeiter waren die Ersten, die sich in Gewerkschaften organisierten. Und was vielleicht noch erstaunlicher war für jene Zeit: Zum ersten Mal streikten schwarze und weiße Arbeiter gemeinsam für höhere Löhne und einen sicheren Arbeitsplatz. Der damalige amerikanische Präsident Cleveland beurteilte die Lage als so gefährlich, dass er Truppen in die Stadt entsandte. 1905 wurde Chicago dann zum Gründungsort der Industrial Workers of the World (Wobblies), jener legendären radikalen Gewerkschaftsbewegung, deren bekanntester Vertreter wohl Joe Hill war. Während eines Streiks festgenommen, wurde er 1915 in Salt Lake City hingerichtet. Ein politisches Kampflied über ihn ist inzwischen zum Volkslied geworden:

 

»Ich sah im Traum Joe Hill vor mir.

Ganz deutlich sein Gesicht.

Sprech' ich: Bist du nicht lange tot?

Sagt er: Ich sterbe nicht.

 

In Salt Lake City, Joe, sprech' ich,

da irrte das Gericht.

Unschuldig gingst du in den Tod.

Nein, schuldig war ich nicht.

 

Den Herren von der Industrie,

den' warst du unbequem.

Unschuldig gingst du in den Tod.

Er spricht: So ist's geschehen!

 

Da stand er vor mir, lebensgroß,

und lächelte mir zu.

Was tut's, wenn einer von uns stirbt.

Wir geben keine Ruh'.«

3. Chicago und Al Capone

Eine andere Epoche, die zum Klischee des »bösen Chicago«, der Windy City, beigetragen hat, ist die Zeit der Prohibition in den 20er Jahren. Damals hatte der noch junge Gangster Johnny Torrio, die beherrschende Persönlichkeit der Unterwelt von Chicago, einen Einfall. Er rechnete sich aus, dass er das große Geld machen könnte, wenn er den illegalen Verkauf von Spirituosen in der Stadt unter seine Kontrolle brächte. Torrio holte sich als Lieutenant einen 23jährigen Neapolitaner aus New York, dessen Karriere in der berüchtigten Five-Points-Gang und als Schüler von Lefty Louie und Gyp the Blood begonnen hatte. Er versprach ihm die Hälfte aller Einnahmen aus dem Bootlegging-Geschäft, sofern es ihm nur gelinge, unliebsame Konkurrenten auszuschalten. Der junge Mann, der sich in dem Spielsalon »Vier Würfel« etablierte, hatte auf seinem Schreibtisch demonstrativ eine Familienbibel liegen und ließ sich Visitenkarten mit der Inschrift drucken: »Händler in Möbeln aus Zweiter Hand, 2220 South Wabash Avenue.« Der junge Mann hieß Al Capone. Heute bedient sich Chicago seiner Gestalt als Touristenattraktion! Innerhalb von drei Jahren verfügte er über eine Streitmacht von 700 Mann, die alle ausgezeichnet mit Gewehren mit abgesägten Läufen und den eben aufkommenden Thompson-Maschinenpistolen umzugehen verstanden.

Mitte der 20er Jahre war der Stadtteil Cicero fest in Capones Hand. Seine Agenten kontrollierten alle Spielsalons und 161 Bars. Und Capone war es, der darüber bestimmte, wer Bürgermeister in Chicago wurde. Die Summen, die er durch Schutzgelder einnahm, gingen in die Millionen. Torrio wurde immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Allerdings war die Errichtung von Al Capones Vorherrschaft nicht ohne Blutvergießen abgegangen. Die Standardmethode, einen Rivalen auszuschalten, bestand darin, seinen Wagen mit einem Auto voll schwerbewaffneter Männer zu verfolgen, ihn an den Randstein zu drängen, die Konkurrenz mit ein paar Salven vom Leben in den Tod zu befördern und dann im Verkehrsgewühl unterzutauchen.

Die Gang eines gewissen Dion O’Banion stellte eine Zeit lang eine Bedrohung für die absolute Herrschaft Capones über Chicago dar. Der Mord an diesem Konkurrenten hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Geschichte vom Judaskuss. O’Banion war ein Schwarzbrenner und Gangster bei Nacht, tagsüber betrieb er einen Blumenladen. Er kannte sich mit Orchideen ebenso gut aus wie mit Revolvern und Schnellfeuerpistolen. Eines Morgens hielt ein Auto vor seinem Blumengeschäft. Drei Männer stiegen aus, ein Vierter blieb hinter dem Steuer zurück. Die drei Männer traten im Laden auf O’Banion zu; offenbar war er mit ihnen vertraut. Der Mittlere unter den drei Besuchern schüttelte ihm die Hand und hielt ihn fest, während seine Begleiter sechs Schüsse auf ihn abgaben. Er war auf der Stelle tot. Die drei Gangster verließen seelenruhig das Blumengeschäft und fuhren in ihrem Auto davon. Sie kamen nie vor Gericht. O’Banion bekam ein pompöses Begräbnis, lag in einem Tausend-Dollar-Sarg, 26 Lastwagenladungen mit Blumen wurden herbeigeschafft, darunter auch ein Gebinde mit der Inschrift »Von Deinem Al«. 1926 bediente sich die O’Banion-Gang, trotz des Verlustes ihres Bandenchefs noch intakt, einer neuen Methode, die selbst in Kreisen der Unterwelt als höchst unfein bezeichnet wurde. Am helllichten Tag wagten sie es, Al Capones Hauptquartier im Hawthorn-Hotel mit Maschinengewehrfeuer aus acht Autos heraus zu belegen. Die Wagen fuhren langsam am Haus vorbei. Zunächst wurden Schüsse in die Luft abgegeben, um die Passanten zu warnen. Kaum hatten sich Capones Männer an Fenstern und Türen auf der Vorderseite postiert, rasten einige Wagen einen Block weiter und beschossen von dort die Rückseite des Gebäudes. Nachdem sich die Aufmerksamkeit im Hotel dorthin gewandt hatte, kniete sich vorn ein Mann aufs Pflaster und gab mehrere hundert Schuss in Richtung Empfangshalle ab. Der Bandenkrieg dauerte bis zum St. Valentins-Tag 1929. An diesem 14. Februar, um 9 Uhr 30 vormittags, warteten sieben Mitglieder der O’Banion-Gang in einer Garage in der North-Clark- Street auf eine Ladung schwarzgebrannten Schnaps. Plötzlich fuhr ein Cadillac in die Garage. Ihm entstiegen drei Männer in Polizeiuniform und zwei Zivilisten. Die Polizisten entwaffneten die sieben Gangster. Sie befahlen ihnen, sich in einer Reihe mit dem Gesicht gegen die Wand aufzustellen. Die Männer der O’Banion-Gang gehorchten. Sie waren an Polizei-Razzien gewöhnt und erwarteten, schließlich unbehelligt davonzukommen. Stattdessen brachten die Zivilisten eine Maschinenpistole in Anschlag und erschossen die mit erhobenen Händen wartenden Gangster. Dann fuhren sie mit den vermeintlichen Polizisten zusammen ab.

Das sogenannte »St. Valentins-Massaker«, das später sogar in einen Marilyn-Monroe-Film einging, und die Ermordung Jake Lingles, eines Mannes, der ein Doppelleben als Journalist und Gangster führte, in einem überfüllten U-Bahn-Waggon 1930 waren die spektakulärsten Ereignisse dieses Jahrzehnts. Insgesamt kam es in diesen Jahren zu rund 500 Morden, von denen die wenigsten aufgeklärt wurden. Man schätzt, dass Al Capone bis 1927 aus den Schutzgeldern pro Jahr etwa 60 Millionen Dollar einnahm. Seit seinem Auftauchen in Chicago 1920 war er zu einer Person, »so bekannt wie ein Boxweltmeister oder ein Millionär«, geworden.

American Memories

»Die Near North Side besteht zum vorwiegenden Teil aus sich hoch auftürmenden, teuren Apartment-Gebäuden und Nachtclubs. Hier versammeln sich die Junggesellen und junge Damen, die Karriere machen. Letztere teilen sich oft eine Wohnung. Das Viertel liegt bemerkenswert angenehm nahe zum Loop, zum See und zu den Straßenzügen, wo was los ist. Hier spielt sich das meiste Nachtleben der Stadt ab.«

Studs Terkel,

Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen

Er kontrollierte nicht nur die 10.000 Flüsterkneipen in Chicago, sondern auch den illegalen Alkoholhandel bis Kanada und Florida. Festgenommen wurde er in Philadelphia nur einmal wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Im übrigen stand er in diesem Jahrzehnt über dem Gesetz. In Chicago fuhr er in einem Panzerwagen umher. Wenn er ins Theater ging, umgab ihn eine Bodyguard von achtzehn jungen Männern in Smoking und mit merkwürdig ausgebeulten Ärmeln. Er besaß fünf Anwesen in Miami. Politiker und Richter erhielten aus seinem Hauptquartier ihre Weisungen.

Mit Aufhebung der Prohibition war die große Zeit der Bootlegging-Gangs zu Ende. Aber nun begann die Epoche der Rackets, ein Begriff, der zunächst ganz allgemein eine Beschäftigung bezeichnete, mit der sich leicht Geld verdienen ließ. Die Gangster fingen an, die Gewerkschaften zu unterwandern, und in Chicago verlagerten die Banden ihre Schutzgeld-Erpressungen auf Färbereien und chemische Reinigungen. Hatte vorher der Kunde für die Reinigung eines Anzuges 1,25 Dollar bezahlt, so zahlte er nun 1,75 Dollar. Geschäftsleute, die sich den Erpressungen widersetzten, riskierten, dass ihr Geschäft in die Luft flog. Entweder wurden Bomben geworfen, oder es wurde Sprengstoff in die Nähte der zum Reinigen abgegebenen Kleider eingenäht. War die beliebteste Waffe der Bootlegger die Maschinenpistole, so verwendeten die Rackets meist Bomben und Sprengstoffladungen. Von Chicago aus verbreiteten sie sich bald über das ganze Land.

4. Chicago - Architekturmuseum unter freiem Himmel

Wer in diesen Tagen nach Chicago kommt, findet als Erinnerung an Al Capone nur noch ein Museumsplakat. Heute präsentiert sich die Stadt vielmehr als ein Architekturmuseum unter freiem Himmel. Die Entwicklung Chicagos auf diesem Gebiet begann bereits nach dem Großen Feuer 1871 und erfuhr durch die World Columbia Exposition 1893 den entscheidenden Impuls. Sie wurde dadurch gefördert, dass die Stadt ihr Image als Porcopolis, als »Stadt der Schweine«, loswerden wollte. Schon damals wurde in Chicagos Wirtschaft gut verdient, wenngleich auf anderen Gebieten als heute. Und man gedachte, das Image der Stadt durch ein Mäzenatentum in verschiedenen Bereichen aufzupolieren. So begann damals neben der großen Tradition des Philharmonischen Orchesters auch Chicagos Ruf als Museumsstadt.

Anlässlich einer Columbus-Ausstellung lud die Stadt den französischen Impressionisten Camille Pissarro ein, um den Rinderbaronen und Schlachthofbesitzern einmal einen echten Künstler zu präsentieren. Als der Maler gefragt wurde, ob er vorhabe, zu dem Weltereignis am Michigan-See zu kommen, soll er allerdings mürrisch geantwortet haben: »Wer zum Teufel will zu diesen Metzgern gehen?!« Andererseits begann mit der Ausstellung in der Stadt eine Epoche klassizistischer Baukunst, und nach dem zweiten Großbrand im Jahre 1874 wurde im Häuserbau eine Technik entwickelt, die es ermöglichte, Gebäude brandsicher und »wolkenhoch« zu bauen - Letzteres auch dank der Erfindung des elektrischen Fahrstuhls. Damit kam ein neuer Stil, rational und ohne Repräsentationspathos, der Utilitarismus, auf. Und schon jetzt entwarf man Neubauten gemäß dem Leitspruch, wonach die Form der Funktion zu folgen habe. Formuliert hat dies Louis Sullivan jedoch erst ein Vierteljahrhundert später. Das Gebäude der Chicago School of Architecture, nach seinem Bauherren Leiter-Building genannt, ist ein gutes Beispiel für die Anfänge dieser Stilepoche. Es ist heute allerdings nur noch auf Fotos zu betrachten, weil es inzwischen wieder abgerissen wurde.

Wer sich einen ersten Eindruck von der Imposanz Chicagos verschaffen will, tut das am Besten von jenen Schiffen aus, die am Navy Pier abgehen. Hier war früher einer der größten Binnenhäfen der Welt. Nach seinem Niedergang hat er einem Freizeitpark Platz gemacht. Das Zentrum, in dem die architektonisch interessantesten Bauten liegen, verdankt seinen Spitznamen Loop jener Schleife, auf der die kürzlich modernisierte Hochbahn »EL« (für Elevated Train) seit etwa hundert Jahren verkehrt. Mit dem Chicago River im Norden und Westen, dem See im Osten und der südlichen Trasse der EL bildet der Loop die Trennungslinie zwischen Downtown und den Vorstädten. In einem Quadrat von anderthalb Kilometern und an den sich nördlich davon anschließenden Vierteln um die Magnificent Mile liegt das wirtschaftliche Zentrum mit den eindrucksvollsten Bauten Chicagos.

Seit es die Schlachthöfe nicht mehr gibt, hat sich Chicago zu einem wichtigen Börsenplatz entwickelt, der im Begriff steht, der Wallstreet ernsthafte Konkurrenz zu machen. Dort, wo 1812 bei einem Überfall der Indianer 350 Siedler getötet wurden, erhebt sich an der Magnificent Mile heute das Wrigley-Building und der Chicago Tribune-Tower. Ersteres wurde 1925 nach dem Vorbild der Kathedrale von Sevilla errichtet und beherbergt das Hauptquartier des Kaugummi-Imperiums. Mit seinem märchenhaften Charakter ist es das vielleicht beliebteste Bauwerk bei den Bürgern der Stadt. Das 1925 vollendete Gebäude der Chicago Tribune orientierte sich ebenfalls an europäischen Vorbildern aus der Vergangenheit: am »Butterturm« der Kathedrale von Rouen. Die Chicago Tribune, angeblich die größte Zeitung der Welt, ließ in das Sockelgeschoss ihres Verwaltungsturms Teile der Burg Ehrenbreitstein, des Louvre, der Chinesischen sowie der Berliner Mauer einfügen.

William Le Baron Jenney, geistiger Vater der modernen Wolkenkratzer, Louis Sullivan mit seinem Schlagwort »form follows function« und Frank Lloyd Wright – ihre Namen stehen für drei Generationen von Architekten, bei denen eine jeweils bei der vorangegangenen ihr Handwerk gelernt hat. Die klaren Linien aus Glas und Stahl, die heute das Bild der Innenstadt prägen, spiegeln das Formempfinden des deutschen Architekten Mies van der Rohe wieder, der in den 30er Jahren auf der Flucht vor den Nazis nach Chicago gelangte und bis zu seinem Tod 1969 in der Stadt lebte.

American Memories

»Die alte Stadt ist das Viertel der Handwerker und Künstler nördlich von Near North. Es hat einen Hauch von Greenwich Village mit Cafes, den Studios von Künstlern, Antiquitätengeschäften, Restaurants und so weiter. Sein phänomenales Wachstum in den 60er Jahren hat The Boys (die Syndikate) angelockt. Offenbar spielt sich da mehr als nur Kitschkultur ab.«

Studs Terkel,

Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen

Heute baut in Chicago schon jene Generation, die bei ihm in die Lehre gegangen ist. Ein Apartment-Haus in Form eines Ypsilon, das beim Spaziergang zwischen Navy Pier und Downtown ins Auge fällt, entwarfen 1968 die beiden Mies van der Rohe-Schüler Schipporeit und Heinrich. Werner Jacob beschreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diese Bauten so: »Mit dem charakteristischen Bronzebraun der Aluminiumfront griffen die Adepten nicht nur die formalen und innovativen Traditionen ihres Mentors auf, sondern entwickelten auch andere neue Qualitäten. Die Ypsilon-Gestalt des mit siebzig Stockwerken höchsten Apartment-Hauses der Stadt und ersten Wolkenkratzers mit gerundeter Metallfassade erlaubt den Bewohnern in allen Wohnungen eine panoramische Sicht auf See und Stadt. Um wie viel eleganter als seine Urväter dieser Mies-Nachkömmling ist, kann man auf der Nordschleife der Bootstour feststellen: Am nördlichen Lake Shore-Drive stehen vier 26 bis 29 Etagen hohe Stahl- und Glastürme des Meisters aus Deutschland. Die beiden Ersten entstanden 1954 und markieren mit ihren streng rechtwinkligen Grundrissen und ebenso gerasterten, die Senkrechte betonenden Fronten Beginn und Durchbruch seiner Maxime des ›Beinahe nichts‹.«

Natürlich fallen dem Besucher zunächst jene Bauten ins Auge, die Rekorde machten. Da ist vor allem das John Hancock-Center am nördlichen Ende der Michigan Avenue und der Sears-Tower am Ostrand des Banken- und Börsenviertels am Loop.

Der Sears-Tower mit seinen 443 Metern Höhe blieb 22 Jahre lang der höchste Bau der Welt. Erst vor Kurzem überflügelten ihn die vom New Yorker Architekten Cesar Pellis entworfenen Zwillingstürme in Kuala Lumpur um sechs Meter und sechzig Zentimeter. Doch schon entsteht, ebenfalls von Pellis entworfen, nicht weit von Sears-Tower ein weiterer Bau, der knapp 800 Meter hoch sein wird, höher als jedes bisher existierende Gebäude. Von diesen beiden Giganten hat man die beste Aussicht auf die Stadt. Nordöstlich davon erhebt sich Big Stan, ein weißer Marmorbau der Standard Oil, und auf der Nordseite der Magnificent Mile gelangt man schließlich zum hundert Stockwerke hohen John Hancock-Center, einer Stadt für sich mit Wohnungen, Geschäften und Garagen. Den Weg in den 94. Stock zum Observatorium im Hancock-Center schafft der schnellste Lift der Welt in 39 Sekunden. Darüber liegt noch das höchste Restaurant Chicagos, von dem man angeblich bei klarem Wetter 130 Kilometer weit nach Wisconsin, Indiana und Michigan sehen kann. Recht verloren unter diesen Riesen nimmt sich der alte Wasserturm aus, eines der wenigen Gebäude, die das Feuer von 1871 unversehrt überstanden haben. An ihm lässt sich die Entwicklung innerhalb der Stadt während nur eines Jahrhunderts eindrucksvoll ablesen.

5. Chicago – Zentrum moderner amerikanischer Literatur

Nach alledem, was wir bisher gehört haben, mag es erstaunen, dass Chicago seit dem 19. Jahrhundert zu einem Zentrum moderner amerikanischer Literatur geworden ist. In seinem 1883 erschienenen Leben auf dem Mississippi nennt Mark Twain die Stadt einen Ort, »wo sie ständig Aladins Wunderlampe reiben, um den Geist zu rufen, wo sie ständig neue Unmöglichkeiten ersinnen und vollbringen«.

Die im Zeichen bürgerlicher Wohlanständigkeit im neuenglischen Osten der USA entstehende Literatur Amerikas stand im krassen Gegensatz zur deprimierenden Kehrseite der Modernität des sich rasch entwickelnden Chicagos, dem Massenelend der Zu-Kurz-Gekommenen, das die theatralische Traumstadtkulisse der großen Ausstellung verbergen sollte. Die Urban Blight, die soziale Verwahrlosung, war in dieser Stadt seit der ersten Industriellen Revolution immer ein Problem. Tausende wurden in ghettoartigen Notquartieren zusammengedrängt. Daher ist es auch kein Wunder, dass die Stadt um die Jahrhundertwende ein Sammelpunkt für politische Radikale wurde. Ein Buch, das diese Problematik eindrucksvoll dokumentiert, stammt von der ebenso streitbaren wie gebildeten Jane Addams aus Cedarville, Illinois, die 1889 südwestlich des Loop in den wüstesten Slums der damaligen Zeit das sogenannte Hull-House gründete, das, wie es Hans Egon Holthusen genannt hat, »eine Art Kombination von Armenasyl, Nachbarschaftsklub und Kulturzentrum mit College-Charakter (bildete) und heute als nationales Kulturobjekt unter Denkmalschutz gestellt ist.« Jane Addams, die sich nicht nur für die Ärmsten der Armen einsetzte, sondern sich auch als Frauenrechtlerin einen Namen machte, wurde 1931 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

American Memories

»Das Outer Drive ist die Durchfahrtsstraße, die sich entlang des Sees fast durch die ganze Stadt hinzieht. Die Stadtväter waren sich bewusst, dass Autofahrer Zeitprobleme haben und bequem fahren wollen. Deswegen ließen sie achthundert Bäume im Jackson Park auf der South Side fällen.«

Studs Terkel,

Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen

Für die Schriftsteller der Gentile Tradition, zu denen im vorigen Jahrhundert die in Deutschland unbekannt gebliebenen Autoren Henry Blake Fuller, Robert Herrick und Hamlin Garland zu rechnen sind, wurden vor allem die Atmosphäre der Chicagoer Gründerjahre, die Aufsteiger und Baulöwen der »windigen Stadt«, die Vergötzung des Erfolgs zu Themen, die sie beschäftigten. Zur nächsten Generation gehört dann schon der auch in Deutschland bekannt gewordene Theodore Dreiser (1871 bis 1945) mit seinem 1900 erschienenen Roman Sister Carrie, der das Schicksal eines naiven Mädchens aus der Provinz, das in die Großstadt Chicago kommt, zum Inhalt hat. Waren die berühmten Schlachthöfe schon 1870 eröffnet worden, so wurde Upton Sinclair (1878 bis 1968) mit seinem Roman Der Dschungel von 1906 zu ihrem kritischen Chronisten. Sein Buch wiederum beeinflusste nachdrücklich Bertolt Brecht und spiegelt sich in dessen Lehrstück Die Heilige Johanna der Schlachthöfe. Upton Sinclair und Theodore Dreiser begründeten letztlich den literarischen Ruf dieser Stadt.

Über der sozialkritischen Literatur, die in Chicago immer eine Heimat hatte, wird leicht vergessen, welcher Einfluss von hier auf die literarische Moderne ausging. Es war Ezra Pound, der in Chicago den Kristallisationspunkt für eine neue amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts – später »Chicagoer Renaissance« genannt – sah. Pound prophezeite, dass im Vergleich mit ihr die italienische Renaissance ein »Sturm im Teekessel« gewesen sei. Seine Hoffnungen setzte Pound vor allem auf die Zeitschrift Poetry, gegründet 1912, und die Little Revue, die die bildschöne Margret Anderson als radikal-avantgardistisches Unternehmen 1914 gestartet hatte. Ab April 1918 erschien in ihr der Ulysses von James Joyce als Vorabdruck, was der Zeitschrift 1920 ein Gerichtsverfahren einbrachte. Beide Zeitschriften spielten eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung dreier bedeutender amerikanischer Lyriker. Da ist zunächst einmal Vachel Lindsay: Ein dichtender Vagabund aus Springfield, Illinois (1879 bis 1931), der 1913 mit dem Gedicht »General William Booth geht in den Himmel« eine Ballade auf den Gründer der Heilsarmee schrieb und dessen vielleicht berühmteste Verse »The Congo« den in dieser Zeit in Chicago aufkommenden Jazzrhythmus in ein episches Gedicht einfließen ließen.

 

»FAT black bucks in a wine-barrel room,

Barrel-house kings, with feet unstable,

Sagged and reeled and pounded on the table,

Pounded on the table,

Beat an empty barrel with the handle of a broom,

Hard as they were able,

Boom, boom, BOOM,

With a silk umbrella and the handle of a broom,

Boomlay, boomlay, boomlay, BOOM.

THEN I had religion, THEN I had a vision.

I could not turn from their revel in derision.

THEN I SAW THE CONGO, CREEPING THROUGH THE BLACK,

CUTTING THROUGH THE JUNGLE WITH A GOLDEN TRACK ...!«

 

Heute findet man vor allem seine Absicht, eine mündliche Tradition in der Lyrik wiederzubeleben, interessant. Zwei seiner populärsten Gedichte, »The Congo« und »The Santa Fe-Trail«, hat er selbst als den Versuch bezeichnet, die Vaudeville-Form auf die halb ausgesungene Lyrik der alten Griechen zurückzuführen. Viele seiner Gedichte tragen den Vermerk, man müsse sie unbedingt laut und in einer Art Sprechgesang vortragen.

Der zweite Dichter der Chicago-Renaissance ist Edward Lee Masters. Er wurde 1869 in Garnett, Kansas, geboren, wuchs in Kleinstädten des Mittelwestens auf und war zwischen 1891 und 1920 Anwalt in Chicago. Sein bekanntestes Werk ist der 246 Gedichte in freiem Rhythmus umfassende Zyklus Spoonriver Anthology (deutscher Titel: Die Toten von Spoon River). In seinen Gedichten kommen die Einwohner einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt zu Wort, die gewissermaßen aus dem Grab heraus Rückschau auf ihr Leben halten und, indem sie von ihren Frustrationen, ihrer Isolation und der Macht des Neides berichten, den Mythos von der kleinstädtischen Idylle aufheben. Masters ist in der Tradition eines Walt Whitman zu sehen; seine realistische, desillusionierende Lyrik bildet das Verbindungsglied zu Sherwood Anderson und seinem Werk Winesburg, Ohio. In ge-wissem Sinn war dieser, von seinem Schüler allerdings verspottet, Ernest Hemingways Lehrer. Hemingway stammt aus Oakpark, einem vornehmen ländlichen Vorort von Chicago. Die Landschaft der Prärie und des Michigan-Sees bilden die Kulisse für viele seiner Kurzgeschichten.

Die Zeitschrift Poetry war es, die schon 1914 die Eröffnungsverse aus den Chicago Poems von Carl Sandburg ihren Lesern vorstellte. Sandburg, Sohn eines eingewanderten Eisenbahnarbeiters, der später auch durch seine dreibändige Abraham Lincoln-Biographie bekannt wurde, wurde zum repräsentativen Lyriker seiner Generation im Mittelwesten. Auch er kam aus der Tradition eines Walt Whitman und versuchte, aus der Umgangssprache seine Lyrik zu formen. Voller Pathos verstand er sich als der Barde des einfachen Mannes. Verse wie »Schweinemetzger für die Welt // Werkzeugmacher, Weizenstapler, Spieler mit Eisenbahnen und Frachtverteiler der Nation // Stürmisch, rüde, lärmerfüllt // Stadt der breiten Schultern« kennt noch heute jeder lokalpatriotisch gesinnte Einwohner Chicagos auswendig. Dass die akademischen Kritiker in New York über solche Zeilen die Nasen rümpften, focht den Dichter nicht an, der darauf erwiderte: »Hier haben wir den Unterschied zwischen uns und Dante. Dieser schrieb eine Menge über die Hölle, ohne sie je gesehen zu haben. Wir schreiben über Chicago, nachdem wir uns genau dort umgesehen haben.«

Für den berühmten amerikanischen Literaturkritiker Henry Louis Mencken aber war Chicago, und das nicht zuletzt wegen Carl Sandburgs Lyrik, zwischen 1910 und 1920 fast so etwas wie die literarische Hauptstadt der USA. Er schrieb: »Finde einen Schriftsteller, der mit jedem Pulsschlag, jedem Schnaufer, mit all seinen Drüsen ein unzweifelhafter Amerikaner ist. Der etwas Neues und eigentümlich Amerikanisches zu sagen hat, und in neun von zehn Fällen wirst du entdecken, dass er in irgendeiner Art von Beziehung steht zu jenem gargantuanisch-überbordenden Schlachthaus am Michigan-See, dass er dort in die Welt gesetzt wurde oder dort angefangen hat oder durch die Stadt hindurchgegangen ist, in jenen Tagen, da sie jung und biegsam war ...«

Als Carl Sandburg 1967 starb, wurde seine Nachfolgerin als poeta laureatus des Staates Illinois Gwendolyne Brooks, geboren 1917 in Kansas: eine elegante Dichterin aus dem schwarzen Chicago. Die repressive Gesellschaftsordnung der Stadt findet vor allem in der Prosa von Richard Wright (1908 bis 1960) ihren Ausdruck. Man hat seinen bekanntesten Roman Native Son, erschienen 1940, die Geschichte eines jungen Schwarzen von der Südseite, der zum Mörder wird, Dreisers American Tragedy aus der Generation davor gegenübergestellt. In den Elendsquartieren der polnischen Einwanderer Chicagos spielt der bekannteste Roman von Nelson Algren (geboren 1909 in Detroit), Der Mann mit dem goldenen Arm, der zum ersten Mal überzeugend und ohne Beschönigung das Rauschgiftproblem in den amerikanischen Slums darstellte.

Der berühmteste Romancier Chicagos freilich ist der 1976 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete, in Kanada geborene, aber schon als Kind in die Stadt gekommene Saul Bellow. Ein Satz aus seinen Romanen, die die finsteren Seiten der Stadt besingen, gibt überzeugend die Atmosphäre in den schwarzen Ghetto-Vierteln der Südseite während der 50er und 60er Jahre wieder: »Wohnhäuser loderten in Oakwood mit großen Flammenschals, die Sirenen jaulten unheimlich, die Feuerwehr, Krankenautos und Polizeiwagen – eine Tolle-Hunde-, Lange-Messer-, Notzucht- und Mordnacht. Tausende von Hydranten offen, die aus beiden Brüsten Wasser sprühten. Die Ingenieure waren verblüfft, wie der Spiegel des Lake Michigan fiel, als diese Tonnen von Wasser sich ergossen. Kinder lauerten mit Handfeuerwaffen und Messern.«

6. Chicagos Slums in den 60er Jahren

Hier kann ich mit eigenen Erfahrungen aus dem Jahr 1968 aufwarten. In meinem Tagebuch habe ich damals notiert: »... Dann also schon heute hinaus ins Southend, wo ich mich in dem Jugendzentrum eines Ghettoviertels ein paar Tage umsehen soll. Die Entfernungen in dieser Stadt sind gewaltig. Im Bus werden es immer weniger Weiße, immer mehr Schwarze steigen zu. Schließlich bin ich der einzige Hellhäutige hier. Ein seltsames Gefühl, einmal die Minderheit zu sein. Nicht, dass mir Irgendjemand zu nahe treten würde, nicht, dass mich Jemand anstarrt. Es ist viel undramatischer. Man ist ein Einzelner, und die anderen sind viele. Ich begreife auf dieser Busfahrt zum ersten Mal ganz deutlich, was es heißt, zu einer Minderheit zu gehören, die sich schon durch ihre Hautfarbe verrät. Und in dieser Situation sind Schwarze in diesem Land ein ganzes Leben lang.

Das Viertel, in dem das Jugendzentrum liegt, ist zwanzig Minuten vom Stadtzentrum entfernt und längst noch nicht am Stadtrand. Die Häuser sind aus Holz und zerfallen, die Fensterscheiben meist eingeschlagen und durch Pappe, Blech oder Fliegendraht ersetzt. Auf der Straße liegt Unrat. Am Straßenrand noch die ausgebrannten Autowracks von den letzten Unruhen. Es wimmelt von Kindern. Die Menschen sitzen apathisch vor ihren Häusern. Es ist heiß, jetzt im August, über 30 Grad im Schatten. Die Luft ist feucht und stinkt. Der Laden an der Ecke ist ein Schnapsgeschäft, davor torkeln ein paar Betrunkene herum.

Der Leiter des Jugendzentrums sagt: ›Ich kämpfe hier auf verlorenem Posten. Hier ist nichts zu retten. Die Verhältnisse sind stärker als das bisschen Flickwerk, das wir leisten können. Ich weiß nicht, wie lange ich es hier noch aushalte.‹ Dieser junge Schwarze hat mit viel Idealismus seine Tätigkeit als Sozialarbeiter begonnen. Nun ist er am Ende seiner Kräfte. ›Das Beste wäre‹, erklärt er resignierend, ›das ganze Viertel würde eines Tages abbrennen.‹

American Memories

»Große Teile der South Side und der Near West-Side umfassen die schwarzen Ghettos, die ausgedehntesten im ganzen Land. Es gibt kleinere Ghetto-Bezirke in anderen Teilen der Stadt. Das ist natürlich inoffiziell. Der (ehemalige) Bürgermeister Richard J. Daley verkündete am 4. Juli 1963: ›Es gibt keine Ghettos in Chicago!‹«

Studs Terkel,

Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen

Etwas tun? Feuer legen vielleicht. Alle Häuser sind überbelegt: Zwischen zwölf und achtzehn Menschen in zwei, manchmal in drei Zimmern zusammengepfercht – das ist die Regel.

Die Zahl der unehelichen Geburten ist hier fast so hoch, wie die der ehelichen. Die Männer kommen und gehen, die Frauen und Kinder bleiben, und es werden immer mehr hungrige Mäuler. Die Arbeitslosenziffer in diesem Bezirk (damals, im Sommer 1968), in dem schätzungsweise zehn- bis zwölftausend Menschen mehr vegetieren als leben, liegt bei 85 Prozent.

Aber in nahezu jeder Wohnung gibt es einen Fernsehapparat, oft ist er fast das einzige Inventar. Meist ist er noch nicht bezahlt, und auf den Raten liegen Wucherzinsen. Auf dem Bildschirm sieht der Slumbewohner fast 24 Stunden am Tag das üppige Angebot der Konsumgesellschaft vorbeiflimmern; Autos, Kühlschränke, Motorboote, ein Grundstück an einem Waldsee – eine narrende, verhöhnende Fata Morgana.

Weil die Schwarzen auf schlechte Wohngebiete verwiesen sind, ist ihre familiäre Situation nicht selten chaotisch. Weil die Familienverhältnisse zerrüttet, die Wohnung miserabel, das Einkommen der Eltern unzureichend ist und somit nicht einmal die nötigsten Kleidungsstücke angeschafft werden können, gehen viele Kinder nur unregelmäßig zur Schule. Manchmal auch gar nicht.

Es ist halb sechs Uhr abends. Der Leiter des Jugendzentrums hat seiner Gruppe versprochen, mit ihr an den Michigan-See zum Baden zu fahren. Er kann mich nicht mit dem Auto in die City zurückbringen. Ich laufe zur Bushaltestelle, und es wird ein Spießrutenlaufen. Ich bin normal gekleidet, nicht auffällig, aber für diese Leute hier ist allein meine ganz normale Kleidung und meine weiße Haut eine unerhörte, mir auch völlig verständliche Provokation. Sie werfen Steine nach mir, sie spucken mich an. Sie brüllen mir Schimpfnamen ins Gesicht. Es würde mich nicht wundern, wenn sie versuchten, mich totzuschlagen. Es ist eine Wegstrecke von fünf oder sechs Minuten vom Jugendzentrum zur Bushaltestelle, aber ich frage mich allen Ernstes, ob ich mein Ziel lebendig erreichen werde.

Ich denke immer wieder: Dieser Zorn ... Sie haben ja recht. Es muss so sein. Es ist zwangsläufig, wenn du hier lebtest, nach ein, zwei Monaten wärst du auch so. ›Du Narr‹, sagt Alice abends zu mir, als ich ihr meine Erlebnisse erzähle, ›du Narr, dort wäre dir niemand zu Hilfe gekommen. Dorthin wagt sich nicht einmal die Polizei.‹«

Als ich 1996 dort draußen vorbeifuhr, blieb nur Zeit für einen flüchtigen Blick auf dieses Viertel. Ich kam mir ziemlich schäbig vor, als ich da hinter Glas vorbeisegelte. Schäbig, weil ich zu feige gewesen war, hinauszufahren und nachzusehen, wie es heute steht.

7. Chicago und der Jazz

Chicago ist auch eine Musikstadt. Im Herbst 1997 wird der Umbau des 106 Jahre alten Hauses des Chicagoer Symphonie-Orchesters am 4. Oktober mit der Aufführung von Beethovens Fünfter SymphonieChicago Symphony Orchestra