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© Alias Entertainment GmbH
Alle Rechte vorbehalten.
Ostwind 2 Film: © SamFilm GmbH in Co-Produktion mit
Constantin Film Produktion GmbH und Alias Entertainment GmbH
Fotos (Tom Trambow) & Artwork mit freundlicher Genehmigung
der Constantin Filmverleih GmbH
Basierend auf dem Drehbuch von Lea Schmidbauer und Kristina Magdalena Henn.
Redaktion: Gabi Strobel – gabistrobel.de
Covergestaltung & Satz: Jutta Hohl-Wolf – buero86.de
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-17067-7

ostwindfilm ostwind-film.de

Inhalt

Titel

Impressum

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Epilog

Bildteil

Die Autorinnen

Filmcredits

Ostwind-Produkte

1. Kapitel

Sche swi malad. Sche swi blesse. Schä besoa dün medesin«, dröhnte es monoton vom Lehrerpult. Mikas Kopf lag schwer auf der Tischplatte. Sie verstand kein Wort. Herr Lessing hätte genauso gut französisch sprechen können. Okay, Herr Lessing sprach französisch, aber Mikas Gedanken waren weit, weit weg.

Plötzlich spürte sie einen weichen Luftzug auf ihrem Gesicht.

Da hörte sie es. Es war leise und weit entfernt, aber dieses Geräusch würde sie überall erkennen. Ein Wiehern. Mika hob den Kopf. Ostwind!? In diesem Moment wurde der Wind stärker, stieß das Fenster auf, blies in den Klassenraum und wirbelte die Arbeitsblätter von den Bänken durch die Luft wie große quadratische Schneeflocken.

Ihre Mitschüler schienen das nicht zu bemerken, sie starrten weiter gelangweilt geradeaus in Richtung Tafel.

Mika musste hier raus. Jetzt. Sie stand auf und stieg auf den Tisch. Der Wind zerzauste ihre langen roten Haare. Sie sah auf Fanny hinunter, die neben ihr saß. »Ich muss gehen«, sagte sie tonlos zu ihrer besten Freundin. Fanny nickte ihr verständnisvoll zu und biss dann herzhaft in ein meterlanges Baguette.

Mika rannte los. Über die Tische ihrer Mitschüler, durch das leergefegte Schulhaus, hinaus auf die Straße.

Erwartungsvoll sah sie sich um. Autos hupten, Passanten gingen geschäftig ihrer Wege. Da hörte sie es wieder, lauter, und diesmal gab es keinen Zweifel: Das war Ostwind und er rief nach ihr.

Langsam drehte sie sich um. Und ihr Herz machte einen Satz. Denn da, am Ende der Straße, im dichten Verkehr zwischen Autos, Mopeds und Straßenbahnschienen, kam der schwarze Hengst auf sie zu galoppiert.

Sie lief ihm entgegen. Doch kurz bevor sie ihn erreicht hatte, kurz bevor sie ihren Kopf an seinen warmen Hals lehnen konnte, stieg Ostwind wiehernd auf die Hinterbeine. Er riss den Kopf herum, seine Hufe donnerten auf den Asphalt und plötzlich drehte er um und galoppierte davon.

»Ostwind?«, murmelte Mika leise vor sich hin.

Unsanft boxte sie die Passanten zur Seite, die ihr den Weg versperrten. Sie musste ihm nach! Aber es ging nicht, es wurden immer mehr Menschen, die immer schneller liefen. Sie versperrten ihr die Sicht, sie kam einfach nicht vorwärts!

Plötzlich hörte Mika seltsame Geräusche hinter sich. Heisere Kommandos, Hundegebell, schlagende Stöcke. Sie fuhr herum und jetzt sah sie die Männer, die mit wutverzerrten Gesichtern auf sie zukamen. Ein Bluthund stemmte sich mit wildem Gebell und schnappenden Kiefern in die Leine. Dann kam die Angst. Sie musste zu Ostwind, weg von hier. Eine Hand griff nach ihr, hielt sie fest, aber Mika riss sich los, stürzte nach vorn und … und fiel … und fiel …

Rummms. Mit einem dumpfen Aufprall landete Mika auf dem harten Holzfußboden ihres Zimmers. Sie riss die Augen auf und sah eine dunkle Gestalt, die sich über sie beugte.

»Ahhhhhhhhh!«, schrie Mika erschrocken auf. Und die Gestalt, die, wie Mika nun erstaunt feststellte, eine französische Baskenmütze trug, zuckte mindestens ebenso erschrocken zurück. Okay, Moment. Das war doch …

»F…anny?«, krächzte Mika und rappelte sich auf.

»Mann!«, schnaufte Fanny und sank zittrig auf die Bettkante. »Wen hast du denn erwartet? Ryan Gosling?«

Mika blinzelte sie traumtrunken an. »Ich hatte schon wieder diesen Traum«, nuschelte sie benommen.

Fanny sah sie mitfühlend an. »Nackt im Schulhof? Den hab ich auch immer. Schrecklich.«

Mika setzte sich auf und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Nein. Da war Ostwind und …«

Fanny seufzte schwer. Stockend fuhr Mika fort. »Er wollte mich holen kommen, aber dann war er plötzlich weg. Ich weiß auch nicht. Irgendwas stimmt nicht …« Mika sah Fanny an. Suchte Verständnis in den Augen ihrer Freundin, aber die wich ihrem Blick aus und stand schnell auf. Dabei fiel ihr Blick auf Mikas Rucksack, der offen und noch sichtlich leer in der Mitte des Zimmers stand. Ertappt kniff Mika die Augen zusammen. Mist!

Fanny drehte sich fassungslos zu ihr um.

»Du hast noch nicht mal gepackt? Mann, Mika! Wir treffen die Anderen in einer Stunde am Flughafen!«

Schuldbewusst kaute Mika an ihrer Unterlippe. Wie sollte sie Fanny das nur erklären? Ja, sie hatte es versprochen, zwei Wochen Paris, aber …

Mika sah Fanny flehend an. »Ich weiß. Aber …«

Doch Fanny stand hastig auf, bevor Mika ihren Satz vollenden konnte.

»Ich warte unten. Beeil dich. A bientôt!«, sagte sie schnell und verließ fluchtartig das Zimmer.

Wenig später kam Mika mit ihrem Rucksack auf dem Rücken aus ihrem Zimmer. Leise zog sie die Tür hinter sich ins Schloss.

Aus der Küche drang die klare Stimme ihrer Mutter zu ihr herüber.

»Ich hab euch alles farblich markiert. Blau für Kunst, Rot für Kulinarisches …«, zählte Elisabeth freudig auf.

Mika schlich über den Flur und spähte in die Küche, wo ihre Mutter Elisabeth Reiseführer vor Fanny aufstapelte.

»Nicht zu vergessen den wirklich sehenswerten Teilchenbeschleuniger im Institut für angewandte Kernphysik!«, fügte Mikas Vater Philipp begeistert hinzu.

Mika musste lachen, als sie Fannys festgefrorenes Lächeln sah.

»Ach, Paris. Ich beneide euch«, seufzte Elisabeth schwärmerisch. »Und du findest da sicher jede Menge Themen für diesen ›Jugend forscht‹-Wettbewerb.«

»Jugend filmt«, korrigierte Fanny. »Und ich freu’ mich ja auch, aber Mika ...«, fügte sie zögerlich hinzu.

Mika gab sich einen Ruck. Jetzt oder nie. Beherzt schlich sie los, vorbei an der offenen Küchentür, gleich hatte sie es geschafft. Verstohlen sah sie sich um … und blickte direkt ins erstaunte Gesicht ihres Vaters.

Elisabeth referierte weiter über Frankreichs Kulturschätze. Sie und Fanny hatten Mika noch nicht bemerkt. Mika sah ihren Vater hinter dem Rücken ihrer Mutter flehend an. Philipp hob streng eine Augenbraue. Mika!, sagte sein tadelnder Blick und Mikas Blick erwiderte: Papa! Bitte! Er seufzte leise, dann nickte er. Philipp kannte seine Tochter. Dann geh, gab er Mika mit einer leichten Kopfbewegung zu verstehen. Und Mika grinste dankbar.

Doch genau in diesem Moment stand Fanny auf.

»Wo bleibt Mika denn? Ich geh mal …« Sie wollte sich gerade umdrehen, als Philipp hastig aufsprang und ihr den Weg versperrte. »Und Käse! Und Baguette!«, faselte er zusammenhangslos. Fanny sah ihn befremdet an, aber es funktionierte. Sie blieb stehen und sah nicht, wie Mika hinter ihrem Vater, der einfach weiterredete, aus der Tür schlüpfte. »Und Rotwein! Äh nein, auf keinen Fall Rotwein. Aber …«

DING-DONG, unterbrach ihn das Geräusch einer altmodischen Türklingel. Fanny fischte erlöst nach ihrem Handy und starrte ungläubig auf das Display. »Mika ist weg!«, stammelte sie fassungslos.

2. Kapitel

Mika rannte durch die große Bahnhofshalle und saß kurz darauf im Zug auf dem Weg nach Kaltenbach. Endlich. Sie atmete erleichtert auf und fühlte, wie sie wieder ruhiger wurde.

Rasch tippte sie eine SMS an Sam: »Hey Stallbursche, kannst du mich um 14.38 Uhr vom Bahnhof abholen? Danke!«

Dann zog sie ihren Kopfhörer über die Ohren, lehnte sich ins Polster und sah zu, wie sich vor dem Fenster das Grau der Stadt allmählich in leuchtendes Grün verwandelte. Sie freute sich riesig auf Kaltenbach, auf ihre Großmutter, auf Sam und natürlich auf Ostwind!

Mikas Vorfreude war schnell verflogen. Ungeduldig schaute sie sich um. Seit über einer Stunde wartete sie bereits an der Stelle, an der Sam sie sonst immer abholte. Doch statt Sams altersschwachem rotem Traktor parkte da nur ein schicker schwarzer Van. »Leistungszentrum Sasse – Sport und Turnierpferde« stand in protziger silberner Schrift auf der Tür des Autos. Der Fahrer hielt die Tür für eine Gruppe Mädchen auf, die schnatternd in den Bus kletterten.

»Ich bin ja mal sooo gespannt auf den Turnierrichter … der muss ja der endsextreme Vollstar sein!«

»Ich hoffe nur, dass ›Mon Cherie‹ nicht schon wieder lahmt.«

Mika musste grinsen. Aufgedonnerte »Chicas« hätte Fanny die Truppe genannt.

Als die Letzte in den Bus geklettert war, schob der Fahrer schwungvoll die Tür zu. Dann fiel sein Blick auf Mika, die auf der anderen Straßenseite wartete. Er nickte ihr zu.

»Und du?«, fragte er.

Mika schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Kaltenbach.«

Der Fahrer schaute sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Nur Felder und Kühe. Er zog einen Hochglanz-Flyer aus seinem makellosen Jackett und kam über die Straße auf Mika zu.

»Hier«, sagte er herablassend und reichte Mika den Flyer. »Falls dein Shuttle nicht mehr auftaucht.«

»Danke, aber mein Helikoptertaxi müsste jeden Moment da sein«, antwortete sie ihm zuckersüß und knüllte den komischen Flyer achtlos in ihre Hosentasche.

Einige Zeit später stand die Sonne ein gutes Stück tiefer und Mika saß immer noch am selben Fleck. Außer dem Muhen einer Kuh war immer noch nichts zu hören: kein Dieselmotor, kein Sam, nichts. Sie sah auf ihr Handy, aber das hatte wie immer keinen Empfang.

»Moouououohh«, bemerkte die Kuh erneut und Mika sprang auf. »Schon gut, ich geh ja schon«, erwiderte Mika und ging los.

Gut gelaunt wanderte Mika durch die Allee, lief querfeldein über eine blühende Sommerwiese und bog schließlich auf den Schotterweg ein, der am Waldrand entlang Richtung Kaltenbach führte. Und da entdeckte sie Sam, der gerade wenige Meter vor ihr aus dem Wald kam. Er hatte eine Kapuze über dem Kopf und trug seine geliebte Lederjacke – aber warum ging er in die falsche Richtung? Mika grinste und beschleunigte ihren Schritt. Als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, sprang sie Sam von hinten an, um ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.

»Samuel, alte Fischsemmel! Zum Bahnhof geht’s in die andere Rich… Hey!« Weiter kam sie nicht, denn Sam war leider nicht Sam, sondern ein wildfremder Typ, der sich blitzschnell umdrehte und Mika so heftig wegstieß, dass sie rücklings ins Gras fiel.

»Was willst du?«, funkelte er sie böse an.

Mika sah ihn erschrocken an. Er hatte dunkle Locken und blaue Augen. Wie konnte sie sich nur so irren! Dieser Typ war zwar ungefähr so alt wie Sam, aber deutlich größer. Und unheimlicher. Mika hob entschuldigend die Hände.

»Nix. Tschuldigung. Ich dachte, du bist … «, versuchte sie sich zu erklären, aber der Nicht-Sam wollte davon nichts wissen.

»Lass mich in Ruhe«, sagte er schroff, drehte sich um und ging schnell davon.

Mika starrte ihm nach. Plötzlich wurde sie wütend. Was bildete der sich ein?

»Ja, was denn sonst? Denkst du ich renn dir nach oder was, du Affe?«, schleuderte sie ihm nach, doch der Junge drehte sich nicht mehr um.

Mika rappelte sich auf und dann vergaß sie den unfreundlichen Landstreicher auch ganz schnell. Ein breites Grinsen erhellte ihr Gesicht, denn in diesem Moment sah sie, dass ihr Shuttle doch noch gekommen war …

Flink wie ein Hase rannte Mika dem hoch beladenen Heuwagen nach, der zufällig in dem Moment um die Ecke bog. Ohne dass der Fahrer es merkte, warf Mika ihren Rucksack auf die Ladefläche und kletterte dann hinterher. Das war ohnehin besser als Sams wackeliger Traktor, dachte sie, als sie die Beine von ihrem weichen Heuthron baumeln ließ und den Fahrtwind genoss.

Im goldenen Licht der Nachmittagssonne stand der schwarze Hengst friedlich grasend auf der grünen Wiese. Grillen zirpten, sein Schweif schlug faul nach ein paar Fliegen, die ihn im Gegenlicht umschwirrten. Von weit weg war das Geräusch eines knatternden Motors zu hören. Ein Ohr zuckte, dann das andere. Ostwind hob den Kopf. Stieß ein freudiges Wiehern aus. Und dann galoppierte er los.

Mika grinste über das ganze Gesicht, als der schwankende Heutransporter in den Weg einbog, der an Ostwinds Koppel entlangführte. Erwartungsvoll reckte sie den Hals … und da war er, kam mit wehender Mähne angaloppiert und begleitete ihre Fahrt. Mika streckte lachend die Hand nach ihm aus und der große Hengst buckelte ausgelassen vor Wiedersehensfreude wie ein Fohlen im Frühling.

An der nächsten Wegkreuzung sprang Mika vom Heuwagen ab und lief zurück zu Ostwinds Koppel. Sie warf ihren Rucksack ins Gras und versteckte sich hinter einem Baum. Das war ein altes Spiel, Ostwind würde sie sofort finden. Doch der Hengst stand von ihr abgewandt mitten auf der Wiese und sein Blick schien auf dem Wald zu ruhen, der seine Koppel begrenzte. Schließlich verlor Mika die Geduld und trat hinter dem Baum hervor. Sie zog einen Apfel aus der Tasche und warf ihn in die Luft.

»Hey! Ich weiß, was du willst. Aber den … «, sagte sie grinsend, »… musst du dir erst holen!« Ausgelassen lief Mika los, doch nach ein paar Metern merkte sie, dass Ostwind ihr nicht folgte. Er stand einfach da und sah Mika an. Besorgt zog sie die Augenbrauen zusammen. »Was ist denn mit dir los?« Mika ging ein Stück auf ihn zu und erst jetzt kam Ostwind ihr langsam entgegen. Sie sah ihn forschend an, doch sie verstand nicht, was er ihr sagen wollte. Mika schlang ihre Arme um Ostwinds Hals und spürte plötzlich, wie der Hengst zurückzuckte. Im selben Moment ertasteten ihre Finger … Was war das? Mika zog erschrocken ihre Hand zurück und starrte ihre Finger an, an denen hellrotes Blut klebte.

»Was ist das?« Sie bückte sich zu ihm und betastete behutsam seinen Bauch. Und jetzt sah sie es: sein dunkles Fell war durchzogen von dünnen Striemen und blutigen Kratzern. »Woher hast du das?«, fragte Mika mehr sich selbst als Ostwind. Nachdenklich sah ihn an, folgte schließlich seinem abwesenden Blick, der sich im Wald verlor.

Wenig später saß Mika im Schneidersitz auf einem bunten Teppich vor Herrn Kaans Wohnwagen. »Haben Sie seine Ohren gesehen?«, fragte sie ihren Lehrmeister, der ihr in den letzten Jahren viel über Pferde beigebracht hatte.

Herr Kaan saß neben ihr und schnitzte an einer halbfertigen Holzfigur, einem Kentaur, halb Mensch, halb Pferd. Der alte Mann nickte. »Hm. Mit einem ist er bei dir, aber das andere, das lauscht irgendwo anders hin.« Herr Kaan illustrierte das mit seinen Händen.

Mika nickte zustimmend. »Ja, genau! Das hat er noch nie gemacht.« Sie stand auf und ging unruhig auf und ab. Vor der Figur des Schläfers, die neben dem Eingang zum Wohnwagen auf einem Regalbrett stand, blieb sie stehen und strich nachdenklich über das raue Holz.

»Müsste ich nicht eigentlich wissen, was er hat?«, fragte sie leise. Herr Kaan ließ seine Schnitzarbeit sinken und sah sie ruhig an.

»Mika. Jede Verbindung, wie tief sie auch sein mag, hat eine Grenze. Das gilt für Menschen genauso wie für Tiere.« Mika kaute unzufrieden auf ihrer Unterlippe. Das tröstete sie nicht. Lächelnd fuhr Herr Kaan fort: »Es wird immer ein Teil Wildnis in Ostwind bleiben, den du nicht kennst.«

Doch Mika schüttelte trotzig den Kopf: »Nein. Ich kenne ihn.«

Herr Kaan seufzte. »Gib ihm Zeit. Und für seine Kratzer gebe ich dir eine Arnikasalbe.«

Mika brachte ein kleines Lächeln zustande. »Danke, Meister.«

Zwar nicht beruhigt, aber dennoch etwas ruhiger ging Mika zurück nach Kaltenbach.

3. Kapitel

Das altehrwürdige Gutshaus glitzerte in der Sommersonne und Mikas Gesichtszüge erhellten sich, als sie endlich in das große Tor des Gestütes einbog. Und da war auch ihre Großmutter! Sie stand neben einer hübschen jungen Frau mit braunen Locken, die einen Wallach in einen Pferdeanhänger bugsierte. Mika wollte sich gerade bemerkbar machen, als sie das Gesicht ihrer Großmutter sah. Sie sah aus, als wäre sie in den vergangenen Monaten um Jahre gealtert.

»Charlotte!«, sagte Maria Kaltenbach und sah die junge Frau fast flehend an. »Willst du dir das nicht noch mal überlegen? Du reitest hier seit du sechs Jahre alt bist.«

Charlotte sah betreten zu Boden. »Tut mir leid, Frau Kaltenbach. Ich weiß, ich habe Ihnen viel zu verdanken, aber bei Sasse haben sie jetzt diese neue Gegenstromanlage und einen Reitplatz mit Flutlicht. Ich will mit Attila einfach noch mehr erreichen und …«

Maria hob die Hand. »Schon gut«, sagte sie, aber es klang ganz und gar nicht gut.

Charlotte klappte die Rampe des Anhängers zu. »Danke. Für alles«, sagte sie und reichte ihrer alten Lehrerin die Hand. Doch Maria Kaltenbach drehte sich wortlos um und ging in Richtung der Stallungen davon. Charlotte warf einen letzten traurigen Blick auf Kaltenbach, dann stieg sie ins Auto.

Stirnrunzelnd sah Mika ihrer Großmutter nach. Was war los? »Mann!«, rief sie erschrocken aus, als sie plötzlich rücklings umkippte. Das zweite Mal an diesem Tag! Doch diesmal fiel sie wenigstens weicher, nämlich in eine Schubkarre voller Heu, die ihr jemand in die Kniekehlen geschoben hatte. Und dieser Jemand war natürlich Sam. Der sie frech angrinste, während er sie über den Hof schob. »Taxi gefällig?«

Mühsam rappelte Mika sich in der schwankenden Schubkarre auf. »Ja, vor zwei Stunden!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Hast du meine SMS nicht gekriegt?« Sam grinste reumütig.

»Doch, tut mir leid. Aber der Traktor ist immer noch nicht repariert und für den Führerschein spar ich noch. Außerdem wollte ich dir den ganzen Weg in der Schubkarre ersparen.« Nach diesen Worten blieb er stehen und kippte seine Ladung behutsam vor den Treppen des Gutshauses aus.

»Na, dann: danke«, lenkte Mika ein und umarmte ihn. Sam musste sich richtig dabei strecken, denn die »kleine« Mika überragte ihn mittlerweile um fast einen Kopf.

»Solltest du nicht in Paris sein?«, fragte Sam und grinste sie dabei wissend an. Mika zuckte unbestimmt die Schultern.

»Ich hatte so ein komisches Gefühl«, erklärte sie Sams Rücken. Sam hatte nämlich mittlerweile ihren Rucksack geschnappt und verschwand gerade vor ihr im Haus. An der Tür blieb Mika noch einmal stehen und drehte sich um. Sie atmete tief und zufrieden ein: Kaltenbach. »Wenigstens ist hier alles wie immer«, sagte sie glücklich, legte die Hand auf die Türklinke – und hielt den Knauf in der Hand.

Mika und Sam saßen nebeneinander auf dem Dach vor Mikas Zimmer und beobachteten Tinka, die ohne Sattel und Trense auf ihrem Pony Archibald saß und offensichtlich Mika und Ostwind nacheiferte. Leider interessierte sich der dickköpfige Schecke aber weitaus mehr für das saftige grüne Gras unter seinen Hufen. Sam und Mika mussten grinsen.

»Es ist so schön ruhig hier«, sagte Mika und ließ den Blick weitläufig über den Hof schweifen. Außer der schimpfenden Tinka war weit und breit niemand zu sehen. Sie sah Sam fragend an.

»Irgendwie SEHR ruhig. Wo sind denn eigentlich … alle?« Sam sah plötzlich sehr ernst aus.

»Viele sind mit Michelle zu Sasse rüber. Ins Leistungszentrum.« Sam schnaubte verächtlich. »Und als klar war, dass es dieses Jahr keine ›Kaltenbach Classics‹ geben wird, haben wir nochmal zwei Drittel verloren.«

»Kein Turnier?« Mika machte große Augen. Sam schüttelte düster den Kopf.

»Früher gab es immer ’ne ellenlange Warteliste für einen Trainingsplatz und jetzt …« Er stand auf. »Aber lass dir das lieber von deiner Großmutter erzählen. Ich muss noch füttern.« Und damit kletterte er zurück ins Zimmer. Mika sah ihm nachdenklich nach.

»Es ist alles in allerbester Ordnung. Kaltenbach geht es gut!«, erklärte Maria Kaltenbach mit fester Stimme. Sie saß am Küchentisch in der gemütlichen Küche des Gutshauses und sah Mika an, die mit baumelnden Beinen auf der Marmorarbeitsplatte ihr gegenüber hockte. Marianne, Marias resolute Haushälterin, stand hinter Mika am Herd und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

»O-kay«, sagt Mika zweifelnd und spießte beherzt einen steinharten Knödel von dem Teller, den Marianne ihr gereicht hatte.