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Münster – Weimar und zurück

Zur Autorin:

Ursula Meyer, geboren in Königstein/Taunus, aufgewachsen in Köln, Studium der Romanistik, Geographie und Philosophie in Köln und Wien, lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Wien und Münster. Nach ihrer Dissertation über die Gefängnisschriftstellerin Albertine Sarrazin schreibt sie nun Kriminalromane.

Mit Hauptkommissarin Sieglinde Züricher sind bisher Endstation Aasee, Münster – Weimar und zurück, Rosen aus Münster, Auf der Promenade wartet der Tod, Das Haus am Maikottenweg, … brenne auf mein Licht und Der Tod kennt keinen Stundenplan, Tod im Spieker, Die Tote vom Hörster Friedhof, Pferd ohne Reiter erschienen.

Ursula Meyer

Münster – Weimar und zurück

Sieglinde Zürichers zweiter Fall

Waxmann 2015

Münster • New York

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN 978-3-8309-1666-6

Epub-ISBN 978-8309-5014-1

© Waxmann Verlag GmbH, 2015

Steinfurter Straße 555, 48159 Münster

www.waxmann.com

info@waxmann.com

Umschlaggestaltung: Pleßmann Kommunikationsdesign, Ascheberg

Satz: Sven Solterbeck, Münster

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.

Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des

Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung

elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für meine Tochter Alexa

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Figuren dieses Buches und lebenden oder toten Personen ist Zufall und nicht beabsichtigt.

Erstes Kapitel

Der Garten von Gregors Opa ist dreimal so groß wie der ganze Domplatz!“

„Red keinen Unsinn, Kerstin! Einen solchen Garten gibt es in ganz Münster nicht, auch nicht am Pleistermühlenweg!“

„Aber wenn doch die ganze Klasse eingeladen ist!“

Es war Anfang Juni und wir saßen vor weit geöffneten Fenstern beim Abendessen.

Seit einigen Tagen herrschte Hochsommer. Doch als ob alle ahnten, daß er sich schon bald wieder verabschieden würde, um erst im August mit einer drückenden Hitzewelle wiederzukommen, beklagte sich niemand über die ungewohnten Temperaturen. Die Straßencafés und die Freibäder waren überfüllt. In den Abendstunden roch es auf den Terrassen, Balkons und in den kleinen Innenstadtgärten nach Holzkohle und gegrilltem Fleisch. Es war, als wäre Münster über Nacht um zehn Breitengrade südwärts verlegt worden.

Im Mordderzernat war es in letzter Zeit auffallend ruhig. Warum, das hatte mein Kollege Max Lückmann auf den Punkt gebracht: „Auch die Mörder machen immer öfter Urlaub.“

Lückmann nutzte die ruhige Lage, indem er seine Trainerstunden am Tennisplatz der Sentruper Höhe auf drei Abende pro Woche ausdehnte und seine Mittagspause mit Tageszeitung, Niveaöl und Sonnenbrille in die Grünanlagen der Anstalt Mariental verlegte. Angeblich war er dort schon mit dem einen oder anderen „leichten Fall“ ins Gespräch gekommen. Wer konnte schließlich wissen, ob Kontakte dieser Art nicht irgendwann von Nutzen waren?

Ich tat es ihm nach, weniger mit Sonnenöl und Zeitung in der Mittagspause als mit einem pünktlichen Dienstschluß. Zum gemeinsamen Abendessen mit Kerstin, zu letzten Meinungsverschiedenheiten über den optischen Eindruck ihrer schriftlichen Hausaufgaben, zum Vorlesen auf der Bettkante. Die schwülen, ewig hellen Abende, an denen die Luft stand und die Mauersegler mit schrillem Geschrei um die Hausgiebel stoben, machten das Einschlafen schwer.

Den Donnerstagnachmittag nahm ich frei, um mit Kerstin auf die Suche nach einem angemessenen Geburtstagsgeschenk für Gregor zu gehen – und zwar angemessen sowohl dem Alter des Gastgebers als auch dem Anlaß. Wie sich herausstellte, plante sie nämlich den Kauf eines Gameboys.

„Ich kaufe doch kein Weihnachtsgeschenk für jemanden, der dich einen Nachmittag lang in seinen Garten einlädt“, protestierte ich.

„Aber wenn der Garten doch so furchtbar groß ist!“ begann sie wieder. „Alle aus der Klasse sind eingeladen!“

Es war nicht schwer zu erraten, was hinter diesem Einwand steckte: der Vorwurf, daß wir keinen Garten hatten, nicht einmal einen winzigen Balkon. Dafür wohnten wir mitten in der Innenstadt auf dem Prinzipalmarkt und in der Nähe der Schule, die für Gregor nur mit dem Bus zu erreichen war.

„Und wenn die ganze Schule eingeladen wäre“, sagte ich. „Was hat die Gartengröße mit deinem Geschenk zu tun?“ Sie schwieg. „Dann kriegt er eben ein Tamagotchi!“ sagte sie dann eigensinnig.

„Ist das nicht eher was für Mädchen?“

„Findest du?“

Wir klapperten mehrere Spielwarengeschäfte ab, bevor wir bei einem Bausatz des Unglücksliners „Titanic“ aus Pappe fündig wurden. Erfreulicherweise forderte Kerstin kein zweites Exemplar für sich. Die Länge von einem Meter fünfzig, auf die das fertige Modell eskalierte, hätte unsere Zweizimmerwohnung in eine beschränkt benutzbare und eine völlig verbarrikadierte Hälfte geteilt. Aber Gregor konnte sich ja zum Basteln in den großzügig bemessenen Garten seines Großvaters zurückziehen.

Auch am Freitag nahm ich einen halben Tag Urlaub und brachte Kerstin nachmittags zum Pleistermühlenweg. Es war wieder sehr schwül. Vor uns im Osten, über Warendorf, vielleicht auch schon über Telgte, ballten sich schwefelgeränderte Haufenwolken. Aber Kerstin hatte darauf bestanden, ihr weißes Batistkleid mit Sankt Gallener Stickerei anzuziehen und dazu weiße Schuhe. Dafür hatte sie den Haarreifen in Kauf genommen, der ihre Locken beim Herumtoben zusammenhalten sollte und den sie nicht ausstehen konnte. Angeblich drückte er hinter den Ohren. Jetzt saß sie auf der Rückbank, den aufwendig mit Schleifen verschnürten Bausatzkarton auf den Knien, und schmollte.

Ein junges Mädchen öffnete uns das Gartentor. Das Geschrei und Gerenne hinter den meterhohen Tujen, die das Grundstück zur Straße abschirmten, bestätigte mir, daß wir nicht die ersten waren.

Ich hatte mir längst Gedanken darüber gemacht, wie ich diesen freien Nachmittag, den mir völlig unbekannte Großeltern bescherten, verbringen könnte, war aber auf nichts Einfallsreicheres gekommen als auf einen Einkaufsbummel. Auf meiner morgendlichen Fahrradtour zum Präsidium hatte ich schon das eine oder andere schöne Stück ausfindig gemacht. Mein Weg durch die Boutiquen und Kaufhäuser war also vorgezeichnet, und das war gut. Um halb fünf war ich nämlich mit Marion Vondembusche bei Kruse-Baimken am Aasee verabredet. Wir kannten uns seit meinem ersten Mordfall vor zwei Jahren. Damals war sie mit der Frau des Mordopfers befreundet gewesen und hatte, nachdem diese ins Rheinland gezogen war, ihre Einladungen für Vernissagen oder Parties mit wachsendem Erfolg bei mir an die Frau gebracht. Sie betrieb eine kleine Galerie am Rosenplatz, wo sie in einem klosterähnlichen Gewölbe Aquarelle aus Europa und Silberschmuck oder Keramiken aus Lateinamerika verkaufte.

Es würde nur ein kurzes Treffen, hatte sie am Telefon gesagt, weil sie noch einiges vorzubereiten hätte. Am Sonntag um halb elf ging ihre Maschine nach Frankfurt und von dort weiter nach Mexiko.

Vom Pleistermühlenweg fuhr ich über die Warendorfer Straße und den nördlichen Ring zum Präsidium, um das Auto abzustellen und meinen Weg in die Innenstadt mit dem Fahrrad fortzusetzen. An einem Freitag nachmittag wie diesem, heiß und kurz vor den großen Ferien, lag das Gebäude wie ausgestorben. Die einzigen bedauernswerten Geschöpfe, die ich drinnen angetroffen hätte, waren die Kollegen von der Bereitschaftswache im Erdgeschoß des linken Flügels.

Mir fielen zwei Frauen auf, die mit ratlosen Gesichtern vor der verschlossenen Tür standen und sich die verwaiste Pförtnerloge ansahen. Auf dem Türglas klebte noch immer die Suchmeldung von zwei Bankräubern, die in der Vorweihnachtszeit eine Sparkassenfiliale in Sprakel überfallen hatten. Ihre Gorillamienen schienen mir jeden Morgen viel Erfolg bei der Arbeit zu wünschen.

Ich kam näher. „Zu wem möchten Sie denn?“ Ein Besuch bei der Polizei, das wußte ich seit meiner Arbeit im Münchner Sittendezernat, war nicht selten mit Schwellenangst verbunden. Vor allem vergewaltigte Frauen und mißhandelte Prostituierte taten sich schwer. Da kamen plötzlich Zweifel auf, und man wußte nicht mehr, weshalb man hergekommen war, oder fand den zu meldenden Vorfall auf einmal gar nicht mehr so dramatisch.

„Wo kann man eine Vermißtenanzeige aufgeben?“ fragte die jüngere der beiden, eine hellblonde Mittdreißigerin, deren herbes Gesicht etwas Pferdeähnliches hatte.

„Drüben, im Wachzimmer“, sagte ich. „Ich bringe Sie hin. Der Haupteingang ist nur bis halb vier geöffnet.“

Sie folgten mir, und aus der Behutsamkeit, mit der die Blonde der älteren Frau die Hand auf den Arm legte, schloß ich, daß sie es war, die jemanden als vermißt melden mußte. Sie blieb weiter stumm, eine kleine Gestalt, etwa Ende vierzig, in einem unauffälligen, hellgrauen Gabardinerock und einer weißen Bluse, mit einer überdrehten Lockenfrisur, die sie offenbar selbst einlegte. Sie erinnerte mich an eine Szene aus meiner Kindheit: meine beiden Tanten, die sich vor der verschnörkelten Frisierkommode meiner Mutter gegenseitig die Haare machten, mit extra kleinen Lockenwicklern und spitzen Drahtnadeln, die Schmerzensschreie auslösten, wenn sie in die Kopfhaut stachen.

An diesem Nachmittag hatte Wachtmeister Van Beeken Dienst, einer von den älteren, verständnisvollen Kollegen, deren Aussterben in der Beamtenschaft mit ähnlichem Bedauern beobachtet wurde wie der Schwund der Narwale im Kreis der Zoologen. Von Lückmann, der in seiner Nachbarschaft wohnte, wußte ich, daß er spät geheiratet hatte und in schwierigen Verhältnissen lebte. Ein schmales Reihenhaus, vier lebhafte Kinder und eine Frau, die offenbar dem Einerlei aus Kochen, Putzen, Waschen weniger abgewinnen konnte, als die Nachbarinnen ringsum von ihr erwarteten. Und die Nachbarinnen schikanierten sie, wie es sich für eine etablierte Reihenhauszeile gehörte. Das welke Laub, das Frau Van Beeken im letzten Herbst nicht von den Rabatten links und rechts ihrer Grundstücksgrenze aufgesammelt hatte, war umgehend über den Maschendraht zurückbefördert worden. Von links und von rechts, und nicht nur das Laub, wie Van Beeken mit bitterer Stimme berichtet hatte, sondern auch einiges, was in die Restmülltonne gehört hätte. Vielleicht lag es an diesem ewig schwelenden Ärger zu Hause, daß er sich dem Strandgut der Zweifelnden, Unwilligen oder bereits Gestrauchelten mit einer beinahe schon legendären Geduld widmete.

Er erkannte mich durchs Fenster und ließ die Glastür aufschnappen. Im Wartezimmer auf der rechten Seite des Korridors saßen zwei Punks in betont entspannter Haltung, als wollten sie gegen die Ordnungsneurose ihrer Zeitgenossen demonstrieren, der sie ihre Festnahme wahrscheinlich zu verdanken hatten. Offenbar war Kollege Mausberg mit dem Fall betraut, er telefonierte gerade im angrenzenden Zimmer.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte Van Beeken aufmunternd. Die beiden verständigten sich mit einem kurzen Blick. Und jetzt war es die Ältere, die antwortete.

„Meine Tochter ist verschwunden.“

„Ist das zum ersten Mal passiert? Oder verschwindet sie häufiger?“

Die Frau schluchzte in ihr Taschentuch. „Meine Kati doch nicht! Immer habe ich mich auf sie verlassen können. Wenn es abends später als zehn wird, ruft sie uns an. Und jetzt geht sie am hellichten Tag verloren!“

„Seit wann genau vermissen Sie Ihre Tochter, Frau …?“

„Nebelung.“ Sie weinte hilflos. „Wir haben das Café an der Warendorfer Straße, gegenüber dem Finanzgericht!“

„Vielleicht kann ich das besser erklären“, sagte jetzt die jüngere Frau. „Ich bin Katharinas Geschichtslehrerin, am Franz-von-Sonnenberg-Gymnasium. Wir haben heute vormittag eine Radtour gemacht. Katharina war dabei, das heißt, solange, bis sie …“ Sie brach ab und fuhr dann fort: „Ich heiße Hoffschulte, Marianne Hoffschulte.“

Die Radwanderung hatte zum Rüschhaus und zur Burg Hülshoff geführt, im Jubiläumsjahr der Droste-Hülshoff zwei beliebte Ausflugsziele. Im Rüschhaus hatte die Dichterin nach dem Tod ihres Vaters mit der Mutter gewohnt, in der Burg Hülshoff war sie zur Welt gekommen. In beiden Häusern waren Museen eingerichtet, mit persönlichen Erinnerungsstücken, Möbeln und Familienportraits.

„Im Februar“, berichtete Frau Hoffschulte, „hatte der Leistungskurs Deutsch der Jahrgangsstufe elf die Droste auf dem Unterrichtsplan. Was lag da näher als ein Ausflug zu den beiden Museen?“

Man hatte sich darauf geeinigt, mit der Führung durch Hülshoff zu beginnen.

„Um neun Uhr haben wir uns in Roxel getroffen, am Pantaleonsplatz, vor der Breilmann-Plastik.“

Obwohl die Schüler pünktlich waren, hatte es eine Verzögerung gegeben, weil der eine oder andere sich noch seinen Proviant kaufen mußte. Und so war man erst um viertel vor zehn weitergefahren, die Tilbecker Straße entlang, bis zur Kreuzung mit der Bösenseller Straße.

„Kennen Sie die Gegend?“ fragte Frau Hoffschulte, und Van Beeken stand, seinen Stuhl geräuschvoll zurückschiebend, auf und sah sich die Karte an, die hinter ihm an der Wand hing.

Der Zeigefinger der Lehrerin umkreiste das Ortsgebiet von Roxel, glitt dann westwärts und an der ersten größeren Kreuzung nach Norden, wo er auf einer grün gezeichneten Waldfläche zur Ruhe kam.

„Hier sind wir langgefahren. Links lag der Wald, rechts waren zwei oder drei Häuser. An der Kreuzung bogen wir dann nach links und fuhren am nördlichen Waldrand vorbei.“ Sie reckte den mageren Hals. „Rüschenfeld. Ja, ich erinnere mich, daß der Weg ‚Im Rüschenfeld‘ hieß. Auf der Ecke war ein Umspannhäuschen der Stadtwerke, und links begann wenig später eine Buchenschonung.“

„Und weiter?“ Van Beeken zog ein Formular aus seiner Schreibtischlade und spannte es in seine ausgeleierte Olivetti.

Die Kolonne hatte das Rüschenfeld hinter sich gelassen und schon die Straße zur Burg Hülshoff erreicht, als der Studienrätin auffiel, daß zwei Mädchen fehlten. Vierzehn Schüler waren es in ihrer Gruppe gewesen, und jetzt nur noch zwölf! Ihre Kollegin war an der Spitze gefahren, sie selbst bei den Schlußlichtern. Das sei ja das Problem bei Radtouren, daß die Schar so schnell auseinandergezogen werde, weil es immer gute Fahrer gebe und weniger geübte, solche mit Luxusrädern und andere mit weniger schnellen. Das schwere Gewitter der vorigen Nacht hatte große Pfützen hinterlassen, schlammige Wege und abgebrochene Äste, durch die es weitere Verzögerungen gegeben hatte.

Als sie sah, daß Katharina und Andrea fehlten, hatte sie kehrtgemacht und schließlich Andrea am Nordrand des Rüschenfeldes gefunden, allein mit zwei Rädern. Katharina war nicht da, aber jeder wußte schließlich, daß sie Probleme hatte wegen ihrer Krankheit. „Diabetes insipidus renalis, verbunden mit Polyurie … Sie mußte öfter als andere …“

Wie Andrea ihr berichtete, war Katharina plötzlich abgestiegen und hatte ihr den Lenker in die Hand gedrückt mit den Worten, sie sei gleich wieder da. So waren die beiden unbemerkt zurückgeblieben, aber was war schon dabei, am Vormittag, in einer belebten Gegend?

Van Beeken sah noch einmal auf die Karte. „Wo genau ist die Schülerin verschwunden? Und gibt es Wege in diesem Waldstück?“

Frau Hoffschulte nickte. An der Bösenseller Straße, etwa auf der Höhe der ersten beiden Häuser, führte ein Pfad in der Breite eines Pkws waldeinwärts. Ein paar Mädchen hatten ihn als Abkürzung nehmen wollen, aber das hatte sie ihnen ausgeredet. Der Schlagbaum war zwar geöffnet, aber die Tatsache, daß es ihn gab, bewies, daß die Durchfahrt nicht erlaubt war. Auch weiter nördlich, wo Katharina verschwunden war, gab es eine Absperrung. Das Gebüsch dahinter war fast undurchdringlich und zerkratzte einem die Beine. Brennesseln und Disteln, Brombeerranken und eine Menge blutrünstiger Insekten. Für ein junges Mädchen, das unbeobachtet sein wollte, war der Platz allerdings gut gewählt. Frau Nebelung begann wieder zu schluchzen.

„Wie lange war das Mädchen schon verschwunden, als Sie zurückkamen?“ fragte ich.

„Etwa zwanzig Minuten. Andrea habe ich vorgeschickt. Ich kenne die Strecke ja und dachte mir, ich warte, bis Katharina wieder da ist, und komme mit ihr nach …“

„… Und sie kam nicht“, vervollständigte Van Beeken. Die Lehrerin nickte. Sie hatte die Räder abgestellt und nach Katharina gerufen. Als auch jetzt keine Antwort kam, hatte sie sich bis an die Buchenschonung vorgekämpft und sogar den Maschendraht überklettert, aber außer dem gedämpften Autolärm von der Bösenseller Straße war nichts zu hören. Und zu sehen auch nichts. Kein Schuh, kein Fußabdruck, kein Kleidungsstück, aber das wäre auch kein gutes Zeichen gewesen. Frau Nebelung unterdrückte ihr Schluchzen nur mit Mühe.

„Irgendwelche Hinweise auf einen Kampf?“ fragte ich. „Zertre­te­nes Gebüsch, Schleifspuren?“

„Da war nichts. Allerdings war der Boden stark überwuchert. Ein so robustes Gestrüpp kommt automatisch wieder hoch, wenn es zertreten wurde.“

„Sind Sie sicher, daß Katharina die einzige war, die fehlte?“

Frau Hoffschulte sah mich überrascht an. „Ja, was glauben Sie denn …?“

„Ich glaube gar nichts. Aber fragen müssen wir.“

„Jawohl!“ Ihre Stimme klang fest. „Die Gruppe war komplett. Das hat man als Lehrer im Griff.“

Van Beeken sah von der Schreibmaschine auf: „Ist jemand vorbeigekommen, während Sie dort warteten? Das waren doch sicher …“

„Mehr als zwei Stunden“, nickte sie. „Nein, ich habe niemanden gesehen. Gegen halb eins kamen dann die anderen von ihrer Besichtigung zurück.“

„Zwei Stunden“, rechnete der Wachtmeister kopfschüttelnd nach. „Was haben Sie danach gemacht?“

„Wir sind planmäßig zum Rüschhaus gefahren, und während sich die Kinder das Museum zeigen ließen, habe ich mit dem Direktor gesprochen und ihm eine Personenbeschreibung gegeben. Für den Fall, daß sie später noch auftaucht. Ihr Fahrrad hatten wir an der Stelle liegenlassen, wo sie verschwunden war, obwohl keiner so recht geglaubt hat, daß sie dorthin zurückkehren würde. Eher hätten wir gedacht, daß sie an der Tilbecker Straße vielleicht den Bus nach Münster nimmt. Als sich herausstellte, daß sie das nicht getan hatte, haben Frau Nebelung und ich beschlossen, zu Ihnen zu kommen. Schließlich ist sie krank.“

„Wann waren Sie wieder in Münster?“ fragte ich.

Die Schüler, so berichtete Frau Hoffschulte, hatten sich in Roxel getrennt. Das war gegen halb drei, der restliche Nachmittag war frei. Sie selbst war gegen drei Uhr zu Hause angekommen und sofort weiter zu Nebelungs gefahren.

„Mal ehrlich, Frau Nebelung“, sagte Van Beeken, „gäbe es für Ihre Tochter einen Grund, sich abzusetzen? Schlechte Noten, Streit in der Familie oder Liebeskummer? Hatte sie vielleicht einen Freund, mit dem Sie nicht einverstanden waren?“

„Nein“, entgegnete sie energisch, „schlechte Noten schon gar nicht! Streit? Mit mir oder mit meinem Mann jedenfalls nicht! Und gegen ihren Freund haben wir auch nichts einzuwenden. Andere Gründe? Das hätte sie uns doch gesagt! Sie konnte doch mit uns über alles reden!“

„Haben Sie Verwandte in Münster oder in der Umgebung? Gute Bekannte, zu denen sie sich absetzen könnte?“

Wieder verneinte sie.

„Und bei ihrem Freund ist sie nicht? Da sind Sie sicher?“

„Da bin ich mir sicher. Wir haben mit der Familie telefoniert.“

„Haben Sie ein Foto?“ fragte ich, und sie zog ein Farbfoto in Postkartengröße aus ihrer Handtasche. Es zeigte ein hübsches Mädchen mit blauen Augen und einer schmalen Nase, Grübchen in den Wangen und stark geringelten, blonden Haaren, die über die Schulter herabhingen. Eine melancholisch blickende Undine.

„Wir lassen es vervielfältigen und schicken es an alle Polizeistationen der Umgebung“, sagte der Wachtmeister. „Wissen Sie noch, was Ihre Tochter anhatte?“

Wieder brauchte Frau Nebelung die Unterstützung der Lehrerin. Jeans hatte sie getragen, in dem üblichen leicht verwaschenen Blau, wobei sich Frau Nebelung weder an die Marke noch an die Größe erinnerte. Dazu ein ärmelloses Top. Aber in welcher Farbe? Schließlich fiel der Lehrerin ein, daß eine Schülerin auf dem Pantaleonsplatz ein Gruppenfoto gemacht hatte und Katharina ihren Platz wechseln mußte, weil sich ihr pinkfarbenes Oberteil so „gebissen“ hatte mit der Backsteinmauer.

„Eine auffällige Sonnenbrille?“ fragte Van Beeken. „Und was für Schuhe?“ Aber auch damit erntete er nur Ratlosigkeit. Morgens, beim Abschied an der Cafétür, hatte sie keine Sonnenbrille getragen. Und wer achtete bei einer Radwanderung schon auf so profane Dinge wie die Schuhe? Turnschuhe waren es wohl gewesen, etwas anderes trug sie sowieso nicht. Ihr Fahrrad war türkis lackiert, hatte Dreigangschaltung und einen schwarzen Sattel. Und ihr Rucksack war aus dunkelblauem Nylon, ohne Aufschrift. Alles in allem also eine hübsche, aber nicht sehr markante Erscheinung.

„Wir müssen auch an die Möglichkeit einer Entführung denken“, sagte ich. „Über einen Schulausflug wissen mehr Leute Bescheid, als man glaubt. Sind Sie in letzter Zeit bedroht worden, hatten Sie Ärger mit Kunden oder Lieferanten? Falls Sie einen entsprechenden Anruf bekommen sollten …“

„Eine Entführung?“ Frau Nebelungs Stimme zitterte. „Aber die machen doch immer zur Bedingung, daß man die Polizei nicht einschaltet.“

„Das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Versprechen Sie in diesem Fall alles, was man von Ihnen verlangt. Keine Angst, wir wissen, wie wir mit solchen Drohungen umzugehen haben.“

Sie schluckte. „Wir hätten aber doch auch gar kein Geld!“

„Noch ist ja nichts passiert!“ sagte Van Beeken freundlich. „Warten Sie erst mal ab, ob Ihre Tochter nicht doch noch heute abend zurückkommt. Irgendwelche Fragen?“

Frau Nebelung und Frau Hoffschulte schüttelten den Kopf.

„Gut!“ Mit einem energischen Ruck zog der Wachtmeister das Protokoll aus der Maschine, machte zwei Kopien und legte alles den beiden Frauen zur Unterschrift vor. „Bei jungen Leuten warten wir meistens einen Tag. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß Ihre Tochter chronisch krank ist und noch nie vermißt wurde, geben wir die Meldung sofort heraus und leiten eine Fahndung ein.“

Während Mausberg nebenan die jugendlichen Täter zur Verneh­mung ins Hinterzimmer führte, sahen wir den beiden Frauen nach, wie sie das Präsidium verließen.

„Wenn die bis heute abend nicht nach Hause kommt!“ brummte Van Beeken und trat vom Fenster weg. „In dem Dschungel da draußen wird sie ja wohl kaum übernachten. Aber wo dann? Wenn überhaupt?“

Ich sah Marion schon von weitem. Sie war die einzige in dem überwiegend jugendlichen, hemdsärmeligen Publikum, die einen Hut trug, und er harmonierte exakt mit dem Blau der Fensterläden. Wie immer drängte sich das Volk auf den Holzbänken des Biergartens, aber sie hatte sich, wie sie es nannte, „raumgreifend“ hingesetzt, und so blieb mir das winzige Endstück auf der schmalen Planke neben ihr.

„Du kommst spät!“ knurrte sie.

„Ich bin auf die Minute.“

„Was hast du dir gekauft?“

Manchmal behandelte sie mich, als wäre sie meine Mutter. Rein altersmäßig hätte sie es sein können, sie war vierundsechzig, aber ihr fehlte jeder Anflug von Mütterlichkeit, sie hatte nie eigene Kinder gehabt. Dennoch ließ ich mir Dinge sagen, die ich mir von anderer Seite energisch verbeten hätte.

„Wenn ich irgendwo zu spät gekommen bin, dann höchstens beim Einkaufen. Es gab einen dringenden Fall im Präsidium!“ Dabei beließ ich es. Für jemanden, der überwiegend mit schöpferischen Dingen zu tun hatte, war es schwer begreiflich, daß man einer so trockenen Bürokratentätigkeit wie der meinen nachging. Vergeblich hatte ich ihr zu erklären versucht, wieviel Phantasie, Einfallsreichtum und Kombinationsvermögen es bedurfte, um ein Kapitalverbrechen aufzuklären, sie war unbelehrbar. Wie konnte man einen Beruf lieben, der von Papierkram, langweiligen Telefonaten und dem Umgang mit Verbrechern bestimmt wurde?

„Ich denke, du hast dir heute freigenommen?“ fragte sie. „So faszinierend kann dein Job doch gar nicht sein!“

Ich beschloß, das Thema zu wechseln, noch ehe es richtig angeschnitten war. „Wie lange bleibst du in Mexiko?“ Über ihre Reisepläne redete Marion nämlich gern, aber die Kellnerin kam ihrer Antwort zuvor. Ich bestellte ein alkoholfreies Bier.

„Zwei Wochen“, sagte Marion, nachdem das Mädchen zum Nachbartisch weitergegangen war. „Ich wollte länger bleiben, aber mein Hausarzt hat mir eine Malariaprophylaxe aufgeschwätzt, die mir überhaupt nicht bekommen ist. Diese Seren werden immer rabiater.“

„Sie passen sich den Erregern an. Aber warum gerade Mexiko?“

„Erinnerst du dich an die Bustamante-Ausstellung in der Galerie Voss?“

„Dunkel!“ sagte ich, dabei erinnerte ich mich genau. Nach einem unerfreulichen Arbeitstag – Lückmann und ich, wir hatten uns angefaucht wie selten zuvor – hatte sie mich zu einer Vernissage von skurrilen, knallbunten Pappmachéfiguren geschleppt: abenteuerliche Wesen mit menschlichen Körpern, Eulenköpfen und Vogelkrallen oder, umgekehrt, mit Tierleibern unter menschlichen Gesichtern. „Wir bleiben nicht lange“, hatte sie versprochen, um dann unauffindbar im Gedränge zu verschwinden. Vergeblich hatte ich mich gefragt, was ich in diesem surrealistischen Zoo verloren hatte, aber nach zwei Gläsern Sekt war ich seinem exotischen Charme verfallen. Ich war drauf und dran, eins der Wesen zu adoptieren, als extravagante Garderobendekoration. Aber dann dachte ich an den extravaganten Preis, an unsere enge Wohnung und an den mörderischen Sprung, den das Vieh jedesmal vollführen würde, wenn jemand zur Tür hereinkam. Ich vergaß die Adoption und Sergio Bustamante. Jetzt hatte er mich wieder eingeholt.

„Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe“, sagte Marion, „gibt es in Guadalajara einen jungen Künstler, der im Stil von Bustamante arbeitet, allerdings zu moderateren Preisen. Ich habe meine Limits. Nenn es geistigen Diebstahl, aber ich werde ihm ein paar Sachen abkaufen. Nicht daß die Leute hier kein Geld hätten, aber sie stecken es lieber in den Sparstrumpf, verpulvern es auf einer Kreuzfahrt durch die Karibik oder renovieren für sündhaftes Geld zum dritten Mal ihr Bad. Anstatt ihr Kapital in Kunst anzulegen!“

Ein Windstoß fuhr über die Tische, ein paar Bierdeckel wirbelten durch die Gegend, und durch die halbhohe Hecke des Biergartens sah man, wie sich auf dem Aasee Boote schräg legten, aber noch blieb der Himmel heiter. Offenbar hatte der Wind gedreht.

„Und wenn du zurück bist?“ fragte ich.

„Dann mache ich Urlaub. Diese Fahrt nach Mexiko ist keine Vergnügungsreise, sondern purer Streß. Ab Mitte Juli habe ich in der Provence mehrere Hotels gebucht und mache eine Rundreise … Wann fangen eigentlich die Sommerferien an?“

Ich kannte diese Frage schon vom letzten Jahr. So ausgelaugt Marion auch von ihren Einkaufsreisen zurückkam, in der selbstverordneten Ruhe der Provence, Toskana oder des schottischen Hochlands langweilte sie sich schnell. Was sie für diese Art von Urlaub brauchte, war eine Begleiterin zum Mitschwärmen und Streiten für die eintönigen Sonntage, wenn nur die Kirchen geöffnet waren, und für ihre exzentrischen Einkäufe, bei denen sie beraten, begutachtet und beglück­wünscht werden wollte.

„Die Ferien beginnen am 3. Juli. Ab da habe ich drei Wochen frei. Ich bringe Kerstin zu ihrem Vater und bleibe ein bißchen in Altötting.“

„Warum machst du nicht mal was anderes?“ drängte sie. „Laß Kerstin bei deinem Mann, dann bist du frei. Oder planst du etwa eine Versöhnungsorgie?“ Das klang spöttisch.

Jeder andere hätte jetzt etwas zu hören bekommen, von wegen „Privatsphäre“ oder „Das geht dich nichts an!“ Aber Marion hatte ihren Mann durch Krebs verloren, nach einer, wie sie sagte, zauberhaften Ehe.

„Weißt du“, sagte sie nach einer Weile, „daß ich seit Friedrichs Tod wie eine Nonne lebe? Die Männer interessieren mich nicht mehr. Ich habe den allerbesten von ihnen geheiratet, und da läßt sich nichts wiederholen oder gar steigern. Aber du? Du bist keine Mitte Dreißig und lebst auch wie eine Nonne. Stell deinen Mann vor die Alternative oder laß dich scheiden, bevor du vertrocknest wie eine Backpflaume.“

„Vor welche Alternative?“ fragte ich, den Blick wieder auf der Segellandschaft.

„Er könnte herkommen! Das Münsterland braucht Tierärzte. Lies die Zeitungsanzeigen, bis runter ins Ruhrgebiet suchen sie. Und was sollte ihm bei uns nicht gefallen? Reiche Bauern, gesunde Tiere, eine Umgebung, in der man schnell heimisch wird. Sogar die Nickeligkeit der Landbevölkerung wird ihm sehr bekannt vorkommen. Ihr könntet wieder einen alten Bauernhof mieten. Eine Kundin von mir hat sich vor kurzem in einen Gräftenhof eingekauft. Zauberhaft, sage ich dir. Ländliche Ruhe und städtischer Komfort.“

„Ich rede mit ihm. Aber es wird ein bißchen dauern, bis ich ihn überzeugt habe.“

„Aber keine drei Wochen“, widersprach sie energisch. „Komm mit mir nach Südfrankreich. Ich fahre am 13. Juli. Bis dahin mußt du dich entscheiden.“

Wir zahlten und verabschiedeten uns, und ich wußte, daß ich sie vermissen würde.

Kerstin klebten die Locken, gar nicht mehr widerspenstig, am Kopf. Das weiße Kleid hatte Rasenflecken und hing lappig herunter, und der Haarreifen hatte sich unauffindbar in einem Tannenwipfel verheddert. Erschöpft, aber zufrieden lehnte sie hinter mir auf dem Rücksitz, das beste Zeichen für ein gelungenes Fest. Es hatte keinen Streit gegeben, obwohl die Klasse berüchtigt war für ihre Zankhanseln. Erst als sich ein Mädchen in ein Stück Himbeertorte setzte, war vorübergehend Hektik aufgekommen.

„Die hat vielleicht ausgesehen!“ stöhnte Kerstin. „Alles rot und voller Sahne! Mei, die wird zu Haus Schimpfe kriegen!“

„Ich habe dein Kleid aber auch anders in Erinnerung“, sagte ich trocken. „Gab es unter den Geschenken eigentlich noch eine zweite Titanic?“

„Nein, aber ein Tamagotchi. Und beim Auspacken hat der Gregor ein ganz komisches Gesicht gemacht. Ich glaube, das hat ihm nicht gefallen.“

„Na also!“

Zu Hause schickte ich sie unter die Dusche und deckte den Tisch für das Abendessen. Dabei hatte ich ein wachsames Ohr auf den Fernseher im Nachbarzimmer, der im WDR die „Aktuelle Stunde“ brachte. Die Meldung von Katharina Nebelungs rätselhaftem Verschwinden kam vor dem Wetterbericht. „Und jetzt bittet die Kriminalpolizei Münster um Ihre Mitarbeit“, hörte ich und ließ den halbgedeckten Tisch im Stich. Gerade wurde das Foto eingeblendet und eine Liste der Kleidungsstücke. Auch das türkisfarbene Fahrrad mit schwarzem Sattel kam ins Bild, dann folgten Angaben zur Person: siebzehn Jahre alt, blaue Augen, blonde Haare, eins­vierundsechzig groß und schlank. Keine besonderen Kennzeichen. Und zum Schluß wurden auf einer Kartenskizze die Ausflugsstrecke und die Stelle markiert, an der Katharina verschwunden war.

Erstaunlicherweise gab es keinen Hinweis auf ihre Krankheit, was vor allem im Fall einer Entführung wichtig gewesen wäre. Ich fragte mich, mit welchen Gefühlen Frau Nebelung und ihr Mann wohl vor ihrem Fernseher kämpften; das eigene Kind so in die Öffentlichkeit gezogen zu sehen! Und wenn dann noch die Sorge hinzukam, daß die Suchaktion ein tragisches Ende nahm … Aber es war die einzige Möglichkeit, das Mädchen zu finden.

Um elf ging ich ins Bett und stellte mir den Fahndungstrupp vor, wie er mit Spürhunden und Scheinwerfern Meter für Meter die nächtliche Gegend zwischen Rüschenfeld und Hülshoff absuchte, immer die bestürzende Alternative vor Augen, erfolglos zu bleiben oder das Mädchen in einem Zustand zu finden, in dem es nicht mehr allein nach Hause konnte, verletzt, vergewaltigt, ermordet. Um endlich Schlaf zu finden, sagte ich mir, daß Katharina wahrscheinlich längst wieder bei ihren Eltern war.

Die Frage, warum sie nicht zu ihrer Freundin zurückgekehrt war, war damit nicht beantwortet. Und da ich auch weiter hellwach blieb, rief ich mir die Gegend ins Gedächtnis zurück, in der sie verschwunden war und die ich von Ausflügen mit Kerstin gut kannte. Ein touristisch erschlossenes Gebiet, nicht nur für literarisch Begeister­te oder Pensionäre, die sich auf der Sonnenterrasse des Burg­restaurants einen schönen Nachmittag machen wollten. Ein Gelände mit urigen, undurchdringlichen Waldstücken, durch deren geschlossenes Laub die Sonne in kreisförmigen Flecken fiel, die tanzten wie Irrlichter, irritierten und blendeten. Wie hatte ich über Kerstins Nervosität gelächelt, wenn sie herumfuhr, nur weil eine Elster keckerte oder ein Blatt raschelnd zu Boden fiel. Und es gab viel vertrocknetes Laub in diesem warmen, regenarmen Frühjahr. Wie schnell verlor diese Gegend ihr Kalenderbildflair, wenn die tiefstehende Sonne ihre letzten, schräggestellten Strahlen durch die Lücken zwischen den Baumstämmen schickte, wenn das Vogelgezwitscher verstummte und die Dunkelheit hereinbrach? Wenn der Wald zu einem unwirtlichen Ort wurde, der auch eine durch Kino- und Videoschocker abgebrühte Siebzehnjährige das Fürchten lehrte? Warum war sie nicht zurückgekommen?

Ich klopfte noch einmal mein Kissen auf und brütete Fragen aus, die Van Beeken und ich der Mutter unbedingt noch hätten stellen müssen. Zum Beispiel, ob Katharina wegen ihrer Krankheit Medikamente einnahm, die an einem so heißen Tag und bei Flüssigkeitsmangel zu Zuständen der Verwirrtheit führen konnten. Wahrscheinlich hatte sie ein Blackout gehabt und den Rückweg in die falsche Richtung eingeschlagen.

Unter meinem Fenster lärmten ein paar angeheiterte Jugendliche. Sie würden diese Nacht gut überstehen, vielleicht mit einem hartnäckigen Kater, einem leeren Portemonnaie und mit einer angegriffenen Leber. Aber mit einiger Sicherheit in einem soliden Bett.

Zweites Kapitel

Die Montagsausgabe der Zeitung brachte die Meldung vom rätselhaften Verschwinden der Schülerin. Der Redakteur äußerte die Vermutung, daß Katharina Nebelung in einer Kurzschlußhandlung weggelaufen und bei Freunden untergetaucht sei. Die Sache erinnere an den Fall des neunjährigen Godehard F. aus Everswinkel, der zwei Wochen im Gartenhaus eines Nachbarn verbracht hatte, um seinen Eltern den Anblick seines katastrophalen Zeugnisses zu ersparen. Er gab aber gleichzeitig zu, daß im Fall Nebelung ein plausibler Grund fehle. Während ich frühstückte, las ich, daß Katharinas Familie vor vier Jahren aus Weimar nach Münster gekommen war. Ihr Vater, ein Konditormeister, hatte im darauffolgenden Frühjahr an der Warendorfer Straße ein Café eröffnet, das sich seitdem „regen Zuspruchs“ erfreue, nicht nur bei den umliegenden Behörden und Geschäften, sondern auch beim Personal des nahegelegenen Franziskushospitals. Dabei schlug sich im Tonfall des Artikels eine gewisse Genugtuung nieder über diesen gelungenen Neubeginn Ostdeutscher im angeblich so zugeknöpften Westfalen. Der Bericht war mit einem Foto von Frau Hoffschulte illustriert. Frau Nebelung hatte man verschont, oder sie hatte das Foto verweigert.

Ich brachte Kerstin zur Tür, wartete am Hauseingang, bis sie den gegenüberliegenden Bürgersteig des Prinzipalmarktes erreicht hatte, wo sie außer Reichweite der Radfahrer war. War es Einbildung, oder fiel ihr Abschiedskuß diesmal besonders stürmisch aus?

„Ciao, Mama!“ Seitdem es in ihrer Klasse einen kleinen Römer gab, mit dem betörenden Namen Luciano, galt es als schick, sich auf italie­nisch zu verabschieden.

Im ersten Stock unseres Hauses saß Juwelier Grotherjan an seinem Werkbrett, wegen der Hitze bei weitgeöffneter Tür. Er drehte seinen Kopf mit der vors linke Auge geklemmten Lupe zu mir und grüßte. Auf dem zweiten Treppenabsatz wurde gerade ein Kleiderständer mit Pelzmänteln für die Wintersaison fertiggemacht – der Kürschner im Nachbarhaus hatte das Stockwerk als Lager gemietet –, und ich dachte unwillkürlich, wie verrückt es sein müßte, bei diesem Wetter einen warmen Mantel zu tragen. Schließlich erreichte ich das Dachgeschoß, das ich anfangs mit der alten Hausbesitzerin geteilt hatte. Seitdem Frau Gravensteiner nach einem Schlaganfall ins Pflegeheim gekommen war, lebten Kerstin und ich allein dort mit ihren Erbstücken und Antiquitäten. Es war einsam ohne sie, das schien auch ihr rot­getigerter Kater zu finden, der sich phlegmatisch auf dem Sofa fläzte und darauf wartete, daß wir ihn regelmäßig versorgten.

Auf den letzten Stufen hörte ich das Telefon läuten. Ich nahm ab, in der festen Überzeugung, daß es Hilly wäre, die Dezernatssekretärin. Die ganze vergangene Woche hatte sie von einem neuen Italiener am Alten Fischmarkt geschwärmt. Wahrscheinlich rief sie an, um zu fragen, ob sie nicht auf dem Weg ins Büro für diesen Abend einen Tisch reservieren solle. Am jeweils zweiten Montag des Monats fand seit einiger Zeit ein Dezernatsstammtisch statt. Aber es war Polizeihauptkommissar Pleßkamp, der Leiter der Fahndungstruppe. Sie hatten Katharina Nebelung gefunden.

Ich notierte seine Wegbeschreibung und entfaltete die Karte von Münster und Umgebung. Die Fundstelle lag in einem größeren Waldstück, das Ameshorst hieß und keine drei Kilometer von der Burg Hülshoff entfernt war.

Ich rief Lückmann an, und als er sich nicht meldete, fiel mir ein, daß er zu einem Tennisturnier am Hamburger Rothenbaum gefahren war und nicht vor dem frühen Abend zurückkam. Noch am Sonntag morgen hatte er sich angeboten, dazubleiben und den Ausgang der Fahndung abzuwarten. Aber ich wußte, daß er für die Eintrittskarte Schlange gestanden hatte und heftig für eine der Spielerinnen schwärmte, und so hatte ich ihn ermuntert zu fahren.

Ich suchte mein Notgepäck zusammen: den Dienstausweis, einen Notizblock und Schreibzeug, die Sofortbildkamera, etwas Geld, Papiere, Wagenschlüssel und die topographische Karte. Im Erdgeschoß zog ich mein Fahrrad aus dem Hausflur, um ins Präsidium zu fahren, wo das Auto stand.

Obwohl es noch nicht einmal neun Uhr war, braute sich draußen schon wieder schwüle Sommerluft zusammen, aber der Prinzipalmarkt zeigte das gewohnte Bild: Hausfrauen, die mit hoch gefüllten Weidenkörben vom Einkaufen zurückkehrten, zuoberst den obligaten prallen Sommerstrauß, junge Mütter mit Kindern im Buggy, die zum Plaudern mit Freunden stehengeblieben waren, und Scharen von Radfahrern, die über das Pflaster schepperten. In den Straßencafés saßen Touristen beim Frühstück, während sich andere, die Köpfe im Nacken, die Wiedertäuferkäfige am filigranen Turm der Lambertikirche erklären ließen. Völlig unbekümmert gingen Einheimische und Gäste der Stadt ihren Vergnügungen oder Interessen nach, ohne zu ahnen, daß die Fahndung, über die das Regionalfernsehen vor zwei Abenden informiert hatte, auf eine schnelle, tragische Weise zu Ende gegangen war. Unweit der belebten Straße zwischen Roxel und Havixbeck, nur wenige Kilometer vom Ziel seines verhängnisvollen Klassenausflugs entfernt, lag ein totes Mädchen.

Ich fand den Wegweiser zur Wasserburg der Droste-Hülshoff und zweihundert Meter weiter eine schmale Spur, die vom linken Straßenrand in den Wald führte. Man hatte den Ameshorst weiträumig abgesperrt; so weit ich sehen konnte, flatterte das rotweißgestreifte Band zwischen den Baumstämmen.

Zu beiden Seiten des schattigen Weges wucherte meterhohes Gestrüpp, dahinter lagen tiefe, mit Mulch bedeckte Bodensenken, zwischen denen Ameisenhügel aufragten. Große Wurm- und Adlerfarne und übereinander gestürzte Baumstämme vervollständigten diese beinahe archaische Landschaft, die sich in unmittelbarer Nähe zu hoch­technisierten Bauernhöfen behauptet hatte. Hinter mir schnurrten Autos über die Landesstraße 581, während nur einen Kilometer vor mir, laut Kartenblatt, der nächste Hof begann, dort, wo plötzlich wieder Sonnenlicht auf den Weg fiel. Die breiten Reifenspuren, die den Lehmboden durchfurchten, stammten offensichtlich von einem Traktor.