Während der Jahre der Besetzung und des Vichy-Regimes in Frankreich gerät der Gaullist und Widerständler Joseph Bridet, ein wenig erfolgreicher Journalist, der mit Hilfe seiner Freunde in Vichy zu de Gaulle nach London gelangen will, aus ungeklärten Gründen in die Fänge der Kollaborationsbürokratie. Auch die fluchtartige Rückkehr nach Paris rettet ihn nicht, er wird verhaftet und in ein Internierungslager eingewiesen, aus dem heraus die Deutschen Geiseln für ihre »Vergeltungsmaßnahmen« abtransportieren. Die Falle schnappt zu.

»Wissen wir genug über die Befindlichkeit der Franzosen, die während des Zweiten Weltkriegs unter dem Vichy-Regime lebten? Nicht bevor wir das sensible Buch Die Falle von Emmanuel Bove gelesen haben.« Tagesanzeiger

Emmanuel Bove, am 20. April 1898 in Paris geboren, starb dort am 13. Juli 1945.

Emmanuel Bove

Die Falle

Roman

Aus dem Französischen von
Bernd Schwibs

Suhrkamp Verlag

Titel der 1945 veröffentlichten französischen Originalausgabe: Le piège.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 2986.

© Éditions de la Table Ronde, 1986

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996

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Umschlagfoto: Eric Morin/Thames & Hudson

Umschlaggestaltung: Michael Hagemann

eISBN 978-3-518-74158-0

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KAPITEL 1

Seit Bridet in Lyon war, suchte er ein Mittel, nach England zu kommen. Es war nicht leicht. Er verbrachte seine Tage damit, überall hinzulaufen, wo die Aussicht bestand, auf Freunde zu stoßen, die er noch nicht wiedergesehen hatte. Regelmäßig besuchte er die Brasserie nahe dem großen Theater, wo sich die Journalisten trafen, die sich, wie es hieß, zurückgezogen hatten, er ging die Rue de la République auf und ab und suchte auf den Terrassen der Cafés nach bekannten Gesichtern, mehrmals am Tag kehrte er ins Hotel zurück, in der Hoffnung, dort einen Brief, eine Verabredung, kurz: ein Lebenszeichen von draußen vorzufinden.

Doch in diesem Gewühl, das über die Stadt hereingebrochen war, inmitten der Schwierigkeiten, die ein jeder zu bewältigen hatte, unter all diesen Leuten, die in Paris, auch wenn sie sich kannten, nicht miteinander verkehrten, war kein Platz für das geringste Solidaritätsgefühl. Man gab sich die Hand, war bemüht, bei der zehnten Begegnung noch genauso erfreut auszusehen wie bei der ersten, fühlte mit in der Riesenkatastrophe, tat so, als ob man glaube, daß Unglück eher vereint als trennt, aber sobald man nicht mehr von der allgemeinen Not sprach und versuchte, jemanden speziell für den eigenen kleinen Fall zu interessieren, fand man sich vor einer Mauer.

Abends kehrte Bridet erschöpft zurück. Da die Hotels nur für Durchreisende bestimmt waren, mußte er, um sein Zimmer behalten zu können, jede Woche seine Abreise vortäuschen. »Es ist schon grotesk«, dachte er, »daß ich nach drei Monaten immer noch kein Mittel gefunden habe mich abzusetzen. Das wird regelrecht gefährlich.« Allmählich ahnte alle, daß er weg wollte. Nichts enthüllt unsere Absichten besser als anhaltendes Unvermögen. Wer immer nur verlangt, ohne zu bekommen, der vermittelt am Ende den Eindruck dessen, dem nie etwas gelingt, der zu jener etwas lächerlichen Kategorie von Menschen gehört, deren Wünsche zu groß sind für die eigenen Möglichkeiten.

Am 4. September 1940 wachte Bridet früher auf als gewöhnlich. Er bewohnte im Hôtel Carnot ein kleines Zimmer, Nr. 59, das letzte. Es ging auf die Place Carnot, gegenüber dem Bahnhof Perrache. Die ganze Nacht hatte er das Kommen und Gehen gehört. Nie waren die Franzosen so viel gereist. Vor Tagesanbruch hatte er die ersten Straßenbahnen gehört. Das Leben ging also weiter wie gehabt! Es gab also noch Arbeiter, die zur Arbeit gingen! Und dieses geregelte Leben, das von den rangierenden Waggons im Morgengrauen und dem Kreischen der Eisenräder auf den Schienen heraufbeschworen wurde, hatte etwas Trostloses.

Die Sonne war aufgegangen, aber sie war noch nicht über die Häuser auf der anderen Seite des Platzes gestiegen, und die Strahlen, die auf nichts ruhten, sich einfach im Raum ausbreiteten, gaben dem Himmel etwas Frühlingshaftes. Plötzlich setzte sich an die Decke ein fahles goldgelbes Licht. Bridet erinnerte sich an Ferienmorgen, und ihm zog sich das Herz zusammen. So schön war das Leben noch immer. Auch er hatte Lust zu reisen. Aber was würde er in Avignon, in Toulouse, in Marseille Besseres finden? Man erstickte überall. Wo man auch hinging, man fühlte sich von einer immer zahlreicher auftretenden Polizei erdrückt. Zu jedem Polizisten kam ein weiterer, manchmal sogar in Zivil, der in seiner Eile, den Dienst anzutreten, nicht abgewartet hatte, bis man ihm eine Uniform gab.

»Es widert mich an, aber ich muß wohl Basson aufsuchen«, murmelte Bridet. Tag für Tag sagte er sich, er müsse nach Vichy gehen. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er zu lange gewartet hatte. Den ganzen Sommer hatte er sich in den Dörfern des Puy-de-Dôme, der Ardêche, der Drôme herumgetrieben, in der Hoffnung auf irgend etwas – was, wußte er selbst nicht –, und jetzt hatte er das Gefühl, daß das, was er in dem Durcheinander nach dem Waffenstillstand umstandslos hätte tun können, täglich schwieriger wurde.

Er hatte Freunde, Basson zum Beispiel. Der würde ihm irgendeinen Auftrag verschaffen, einen Paß. War er erst einmal aus Frankreich heraus, würde Bridet sich schon durchschlagen. England war schließlich nicht unerreichbar. »Ich muß unbedingt zu Basson«, sagte er sich ein ums andere Mal. Er müßte nur seine wahren Absichten verbergen. Er würde jedem sagen, daß er sich in den Dienst der Nationalen Revolution stellen wolle.

»Wird man mir glauben?« fragte er sich. Ihm kam in den Sinn, daß er viel geredet, daß er unverblümt gesagt hatte, was er dachte, daß es ihm sogar heute noch passierte, daß er seinen Mund nicht halten konnte. Bislang war diese Redseligkeit offenbar folgenlos geblieben, aber nun auf einmal, wo es zu handeln galt, kam es ihm vor, als würde alle Welt seine Pläne kennen. Um sich wieder Mut zu machen, überlegte er, daß die Leute einen im Grunde nicht nach dem beurteilen, was man gesagt hat – schließlich haben sie selbst so manches gesagt –, sondern nach dem, was man im gegenwärtigen Augenblick sagt. Er mußte nur voll und ganz für den Marschall eintreten. Das war ein wunderbarer Mann. Er hatte Frankreich gerettet. Ihm war zu danken, daß die Deutschen Achtung für uns hatten. Sie überstanden ihren Sieg. Wir – wir überstanden unsere Niederlage, was unseren beiden Völkern ermöglichte, fast von gleich zu gleich miteinander zu sprechen. Das genau mußte man sagen. Einem Fanatiker gegenüber konnte man sogar noch weiter gehen. Würde jeder Franzose sich im Innersten prüfen, wäre er ehrlich gegen sich selbst, müßte er zugeben, daß er bei der Unterzeichnung des Waffenstillstands eine ungeheure Erleichterung empfunden hatte.

»Ihr wart auf den Landstraßen, und nun seid ihr zu Hause«, hatte der Marschall gesagt. Bridet mußte nur dasselbe sagen. Er sollte keine Skrupel haben, solche Menschen zu hintergehen. Er durfte ihnen alles mögliche erzählen. Später, wenn er zu de Gaulle gestoßen wäre, würde er sich schon aus der Affäre ziehen.

Nachdem er sich angekleidet hatte, verließ er das Hotel. Hundert Meter weiter betrat er ein anderes Hotel, um seiner Frau die gewohnte morgendliche Stippvisite abzustatten.

Den großen Zentralspiegel verbarg das berühmte Plakat mit der Trikolore, in deren Mitte der Kopf des Marschalls prangte, fast in Dreiviertelprofil, in demonstrativer Schlichtheit mit einem gestärkten abknüpfbaren Kragen, einem Käppi mit kerzengeradem Sitz und jenem Ausdruck abgrundtiefer Biederkeit, leichter Bitterkeit, Festigkeit, gepaart mit Güte, den schlechte Künstler so gekonnt wiederzugeben vermögen.

Yolande hatte ebenfalls ein Zimmer gefunden. Es war, wie das ihres Mannes, zu klein, als daß zwei darin hätten schlafen können. Bridet war damit gar nicht so unzufrieden. Er befand sich in einem solchen Zustand der Niedergeschlagenheit, daß er es vorzog, allein zu sein. Er hatte seine Frau sehr geliebt, aber seit dem Waffenstillstand hatte er sich ihr, ohne daß ihm dies richtig klar wurde, ein wenig entfremdet. Sie hatte plötzlich Launen und Wünsche, die nicht mehr die seinen waren. Die Katastrophe hatte auch sie schwer getroffen, und nun schien sie zu entdecken, daß es im Leben wichtigere Dinge gab als häusliche Eintracht.

Sie machte sich jetzt Sorgen um ihre Familie, die in Paris zurückgeblieben war – sie, die sich jahrelang nicht um sie gekümmert hatte. Sie konnte es kaum erwarten, Leute wiederzusehen, die ihr bisher gleichgültig gewesen waren. Unaufhörlich redete sie von ihrem kleinen Modegeschäft in der Rue Saint-Florentin, von ihrer Wohnung, so als hätte sie dort allein gelebt. Bridet hatte gespürt, daß er in ihren Augen nach und nach wohl nicht zu einem Fremden, aber doch zu einem jener Wesen geworden war, die man ein wenig vernachlässigt, da sie trotz der Liebe, die sie uns entgegenbringen, nichts für uns tun können. Und im Grunde seines Herzens fand er, daß sie recht hatte, wenn sie ihn so einschätzte. Tatsächlich konnte er nichts für sie tun. Solange es eine Armee gegeben hatte, deren Teil er war, hatte er seine Frau verteidigt. Jetzt verteidigte er sie nicht mehr. Er konnte nicht an ihrer Stelle um einen Ausweis nachsuchen, konnte weder ein schlichtes Zimmer noch ein Taxi für sie auftreiben, konnte ihrer Familie in Paris kein Geld schicken, konnte sich nicht um das Geschäft kümmern, er konnte überhaupt nichts tun. Sie wußte es, und ganz sachte gewöhnte sie sich daran, sich nur auf sich selbst zu verlassen.

Er setzte sich neben sie. Bislang hatte er nicht die kleinste Andeutung gemacht, daß er beabsichtigte wegzugehen. – Hör mal, Yolande. Ich muß ernsthaft mit dir reden.

Sie schaute ihn an, offenbar ohne zu bemerken, daß er ernster war als sonst. Die Hotelhalle war voller Menschen. Man hätte leise sprechen, sich dauernd umdrehen müssen.

– Komm mit da rüber, sagte Bridet. Da sind wir ungestörter.

Yolande erhob sich. Sie gingen in den hinteren Teil der Hotelhalle und setzten sich dort nebeneinander.

– Ich hab mir die ganze Nacht Gedanken gemacht. Ich muß zu Basson.

Yolande schwieg. Bridet erhitzte sich. Er hatte jetzt genug. Er bedauerte, daß er es nicht früher getan hatte. Jetzt war seine Entscheidung gefallen. Er würde zu Basson gehen. Er würde den Eindruck vermitteln, als spräche er ganz offen mit ihm. Er würde ihm erzählen, daß er den Marschall bewundere … Er würde ihn um Beistand bitten. Basson war ein alter Kamerad. Er würde ihm die Bitte nicht abschlagen. Aber wir sagen so vieles, wenn wir unzufrieden und elend die Monate zusammen hinbringen, wir schmieden so viele Pläne, ohne daß unser Leben sich im geringsten ändert, daß wir dann, wenn wir eine Entscheidung getroffen haben, plötzlich merken, daß keiner Grund hat, sie ernstzunehmen.

– Du bist verrückt! sagte sie.

Bridet antwortete ihr, daß er sich die Sache gut überlegt habe.

– Ich bewundere den Marschall, wiederholte er mit lauter Stimme.

– Niemand wird dir glauben, flüsterte ihm Yolande ins Ohr. Du meinst wohl, daß die Menschen blöd sind. Man wird dich verhaften. Alle wissen, was du denkst. Du hast es oft genug ausgeplaudert. Warum bist du so starrköpfig? Was hast du dagegen, daß wir nach Paris zurückkehren?

Während Bridet weiterhin ziellos kreuz und quer durch die Stadt lief, fragte er sich jetzt, ob er wirklich zu Basson gehen sollte oder nicht. Bestimmte Komödien kann man nicht spielen, selbst wenn die eigene Zukunft davon abhängt. Wir können nicht von den Leuten, die wir hassen, gleichzeitig sagen, daß wir sie lieben. Täten wir es, man würde bemerken, daß wir lügen. Was also tun? Nach Paris zurückkehren? Yolande folgen? Beim Überqueren der Demarkationslinie den Boches artig die Papiere vorzeigen? Zusehen, wie überall das Hakenkreuz über einem menschenleeren Paris wehte? Yolande meinte, der Umstand, daß man Hüte an Deutsche verkaufe, die diese dann ihren Frauen schickten, sei einer Französin nicht unwürdig. Sie würde viel Geld verdienen, und er, der immer behauptet hatte, keine Ruhe zum Schreiben eines Buches zu haben, nun, dann hätte er sie … Es war widerlich.

Und doch liebte Yolande ihn. Sie war bereit, für ihn Dinge zu tun, die sie früher nie getan hätte. Sie fand, daß es jetzt an den Frauen sei, die Hauptrolle zu spielen, sich in den Vordergrund zu stellen und dafür zu sorgen, daß die Männer vergessen wurden, um sie für den Tag zu schonen, an dem sie in der Lage sein würden, erneut zu den Waffen zu greifen.

Am Abend in seinem Zimmer spürte Bridet, daß er Fieber hatte. Er glühte. Von Zeit zu Zeit meinte er zu frösteln. Aber er fröstelte nicht. Dieser unangenehme Zustand ähnelte einem anderen, der vor einem Monat zum erstenmal aufgetreten war. Ständig war ihm, als überkomme ihn ein Schwindel. Mit den Augen suchte er immer schon nach einer Bank, einem Stuhl. Aber er hatte keinen Schwindelanfall – ohne daß es ihm deshalb besser gegangen wäre.

Draußen hatte der Mistral mit ungewöhnlicher Stärke zu blasen begonnen. Schirokko, Mistral, Föhn, all diese gefürchteten Winde haben etwas, was sie von den gewöhnlichen Winden unterscheidet: plötzlich beginnen in einem stillen Haus Schranktüren, Fenster, die auf kleine Höfe gehen, beginnen sogar Gegenstände, die geschützt zu sein schienen, zu beben.

Bridet nahm geheimnisvolle Geräusche wahr. »Was tun?« fragte er sich. Er glaubte hinter der Tür jemanden zu hören. Er dachte unwillkürlich an Basson. Es gehört wohl zu den unangenehmsten Dingen, die einem stolzen Menschen widerfahren können: von einem Freund abzuhängen, dem man die kalte Schulter gezeigt hat, an den man niemals geglaubt hat und dem die Ereignisse dadurch, daß sie unser Schicksal in seine Hände legen, recht zu geben scheinen gegen uns. Endlich schlief Bridet ein. Am nächsten Morgen nahm er den Zug.

KAPITEL 2

Das Büro Paul Bassons lag in einem Zimmer des Hôtel des Célestins. An den zwei Fenstern hingen Vorhänge aus weißem Musselin. Paul Basson war seit einem Monat bei der Obersten Leitung der Nationalen Polizei. Als Bridet eintrat, erhob er sich und gab seinem einstigen Kameraden aus gemeinsamer Studien- und Journalistenzeit die Hand.

Bridet überkam in diesem Augenblick jenes Gefühl von Beklommenheit, das uns befällt, wenn wir jemanden, den wir früher ebenso abhängig wie uns selbst erlebt haben, nun plötzlich als tatkräftige und einflußreiche Person vor uns stehen sehen. Der Schreibtisch war frei von Papieren und Akten, lediglich eine Kristallvase mit einem Nelkenstrauß stand da. Bridet nahm in einem Sessel Platz. Nie hatte Basson etwas zur Verschönerung seines Junggesellenzimmers getan, und jetzt erfüllte Blumenduft sein Polizeibüro. Diese Einzelheit offenbarte einen beunruhigenden Geisteszustand.

– Ich bin zu dir gekommen, sagte Bridet, um dich um eine Unterstützung zu bitten.

– Das ist ganz normal. Wie geht’s dir?

– Nicht so übermäßig.

Basson warf einen Blick hinaus auf den Rasen und die Bäume des Parks. Unglaublich, daß der Waffenstillstand noch keine vier Monate alt war. Wie ein couragierter Witwer hatte er sein Leben neu gestaltet. Das Haus war noch ganz frisch. Man fühlte sich darin wie in einer Ausstellung, am Vorabend ihrer Eröffnung. Das war nach einem derart großen Unglück natürlich.

– Es handelt sich um Folgendes, sagte Bridet. Ich möchte meinem Land dienen. Ich möchte nützlich sein. Der Marschall hat unsere Geschicke in die Hand genommen. Wir haben kein Recht mehr, uns zu fragen, ob wir den, der uns regiert, mögen oder nicht mögen. Wir müssen ihn nehmen, wie er ist. Was mich betrifft, ich bin überzeugt, daß Pétain uns retten wird.

In diesem Augenblick ließ Basson einen unerwarteten Anflug von schlechter Laune erkennen. Er warf zwei oder drei Worte hin, hielt inne, sagte schließlich mit großer Kälte:

– Sprich nicht vom Marschall.

Bridet schaute ihn verblüfft an.

– Weshalb?

– Diese Bemerkung erlaube ich mir dir gegenüber. Sprich niemals vom Marschall. Sag niemals, daß man ihm folgen müsse. Man wird sonst nämlich glauben, du seiest gegen ihn. Und das wäre mir sehr unangenehm.

Bridet begriff, daß er sich ungeschickt verhalten hatte. Damit, daß er Basson aufgesucht hatte, war klar, daß er für die Regierung war. Jede Erklärung war überflüssig und schmeckte nach Rechtfertigung.

Basson nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

– Was erwartest du von mir? fragte er, als sei nichts geschehen.

– Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll … Ich wollte nichts Falsches sagen …

– Ich bitte dich, lassen wir das. Was erwartest du von mir?

– Wie gesagt, ich möchte meinem Land dienen. Und ich habe mir gedacht, vielleicht könnte man mich nach Marokko schicken, um daran zu arbeiten, zwischen der Metropole und den Kolonien die Bindungen, wie man so sagt, enger zu knüpfen.

– Was heißt: »Wie man so sagt«?

– Ich weiß nicht. »Die Bindungen enger knüpfen« ist doch ein gängiger Ausdruck. »Wie man so sagt« – nimmst du daran Anstoß?

– Und warum gerade Marokko?

– Nach Marokko oder irgendwo anders hin. Mir ist das egal.

– Du willst weg?

– Nein. Ich habe nur den Eindruck, hier nicht von Nutzen zu sein.

– Du täuschst dich. Du kannst sehr nützlich sein. Wir haben eine Riesenaufgabe zu erfüllen. Zum Wiederaufbau Frankreichs werden wir nie genug sein.

– Ich bin deiner Meinung.

– Du und meiner Meinung!

– Ja.

Basson betrachtete seinen Freund wie ein Pfarrer einen Straßenkomödianten.

– Ich wußte gar nicht, daß dir die Zukunft des Vaterlands so am Herzen liegt, fuhr Basson fort.

– Das war früher nicht so, aber seitdem sind Ereignisse eingetreten, die mich verändert haben.

– So, du willst also Frankreich wiederaufbauen.

– Ich will tun, was ich kann.

– Im Grunde weißt du nicht so recht, was du machen willst.

– Du magst recht haben …

– Aber eines weißt du: du willst Frankreich verlassen.

– Nein.

– Du hast es gerade selbst gesagt.

– Ich habe gesagt, daß ich meinem Land dienen möchte.

Basson hielt einen Minenklemmstift zwischen den Fingern. Er zeichnete Großbuchstaben auf ein Kuvert. Während er sprach, schien er von dieser Beschäftigung ganz in Anspruch genommen.

– Du willst wirklich deinem Land dienen?

– Selbstverständlich. Wollte ich es nicht, wäre ich nicht zu dir gekommen. Ich hätte ruhig im Berry leben können, bei meiner Mutter.

Das Argument schien auf Basson Eindruck zu machen.

– Du willst also ins Ausland, sagte er.

– Ich glaube, daß es im Interesse der Regierung ist, zuverlässige Leute in die Kolonien zu schicken.

Basson zeichnete noch immer.

– Und Yolande?

– Sie ist in Lyon. Wir sind beide in Lyon. Ich habe es dir bereits gesagt.

– Wird sie mit dir gehen?

– Oh, ich glaube nicht. Sie besitzt ja, wie du weißt, einen Laden. Sie will nach Paris zurück.

– Und du, du willst nicht?

Bridet merkte, daß er erneut lügen mußte.

– Vielleicht doch, wenn ich mich bei meiner Mutter langweile und nicht wegfahre.

– Was ich nicht verstehe: warum arbeitest du nicht an einer Zeitung mit? Sie sind doch alle in Lyon.

Während er sprach, schloß Basson mehrfach die Augen, als schmerzten sie ihn.

– Das widert mich etwas an, sagte Bridet. Alle diese Zeitungen treiben ein Doppelspiel.

Basson hob zum ersten Mal den Kopf.

– Was willst du damit sagen? fragte er.

Bridet wagte es nicht, den Marschall zu erwähnen.

– Sie sind nicht ehrlich, gab er zur Antwort.

– Du willst sagen, daß sie vorgeben, mit uns zu sein, es aber nicht sind.

– Genau.

– Und das widert dich an?

– Natürlich. Sonst wäre ich nicht in deinem Büro.

– Das widert dich wirklich an?

– Ich sagte es.

– Ja, ich weiß, man kann es sagen.

Bridet wurde es ungemütlich. Er schaute um sich. Würde er danach hinausgehen dürfen? War dieses Büro nicht das eines Chefs der Polizei? War Basson wirklich ein Freund?

– So, du willst also nach Marokko? fragte letzterer.

– Ja, ich will nach Marokko, antwortete Bridet mechanisch. Hätte er vorhin nicht nachdrücklicher sagen müssen, daß er für Pétain war? Bassons Bemerkung hatte ihn abbrechen lassen. Er spürte, daß Worte hier wertlos waren. Ein wenig ähnelte es einer Gerichtsverhandlung. Und doch mußten die Dinge klargestellt werden.

– Du hast mir vorhin gesagt, fuhr Bridet fort, daß es dir unangenehm ist, wenn ich von Pétain rede. Du vergißt allerdings, daß wir uns lange nicht gesehen haben. Du weißt nicht, was ich denke. Und ich möchte, daß du es weißt.

Basson lächelte.

– Ich stelle fest, daß du nervös bist.

– Wie auch nicht. Du scheinst mir zu mißtrauen.

– Ich dir mißtrauen? Das hast du dir eingebildet. Du kannst dir doch wohl vorstellen, daß du nicht hier in meinem Büro wärst, hätte ich den geringsten Zweifel an deiner Aufrichtigkeit.

Bridet spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Instinktiv lächelte er zurück.

– Du hast recht. Ich bin nervös. Ich habe eine Menge Ärger gehabt …

– Ja, und was für welchen! Ich kenn mich da aus.

Basson erhob sich. Als ob er sich daranmachte zu gehen, steckte er Zigaretten und Feuerzeug ein. Dann setzte er sich wieder. Bridet erhob sich seinerseits.

– Geh noch nicht, sagte Basson. Ich muß dir etwas Wichtiges sagen.

Bridet setzte sich wieder. Er schaute seinen Freund leicht beunruhigt an.

– Etwas sehr Wichtiges, fuhr Basson fort.

– Worum geht es? fragte Bridet

– Ich möchte dir einen Rat geben, den Rat eines Freundes.

– Du willst mir einen Rat geben?

– Ja. Und der Rat lautet: Paß auf.

Bridet spürte, wie es in seinem Mund plötzlich bitter schmeckte.

– Warum? fragte er mit dem Anschein tiefsten Erstaunens.

– Ich sage es dir noch einmal: Paß auf.

– Aber warum denn?

– Paß auf und spiel nicht den Dummen.

– Gibt es irgendeine Gefahr?

– Dir wird etwas zustoßen.

– Mir?

– Ja dir.

– Was? Warum?

– Du bist intelligent genug, um mich zu verstehen. Jetzt sprechen wir mal von was anderem. Will dich Yolande hier nicht treffen?

– Was stößt mir zu? Du mußt mir sagen, worum es geht.

– Nein, nein, sprechen wir von Yolande.

In diesem Augenblick erklang das dumpfe Läuten des Haustelefons. Basson sprach eine Weile und machte dabei, so als würde Bridet ihn unterbrechen, mehrfach Zeichen, er möge nicht weiter auf ihn eindringen, er werde ihm nichts sagen.

– Lassen Sie ihn eintreten, sagte er schließlich, bevor er den Hörer auflegte.

Dann wandte er sich erneut Bridet zu und fuhr fort:

– Ich muß jemand empfangen. Sei so gut und warte kurz draußen im Salon. Ich laß dich rufen, sobald ich wieder frei bin.

– Du erklärst mir dann, was du gemeint hast.

– Nein, nein, ich hab’s dir schon gesagt, wir werden über Yolande reden, über unsere Freunde, über alles, aber nicht über Politik.

– Ist es wegen der Politik?

– Frag mich nicht, ich will dir nicht antworten.

Bridet setzte sich in den Salon, wo bereits vier oder fünf Personen warteten. Seine Stirn war schweißgebadet. Seine Hände zitterten leicht. Er legte sie auf seine Oberschenkel, um es zu verbergen. Sie zitterten weiter. Er verbarg sie unter seinem Hut. Was wollte Basson nur sagen? So fragte er sich unaufhörlich.

»Ich habe nichts getan«, dachte er. »Sicher, ich habe vielen Leuten gegenüber die Andeutung gemacht, daß ich nach England gehen wollte, aber das wollten diese Leute auch. Und letztlich sind es gar nicht so viele. Vielleicht ein Dutzend. Selbst wenn es Gerüchte über mich geben sollte, eine Akte, hätte Basson, der meinen Besuch nicht erwartete, keinen Grund gehabt, sie einsehen zu wollen. Vielleicht hat man ihm gesagt, ich sei Gaullist. Aber keiner könnte ihm einen Beweis dafür vorlegen. Ich selbst habe nie klar geäußert, ich sei Gaullist. Ich habe gesagt, daß ich nach England gehen wolle, um mich den Freien Französischen Streitkräften anzuschließen. Das war alles. Basson hat wohl eher gespürt, daß ich nicht für den Marschall bin. Als er sagte, mir würde etwas zustoßen, wollte er mir sicher zu verstehen geben, daß ich meine Zeit verschwende, wenn ich mich für jemand ausgebe, der ich nicht bin, daß das nicht hinhauen würde und daß ich mit dieser Komödie letztlich mir selber einen üblen Streich spielen würde. Vielleicht glaubt er, ich wollte Vichy ausspionieren. Oder – und das wäre dann allerdings sehr viel schlimmer – er, Basson, ist im Grunde seines Herzens Gaullist. Er hat mir zu verstehen geben wollen, daß mich meine Begeisterung für die Nationale Revolution einmal teuer zu stehen kommen könnte.«

Bridet mochte sich noch so sehr den Kopf zerbrechen, ihm blieb ein Rätsel, worauf Basson angespielt hatte. »Ich werde ihn gleich nachher fragen und solange auf ihn eindringen, bis er mir antwortet, und wenn er mir nicht antworten will, dann ist eben Schluß zwischen uns. Ich finde schon etwas anderes, um wegzukommen. Niemand ist unentbehrlich.«

Bridet war noch in Gedanken, als ein noch ziemlich junger Mann ohne Kopfbedeckung in den Salon trat.

– Monsieur Bridet? fragte er.

– Das bin ich, sagte Bridet und richtete sich auf.

– Wenn Sie mir bitte folgen wollen, fuhr der junge Mann fort.

– Sicher, sagte Bridet, recht stolz, vor den Personen, die vor ihm gekommen waren und warteten, drangenommen zu werden.

– Ist Monsieur Basson fertig? fragte Bridet auf dem Gang.

– Ich habe ihn nicht gesehen.

– Wie? Hat nicht er Sie geschickt? fragte Bridet, den plötzlich ein Zittern befiel.

– Ich weiß nicht.

– Wohin gehen wir denn dann? Ich darf mich nicht entfernen. Monsieur Basson erwartet mich.

– Wir gehen nicht weit, zur Abteilung Algerische Angelegenheiten.

– Ah, gut, sagte Bridet und tat unwillkürlich einen tiefen Seufzer.

Jetzt klärte sich alles auf. Basson war also doch ein echter Freund. Er hatte ihm etwas Angst eingejagt, einfach so, aus Jux und Tollerei. Bridet erinnerte sich in diesem Augenblick, daß Basson sich schon immer so verhalten hatte. Er lehnte gern ab, worum man ihn bat, machte gern den Eindruck des Zaudernden, verbreitete die Aura des Geheimnisses um sich, und dann, wenn man gar nicht mehr mit ihm rechnete, merkte man, daß er weit mehr getan hatte als ursprünglich erwartet. Offensichtlich hatte er sich nicht geändert. »Paß auf, dir wird etwas zustoßen, warte auf mich im Salon …« Und dann erledigte er, was zu erledigen war.

Bridet und der Büroangestellte folgten einem langen, von Türen unterbrochenen Gang, an denen Nummern aus Emaille prangten. Als eine der Türen sich öffnete, sah man Beamte, Schreibmaschinen und an den Wänden riesige Stapel Papiere und Akten, die den ganzen Rückzug mitgemacht hatten; sicher fehlten wichtige Stücke.

– Treten Sie ein, Monsieur, sagte der Büroangestellte, während er die Tür öffnete und mit einer etwas mechanischen Höflichkeit zurücktrat.

Bridet fand sich in einem Zimmer mit einem beigen Teppichboden wieder. Es gab nichts außer einem Tisch und einem Stuhl.

– Nehmen Sie Platz, Monsieur, ich schaue nach, ob der Abteilungsleiter Sie empfangen kann.

– Welcher Abteilungsleiter? fragte Bridet.

– Monsieur de Vauvray, der Abteilungsleiter.

– Ah, ja, gut, ich nehme Platz, sagte Bridet, den erneut ein Gefühl des Unwohlseins überkam.

Einige Minuten verstrichen.

»Einiges ist mir bei der ganzen Sache nicht ganz klar«, dachte Bridet. »Basson hat mich gebeten, im Salon auf ihn zu warten, während er einen Besucher empfing. Woher hat er die Zeit genommen, mit diesem Monsieur de Vauvray zu sprechen? Das geht alles etwas sehr rasch, finde ich.« Eine Verbindungstür zum Nebenzimmer öffnete sich, und der Büroangestellte gab, ohne näherzutreten, Bridet ein Zeichen zu kommen. Dieses andere Zimmer war sehr viel größer und sah nach einem Privatbüro aus.

Monsieur de Vauvray, denn das war sicher er, stand mit dem Rücken zur Tür. Er hatte die Hände in den Taschen. Er schaute aus dem Fenster, als ob er, aus Schüchternheit oder aus Furcht, verlegen zu erscheinen, es vorzog, seine Besucher erst zu sehen, wenn sie sich seinem Schreibtisch genähert hatten.

– Herr Direktor, hier ist Monsieur Bridet, sagte der Büroangestellte.

Er drehte sich um, machte das überraschte Gesicht desjenigen, der kein Geräusch gehört hat, nahm die Hände aus den Taschen und kam seinem Besucher mit einem Lächeln entgegen.

– Ah, da sind Sie ja, sagte er. Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Setzen Sie sich doch und genehmigen Sie sich eine Zigarette.

Sich dem Büroangestellten zuwendend, ergänzte er:

– Sie können gehen.

Der Direktor war jung, höchstens 25 Jahre, aber anders als die Beamten dieses Alters nahm er sich offensichtlich nicht allzu ernst. Er war ungezwungen, gut erzogen, man hatte das Gefühl, daß er in seiner Umgebung als Original durchging. Das war beruhigend.

– Ich bin glücklich, Monsieur, Sie kennenzulernen, wiederholte er, und dieses Mal skandierte er seine Worte mit Gesten, die ihre Bedeutung unterstreichen sollten.

– Ich auch, Monsieur, sagte Bridet.

– Unser Freund Basson hat mir des längeren von Ihnen erzählt. (Wann? fragte sich Bridet erneut.) Es ist wohl nicht nötig, wenn ich Ihnen sage, daß ich vollständig zu Ihrer Verfügung stehe, aber Sie sollten von Anfang an wissen, daß Marokko nicht dem Innenministerium untersteht, sondern dem Außenministerium. Wenn Ihnen daran liegt, nach Algerien zu gehen, müssen Sie sich an mich wenden. Und in diesem Fall, ich wiederhole es, stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.

– Sie sind zu freundlich, sagte Bridet.