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Lionel Davidson

Tod in Chelsea

Roman


 Ins Deutsche übertragen von
 Christine Frauendorf-Mössel


Edel eBooks


Copyright © 1978 by Lionel Davidson

Copyright first German edition © 1992 by Goldmann

Ins Deutsche übertragen von Christine Frauendorf-Mössel

The publication of this work has been arranged by Michael Meller Literary Agency GmbH, Munich.
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37

Alle Welt war natürlich schockiert.

Frank war entsetzlich schockiert.

Artie befand sich praktisch noch wochenlang nach Steves Verrat und angesichts der schrecklichen Dinge, die er verbrochen hatte, in einer Art Schockzustand.

Rückblickend war selbst Steve ein bißchen schockiert.

Einige bezeichneten ihn als Feigling, andere als Unmensch, aber alle waren sich darin einig, daß er geistig zurechnungsfähig war. Deshalb bekam er lebenslänglich.

Artie bekam sechs Monate.

Mooney bekam den Job beim »Globe«.

Mason wurde zum Sergeant befördert.

Nicht wenige allerdings behaupteten, es sei ja schön und gut, daß die Morde von Chelsea aufgeklärt worden seien, aber was sei mit der ersten Serie von Morden, die auch in Chelsea verübt worden waren?

Warton, mittlerweile Inhaber seines Traumjobs (feste Dienstzeiten zwischen 9.30 und 17.30), hatte auf alles eine angemessene Antwort.

Er konnte auf die lange Liste ungelöster Verbrechen verweisen, mit der die Polizei überall in der Welt leben muß. Er erklärte, fast alle hätten Germaine Roberts ein böses Ende prophezeit, und die Vorhersage war eingetroffen. Miss Manningham-Worsley war natürlich ein anderer Fall, aber konnte man allen Ernstes behaupten, nach zweiundachtzig Lebensjahren habe der Tod sie jäh aus dem Leben gerissen? Was Alvin C. Schuster betraf (höchstwahrscheinlich das Opfer einer Verwechslung), so garantierte ihm sein bizarres Ende eine noch lange währende Berühmtheit.

Jedenfalls war das alles in Chelsea geschehen, wo nach Wartons Ansicht eben alles möglich war. Das Spiel von Mörder und Polizist war für ihn sowieso zu Ende. Zu oft war er in diesem Spiel an der Nase herumgeführt worden; und sicher war er nicht der einzige.

I


Sie hatte drei Lilien
in der Hand.

Und die Sterne in ihrem Haar
waren sieben.

10

Was die Mieze betraf, hatte Mason recht. Allerdings waren ihre Beweggründe andere. Brenda war durchaus interessiert. Sie haßte es, Abende lang wie eine dämliche Puppe herumzusitzen, während sich die anderen klug unterhielten. Manchmal waren Schauspieler und Schauspielerinnen dabei. Letztere waren ihr lieber. Sie wußte, sie war hübscher als die meisten, aber leider hatten die mehr zu erzählen. Eigentlich war sie schon geschmeichelt, daß man sie dazu gebeten hatte.

An diesem Abend war sie eingeladen worden, in »The Potters« zu kommen, und sie war froh, endlich was zu sagen zu haben.

Leider war Frank anwesend, und den konnte sie nicht ausstehen.

»Hast du ihm gefallen, Schätzchen?« fragte Frank mit einem Nicken in ihre Richtung. »Du weißt schon, der Schnüffler. Hat er geschnüffelt?«

»Keine Ahnung, wirklich«, entgegnete Brenda.

»Ich wette, er hat. Glaub mir. Ich habe einen Riecher für die Kripo. Mir läuft es kalt über den Rücken, wenn einer in der Nähe ist.«

Mit Frank stimmte was nicht. Das war allen aufgefallen. Steve hatte ihn bereits mehrfach angeschnauzt, er solle den Mund halten. Brenda wäre es lieber gewesen, er hätte sich endlich daran gehalten. Frank war ihr körperlich zuwider.

»Was will er mit einem Verzeichnis von Gedenktafeln?« fragte Steve.

»Nicht die Gedenktafeln ... die Namen der prominenten Bewohner, der toten natürlich, wie Sir Thomas More und Thomas Carlyle. Teils ist es eine Liste vom Greater London Council, G. L. C., und teils ...«

»Was wollte er denn damit?« fiel Steve ihr ins Wort.

»Keinen Schimmer, Schätzchen«, hätte sie am liebsten wie die Schauspielerinnen geantwortet. Doch sie brachte die Worte nicht über die Lippen, trotz der beiden Gin Tonics, die sie bereits getrunken hatte. Warum ließ sich keines der anderen Mädchen blicken? Allein mit den drei Männern fühlte sie sich nackt und bloß.

»Kommt Mary Mooney heute nicht?« wollte sie wissen.

»Mooney – Mooney – wir – sagen’s – nicht – Mooney«, intonierte Frank.

Steve sah ihn an. »Warum nicht?«

»Weil wir’s nicht sagen, darum«, antwortete Frank. Er ließ seinen Kopf baumeln und dabei eine kleine Holzperlenkette durch die Finger gleiten. In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, mit ihr zu spielen.

Brenda war schwindlig, von den Perlen und von den zwei Gin Tonics. Sie griff nach ihrer Handtasche. »Bin gleich wieder da«, murmelte sie und ging zu den Damentoiletten.

»Woran denkst du?« fragte Steve.

»Wir könnten uns einen Spaß machen«, antwortete Frank.

»Wie?«

»Keine Ahnung. Ich denke schon nach. Ich werde mir Brendaaaa mal zur Brust nehmen.« Frank dehnte den Namen wie Kaugummi. »Werde ihr sagen, sie soll’s vergessen.«

»Auf dich wird sie natürlich hören«, sagte Artie.

Frank musterte ihn mißbilligend. »Warum bist du heute nur ein solches Ekel.«

»Ach, leck mich doch!« zischte Artie.

»Nichts, das ich lieber täte.«

Steve beobachtete Artie. Er war gereizt. Soviel stand fest. Steve wußte, was ihn wurmte und fand es kindisch. Er hatte Artie schon unter vier Augen gesagt, warum er das mit Frank für sich behalten mußte, bis die Sache geklärt war.

»Ich halte mal einen kleinen Schwatz mit Brenda«, sagte Frank.

»Nein, laß das«, widersprach Steve, der sah, daß dieses Vorhaben Artie noch mehr vergrätzte. In letzter Zeit war er leicht reizbar. Das Mädchen würde die Sache sowieso vergessen, wenn niemand mehr darüber sprach. Aus den Augenwinkeln sah er Brenda kommen und stand auf. »Mir reicht’s für heute!« verkündete er.

»Was, jetzt schon?« Frank war verblüfft. »Was ist heute eigentlich mit euch los? Euch fehlt wohl ein klärendes Gespräch mit der Kripo. So was bringt einen richtig auf Touren. Alle müßten mal richtig auf Touren gebracht werden, stimmt’s, Schätzchen?« sagte er zu der ziemlich bleichen Brenda.

»Wie?« fragte Brenda, ohne es zu wollen.

Frank schwieg grinsend. Er ließ nur weiter seine Kette durch die Finger gleiten. Gemeinsam verließen sie den Pub. Es war ziemlich spät am Montagabend.

Am Mittwoch traf das Kuvert ein. Da es an das Hauptquartier der Mordkommission in Chelsea adressiert war, landete es zuerst im Bereitschaftsraum. Es handelte sich um einen länglichen, weißen Briefumschlag. Darin befand sich ein dreimal gefaltetes Blatt Zeichenpapier.

Darauf war in sorgfältig angeordneten Letraset-Buchstaben der gotischen Schrift folgender Vierzeiler zu lesen:

Sie hatte drei Lilien

in ihrer Hand.

Und die Sterne in ihrem Haar

waren sieben.

Da sonst nichts im Umschlag steckte, notierte der diensthabende Beamte Eingang, Datum und Zeit ins Protokollbuch. Es war Mittwoch 14 Uhr 30; damit war der erste der Morde von Chelsea offiziell.

19

Die Schlagzeilen am nächsten Morgen trieften vor Chloroform. Wie Jack bereits bemerkt hatte, war ein geistesgestörtes, mordendes Monster einsame Spitze, wenn es darum ging, die Leser bei der Stange zu halten. Wie der Würger von Boston und der Frauenschänder von Cambridge, hielt nun auch das Monster von Chelsea Einzug in den Ehrentempel der Presse.

Es wurde in voller Montur aufgenommen, mit seinem großen Kopf, dem weißen Gesicht und den gummiartigen Lippen sowie einigen interessanten neuen Eigenschaften. Der »Globe« hatte bereits enthüllt, daß hinter der Maske nicht nur ein geistesgestörtes Genie, sondern auch jemand steckte, der die Polizei mit verschlüsselten Nachrichten zum Narren hielt. Wie weiterhin sämtliche Zeitungen verbreiteten, weigerte sich die Polizei standhaft, dazu Stellung zu nehmen. Offenbar gab man der Wahrung des Rufs Vorrang vor dem Schutz der Bevölkerung.

Warton, der die Lektüre grimmig verschlang, mußte zugeben, daß sie damit einen schwachen Punkt getroffen hatten.

Ein anderer schwacher Punkt machte ihm noch mehr Kopfschmerzen.

Wie sein Brieffreund verraten hatte, war es seine Absicht gewesen, einen Kuß zu stehlen; und zwar von L. H. Demonstriert hatte er dann, daß er auch ein Leben hätte stehlen können, wenn er dies nur gewollt hätte. Das mußte ernst genommen werden.

Nur ernst in welcher Weise? Was wollte er? Wenn er nur auf Publicity aus war, hätte er die Verse gleich an die Presse schicken können. Offenbar war es das also nicht. Trotzdem hatte die Presse – oder vielmehr der »Globe« – davon Wind bekommen.

Warton juckte es in den Fingern, Mooney anzurufen und der Sache auf den Grund zu gehen. Nervös wartete er auf die Dienstanweisung, die ihn dazu ermächtigen würde. Mittags war sie noch immer nicht da. Warton las die Vorabdrucke der Abendausgaben. Überall trieb der Kuß-Dieb sein Unwesen.

Kurz vor ein Uhr schließlich rief er im Yard an und erfuhr, daß der Commissioner mit sämtlichen Abteilungsleitern über dieses Problem konferierte.

Warton legte wutschnaubend auf. Warum hatte man ihn als Leiter der Ermittlungen nicht hinzugezogen?

Er ließ sich ein Sandwich ins Büro kommen. Gegen zwei Uhr schließlich beehrte der Commander ihn mit einem Anruf.

»Schnappen Sie sich diese Mooney, Ted.«

»Gut.«

»Haben Sie den Commissioner irgendwie verärgert, Ted?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Immer flexibel bleiben, alter Junge.«

»Soll ich den Fall hinschmeißen?« fragte Warton steif.

»Reden Sie keinen Unsinn. Es gibt keinen besseren. Es gibt da ’ne Menge strittiger Fragen, Ted. Wir haben darüber gesprochen.«

»Habe schon gehört, daß eine Konferenz stattgefunden hat«, bemerkte Warton.

»Er wußte, daß Ihnen die Arbeit bis zum Hals steht. Seine einleitenden Worte waren, Sie sollten nicht noch mehr belastet werden.«

»So, so«, murmelte Warton etwas besänftigt. »Ist Ihnen klar, daß wir den Erhalt der Verse bestätigen, wenn ich Mooney vernehme?«

»Ja. Beeilen Sie sich.«

»In Ordnung.« Warton klingelte nach Summers und befahl ihm, Mooney aufs Revier zu bringen.

Allerdings war es Dienstag, und so einfach war Mooney nicht zu erwischen; die letzten Seiten mußten zusammengestellt werden, und sie gab mal von hier, mal von dort ihre Storys telefonisch durch.

»Okay. Sobald Sie sie kriegen können«, sagte Warton, als Summers kam, um ihm die Verzögerung zu erklären. »Ich warte.«

Die Lektüre der letzten Abendausgaben hatte bei Warton ein gewisses Wohlgefühl hinterlassen. »Schon den ›Globe‹ gesehen, Summers?«

»Ja, Sir.«

Als es für die Konkurrenz längst zu spät gewesen war zu reagieren, hatte der »Globe« Louisa Honey als Hauptattraktion fallengelassen und war mit einem völlig neuen Aufmacher erschienen, der dem Thema weitere und dramatischere Dimensionen verlieh:

»CHELSEA IM BELAGERUNGSZUSTAND«.

»Nicht schlecht«, kommentierte Warton. »Würde ich glatt auch kaufen. Wer ist denn der da?« Er tippte mit dem Finger auf das Foto eines jungen Polizeibeamten in Uniform, das die erste Seite zierte.

»Das«, begann Summers mit gedämpfter Stimme. »Das ist der junge Grünschnabel, der vor der Tür des ›Golden Key‹ postiert war, als unsere Freundin Mooney das Foto hat mitgehen lassen. Habe gerade mit seiner Dienststelle gesprochen. Vergangene Woche sind ein paar Reporter vom ›Globe‹ bei ihnen gewesen. Haben behauptet, sie würden eine Serie über die Londoner Polizei machen. Die Jungs sind drauf reingefallen. Dieser ..., dieser Typ hat sich freiwillig fotografieren lassen.«

Warton kicherte unterdrückt. Für ihn war die Story zu gut, als daß sie im Laufe eines Tages hätte entstanden sein können. Schließlich waren auch die folgenden Seiten voll von Folgeartikeln über Fitneßclubs, das Schlosserhandwerk und Sexclubs. »Wie ich sehe, sind sie auch schon am ›Shaft‹ dran.«

»Ja, Sir.«

»Gute Arbeit, das muß man ihnen lassen. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Mooney haben.«

»Ja, Sir.« Summers ging hinaus und war eine Minute später wieder zurück.

Wartons Blick schweifte stumm von Summers erschrockenem Gesicht zu dem, was er in der Hand hielt.

Summers legte es auf Wartons Schreibtisch.

Diesmal war der Brief zwischen zwölf Uhr mittags und drei Uhr in einem Briefkasten an der Straße geworfen worden. Der Briefkasten war gegen drei Uhr zum letzten Mal geleert worden. Dasselbe Papier, derselbe Schrifttyp.

Wohl ist es süß

bei Lautenschall und Flötenhall

zu tanzen.

Mit einem kurzen Seitenblick auf Summers griff Warton nach der Zitatensammlung und fand das komplette Zitat.

Wohl ist es süß, im Lebensmai

Der uns lockt aus Wald und Kluft,

Bei Lautenschall und Flötenhall

Zu tanzen durch Glanz und Duft;

Doch süß ist’s nicht, auf dem Hochgericht

Zu tanzen in der Luft!

»The Ballad of Reading Goal«

Oscar Wide

Nachdem Brenda die Zeitungen gelesen hatte, war sie den ganzen Vormittag lang nervös gewesen. Es dauerte jedoch bis zum Nachmittag, bevor sie sich ein Herz faßte.

»Darf ich Sie kurz sprechen?« bat sie den Chef-Bibliothekar.

»Selbstverständlich, Brenda. Was gibt’s denn?«

»Neulich waren doch die Leute von der Kripo hier. Und sie haben mich gefragt, ob ich jemandem von der Sache erzählt hätte ...«

Gegen fünf Uhr nachmittags hatte Warton die Meldung auf seinem Tisch. Er nickte bedächtig. Das Bild rundete sich ab.

»Wo ist Mooney?« wollte er wissen.

»Vor fünf Minuten hat sie die Bürgerberatungsstelle verlassen, Sir. Wir hatten dort eine Nachricht für sie hinterlegt.«

»Hat sie die gekriegt?«

»Ja. Heute ist sie offenbar im Streß. Sie rast kreuz und quer durch die Stadt, gibt ihre Storys telefonisch durch ... alles ganz normal. Komischerweise hält sie irgendwie ihre Verabredungen ganz gewissenhaft ein.«

»Na, gut. Schicken Sie ihr einen Wagen. Ich bin hier«, fügte Warton grimmig hinzu.

Doch das war er nicht. Er war im Yard, als Summers Mooney schließlich festgenagelt hatte; um sieben Uhr abends.

»Sie wollte nicht so recht, Sir. Habe sie gerade noch an der Tür abgefangen«, erklärte Summers Warton am Telefon. »Sie will unbedingt auf eine Party.«

»Okay. Dann laß sie.«

»Ich soll sie laufen lassen?«

»Ja. Ich unterhalte mich morgen mit ihr. Um zehn.«

»In Ordnung, Sir«, sagte Summers gequält. »Zehn Uhr morgen früh?« fügte er hinzu, um Mißverständnisse zu vermeiden.

»Ganz recht. Gute Arbeit, Summers. Wirklich recht hübsch. Machen Sie Schluß für heute«, sagte Warton, ganz der flexible Vorgesetzte.

Warton hatte ein reichlich flexibles Gespräch hinter sich. Die Vorteile von Flexibilität waren ihm jetzt klar.

»Sie haben auf unsere Anrufe nicht reagiert«, sagte Warton.

»Ich hatte zu tun. Storys in letzter Minute. Haben die Ihnen das nicht gesagt?«

Ein ziemlicher Besen, dachte Warton, aber nicht von gestern. Die großen Augen hatten etwas Hysterisches.

»Verstehe«, entgegnete er, natürlich flexibel. »Trotzdem müssen Sie doch eine Vorstellung gehabt haben, worum es geht. Interessiert Sie wohl gar nicht?«

»Es interessiert mich brennend. Aber wir haben alle unsere Arbeit, Superintendent. Dienstags geht’s bei der ›Gazette‹ immer rund. Aber jetzt unterhalten wir uns ja«, schloß sie fröhlich.

»Na gut. Schießen Sie los.«

Mooney war verwirrt. »Sie wollten doch mich sprechen.«

»Soviel ich weiß, wollten Sie mich schon ein paarmal interviewen. Jetzt ist die Gelegenheit. Fangen Sie an.«

»So, so«, murmelte Mooney. »Haben Sie noch mehr Briefchen bekommen?«

»Ja«, antwortete Warton.

»Aha«, sagte Mooney atemlos. »Können Sie mir sagen, was drin steht?«

»Nein«, erwiderte Warton.

Er beobachtete sie abwartend.

Mooney fand, daß sie selten einem unangenehmeren Individuum gegenübergesessen hatte. Sie hatte einiges über ihn gehört, aber in Wirklichkeit wirkte er noch bedrohlicher. Er kam ihr vor wie ein intelligentes Nilpferd, das sie verschlagen musterte, bevor es zum Angriff ansetzte.

»Ich fühle mich ziemlich überrumpelt«, gestand sie.

»Na gut. Machen Sie eine Pause. Vielleicht erzählen Sie mir in der Zwischenzeit, wie Sie von diesen Briefen erfahren haben.«

»Ich glaube nicht, daß ich das tun werde«, erwiderte Mooney mit klopfendem Herzen.

»Wieso das denn?«

»Ich kann meine Informanten nicht nennen.«

»Wenn es sich um Kriminelle handelt, bleibt Ihnen nichts anderes übrig.«

»So, wirklich?«

»Es sei denn, Sie wollen sich der Komplizenschaft schuldig machen. Müßten Sie eigentlich wissen. Sie sind doch Journalistin. Wir haben es hier mit einem Mordfall zu tun.«

»Mr. Warton«, begann Mooney und schwenkte ihr Notizbuch. »Soll das eine Drohung sein?«

»Ich erkläre Ihnen lediglich die Rechtslage. Sollte eigentlich nicht nötig sein.«

Er beobachtete geduldig, wie sie sich Notizen machte.

»Gehe ich richtig in der Annahme, daß Sie eben zugegeben haben, diese Briefe erhalten zu haben?«

»Ganz richtig.«

»Bin ich die erste, die Sie ...«

»Ja. Vorerst haben Sie das Monopol. Gefällt’s Ihnen?«

»Sehr sogar. Es sei denn, Sie erwarten eine Gegenleistung.«

»Nein. Keine Geschäfte.«

»Darf ich weiter fragen, auch auf die Gefahr hin, unmäßig zu erscheinen, ob sich die Briefe auf ehemalige Einwohner von Chelsea beziehen?«

»Im ›Globe‹ habe ich nichts dergleichen gelesen«, sagte Warton.

»Lautet die Antwort ja oder nein?«

»Kein Kommentar«, entgegnete Warton gleichmütig.

Er beobachtete Mooney aufmerksam. Ihr Atem ging hastig.

»Aber vielleicht möchten Sie mir sagen, ob Sie, abgesehen von der jungen Dame in der Bibliothek, noch andere Quellen haben«, fuhr er fort.

Es folgte eine kurze Pause. Nur Mooneys schwere Atemzüge waren zu hören. »Sie meinen Brenda?«

»Genau.«

»Ich möchte nicht undankbar sein«, begann Mooney nach einer Weile. »Trotzdem, ich kann leider nicht darüber sprechen.«

»Hat der ›Globe‹ von Ihnen Informationen bekommen, die er noch nicht gedruckt hat?«

»Auch das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ihr Redakteur hat sicher nichts dagegen, wenn Sie mir das erzählen. Sie können sich auf meine Verschwiegenheit verlassen, klar?«

»Glasklar«, bemerkte Mooney. »Verschwiegenheit war schon immer Ihre Stärke. Wenn Sie nämlich ein bißchen mitteilungsfreudiger wären, wäre Mrs. Honey nicht überfallen worden.«

Warton betrachtete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Haben Sie berechtigte Gründe für diese Annahme?« fragte Warton.

»Haben Sie berechtigte Gründe für das Gegenteil?«

»Ich will Ihnen sagen, was ich glaube«, erklärte Warton. »Ich glaube, die junge Dame in der Bibliothek war Ihre einzige Informationsquelle. Schätzungsweise haben Sie sich noch einiges zusammengereimt, und Ihre Berichte seither basieren darauf. So ist es doch, oder?«

»Lesen Sie den ›Globe‹, Superintendent«, riet Mooney ihm gutgelaunt.

Er stand nicht auf, als sie ging.

Er wartete noch eine Minute, dann rief er Summers.

»Haben Sie alles?« fragte er.

»Ja, Sir.«

»Sie weiß, daß wir im Fall Honey eine Warnung gekriegt haben.«

»Könnte ein Bluff sein, Sir.«

»Hm. Lassen Sie sie beschatten.«

»Rund um die Uhr?«

»Unbedingt. Drei Männer. Acht-Stunden-Schicht.«

»Was ist mit ihrem Telefon?«

»Dazu brauchen wir eine richterliche Erlaubnis. Da gibt’s immer Probleme. Vergessen Sie’s«, seufzte Warton. »Das übernehme ich.«

Er tat es auch, sah die Berichte durch, die hereinkamen, las die Zeitungen und fuhr um sieben Uhr nach Hause.

Trotz des mörderischen Monsters ging das Leben weiter; das galt auch für Denny und seinen möglichen Einstieg in die Welt des Films. Um sieben Uhr war Steve im »The Potters«, hatte ein Bier vor sich stehen und wartete auf Artie. Artie kam um Viertel nach. Die Aktentasche hatte er dabei.

»Ich bin spät dran. Tut mir leid. Ich wollte den Mist in Ordnung bringen. Sieh’s dir mal an«, sagte er, bevor er nach seinem Glas griff.

Der braune Aktenordner enthielt sorgfältig getippt und geordnet sämtliche Unterlagen zur Finanzierung des Films.

»Wer hat das gemacht?«

»Eine Tussi.«

»Wieviel?«

»Liebe«, antwortete Artie.

»Sieht gut aus.«

»Kann man wohl sagen«, bestätigte Artie. »Es ist fantastisch. Wir haben’s schon fast geschafft, Süßer. Er wird sich über die Garderobe hermachen. Der einzige Punkt, wovon er was versteht. Da werden wir dann ganz demütig und bitten ihn um seinen Rat. Wird sein Partner dabei sein?«

»Glaube ich nicht. Mit dem war er früher verabredet. Paß auf, Artie. Ich glaube, er will uns hinhalten«, sagte Steve. »Also fahr nicht gleich aus der Haut, wenn er uns ...«

»Ich bleibe ganz ruhig«, entgegnete Artie. »Mach’ dir keine Sorgen, Steve. Wir haben schon soviel erreicht. Es ist eine tolle Sache. Ich bin heute voll drauf.«

»Hoffentlich hast du recht.«

»Keine Zweifel, Süßer.«

Steve war froh, Artie in so guter Verfassung zu sehen, und behielt seine Zweifel für sich. Er ging sorgfältig sämtliche Rechnungen durch und wappnete sich innerlich für das Gespräch mit Denny.

Etwas früher hatte auch Denny sich innerlich gewappnet. Es war kaum nötig gewesen, die Sache ausführlich mit seinem Partner Chen zu besprechen. Wenige Worte, ein paar Gesten hatten genügt.

Sie hatten im Büro darüber gesprochen und die Unterredung dann mit anderem Inhalt im Keller fortgesetzt. Danach hatte er Chen hinausbegleitet und war zu seinen Büchern zurückgekehrt.

Als es wenige Minuten später klingelte, dachte er, Chen müsse etwas vergessen haben.

Er ging zum Vordereingang und schloß auf.

Aber es war nicht Chen.

»Hallo?« sagte er angesichts seines Besuchers überrascht.

»Kann ich Sie eine Minute sprechen?« bat der Besucher.

»Ich habe eigentlich zu tun«, wehrte Denny ab.

»Es dauert nicht lange. Ich brauche eine bestimmte Information.«

»Information?« wiederholte Denny neugierig.

»Ehrlich, nur ’ne Sekunde.«

»Okay.«

Denny ließ den Besucher ein.

Wenige Minuten vor halb sieben überquerten Steve und Artie, vom »The Potters« kommend, die Straße und gingen zum »Blue Stuff«.

»Nichts wie ran«, seufzte Steve und drückte auf den Klingelknopf.

Zwei Minuten später drückte er erneut.

»Geht das Ding überhaupt?« wollte Artie wissen.

»Hier draußen kann man’s nicht hören. Es klingelt nur oben.«

»Er kann doch noch nicht weg sein, oder?«

Steve trat auf den Bürgersteig zurück und sah an der Fassade empor. Im Büro oben brannte Licht.

»Nein. Er ist nicht gegangen.«

Artie pochte an die Glastür und versuchte hineinzusehen.

»Sollen wir’s mal beim Nebeneingang versuchen?« schlug er vor.

»Können wir«, murmelte Steve verwirrt. »Also los.«

Sie gingen um die Ecke in die Larkhall Street zu den Mülltonnen und versuchten dort ihr Glück. Steve legte diesmal das Ohr an die Tür und hörte es klingeln. Im Haus war es vollkommen still. Er rüttelte an der Klinke und schlug mehrmals mit der Faust gegen die Tür, die dabei plötzlich aufsprang. Er sah Artie an.

»Müßte die nicht verschlossen sein?« fragte Artie.

Steve sagte kein Wort. Er tastete sich durch den dunklen Gang und knipste das Licht an. »Denny!« rief er nach oben.

Alles blieb ruhig. Steve ging die Treppe hinauf. Artie folgte ihm.

Auf dem Treppenabsatz konnte er den Lichtschalter für den Lagerraum nicht finden. Von Dennys rückwärtigem Büroraum drang jedoch ein schmaler Lichtstreifen nach draußen. Steve tastete sich vorsichtig bis zu dieser Tür und öffnete sie. Sie sahen sofort, weshalb Denny auf ihr Klingeln nicht reagiert hatte.

Von dem langen Querbalken über dem Schreibtisch schien der Chef des »Blue Stuff« sie aufmerksam zu beobachten. Zusammen mit den wilden Kranichen und der Kalligraphie hing Mr. Ogden Wu aufgeknüpft am Balken.

Was die Szene noch grotesker machte, war die Tatsache, daß Dennys Kopf in einer Plastiktüte steckte, die sich mit seinen letzten Atemzügen wie eine zerknitterte Maske über sein Gesicht gelegt hatte. Eine kleine Ausbuchtung deutete die Nase an, eine größere die Zunge, die ihm offenbar aus dem Mund hing. Aber das war nicht das einzig Groteske.

Denny war mit Hilfe des Flaschenzugs im Lagerraum hochgehievt worden. Der Schreibtisch, an dessen einem Bein das Ende des Nylonseils befestigt worden war, hing schief in der Luft.

»Gehen wir, Artie«, sagte Steve ruhig.

Sie hasteten den Weg zurück durch den dunklen Lagerraum und die Treppen hinunter.

»Warte!« keuchte Artie unten. »Schließ die Tür ab. Nimm dazu dein Taschentuch.«

Steve sah ihn an und schloß dann die äußere Tür ab.

»Wo hat er das Geld?« wollte Artie wissen.

»Himmel, Artie.«

»Wo, Mann?« Sie flüsterten beide.

»Im Keller. Aber wie zum Teufel ...«

»Ein Safe unter den Fußbodenbrettern schätze ich. Sehen wir mal nach.«

Sie starrten sich einen Augenblick schweigend an, dann ging Steve voraus.

Vorsichtig betraten sie das Ladengeschäft. Es roch streng nach Jeansstoff. Von der Straße fiel etwas Licht durch die Glastür und das Schaufenster. Von dort ging es weitere Treppen hinunter. Unten war es stockfinster. Steve tastete umher. Sie kamen in die große Umkleidekabine. Er machte die Tür zu und knipste das Licht an.

»Okay«, sagte Artie. Er sah sich in voller Größe im Wandspiegel.

Steve wirkte sehr schmal und unsicher neben ihm. Sein Blick fiel auf den Teppich. Er war nur lose gelegt. Artie bückte sich nach einer Ecke und schlug sie zurück. Darunter kam eine Filzunterlage zum Vorschein, die er ebenfalls entfernte. Er zog sein Taschentuch heraus und tastete damit über die Fußbodenbretter. Es dauerte keine Minute, bis er das lose Brett gefunden hatte.

Einen Safe gab es nicht. Unter dem lockeren Brett lag eine kleine Metallkassette. Artie holte sie heraus und wog sie in der Hand. Sie war verschlossen.

»Artie, das können wir nicht machen«, mahnte Steve.

»Doch, können wir«, widersprach Artie, steckte die kleine Kassette in die Tasche, legte das Brett wieder an seinen Platz und deckte Filzunterlage und Teppich darüber. »Okay, gehen wir.«

Sie waren schon fast draußen, als Steve plötzlich zu sich kam.

»Gütiger Himmel ... Warte! Wir haben eine Verabredung mit ihm. Er hat Chen das bestimmt gesagt. Wir müssen die Polizei verständigen.«

Artie leckte sich die Lippen. »Erst wenn wir das Ding da geöffnet haben.«

»Hast du sie nicht alle?«

»Doch, doch«, erwiderte Artie. »Wir brauchen nur den Schlüssel. Er müßte ihn bei sich haben, oder?«

»Artie ...«

Artie war bereits auf der Treppe in den ersten Stock. Nach kurzem Zögern folgte Steve ihm.

Denny beobachtete sie noch immer vom oberen Ende des Seils aus. Die Leiche baumelte hin und her, während Artie Dennys Taschen durchsuchte. Die Schlüssel steckten in einem Schlüsseletui in der linken Hosentasche. Mit Hilfe seines Taschentuchs löste Artie den kleinsten Schlüssel vom Bund, und Sekunden später war die Kassette geöffnet. Sie enthielt sechs Päckchen und ein Bündel grüner Geldscheine: Hundertdollarnoten. Fünf an der Zahl.

»Wo ist der Rest?« fragte Artie.

Er hob die Päckchen hoch. Von Geld war keine Spur mehr. Er nahm eines der Päckchen mit dem Taschentuch heraus, riß das Klebeband ab und roch daran. Dann steckte er den Finger hinein und kostete das weiße Pulver.

»Heroin.«

»Gütiger Himmel!« stöhnte Steve. Er zitterte. »Steck das alles wieder rein, du Idiot!«

»Das Geld hätten wir sowieso gekriegt«, erklärte Artie und schob es in die Tasche. Dann legte er das Heroin wieder in die Kassette und schloß ab.

»Was ist, wenn sie es bei dir finden?«

»Da hast du recht.« Artie sah sich um. »Der andere Raum.«

»Der Lagerraum?«

»Steh nicht da wie ein Ölgötze! Hilf mir!«

Und Steve half. Sie befestigten die fünfhundert Dollar mit Klebeband an der Innenseite eines Jeanshosenbeins aus einem Ballen in den obersten Regalfächern und stellten die Kassette wieder in das Versteck unter dem Fußbodenbrett im Keller. Dann riefen sie die Polizei an.

Das allerdings war ein Fehler, dem noch eine ganze Serie anderer folgen sollte; »Rumpel-di-pumpel« gehörte jedoch nicht dazu; »Rumpel-di-pumpel« stand an die Wandtafel geschrieben.

1

In schwarzem Slip und Plüschpantoffeln bügelte Grooters einen Rock. Dabei wippte sie auf dem Fußboden in heller Aufregung hin und her. Grooters hatte eine Verabredung. Sie konnte sich kaum erinnern, wann das zuletzt der Fall gewesen war.

Als die Schranktür aufsprang, drückte sie sie mit dem Ellbogen wieder zu und bügelte weiter. Beim zweiten Mal stieß Grooters einen Fluch auf Holländisch aus und suchte auf dem Fußboden nach dem Stück Pappe, mit dem sie die Tür sonst festklemmte.

Einmal war die Tür nachts knarrend aufgegangen und hatte sie zu Tode erschreckt, als sie gerade einschlief. Damals war es bloß Penny gewesen, die auf der anderen Seite der verschlossenen Verbindungstür in ihrem Schrank herumgekramt hatte; seitdem klemmte Grooters die Schranktür mit dem Stück Pappe fest.

Grooters wohnte im obersten Stock der Comyns Hall of Residence, einem von mehreren Studentenwohnheimen in der Albert Bridge Road. Die Hälfte der Plätze im Comyns war Kunststudenten vorbehalten. Grooters gehörte dazu. Sie studierte Bildhauerei an der Chelsea Art School.

Grooters fand das Stück Pappe und klemmte es fest. Dabei spürte sie eine Bewegung. Das war merkwürdig. Penny war seit einer Woche verreist und sollte auch noch eine weitere Woche wegbleiben.

»Penny?« rief Grooters.

Keine Antwort von der anderen Seite. Aber wie auch? Das Mädchen konnte sie unmöglich hören. Im unteren Stockwerk hatte jemand den Plattenspieler in voller Lautstärke aufgedreht.

Grooters warf einen hastigen Blick durch die Vorhänge, um zu sehen, ob in Pennys Zimmer Licht brannte. Es brannte. Also war alles in bester Ordnung. Penny war früher zurückgekommen.

Grooters bügelte schnell zu Ende. Dann hielt sie sich den Rock und die passende Bluse an und betrachtete sich im Spiegel. Plötzlich war sie nicht mehr so sicher, daß ihre Wahl gut war. Während sie überlegte, kam ihr Spiegelbild auf sie zu und mit ihm zu ihrer Verblüffung der ganze Schrank, um etliche Zentimeter.

Die Türe, die dahinter lag, hatte sich einen Spaltbreit geöffnet.

Grooters dachte zuerst an einen Scherz und dann daran, sich ganz schnell aus dem Staub zu machen. Andererseits hatte sie Hemmungen im Slip nach unten zu rennen.

»Bist du’s, Penny?«

Der Schrank bewegte sich wieder. Grooters Herz setzte einen Schlag lang aus. Dann stemmte sie sich gegen den Schrank, aber er ließ sich nicht ganz zurückschieben. Etwas steckte in dem Spalt, der sich dahinter geöffnet hatte.

»Penny, du bist es doch, oder?« fragte Grooters erneut, brachte vor Angst aber kaum ein Wort heraus.

Sie wußte, es konnte nicht Penny sein.

Jetzt mußte sie so schnell wie möglich raus.

Die Sicherheitskette an der Tür war eingehängt. Man hatte ihnen vor einiger Zeit geraten, die Türen von innen zu sichern.

Grooters hörte ihre Zähne klappern. Den Rücken gegen den Schrank gestemmt, streckte sie die Hand nach dem Tisch aus, auf dem sie gebügelt hatte, zog ihn heran und schob dann den Sessel nach. Dann schlich sie in Pantoffeln und auf Zehenspitzen zur Tür, ohne den Schrank aus den Augen zu lassen und hängte die Sicherheitskette aus. Sie wollte sehen, daß sich der Schrank bewegte, bevor sie die Tür öffnete, wollte sicher sein, daß die Person an jenem Ende des Zimmers und nicht an diesem wartete. Der Schrank bewegte sich. Alles geriet in Bewegung: Schrank, Tisch, Sessel. Mit butterweichen Knien machte Grooters die Tür auf und sah hinaus.

Der Korridor war leer. Alle saßen beim Essen in der Mensa. Aus dem Schallplattenspieler im unteren Stockwerk dröhnte Elton John herauf. Sie schlüpfte aus den Pantoffeln und stieß sie ins Zimmer zurück. Barfuß ging es besser. Auf nackten Füßen schlich sie an Pennys Tür vorbei. Sie sah die Gestalt sofort.

Und die Gestalt sah sie.

Die Tür stand offen. Die Gestalt stand mit ausgebreiteten Armen in der Zimmermitte.

Sie war sehr groß und hatte einen mächtigen Kopf, einen Frauenkopf. Sie trug ein Plastikcape, Gummistiefel und Gummihandschuhe.

Grooters sah das alles mit einem Blick und erstarrte vor Entsetzen. Sie versuchte zu schreien, doch ihre Stimme, die nie besonders kräftig gewesen war, geriet zu einem jämmerlichen Stöhnen. Sie merkte, daß sie von einem Bein auf das andere trat, ohne sich entschließen zu können, entweder zur Treppe oder zurück ins Zimmer zu laufen. Sie glaubte nicht, es bis zur Treppe schaffen zu können, und hastete zurück in der irren Vorstellung, sich in das winzige Badezimmer einzuschließen, bis jemand aus der Mensa zurückkommen würde.

Sie erreichte ihr Zimmer und schlug die Tür zu. Doch dann wurde ihr wie in einer quälenden Zeitlupensequenz, die jeden Bruchteil des Grauens verlängerte, bewußt, daß das Wesen genau damit gerechnet hatte. Blitzschnell war es zum Schrank zurückgekehrt und hatte ihn mit einem Ruck weggeschoben. Polternd und knarrend geriet der Schrank ins Schwanken. Tisch und Sessel gaben nach, und die Schreckensgestalt stand in ihrem Zimmer.

Ihr Anblick gab Grooters das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und ihre Schließmuskeln versagten.

Dem Karnevalscharakter der Maske – auftoupierte Locken, lächelnder Kußmund – zum Trotz, erinnerten der Umhang, die Stiefel und die Handschuhe eher an einen Schlächter, einen Chirurgen oder einen Leichenbeschauer.

Grooters war eine gesunde junge Frau, und die Arbeit als Bildhauerin hatte ihre Armmuskeln gekräftigt. Sie hatte aber in der Zeitung über diese Erscheinung gelesen, und das Entsetzen lähmte sie. Sie schaffte es trotz gewaltiger Anstrengung nicht bis zum Badezimmer, und auch zur Tür kam sie nicht mehr.

Der Eindringling riß sie herum, stellte sich hinter sie und legte einen Arm um ihre Kehle. Sie hörte den Plastikumhang rascheln und fühlte plötzlich, wie ihr ein Wattebausch über Mund und Nase den Atem nahm.

Sie versuchte den Wattebausch wegzuzerren, doch ein zweiter Arm umschloß sie wie ein Schraubstock. Grooters stieß mit den Ellbogen und trat mit nackten Füßen um sich, ohne aber großen Schaden anzurichten. Die Hand mit dem Wattebausch gab keinen Millimeter nach.

Sie wußte, sie durfte nicht durch diesen Wattebausch atmen. Der süßliche Geruch hatte sie sofort alarmiert. Aber schließlich konnte sie den Atem nicht ewig anhalten. Sie weinte, denn ihr war klar, daß das das Ende war. Sie sah durch den Tränenschleier, wie die Deckenlampe zu kreisen begann und allmählich durch einen langen Tunnel zurückwich, begleitet von Elton John.

Einen Sekundenbruchteil lang wußte sie, daß sie lediglich im Behandlungsstuhl des Zahnarztes saß und alles gut werden würde. Dann schwanden ihr die Sinne.

Der Angreifer merkte, daß Grooters ohnmächtig wurde, wartete einen Moment und ließ sie zu Boden gleiten, ohne den Wattebausch zu entfernen. Eine behandschuhte Hand griff in die große, aufgesetzte Tasche des Umhangs und holte eine Plastiktüte hervor. Dabei fielen zwei Gummibänder heraus. Mit dem einen befestigte er den Wattebausch vor Mund und Nase des Mädchens. Dann stülpte er die Plastiktüte über ihren Kopf und schloß sie mit dem anderen Gummiband unterhalb des Kinns luftdicht ab.

So verpackt, starb Grooters sofort, während ihr Mörder in Pennys Zimmer hinüberging und dort die Tür zum Korridor abschloß. Als er zurückkehrte, drehte er das Mädchen mit dem Gesicht nach unten, ging dann in das kleine Bad, stellte die Dusche an, drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf. Der Mörder ließ Grooters noch eine Weile liegen, dann nahm er ihr die Plastiktüte vom Kopf. Er steckte Gummibänder und Wattebausch hinein und ließ alles zusammen in der aufgesetzten Tasche verschwinden, aus der er dann ein handliches Küchenmesser zog. Damit begann er, Grooters Kopf vom Rumpf zu trennen.

Das Messer, aus bläulichem Stahl und von französischer Machart, hatte einen kurzen Sägeschliff, mit dessen Hilfe er die zäheren Partien im Nacken löste. Der Rest war kein Problem. Mit einem kurzen Ruck und einem letzten Schnitt war der Kopf ab. Der Mörder ließ ihn mit dem Gesicht nach unten ins Waschbecken gleiten und stellte sich unter die Dusche.

Zu dieser Zeit war etwa die Hälfte der Morde von Chelsea begangen worden.

Einzelheiten dieser Tat führten letztendlich zur Identifizierung des Mörders; Grooters allerdings hatte nichts mehr davon; sie ruhte zu diesem Zeitpunkt bereits friedlich in einem Grab in Leyden.

2

Drei Wochen zuvor: Für Artie gab es nur noch Mord. Er war mit Blut beschäftigt, das bis an die Decke gespritzt war. Die tödliche Waffe mußte also eine bereits blutende Wunde getroffen haben.

»Herr im Himmel«, sagte er.

Trotzdem schrieb er alles auf. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

»Das Gasleitungsrohr sei völlig deformiert und blutbesudelt gewesen, hieß es heute vor dem Coroners Court in Westminster. Die Blutflecken im Zimmer, von derselben Blutgruppe wie die, die man in Lord Lucans Wagen gefunden hatte ...«

»Wären Sie vielleicht so freundlich, Ihre Kommentare für sich zu behalten?« schnappte der alte Herr neben ihm. »Verbindlichsten Dank.«

»Kein Problem«, antwortete Artie. Er hatte das atemlose Gebrabbel des Alten gar nicht verstanden, vorsorglich »Kein Problem« gesagt und einfach weitergeschrieben. Seine Zeit war knapp.

Artie saß in der Handbibliothek von Chelsea. »Die Blutflecken im Parterre gehörten ausnahmslos zur Blutgruppe A (Lady Lucan). Ausnahme: ein blutiges Haarbüschel im Badezimmer. In dem von Lord Lucan gemieteten und in Newhaven herrenlos aufgefundenen Ford Corsair stellte man Blutspuren sicher, die der Blutgruppe sowohl von Lady Lucan als auch von dem ermordeten Kindermädchen Sandra Rivett entsprachen.«

Artie war völlig high (bis zur Bewußtlosigkeit abgedröhnt; er hatte die ganze Nacht mit Speed durchgemacht); trotzdem registrierte er irgendwo in seiner Nähe ein heftiges Schnauben und sah auf. Vor ihm hatte sich der alte Mann aufgebaut und bewegte sprachlos vor Wut die Lippen. Sein altes Gesicht sah gesund aus, rosige Haut und silbergraues, dichtes Haar. Alles daran war in Bewegung. Artie hatte zwar schon von zuckenden Gesichtsmuskeln gehört, aber so etwas hatte er noch nicht gesehen. Dieses Gesicht war unbeschreiblich.

»Sie brabbeln! Sie brabbeln unaufhörlich vor sich hin«, keuchte der alte Mann schließlich. »Sie brabbeln, seit Sie hier sind. Hier muß Stille herrschen. Es ist unmöglich, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.«

Artie warf einen Blick auf die Arbeit des Alten. Es war die »Times« von 1875. Auf den kleingedruckten Spalten lag ein Vergrößerungsglas. Die Überschrift unter der Linse lautete: »Mr. Disraeli kauft Suez-Kanal-Aktien.«

»Lesen Sie mal das Zeug, das ich hier lesen muß, Kumpel«, riet Artie. »Dann fangen Sie auch an zu brabbeln.«

Arties Lektüre war heißer als die über Disraeli. Er hatte einen Stapel »Evening Standards« vom Juni 1975 vor sich.

»Werden Sie nicht frech. Ich bin nicht Ihr ›Kumpel‹!« schnaubte der alte Herr. Seine Gesichtsmuskeln zuckten so heftig, daß er kein Wort mehr herausbrachte. Er schob den Sammelband einen Platz weiter, setzte sich und rückte dann alles auf den übernächsten Platz. Bebend sah er über die beiden leeren Stühle zurück. Nicht die Spur eines rosigen Schimmers lag auf Arties Haut, geschweige denn ein silbriger auf seinem Haar. Alles an ihm war schwarz wie die Haare, die er im Afro-Look trug. »Unverschämtheit«, zischte der alte Mann empört in seine Richtung.

»War nicht so gemeint«, sagte Artie.

Er starrte aus dem Fenster ins Leere. Er hätte heute im Bett bleiben sollen. Aber es gab noch so viel zu erledigen, und er hatte es Steve versprochen.

Seine Augen brannten jetzt, und er zitterte am ganzen Körper. Daran waren die Amphetamine schuld. Seit Stunden hatte er sich mit Aufputschmitteln vollgepumpt. Zwar hielten die Tabletten das Gehirn in Funktion, ansonsten aber schienen sie etliche Kreisläufe zu unterbrechen.

Außerdem fand er Blut heute widerlich. Es faszinierte ihn, aber eigentlich war es ekelerregend. Wie konnte es überhaupt grün sein?

Er spielte kurz mit dem Gedanken, es doch lieber rot zu lassen. Unsinn! Es war unmöglich. Rot war in jeder Beziehung Schrott. Rot war gleichbedeutend mit Hitchcock und einer Tussi, die schon beim Gedanken an Blut durchdrehte; bedeutete psychedelischen Quatsch in sämtlichen Variationen. Rot war nicht drin.

Außerdem hatten sie alles auf das Grün abgestimmt; ein herrliches altes Grün, bizarr, sehr chemisch. Es sollte nächtliche Stimmung vermitteln. Ein paar Sequenzen hatten sie aus dem Mary-Pickford-Clip der Akademie geklaut. Sie wollten den Stil der Filmuntertitel der zwanziger Jahre kopieren, die sich auf Zelluloid aufblähen und zusammenziehen, abbröckeln, grell aufflimmern und wieder ins Trübe tauchen.

Sie hatten vereinbart, neben Schwarz und Weiß nur eine Farbe zu verwenden; Steve, Frank, alle waren einverstanden gewesen. Frank war der Art Direktor. Er behauptete, das wichtigste sei, die Finger von den beknackten psychedelischen Effekten zu lassen. Das fand Artie auch. Trotzdem war er der Meinung, Frank könne allmählich die zündende Idee für das Blut entwickeln. Wo zum Teufel steckte Frank überhaupt? Gestern war er nirgends aufgetaucht. Und vergangene Nacht war er nicht am Drehort gewesen. Heute hätte er eigentlich hier sein müssen.

Artie blätterte das restliche Material durch und packte zusammen. Er sah, daß das Mädchen hinter der Theke ihm zulächelte, und blieb bei ihr stehen.

»Fertig?« fragte sie.

»Fix und fertig.«

»Was ist morgen dran? Jack the Ripper?«

»Genau.« Er grinste so irre wie möglich. Morgen war bei ihm das Bett angesagt. Und zwar den ganzen Tag lang. »War Frank da?« wollte er wissen.

»Nicht, daß ich wüßte.«

Er sah an ihr vorbei zu der Abteilung mit den Sonderbänden hinauf, wo Frank normalerweise an seinem Manuskript schrieb.

»Da oben ist er jedenfalls nicht.«

Sie mochte Frank nicht. Artie wußte das.

»Arbeitet er heute vielleicht woanders?«

»Was für ein Tag ist heute, – Mittwoch?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wo ich bin.«

»O Mann! Du bist voll drauf, was?«

Sie sprach leicht lispelnd mit Cockney Akzent. Ihr Grübchen kam zum Vorschein, als sie lächelnd auf ihre Hände hinabsah. Artie begriff, daß sie etwas mit ihrem Haar gemacht hatte, und daß er es bemerken sollte. Sie hatte etwas von den Frauendarstellungen der Präraffaeliten. Frank behauptete, wenn sein Buch erst eingeschlagen hätte, würden alle so rumlaufen.

»Versuch’s doch mal gegenüber.«

»Mal sehen. Bis dann.«

Auf der Treppe hatte er das Gefühl, so neben sich zu stehen, daß er beschloß, die Suche nach Frank zu verschieben. Unten auf der Straße allerdings überlegte er es sich anders. Es regnete in Strömen, daß die Tropfen vom Pflaster hochspritzten. Der Glas- und Betonkasten der Kunstakademie auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah aus, als sei er gerade aus dampfender Urmasse entstanden. Der Bau deprimierte ihn, wie immer. Trotzdem hastete er mit hochgezogenen Schultern darauf zu.

Frank war in der ganzen verdammten Akademie nicht aufzutreiben. Schließlich stand Artie wieder auf der Manresa Road. Er war spät dran.

Aus dem strömenden Regen war ein leichter Nieselregen geworden. Er mußte einen Bus in der King’s Road erwischen. Als er dort ankam, stand der Verkehr. Die Busse saßen reihenweise im Stau fest.

Artie machte sich zu Fuß auf den Weg, schlängelte sich zwischen aufgespannten Regenschirmen hindurch, die Hände über den Kopf verschränkt. Er fühlte den Regen nicht, wußte nur, daß er da war. Auf nasse Haare konnte er verzichten.

Hier an der frischen Luft und in Bewegung fühlte er sich völlig losgelöst. Alles um ihn herum hatte etwas Unwirkliches, das ganze Chelsea stand schief über tanzenden Regenschirmen, eine Puppenstadt. Minutenlang wußte er nicht, warum und wohin er lief. Im Vorbeigehen sah er auf dem Plakatanschlag eines Zeitungsverkäufers, daß ein Mord passiert war. Bevor er das jedoch recht begriffen hatte, war er schon ein ganzes Stück weiter.

Ihr Mord konnte es nicht sein. Den hatten sie bereits in der vergangenen Nacht abgedreht. Am Morgen hatte er alles abgeliefert: Kostüme, sämtliche Ausrüstung, einfach alles. Er hatte den Generator und die Scheinwerfer zurückgebracht, hatte die Kassetten mit dem abgedrehten Material im Labor abgegeben. Das war heute morgen gewesen, vor einer Ewigkeit.

Er war seit vierzig Stunden auf den Beinen. Noch acht Stunden, und er hatte es geschafft. Um es durchzustehen, brauchte er mehr Speed; allerdings nicht auf nüchternen Magen. Er mußte zuerst essen und mit Steve sprechen.

Überall waren die Lichter angegangen. Schnell und ohne müde zu werden lief er an unzähligen erleuchteten Boutiquen, Antiquitätenläden und Restaurants vorbei. Die Scheiben glitzerten vor Nässe. Er betrat das »Blue Stuff«.

Drinnen sank seine Stimmung augenblicklich auf Null. Dicht gedrängt, naß und unangenehm ausdünstend standen die Kunden, die dem Regen entflohen waren. Mr. Blue Stuff persönlich war anwesend. Der Chinese hatte nur die Andeutung einer Nase und keinerlei Ausdruck im Gesicht. Er bequatschte ein junges, fettes Mädchen, das eine Cowgirljacke anprobierte. Im ganzen Laden befummelten schräge Typen aufgestapelte Jeanswaren, durchsuchten Kleiderständer und betrachteten sich in den Spiegeln. Steve hatte einem älteren Semester ein komplettes Jeansoutfit verpaßt. Der schräge Vogel hielt die Arme im 45-Grad-Winkel von sich und grinste komisch, während Steve, der aussah wie ein bleicher Gnom, an ihm herumzupfte.

Steve wirkte schmaler und zerbrechlicher denn je. Er ließ den Typ mit den ausgestreckten Armen stehen und kam auf Artie zu.

»Hast du alles rechtzeitig abgeliefert?« wollte er wissen.

»Klar.«

»Den Generator, die Scheinwerfer, alles?«

»Klar doch.«

Sie mieteten die Ausrüstung tagesweise. Eine Stunde Verspätung beim Abgabetermin bedeutete die Miete für einen weiteren Tag.

»Was ist mit den Filmspulen?«

»Im Labor. Ich hab’ die Begleitzettel ausgefüllt. Sie wissen also, daß wir unterbelichtet haben.«

»Gut. Du siehst kaputt aus, Artie.«

»Ja.« Artie zog ein paar Zettel aus der Tasche. »Hier! Und das grüne Blut ist ein Problem. Ich bin auf der Suche nach Frank.«

»Laß Frank in Ruhe, Artie. Er ist fertig.«

»Ich hab’ mir die Hacken nach ihm abgelaufen. Wo zum Teufel ...«

»Laß ihn. Es ist wegen der Tante, die sie aus dem Fluß gefischt haben.«

»Was für ’ne Tante?«

»Liest du keine Zeitung?«

»Mann, ich hatte keine Zeit ...«

»Die vom ›Gold Key‹. Die Bardame. Ertrunken. Laß ihn wenigstens ...«

»He, was los?« sagte Mr. Blue Stuff. »Kunden walten.«

»Nur noch ’ne Minute, Denny.« Blue Stuffs Name war Ogden, nach einem Baptisten-Pfarrer in Hongkong. Aber alle nannten ihn Denny oder gelegentlich »Großer Vorsitzender«, denn er war auch Chef seines Unternehmens »Wu Enterprises«. Wu hatte ’ne Menge Unternehmen. Das stand fest.