Von Rilke bewundert, von Beckett empfohlen, von Handke übersetzt: 1921 schrieb Emmanuel Bove, dreiundzwanzigjährig, seinen ersten Roman Meine Freunde, dem die begeisterte Colette zur Publikation verhalf. Drei Jahre später erschien Boves zweiter Roman Armand.

Armand erscheint zunächst als ein glücklicher Zwillingsbruder jenes Victor Baton aus Meine Freunde, der vergeblich auf der Suche nach anderen Menschen war, mit denen er endlich glücklich sein könnte. Armand hat jemanden gefunden, eine Frau namens Jeanne, die ihn liebt und ihm sogar ein gewisses Wohlleben ermöglicht. Dann aber begegnet ihm eines Tages auf der Straße Lucien, ein Kumpan von früher, aus der Zeit der Armut und der Verlassenheit, und wenig später Marguerite, die Schwester Luciens, und es beginnt die Geschichte eines haarsträubenden Verhängnisses.

»Emmanuel Boves Werk besticht durch eine Art literarische Obsession des Unspektakulären und einen Sprachstil, wie er kristalliner nicht sein könnte. Dabei betreibt Bove – dieser nimmermüde Beschwörer des kleinen, unerreichbaren Glücks – in seinen Büchern literarische Trauer- und Verzweiflungsarbeit, wie sie die moderne Dichtung nur in wenigen Fällen kennt.«

Peter Henning, Die Welt

Emmanuel Bove, am 20. April 1898 in Paris geboren, starb dort am 13. Juli 1945.

Emmanuel Bove

Armand

Roman

Aus dem Französischen
von Peter Handke

Suhrkamp Verlag

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 2167.

© Flammarion 1977

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlagfoto: Ernst Wrba

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74155-9

www.suhrkamp.de

Für Madame Colette

I

Es war Mittag. In der Kälte erschien die Sonne kleiner. Ihre Strahlen wurden von den Schaufenstern und den Spiegeln nicht reflektiert. Meine Aufmerksamkeit war wie jene der Kinder: sie richtete sich auf alles, was sich bewegte. Manchmal streichelte ich den Kopf eines Pferdes, oben an der Stirn, damit ich nicht gebissen würde.

Ich ging gerade durch eine so enge Straße, daß die Peitschenschnüre der vorbeifahrenden Wagen mich streiften, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.

Ich blickte sie an, und drehte mich dann um.

Es war Lucien. Statt meinen Namen zu rufen, hatte er sich den Spaß erlaubt, mich auf offener Straße anzufassen, wie ein Fremder.

Ich hatte ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Er trug denselben Überrock, eine andere Krawatte, denselben Hut. Er war weder dicker noch dünner geworden. Und doch hatte er sich verändert. In meiner Erinnerung war er ohne Falten, ohne Narben, ohne jene Kinngrube, die so tief war, daß er sie nicht rasieren konnte.

Ich blieb stehen. Beide atmeten wir ungleichmäßig, so kalt war es. Rund um seine Augen bemerkte ich eine Art Erschlaffung, die seinem Gesicht etwas Tristes und Kränkliches gab. Die faltige Haut pulste da im Rhythmus des Herzens. Die untere Lippe war dicker als die obere, so daß er zu schmollen schien. Der Nasenknochen sprang vor; die Ohren, auf die ich immer mein besonderes Augenmerk richte, aus Furcht, sie zu übersehen, waren bräunlich und glatt, ohne die üblichen Fältelungen in der Muschel, und zudem so klein, als hätten sie lange vor dem Körper zu wachsen aufgehört.

Das Knopfloch seines Überziehers war ganz unberührt: Lucien hatte sich nie eine Blume da hineingesteckt. Die Aufschläge freilich waren formlos. Die Hände in den zerrissenen Taschen ruhten auf nichts auf.

Wir waren verlegen; Lucien, weil er sich mir so vertraulich genähert hatte, ich, weil ich davon gestört schien. Wir standen unbeweglich. Ich wartete, daß er den Mund auftäte. Beim Anblick dieses armselig gekleideten Menschen kamen die unglücklichen Jahre zurück, die ich verlebt hatte. Ich hatte sie nach und nach vergessen. Jetzt standen sie mir so klar vor Augen, als habe es gar keine Zwischenzeit gegeben.

Die Rauchschwaden aus den Kaminen verhüllten manchmal die Sonne, wie kleine Wolken. Die Vorhangsäume, statt gerade herunterzuhängen, hafteten, gebauscht vom Wind, an den Markisen.

Schließlich gingen wir gemeinsam weiter. Er hielt sich zu meiner Linken, so als sei ich eine Frau, aus einem unbestimmten Respekt für das, was rechts ist. An jeder Kreuzung fürchtete er, ich könnte ohne Ankündigung abbiegen. Also sagte ich zu ihm: »Immer geradeaus«.

Immer noch war es Mittag. Wir überquerten die Straßen, jeder für sich, unbekümmert, ob dem anderen etwas zustieße.

Ein Café bildete den Winkel eines Boulevards und eines Platzes, der kleiner war, als er üblicherweise auf den Ansichtskarten erschien.

Ich lud Lucien ein.

Wir setzten uns auf die Terrasse, die von drei versilberten Kohlenbecken geheizt wurde. Unter unseren Füßen krachten Pistazienschalen. Die Siphonflaschen waren mit Maschendraht umwickelt, damit sie nicht explodierten.

Lucien nahm den Hut ab, legte ihn auf ein Rundtischchen, wurde jäh unsicher, ob man einen Hut auf einen Tisch legen durfte, und hob ihn sogleich wieder auf.

Eine Zigarette zwischen den Fingern, die an beiden Enden rauchte, den Hals geschützt vom aufgeschlagenen Kragen, betrachtete ich die Passanten. Dergleichen war schon ein Zeitvertreib meines Vaters gewesen. Durch seinen Tod befreit von der Sorge, er könnte mich dabei überraschen, wie ich ihn nachahmte, beobachte ich, ohne großes Vergnügen, gewohnheitsmäßig das Hin und Her der Leute und empfinde eine gewisse Zufriedenheit über die Kontraste der Physiognomien.

Lucien hatte einen Café bestellt, in dem ein Krumen schwamm, der etwas von einem Stück Sacharin hatte. Er fühlte sich nicht am Platz. Seine Finger, die fast alle gleich lang waren, zuckten in den Knochen, durch die ganze Hand, bis zurück zum Gelenk.

Er drehte sich mir zu. Er aß ein Croissant und begann mit der Teigzunge in der Mitte. Unsere Blicke trafen einander. Einen Moment lang sah ich mich bis zu den Schultern in seinen Augäpfeln gespiegelt. Ich senkte die Lider, ohne zugleich die Augen zu schließen. Diese erfaßten vielmehr beide sein ganzes Gesicht. Ich spürte, er würde gleich zu reden anfangen. Seine Brauenbögen verstärkten sich. Er öffnete den Mund, so langsam, daß die Lippen, bevor sie auseinanderwichen, sich röteten. Ich sah, wie seine Zunge, kurz wie seine Finger, sich hob, um einen Laut zu erzeugen. Ich war ganz Ohr. Er vollführte eine Geste.

– Wie hast du dich verändert, Armand! Du mußt inzwischen reich geworden sein. Du würdest gar nicht mehr in unser Restaurant passen. Erinnerst du dich noch an das letzte Jahr?

In meinem Apéritif sprudelte noch leicht das Selterswasser. Ich hielt die Zigarette dort, wo sie trocken geblieben war, und schnippte sie weg. Ich nahm mir eine zweite. Die Sonne war so hell, daß ich nicht wußte, ob mein Streichholz überhaupt brannte.

Selbstverständlich erinnerte ich mich an mein früheres Leben. Jetzt war das vorbei. Aber Lucien nahm vermutlich seine Mahlzeiten immer noch in denselben Restaurants ein, bewohnte dasselbe Zimmer.

Um den Vorwurf zu vermeiden, ich hätte mich verändert, versuchte ich, die schüchternen und zugleich übertriebenen Manieren von damals zu wiederholen. Ich schämte mich meines warmen Überziehers, und vor allem meiner Krawatte, die aus Seide war. Ich tat, als scherte ich mich überhaupt nicht darum, wie ich angezogen war. Wenn mir ein Tropfen auf den Überzieher fiel, ließ ich den Fleck ruhig sich ausbreiten.

Mochte ich freilich auch die gleichen Worte aussprechen, die gleichen Gesten vollführen: ich wurde nicht wieder der, der ich gewesen war. Der Wohlstand, in dem ich seit zwölf Monaten lebte, hatte all meine Gewohnheiten gründlich verändert. Ich war redefreudiger. Es schien mir, ich hätte der Menschheit nichts mehr vorzuwerfen. Jene, die sich beklagten, dünkten mich verbittert oder kurzsichtig geworden durch Armut.

Lucien betrachtete mich ohne Bösartigkeit, jedoch mit einer Inständigkeit, die, in einem abgeschlossenen Raum, mich hätte erröten lassen. Ich empfand jenes Unbehagen, das mir als Kind zu nahe kommende Augen verursacht hatten.

An diesem Tag, zum ersten Mal seit zehn Jahren, wurde ich für einen Moment wieder schüchtern. Unwillkürlich wandte ich den Kopf ab, damit er meine Ohren nicht sähe: damit die Körperteile, die mir, auch in einem Spiegel, verborgen bleiben, sich ihm nicht in solcher Deutlichkeit zeigten.

So verharrte ich einige Augenblicke. Ich glaubte sogar, ich würde erröten. Das Blut stieg mir zu Kopf, freilich zu schwach, mir die Wangen zu färben. Jetzt, mit dreißig, erröte ich oft auf diese Weise, und bin dann der einzige, der es weiß.

Indem ich mich wieder Lucien zudrehte, wurde mir bewußt, daß er gleich mir jemand aus Fleisch und Blut war: es war ein bißchen so, wie wenn ich mir im Spiegel unter die Zunge schaue.

Er lebte. Seine Nasenlöcher nahmen die Gerüche auf und erkannten sie. Eines Tages, als mehrere davon sich vermengten, hatte er sie unterschieden und sodann einzeln benannt. Er brachte die Geräusche nicht durcheinander. Er nahm die Uhrzeit aus derselben Distanz wahr wie ich. Er atmete in einem kaum langsameren Rhythmus als ich. Die Haut seines Gesichts ging unter dem Kragen weiter. Er hatte Brustwarzen, die vermutlich dunkel waren, denn er war braunhaarig, Flaum am Körper, einen konvexen oder konkaven Nabel, je nach der Fertigkeit der Hebamme.

Ich fand mein Selbstvertrauen wieder. Der mich da beobachtete, das war ein Mann wie ich. Die Mängel in meinem Gesicht hätte auch ich in dem seinen entdeckt.

Von einem Nachbartisch fiel eine Untertasse zu Boden, ohne zu zerbrechen. Die Markisen flatterten im Wind. Ihre Kupfergriffe rutschten in den Laufschienen. Ausstöße wie von Kohlensäure kamen immer wieder von den Heizbecken und nebelten uns ein. Lucien hustete jedesmal trocken, so als ob sich bei ihm eine Erkältung ankündigte.

Die Beine getrennt durch den einzigen Fuß des Tischchens, paßten wir auf, daß wir mit den Knien nicht die Unterseite des Marmors berührten. Von Zeit zu Zeit, wenn er eine Bemerkung machte, gab es mir einen Ruck. Jedesmal stimmte ich ihm unverzüglich zu, damit er nicht dächte, ich sei überheblich geworden. Aber ich fühlte, daß gerade das mich verriet.

Einmal wollte ich ihn vertraulich anreden, ihm einen komischen Namen geben, wie früher. Ich wagte es nicht: er hätte es nicht geduldet.

Ich musterte ihn verstohlen. Er hatte seinen Café ausgetrunken. Das Glas am Mund, wartete er, daß der nicht aufgelöste Zucker ihm an die Lippen rutsche.

Da erinnerte ich mich, daß er ehedem oft lauthals gelacht hatte; daß er sich ereifert hatte. Jetzt, in meiner Gegenwart, wagte er kaum zu reden.

Ich rückte, die Hand zwischen den Beinen, meinen Stuhl näher an ihn. Er zuckte zurück.

– Hast du Angst vor mir?

– Nein, nein. Es war unabsichtlich.

Er verstummte. Er gebärdete sich, als würde ich ihn gleich spaßhalber schlagen. Er hielt die Hände eingekrümmt, damit die Finger nicht irgendein verräterisches Geräusch von sich gäben.

Eine derartige kindliche Schreckhaftigkeit bei einem Mann berührte mich.

– Lucien, komm doch morgen zu mir mittagessen. Ich werde von dir erzählen. Ich werde mich bemühen, etwas für dich zu finden. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Wir werden uns dort auch wohler fühlen als hier. Du wirst meine Freundin sehen. Sie ist sehr lieb. Wir wohnen in der rue de Vaugirard, siebenundvierzig.

– Das Mittagessen ist um zwölf?

– Ja, aber komm ein bißchen später, damit alles bereit ist.

Seine Lippen leuchteten, wie von einem Lächeln. Seine blauen Augen schauten mich länger an als gewöhnlich. Er stammelte. Ein klein wenig Freude ging von ihm aus.

Es war eine halbe Stunde nach zwölf. Immer noch läuteten die Glocken. Ich rief nach dem Kellner. Er kam nicht. Ich mußte mit einem Taschenmesser auf den Tisch klopfen, um mich bemerkbar zu machen.

Lucien war aufgestanden. Er wartete, bis auch ich mich erhob, und setzte sich dann den Hut auf. In seinen Hosenaufschlägen waren Croissantkrumen. Während ich das Wechselgeld zählte, wärmte er sich an einem der Kohlenbecken, mit geöffnetem Überzieher, damit die Wärme besser an seinen Körper käme.

Wir gingen zögernd ein paar Schritte auf dem Boulevard, so als kennten wir einander nicht, und hielten dann an einem Baum, der, jünger als die anderen der Reihe, ein bißchen wie jemand Dritter neben uns stand.

– Also, Lucien, ich gehe. Ich erwarte dich morgen.

Er antwortete nicht. Er senkte die Augen, was seinem Gesicht, da alle Wimpern einander glichen, etwas Mädchenhaftes gab. Er hatte sich von unserer Begegnung viel mehr erhofft. Zweifellos wußte er nicht wohin. Ich überlegte, ob ich ihn auf der Stelle mit zu mir nehmen sollte, aber das wagte ich nicht, wegen Jeanne, der das mißfallen hätte.

Ich streckte ihm die Hand hin. Er ergriff sie und hielt sie, wie ein alter Mensch die eines jungen Wohltäters, ohne daß sich dabei seine Miene veränderte, ohne daß auch seine Füße verrückten.

– Du gehst schon, Armand?

Seine Augen flehten mich an, zu bleiben.

– Ja. Jeanne erwartet mich.

Er ließ meine Hand los. Ich sah ihm an, daß er mich begleiten, mich eintreten sehen und abwarten wollte, bis bloß noch die eine Tür uns trennte.

Kurze Zeit verging. Ich blieb unschlüssig. Ich hoffte, er werde als erster gehen. Geduldig wartete er auf meine Entscheidung.

Von neuem hielt ich ihm die Hand hin, damit er mir die seine gäbe, und sei es auch widerwillig. Er schüttelte sie. So verbunden, erschienen mir die beiden Hände momentlang als irgendein bedeutsames Schriftzeichen. Dann verließ ich ihn unverzüglich, ohne mich umzudrehen, auch ohne ihm von weitem noch etwas zuzurufen.

Ich nahm eine beliebige Richtung. In den geraden, jetzt in der Mittagsstunde ruhigen Straßen blies der Wind genauso stark wie oben über den Häusern. Wohin ich auch kam, der Schatten der Laternen zeigte in immer die gleiche Richtung. Am Horizont standen die Wolken des Vortags aneinandergedrängt, so als hinderten dort unter einem anderen Himmel andere Wolken sie am Weiterziehen.

II

Als ich tags darauf in das Eßzimmer trat, deckte da Jeanne, unschlüssig, welche Messer sie nehmen sollte, gerade den Tisch.

Die Flügel der Anrichte standen offen und zeigten die Teller, von denen es sichtlich zu viele gab für uns zwei. Die Pendeluhr, die nicht geht, zeigte zwölf; so täuscht sie am wenigsten. Die Sonne, die am Vormittag das Zimmer ausgeleuchtet hatte, war am Verschwinden, so als sei der Tag schon zu Ende.

Jeanne hatte einen Strauß Mimosen in eine gläserne Vase getan, obwohl es mir zuwider ist, darin die Stengel zu sehen: sie nimmt sie trotzdem, ob es sich nun um Rosen handelt oder um sehr langstielige Veilchen.

Sie trug einen japanischen Bademantel, der ihr beim Anziehen Schwierigkeiten macht, weil sie die Ärmel jedesmal mit den Taschen verwechselt.

Sie näherte sich mir und küßte mich; küßte mich wieder. Ich sah mich, gegen ihren Körper gepreßt, in einem Spiegel. Sie glaubte, ich hätte die Augen geschlossen. Ich hielt ihre Taille umschlungen. Ihr Kopf lag auf meiner Schulter.

Obwohl Jeanne gleich groß ist wie ich, bemüht sie sich immer, die Attitüden einer kleinen Frau anzunehmen.

– Zieh dich an, Jeanne, er wird gleich kommen.

Ich war bereit. Ich trug einen dunklen Anzug, mit einer hellen Weste, eine Krawatte, die Jeanne mir gemacht hatte (mehr schlecht als recht, denn sie konnte nicht nähen, auch wenn es nur für einen Mann war), sowie Halbstiefel mit Knöpfen, die sie mir gekauft hat, damit ich älter aussähe.

Je später es wurde, desto mehr schwanden die Frische aus meinem Gesicht, der Glanz aus meinen Haaren, die Bügelfalten aus meinen Kleidern. Nur unmittelbar nach der Toilette empfinde ich, einige Minuten lang, ein Wohlgefühl. Was ich sage, hat dann Geist. Meine Gesten gelingen mir geradezu vollkommen. Ich bin ein anderer Mensch.

Ich hätte gewünscht, daß Lucien mich in diesem Zustand anträfe, und bedauerte zugleich, ihn eingeladen zu haben.

Unablässig würde er, durch seine Schüchternheit wie durch seine Zudringlichkeit, an den Mann erinnern, der ich gewesen war. Er äße unmanierlich. Er stotterte, wenn meine Freundin das Wort an ihn richtete. Er suchte so offensichtlich bei mir Halt, daß sich die immer noch andauernde Bindung zwischen uns zeigte: als habe nicht Nächstenliebe ihn ins Haus gebracht, sondern unsere Freundschaft.

Ich war durcheinander. Untätig und nervös ging ich von einem Zimmer ins andere. Wären unsere Fenster nicht Hoffenster gewesen, hätte ich ihn kommen sehen können. Manchmal blieb ich im Vorraum stehen, lauschte, ob jemand heraufstieg, spähte auf die elektrische Batterie oben an der Wand, obgleich der Draht da, wenn geläutet würde, sich gar nicht bewegte.

Jeanne bereitete, mit Unterstützung der Aufräumefrau, das Essen vor. Sie ging so gewissenhaft vor, als sollte ihr Bruder kommen, bemühte sich um Details, die Lucien überhaupt nicht bemerken würde.

Ich fürchtete, wenn sie ihn sähe, könnte sie all die Mühe bedauern, die sie sich angetan hatte. Um ihr eine Enttäuschung zu ersparen, näherte ich mich ihr in dem Moment, da sie das Eßzimmer betrat, einen Tellerstapel vor sich hertragend wie die Dienstmädchen auf den Witzzeichnungen.

– Überanstreng dich nicht gar so sehr. Mein Freund ist ein ganz einfacher Bursche. Er hat noch nie Geld gehabt. Ich habe ihn vor allem aus Mitleid eingeladen …