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Christian Feldmann

Träume beginnen zu leben

topos premium
Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

Dem Andenken meiner Mutter
Denn Christus lernt man nur durch Menschen kennen

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Lahn-Verlag, Kevelaer

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.toposplus.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8367-0004-7

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5001-1

E-Pub: ISBN 978-3-8367-6001-0

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der

Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer.

Umschlagabbildung | © iStock

Einband- und Reihengestaltung | Finken & Bumiller | Stuttgart

Satz | SATZstudio Josef Pieper | Bedburg-Hau

Herstellung | Friedrich Pustet | Regensburg

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort: Das Risiko des Glaubens

Der Todesschuss am Altar

Oscar Arnulfo Romero, Erzbischof von San Salvador

Die Bresche in der Kirchenmauer

Frère Roger und die Gemeinschaft von Taizé

Im Mülleimer lag ein sterbendes Kind

Mutter Teresa von Kalkutta und ihre „Missionaries of Charity“

Der Freiheitstraum der schwarzen Sklaven

Martin Luther King, Baptistenpfarrer

Die fromme Radikale

Die Journalistin Dorothy Day und ihre „Catholic Workers“

Theologie aus der Todeszelle

Dietrich Bonhoeffer, als Verschwörer gegen Hitler gehängt, dachte über den Glauben in einer scheinbar von Gott verlassenen Welt nach

Der Papst, dem keiner etwas zugetraut hatte

Angelo Giuseppe Roncalli öffnete als Papst Johannes XXIII. die Fenster der Kirche für die neue Zeit

Häftling Nummer 16670

Der Priester Maksymilian Kolbe ging in Auschwitz für einen Familienvater in den Tod

„Hau ab, Kommunisten-Erzbischof!“

Dom Hélder Câmara, Hirte von Recife (Brasilien) und Stimme der Unterdrückten

„Als Eremit kann man beim Frühstück laut singen“

Der Trappistenmönch Thomas Merton fand auf seiner Reise in die Wüste die ganze Welt

Der Pater, der „nach Schwefel roch“

Pierre Teilhard de Chardin, Jesuit und Naturwissenschaftler, versöhnte den Glauben an den Himmel und die leidenschaftliche Liebe zur Erde

„Man muss für Christus schreien“

Madeleine Delbrêl, Sozialarbeiterin in Ivry (Frankreich), lebte das Evangelium in marxistischer Umwelt

„Gebt mir das Geld für einen Tag Krieg!“

Raoul Follereau, Begründer der Welt-Leprahilfe

Vorwort: Das Risiko des Glaubens

„Wenn jemand allein träumt,

dann ist das nur ein Traum,

wenn wir aber zusammen träumen,

dann ist das der Beginn der Wirklichkeit.“

Hélder Câmara

Martin Luther King, der elegante Harvard-Student, ernst, distanziert, manchmal selbstquälerisch, wird fast über Nacht zum Motor der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Ihn treibt das Wissen: „Vor 2000 Jahren sagte eine Stimme aus Betlehem, dass alle Menschen gleich sind.“

Maksymilian Kolbe, ein polnischer Franziskaner, geht im KZ Auschwitz für einen Mithäftling, einen Familienvater, in den Tod. Er hat sich geschworen: „Das Leben entflieht schnell. […] Bemühen wir uns, möglichst viele Beweise der Liebe zu geben.“

Oscar Romero, der intelligente, menschenscheue Priester, ein Freund der Bücher und der schönen Gottesdienste, wird als Erzbischof von San Salvador zum furchtlosen Sprecher der Verfolgten und Ausgebeuteten. Denn in ihnen erkennt er „das wie Jesus ans Kreuz geschlagene Volk“, das „Sakrament“ des leidenden Christus.

Mutter Teresa von Kalkutta hängt ihren Beruf als Direktorin der großbürgerlichen St. Mary’s High School an den Nagel, um in den Slums der Alptraumstadt Sterbende, weggeworfene Säuglinge und unterernährte Kinder aufzusammeln. Sie findet dort „Christus in der Verkleidung des Elends“.

Raoul Follereau, ein junger Franzose, dessen Gedichte in der Comédie Française vorgetragen werden, verzichtet auf eine glänzende literarische Karriere, um dreißig Jahre lang im Dienst der Leprakranken durch die Welt zu hasten. Er hat begriffen: „Niemand hat das Recht, allein glücklich zu sein!“

Dorothy Day, die aufmüpfige Journalistin, verübelt den satten Christen ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem schreienden Unrecht der Gesellschaft und schließt sich anarchistischen Kreisen an – um später die führende Persönlichkeit der christlichen Arbeiterbewegung in den USA zu werden. „Woher wissen wir, dass wir glauben?“ fragt sie: „Weil wir Seine Hände und Seine Füße in den Armen um uns herum gesehen haben.“

Die Day und Raoul Follereau, Pater Kolbe und Monseñor Romero und all die anderen in diesem Buch Porträtierten – sie alle hätten auch anders gekonnt. Jeder von ihnen hat sich irgendwann einmal entschieden, hat den Sprung ins Risiko hinein gewagt. Ihr Christentum hätte eine lässige Attitüde bleiben können wie bei so vielen von uns – bequem, spielerisch, halbherzig, überall ein Hintertürchen, immer auf dem goldenen Mittelweg.

Aber Pastor King und Madeleine Delbrêl, Thomas Merton und die anderen in dieser Galerie nehmen das Evangelium, das oft so unvernünftige, närrische, hundertprozentig ernst. Sie wollen radikale Christen sein – oder gar keine. Es ist die Leidenschaft, nicht das kluge Abwägen, was ihr Handeln bestimmt. Wenn sie von ihren Erfahrungen – auch Kämpfen! – mit Gott reden, so liest sich das wie ein Liebesbrief.

Dabei haben sie Gott nicht im brennenden Dornbusch gefunden, in atemberaubenden Visionen und himmlischen Ekstasen. Sie spüren einfach, dass er im Alltag mit ihnen geht und sie fordert.

Pioniere wie Teilhard de Chardin sind von einer leidenschaftlichen Liebe zum Menschen und zur Erde erfüllt, die nichts mehr von der verschämten Distanz früherer Zeiten erkennen lässt: Die Erde ist kein bloßer Wartesaal zum Himmel mehr, sondern ein heiliger Ort, den Gott durchdringt wie ein Strahl den Kristall. Gott ist da in dieser Welt: als Gekreuzigter im Antlitz der Geknechteten und Gefolterten, als Auferstandener in denen, die hoffen wider alle Hoffnung und um Gerechtigkeit kämpfen.

Damit prägen die hier Porträtierten das Gesicht des Glaubens in unserer Zeit und führen das Christentum hinüber in das 21. Jahrhundert. Sie können dem modernen Menschen zeigen, was Christsein heißt und was Gott aus einem Menschenleben machen kann, wenn wir uns nur trauen. „Das Nein in mir verwandelst du Tag um Tag in ein Ja“, betet Frère Roger. „Du willst von mir nicht nur ein paar Bruchstücke, sondern mein ganzes Dasein.“

Der Todesschuss am Altar

Oscar Arnulfo Romero,
Erzbischof von San Salvador

„Das Engagement an der Seite der Armen

bringt immer

Gefahren mit sich.

Deswegen werden diejenigen,

die laut sagen,

was Gott in unserer Gesellschaft missfällt,

getötet.“

An einem drückend heißen Junitag wird der Unterricht in einem Gymnasium in San Salvador plötzlich von Maschinengewehrsalven gestört: Dreihundert Soldaten stürmen die benachbarte Zentralamerikanische Universität, dringen auf der Suche nach jungen Guerilleros auch in den Schulhof ein, zerschießen die Fenster im ersten Stock. Oben haben sich noch ein paar Schüler versteckt, voller Angst vor dem Gebrüll und dem Gewehrfeuer im Hof.

„Rauskommen, mit erhobenen Händen!“ schreit ein Soldat. Ein Junge stolpert die Treppe herunter, etwa 15 Jahre alt, die Hände mit seinen Schulheften über dem Kopf. „Wir sind alle Christen“, ruft er dem Uniformierten mit erstaunlich fester Stimme zu. „Töten Sie uns nicht! Wir sind alle Söhne Gottes, Herr Polizist …“

Da dreht der Soldat durch. Er legt seine MP an, zielt und schießt. Blut spritzt aus der rechten Schulter des Jungen. Er torkelt, stürzt auf das Pflaster des Schulhofs.

„Bitte töten Sie uns nicht“, fleht der Junge in panischer Angst. Aus zwei Meter Entfernung schießt der Soldat erneut. „Mama, Ma … ma“, keucht der Sterbende. Eine neue Salve, diesmal ins Genick. Der Junge ist tot. Sein Blut fließt auf den Schulhof.

Warum sie den Schüler erschossen hätten, will ein Journalist von den Soldaten wissen. Die zynische Antwort: „Na, das macht einen Guerillero weniger!“

Für eine Verbindung zu Terroristen gab es indes keinen Hinweis. Der Junge hatte keine Waffe bei sich, nur seine Schulhefte. Vierzehn Tage später wurden ein Redakteur und ein Fotograf, die in ihrer Zeitung über die Todesschüsse berichtet hatten, verhaftet, gefoltert und ermordet.

Terror ist damals der Alltag in El Salvador, dem kleinsten und am dichtesten besiedelten Land Mittelamerikas, nicht größer als Hessen, beherrscht von Ungerechtigkeit, bedrängt von Gewalt, regiert vom Tod. Zwei Prozent der Bevölkerung, die reichen Kaffeefarmer-Familien der Llach, De Sola, Dueñas, Garcia Priesto, Quiñonez und wie sie alle heißen, kontrollieren zwei Drittel des Bodens.

Die meisten Menschen verdienen nicht mal 300 Dollar im Jahr. Jeder Dritte stirbt an Unterernährung, nur jeder Fünfte hat während des ganzen Jahres Arbeit. Auf dem Land leben die verelendeten Nachkommen der stolzen Mayas zu fünft oder sechst in einem einzigen armseligen Raum; sechs von zehn Kindern, die dort geboren werden, sterben.

Voller Hoffnung strömen ihre überlebenden Geschwister in die Hauptstadt San Salvador, um hier bloß die Bevölkerung der Tugurios, der Slums, noch mehr anschwellen zu lassen. Sie bauen sich Hütten aus Lehm oder Pappe, mit Plastiksäcken und ausgedienten Autoreifen überdacht. Wasserleitungen gibt es keine, aber die Ratten gedeihen prächtig in diesen Wohnbezirken, die stinkenden Müllhalden gleichen.

Diktatoren und Juntas haben in dem aus vielen Wunden blutenden Land mit dem schönen Namen El Salvador („Der Erlöser“) in rascher Folge einander abgelöst, ohne dass sich an den tatsächlichen Machtverhältnissen viel geändert hätte. Schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wehrten sich die von ihren kleinen Ländereien vertriebenen Bauern in erbitterten Aufständen gegen die Übergriffe der Großgrundbesitzer. Bei den einzigen freien Wahlen im Jahr 1931 kam der reformfreudige Kaffeefarmer Araujo an die Macht – um bereits ein Jahr später von den Militärs gestürzt zu werden. Erneut stand das Volk gegen seine Unterdrücker auf. Mindestens zweitausend Bauern kamen im Bürgerkrieg um, zehnmal so viele wurden danach bei willkürlichen Massenexekutionen getötet.

Seither wechseln zwar die Familienclans im Präsidentenpalais von San Salvador, aber nicht die dort getriebene Politik im Interesse der schmalen Schicht von Besitzenden – auf dem Rücken der großen Masse des Volkes, der Landproletarier und der Slumbewohner in den Städten. Der Krieg zwischen Junta und Guerilleros, der von Militär, Polizei und Rollkommandos der Großgrundbesitzer ausgeübte Terror und die Gegengewalt der bewaffneten Volksorganisationen forderten allein in den drei Jahren zwischen 1980 und 1982 schätzungsweise 35.500 Menschenleben.

Gegen die Opposition im Untergrund, der vor allem Gewerkschafter, Landarbeiter und Studenten angehören, führen paramilitärische Mordbanden wie der von Offizieren geführte, 80.000 Mann starke ORDEN (Organización Democratica Nacional) oder die Union der Weißen Krieger einen erbarmungslosen Kampf. Bei ihren „Säuberungsaktionen“ wird gefoltert und gemetzelt. Augenzeugen berichten von Männern, denen man Zunge und Hoden ausriss, von Schwangeren, denen die Leibesfrucht aus dem Bauch geschnitten und den Hunden zum Fraß vorgeworfen wurde.

In dieser Situation hat sich die salvadorianische katholische Kirche – einst ein verlässlicher Partner der Generäle und Plantagenbesitzer – entschlossen auf die Seite des unterdrückten Volkes gestellt. Christliche Basisgemeinden denken gemeinsam über das Evangelium nach und konfrontieren die Botschaft Jesu mit der alltäglichen Ungerechtigkeit. Sie organisieren Volksapotheken und Bildungsprogramme, verteilen Lebensmittel, schulen Erste-Hilfe-Gruppen für die Versorgung der Bürgerkriegsopfer. Die christliche Landarbeitergewerkschaft hat mehr als 80.000 Mitglieder.

Aber die Kirche zahlt einen teuren Preis für ihr Engagement: Priester, Katecheten, Nonnen, die sich für die Rechte der kleinen Leute einsetzen und einen Christus predigen, dem das soziale Elend nicht gleichgültig ist, werden als „Kommunisten“ verketzert, verfolgt, ausgewiesen, gefoltert, ermordet … „Tu was für dein Vaterland, töte einen Priester!“ forderten Flugblätter, die in der Hauptstadt San Salvador verteilt wurden – makabrer Kontrast zu der auf Hausmauern gesprühten Parole Cristo, Fuerza liberadora de America Latina: Christus, befreiende Kraft Lateinamerikas.

Dutzende von Geistlichen sind bereits umgebracht worden. 1976 explodierten in der Jesuitenuniversität von San Salvador Bomben, weil sich Professoren und Studenten gegen die Verleumdungskampagnen der reichen Landbesitzer – „Infiltration“ durch „Ausländer und Jesuiten“ – gewehrt hatten. Das Rezept für solche Propagandafeldzüge stammt vom amerikanischen Geheimdienst CIA, dessen Handlungsanweisungen die angesehene französische Zeitung Le Monde ein Jahr zuvor an die Öffentlichkeit gebracht hatte: „Es darf nur der progressive Flügel der Kirche bekämpft werden, nicht die Kirche als Institution oder die Bischöfe als Gruppe. […] Es muss andauernd wiederholt werden, dass dieser mit dem internationalen Kommunismus verbunden ist.“

So explosiv war die Lage in El Salvador, als 1977 ausgerechnet der realitätsferne, auf Harmonie bedachte Oscar Arnulfo Romero zum Erzbischof der Hauptstadt ernannt wurde. Ein ganz von der kirchlichen Verwaltungslaufbahn geprägter Mann, der als menschenscheuer Bücherwurm galt, war der neue Hirte einer Stadt, auf deren Straßen jeden Morgen Leichen mit Foltermalen gefunden wurden.

Ein melancholischer Kämpfer

Oscar Arnulfo Romero y Galdámez, 1917 in der Kleinstadt Ciudad Barrios an der Grenze zu Honduras geboren, war ein stilles, stets etwas kränkelndes Kind gewesen. Die leise Melancholie im Blick behielt er auch als Kirchenführer, sein feiner Humor versteckte sich hinter einem immer gegenwärtigen Ernst. Seine späten Predigten in der Kathedrale von San Salvador und am Mikrofon des katholischen Rundfunksenders YSAX mochten noch so kämpferisch und leidenschaftlich sein, der Erzbischof blieb immer ruhig, bremste seinen gerechten Zorn, protestierte lieber durch das sachliche Schildern von Unrecht und Terror als durch wütende Wortkaskaden.

Behütet wuchs er auf als Sohn eines Fernmeldeangestellten und seiner tiefgläubigen Frau. Der Rektor des Priesterseminars von San Salvador schickte den intelligenten Jungen zum Studium an die römische Gregoriana, wo man ihn als scharfen Denker schätzte. Mit 24 Jahren in Rom, am Herzen der Weltkirche, zum Priester geweiht, kehrte er als Dorfpfarrer von Anamorós in sein Heimatland zurück.

Die einzelnen Stufen der kirchlichen Karriereleiter waren schnell erklommen: Bischofssekretär, Seminarrektor, Generalsekretär der salvadorianischen Bischofskonferenz, Exekutivsekretär des Rates der Bischöfe von Mittelamerika und Panama, Weihbischof – zuständig unter anderem für Caritas, Ordensschwestern und Medienarbeit – in San Salvador.

Als Bischof des neu gegründeten, von Baumwollpflanzern und Kaffee-Exporteuren beherrschten Bistums Santiago de Maria kümmerte er sich wenig um die Basisgemeinden, zieh sie der Einmischung in politische Angelegenheiten, ließ sich von Militärobristen beraten und fällte einsame Entscheidungen, gestützt auf seine berühmte Bibliothek mit theologischer Fachliteratur, die er zum Teil schon aus Rom mitgebracht hatte.

Gewiss, man hielt ihn allgemein für einen frommen, sensiblen, glaubwürdigen Seelsorger, aber die Iglesia popular, die Kirche des armen Volkes, fühlte sich von diesem Freund der schönen Liturgie und der korrekten Disziplin in ihren Kämpfen um Gerechtigkeit allein gelassen. Als Romeros Ernennung bekannt wurde, erörterte man in Kreisen sozial engagierter Priester ernsthaft die Frage, ob man mit diesem Mann gemeinsam Eucharistie feiern könne. Manche Pfarrer dachten daran, den Arbeitsplatz zu wechseln.

Und tatsächlich hatten die skeptischen Stimmen zunächst recht, die in dem neuen Oberhirten einen Vasall der Zentrale am Tiber sahen, einen Aufpasser, dem die Aufgabe zufiel, den jungen Priestern ihre sozialkritischen Flausen auszutreiben und Ordnung im Klerus zu schaffen. Seine Ernennung, so schien es, passte genau in die Bestrebungen des Vatikans und des Militärregimes, wieder engere Beziehungen zu knüpfen. Romero selbst gab später im Gespräch mit kritischen Priestern seines Bistums unverblümt zu: „Ich hatte die Aufgabe, mit euch allen aufzuräumen!“

Doch Monseñor Romero standen so bittere, prägende Erfahrungen bevor, dass er nur wenige Monate nach seiner Ernennung zum Erzbischof ein anderer Mensch wurde.

Massaker vor der Kirche

Noch vor seiner offiziellen Amtsübernahme wurden drei Priester aus Belgien und den USA, die in Basisgemeinden arbeiteten, gefoltert und aus dem Land gejagt. Romeros Amtsvorgänger, Luis Chávez, fand den zerstückelten Leichnam ihres Mitbruders Rafael Barahona vor seiner Tür. Wenige Tage später flüchteten Tausende von Menschen, die auf der Plaza Libertad gegen betrügerische Wahlmanipulationen protestieren wollten, vor der anrückenden Nationalgarde in die nächstgelegene Kirche. Die Soldaten veranstalteten ein blutiges Massaker unter denen, die nicht schnell genug geflohen waren, und versuchten die Leute in der Kirche mit Gas auszuräuchern. Der neue Erzbischof war nicht da; er holte gerade seine Sachen aus seinem bisherigen Bistum.

Als Romero zurückkam, hörte er in fassungslosem Schweigen, was geschehen war. Dann sagte er seinen Mitarbeitern ganz ruhig: „Jeder geht nach Hause und hilft den Menschen. Öffnet eure Türen allen, die sich in Gefahr glauben. Überprüft, ob sie wirklich verfolgt werden; wenn ja, dann nehmt sie hinein und versteckt sie. […] Ich werde jeden Morgen im Versammlungsraum des Erzbistums sein. Alle, die Neuigkeiten haben oder Orientierungshilfen brauchen, sollen kommen.“

Knapp zwei Wochen darauf fuhr der junge Jesuitenpater Rutilio Grande zusammen mit dem siebzigjährigen Bauern Manuel Solorzano und seinem fünfzehnjährigen Ministranten Nelson Lemus nach El Paisnal, um die Messe zu feiern und eine Protesterklärung der Bischöfe gegen die Ausweisung seiner Mitbrüder zu verlesen. Heckenschützen, von der Organisation der Großgrundbesitzer bezahlt und mit Polizei-MPs bewaffnet, durchsiebten das Auto mit Geschossen. Alle drei waren auf der Stelle tot.

„Es ist gefährlich, Christ zu sein in unserem Land“, hatte Pater Rutilio kurz zuvor in einer unmissverständlichen Predigt festgestellt und die „Macht einer Minderheit“ angeprangert, die den Armen zum Sklaven mache. Der „Christus mit einem Maulkorb vor dem Mund“, der in einer Sänfte spazieren getragen werde, sei nicht der Christus des Evangeliums, und wenn Jesus heute zurückkehrte und von Chalatenango nach San Salvador hinunterzöge wie damals von Galiläa nach Jerusalem, „würde er festgenommen und in den Kerker geworfen. Sie würden ihn vor manches hohe Gericht bringen als Verfassungsbrecher, Subversiven […]. Ohne Zweifel, meine Brüder, würden sie ihn wieder kreuzigen.“

„Wehe euch, ihr Heuchler“, hatte er den Plantagenbesitzern gesagt, die ihm dann die Mörder schickten, „die ihr euch lauthals Katholiken nennt, und innen seid ihr schmutzige Bosheit! Ihr seid Kains und kreuzigt den Herrn, welcher umhergeht mit dem Namen Manuel, dem Namen Luis, Chavela, mit dem Namen des einfachen Landarbeiters.“

Monseñor Romero stand erschüttert vor den drei Leichen, die unter blutigen Leinenfetzen auf dem Kirchenboden von Pater Rutilios Pfarrei Aguilares lagen. Er begrub sie als Märtyrer hier im Gotteshaus, ohne auf die Genehmigung der Behörden zu warten. Den Staatspräsidenten setzte er davon in Kenntnis, dass er bis zur Aufklärung der Bluttat an keiner offiziellen Veranstaltung teilnehmen werde. Die Bischofskonferenz exkommunizierte die „geistigen und physischen Urheber“ des Massakers und verhängte das Interdikt über El Salvador: Im ganzen Land – außer in der Kathedrale der Hauptstadt – wurde am folgenden Sonntag kein Gottesdienst gefeiert. Die Kirche, der man ihre Priester genommen hatte, zeigte schweigend ihre Trauer.

Die Beförderung zum Erzbischof der Hauptstadt war für Oscar Romero wie ein Fronterlebnis: Hier, wo die Auseinandersetzungen am heftigsten tobten, begriff er blitzschnell, dass in El Salvador eine Christenverfolgung im Gange war, eine Christenverfolgung neuer Art, wie sie längst für viele Länder Mittel- und Südamerikas charakteristisch geworden war. Es sind nicht mehr heidnische Tyrannen oder Propagandisten fremder Religionen, die dem armen Christenvolk nachstellen, sondern seine eigenen reich und mächtig gewordenen Brüder. Innerhalb weniger Jahre wurden in El Salvador sieben Priester umgebracht und Hunderte von Laien im kirchlichen Dienst: Katecheten, Lehrer, Bauernführer, Gewerkschafter.

Der Priester Alfonso Navarro, 35 Jahre alt, fiel den Kugeln Maskierter zum Opfer, weil er auch nach einem Bombenanschlag auf sein Auto nicht aufgehört hatte, im „besseren“ Viertel von San Salvador unbequeme Predigten zu halten. Der Pfarrer Neto Barrera, Mitglied der Befreiungsbewegung Fuerzas Populares de Liberación, fand angeblich bei einer Schießerei mit Nationalgardisten den Tod (die Gerichtsmediziner entdeckten Spuren von Folterungen an seinem Körper). Erzbischof Romero ließ sich trotzdem nicht davon abhalten, den „Guerilla-Priester“ zu beerdigen: Ob nicht auch seine Mutter beim Begräbnis an der Seite ihres Sohnes sein werde, ganz selbstverständlich, ohne nach den näheren Umständen zu fragen? „Dort ist auch mein Platz als Bischof!“

Romero war erst drei Monate im Amt, da überfiel das Militär mit Fallschirmspringern, Panzern und Maschinengewehren das Dorf Aguilares – die Pfarrei des ermordeten Rutilio Grande. Notleidende Campesinos, Landarbeiter, hatten ein brachliegendes Landstück besetzt und der Eigentümerin angeboten, Pacht dafür zu bezahlen. Doch bevor die Verhandlungen abgeschlossen waren, rückten die Soldaten an. Sie durchsuchten alle Wohnungen, verhafteten jeden, der eine Bibel besaß, zerfetzten Bilder von Pater Rutilio. Viele Menschen wurden verschleppt, die Priester ausgewiesen. Offiziell wurden sieben Tote gezählt.

Die Pfarrkirche machten die Uniformierten für einen Monat zu ihrem Hauptquartier. Der Tabernakel wurde zerschossen, die geweihten Hostien mit Stiefeln zertreten, der Sakristan vom Turm gestürzt und getötet, als er die Sturmglocke läuten wollte. „Es war die totale Entwürdigung der Eucharistie“, notierte ein Mitarbeiter des Erzbischofs, „des Körpers Christi: Volk, Gemeinschaft, Priester und Brot – auf dem Weg zur Befreiung – zertrampelt und massakriert.“

Romero, dem man den Zutritt zur Kirche verweigert hatte, als er die Hostien aus dem Tabernakel retten wollte, bezeichnete dieses Erlebnis später als seine „Bekehrung“.

Cafeteria im Bischofspalais

In wenigen Monaten hatte der knapp sechzigjährige Priester, der bisher so still und vorsichtig erschienen war, einen radikalen Lernprozess durchgemacht. Er erschien wie verwandelt. Statt in einsam durchwachten Nächten sorgfältig formulierte Anweisungen an seinen Klerus im trockenen kirchlichen Amtsstil zu entwerfen, suchte er jetzt überall das Gespräch.

Die Tür seines Büros ließ er grundsätzlich offen. Wenn er mit seinem Latein am Ende war, versammelte er alle Mitarbeiter in der großen Halle des protzigen, noch aus der Kolonialzeit stammenden Bischofspalais und fragte sie reihum nach ihrer Meinung. Und eines Tages funktionierte er diese Halle kurzerhand zu einer Cafeteria um.

Die „Bischofs-Cafeteria“ wurde zur Informationsbörse der Hauptstadt, zum Treffpunkt für streikende Arbeiter, Bauern, Studenten, Professoren, politisch Verfolgte, durchreisende Bischöfe, ausländische Journalisten. Laienorganisationen zogen in den Bischofspalast ein, Romero selbst übersiedelte in ein Krebskrankenhaus am Stadtrand, wo er nachts mehr Ruhe hatte.

Nach der Sonntagsmesse verabschiedete er sich an der Tür der Kathedrale von den Gottesdienstbesuchern. Er fuhr an die Orte, wo Menschen umgebracht, Häuser zerstört worden waren, um die Leute zu trösten und Hilfe zu bringen. Einmal vertrieb die Nationalgarde die ganze Einwohnerschaft eines Dorfes, als der Erzbischof zu Besuch kommen wollte. Romero fand das Dorf von Soldaten umstellt und musste sich nach Waffen durchsuchen lassen.

Und immer wieder weigerte er sich, Jugendgruppen, Arbeiterversammlungen, Pfarrgemeinden, Bildungsseminare, die er besuchte, mit wohlgesetzten Predigten zu langweilen. Stattdessen scharte er die Leute um sich, fragte sie nach ihren Erfahrungen, Sorgen und Wünschen und bat um ihren Rat. Er baute die katholische Radiostation YSAX und die diözesane Wochenzeitung Orientación aus, lieferte der Lokalzeitung jede Woche einen Beitrag und führte einen regelmäßigen „Dialog mit dem Volk“ im Rundfunk. Ein Aufruf zum Miteinander-Reden war auch sein erster Hirtenbrief – Thema: „Die Kirche lebt nicht für sich selbst.“

Die Frage „Wozu ist die Kirche da?“ stand auch über dem zweiten Hirtenwort ein paar Monate später. Romeros Antwort: Nachfolge Christi im Dienst an der Welt, festgemacht am Engagement für die Sache der Armen. Die Einheit der Kirche basiere auf geteiltem Leiden. „Es gibt keine Einheit in der Kirche, wenn wir die Realität, in der wir leben, ignorieren.“

In der engsten Umgebung des Erzbischofs wurde dieser Lernprozess damit erklärt, dass er immer stärker mit seinem Volk zusammengewachsen sei. Das lief freilich nicht über eine Einbahnstraße. Das salvadorianische Volk seinerseits wurde in jener Zeit zusehends aktiv, entwickelte Selbstbewusstsein und Kampfgeist.

„Weil du der Gerechte bist und den Unterdrückten verteidigst“, sangen die Leute im Gloria ihrer Misa popular salvadoreña, „weil du uns wirklich liebst, wollen wir, dein ganzes Volk, heute unseren Mut und unsere Würde verkünden.“

Währenddessen ging der Kampf gegen diese Kirche weiter, in der die an den Rand Gedrängten ihre Menschenwürde entdeckten. Ein Jugend- und Exerzitienhaus wurde in der Morgendämmerung von Nationalgarde, Polizei und Armee gestürmt. Pater Octavio Ortiz Luna (34) und vier Jugendliche zwischen 15 und 22 Jahren, die an einem „Einführungskurs in das Christentum“ teilgenommen hatten und dort schliefen, starben im Kugelhagel.

Ein Terroristennest habe man ausgehoben, ließ die Regierung später erklären, immer im Bestreben, die Spaltung in der Kirche voranzutreiben. Man inszenierte Verleumdungskampagnen gegen engagierte Priester, schmuggelte Waffen in ihre Aktentaschen und stellte sie dann vor Gericht – als verkappte marxistische Terroristen.

Gott hört die Schreie seines Volkes

Niemand wird je erfahren, wie sehr der Erzbischof unter diesen Lügen gelitten hat, aber auch unter den guten Ratschlägen, die ihm besorgte Mitbrüder und fromme Bürger erteilten: die Kirche möge sich doch auf ihre geistlichen Aufgaben beschränken und das gefährliche Terrain der Politik verlassen. Und er, der Bischof, solle sich gefälligst nicht als Volkstribun gebärden, sondern als Hirte der Seelen.

Als ob er je darauf aus gewesen wäre, politische Theorien mit Bibelsprüchen zu verbrämen! Romero wurde zum Propheten seines Landes, weil er dem Wort Gottes gehorchte – nicht weil er es umdeuten wollte, das wäre bequemer gewesen. Er fand darin einen Gott, der die Schreie seines Volkes hört. Einen Gott, der will, dass die Menschen in Würde leben können. Romero: „Der Gott, zu dem wir uns bekennen, ist kein toter Gott; er ist ein lebendiger Gott, der den Schmerz von Gefolterten und Sterbenden mitempfindet, der mit uns fühlt, aktiv ist, arbeitet und die Geschichte lenkt.“

Seine Botschaft – das versuchte er seinen naserümpfenden Kritikern immer wieder verzweifelt klarzumachen – sei keine andere als die des Evangeliums: die Nähe Gottes anzukündigen und die Sünde anzuklagen. Deutlicher als andere sah er allerdings die Konsequenzen dieser Nähe, ehrlicher als manche Mitbrüder gestand er sich ein, dass es auch soziale, politische Sünden gibt.

Die Quelle jeder gesellschaftlichen Sünde liege zwar im Herzen des einzelnen Menschen, sagte er in einer Fastenpredigt am Tag vor seinem Tod. Aber er ließ nie einen Zweifel daran, dass sich diese individuellen Sünden in El Salvador zu einem mörderischen und bekämpfenswerten System der sozialen Sünde addiert hätten, stets neue Gewalt zeugend.

„Ich bin ein Hirte“, so gestand er einmal, „der zusammen mit seinem Volk begonnen hat, eine schöne und schwierige Wahrheit zu lernen. Unser christlicher Glaube verlangt, dass wir eintauchen in diese Welt.“ Die Kirche, von der er träumte, thronte nicht erhaben über den Wolken, unberührt von irdischen Konflikten und Wirrnissen. Sie war mittendrin in den Kämpfen und Umwälzungen als Sauerteig der Gesellschaft, sie fühlte sich von der Leidensgeschichte ihres Volkes herausgefordert, als hätte Gott mit menschlicher Stimme zu ihr gesprochen.

„Haben Sie keine Angst vor der Politik!“ ermunterte er seine Mitchristen und erinnerte sie an die gewiss unverdächtige Mutter Jesu, die in ihrem Magnificat durchaus die politische Dimension des Glaubens erkannt habe: „‚Gott stürzt die Mächtigen von ihrem Thron‘, wenn ihretwegen das Volk nicht mehr in Ruhe leben kann!“

Christen seien jedoch nicht gerufen, blinde Gefolgsleute einer Partei oder Ideologie zu sein, sondern als „kreative und kühne Menschen“ ihren Glauben authentisch zu leben. Christus allein besitze das Monopol der Wahrheit, deshalb müsse jeder Christ die politischen Ansichten und Ziele der anderen respektieren, „weil sie Kinder Gottes sind und weil jeder unter ihnen begabter sein kann als ich“. Romero sah es gar nicht gern, wenn sich christliche Gemeinden zu sehr mit politischen Gruppen identifizierten.

Denn über politische Ziele und Strategien konnte es verschiedene Meinungen geben. Eisern blieb der Erzbischof aber, wenn es um die Grundentscheidung ging, wo der Platz der Kirche sei: „Entweder dienen wir dem Leben der Salvadoreños oder wir sind an ihrem Tod mitschuldig.“

Wenn er in den Nächten betend mit Gott allein war, wenn sie ihm ihre verstümmelten Toten in die Kathedrale brachten, wenn er geplünderte Gemeindehäuser und zerstörte Elendshütten besuchte, hörte er den armen Jesus aus Nazaret fragen: Erkennst du mich in meinen Brüdern? Kannst du ruhig Gottesdienst feiern, während ich nebenan aufs Neue gekreuzigt werde? Komm, du bist Bischof, du musst meine Botschaft weitersagen, und sie wird dich genauso ans Kreuz bringen wie mich …

Und so verkündete er seine Befreiungstheologie den Christen aus den reichen Ländern, als sie ihm im Februar 1980 etwas verschämt die Ehrendoktorwürde der Universität Löwen verliehen: Die Verfolgung in seiner Heimat gelte dem armen Volk, das heute der Leib Christi in der Geschichte sei. „Es ist das wie Jesus ans Kreuz geschlagene Volk, das wie der Knecht Gottes verfolgte Volk. Es vervollständigt in seinem Leib das, was an der Passion Christi fehlt.“

An der Seite der Armen sei deshalb der Platz der Kirche, in dieser „Welt ohne menschenwürdiges Antlitz“, dem „Sakrament“ des leidenden Christus, müsse sie Fleisch werden. Romero wusste sehr gut, dass die Kirche mit dieser Entscheidung auch das Schicksal der Armen wählte: Verfolgung und Tod. Es sollte sein eigenes Schicksal werden.

„Die Armen“, für Monseñor Romero war das keine abstrakte Klasse. Die Armen hatten Gesichter, Namen, Familien, Wunden. Sie machten seine Predigten konkret. Romero pflegte nicht allgemein über die Zeitläufte zu klagen und verschwommen die Ungerechtigkeit der Gesellschaftsstrukturen zu bedauern. Von Monat zu Monat wurde seine Analyse klarer: „Der Grund unserer Übel ist die Oligarchie“, stellte er in einem Interview mit Prensa Latina unmissverständlich fest, „ein kleiner Teil von El Salvador, der sich nicht um den Hunger der Menschen kümmern will. Weil sie ihre Profite haben wollen und sie vergrößern wollen, müssen sie das Volk unterdrücken.“

Der Erzbischof prangerte den „Götzenkult des Reichtums“ ebenso an wie die „Prostitution der Justiz“, die gegenüber Verfassungsverletzungen „komplizenhaft“ schweige und von den Sicherheitskräften verübte Morde straffrei lasse. Die „reiche Minderheit“, wie er die Oligarchie der Großgrundbesitzer nannte, die „Herren eines Bodens, der allen Salvadorianern gehört“, forderte er „in Brüderlichkeit“ auf, sich zu bekehren und die notwendigen Zugeständnisse freiwillig zu machen: „Es ist besser, ihr streift euch die Ringe von den Fingern, bevor euch die Hand abgehackt wird!“

In einer Fastenpredigt wenige Wochen vor seiner Ermordung – der Diözesansender YSAX war gerade in die Luft gesprengt worden – machte er die Besitzenden für das Attentat verantwortlich: „Die Oligarchie befürchtet, die absolute Kontrolle über die Investitionen und den Export von Agrarprodukten und ihr Quasi-Monopol auf den Boden zu verlieren. Nun verteidigt sie ihre egoistischen Interessen nicht mit Vernunftgründen, nicht mit der Unterstützung durch das Volk, sondern mit dem Einzigen, was sie besitzt: mit dem Geld, das ihr erlaubt, Waffen zu kaufen, Söldner zu bezahlen, die das Volk massakrieren und jede berechtigte Äußerung zugunsten der Gerechtigkeit und der Freiheit ersticken.“

Der Erzbischof kritisierte aber auch die Volksorganisationen, wenn er den Eindruck hatte, dass sie fanatisch und unmenschlich wurden, einen arroganten Absolutheitsanspruch entwickelten und Gerechtigkeit mit Rache verwechselten. Gerade weil er ihren Einsatz bewunderte und nie den abfälligen Ausdruck „Linkskräfte“ gebrauchte, sondern respektvoll von „Kräften des Volkes“ sprach, reagierte er sehr sensibel auf politische Parolen, in denen er den altgewohnten Terror wiedererkannte; nur die handelnden Personen waren ausgewechselt.

„Wir schreien oft, wenn es uns an Begründungen fehlt“, meinte er einmal nachdenklich während einer Predigt in der Kathedrale und wünschte sich mehr konstruktive Ideen, die Gelassenheit Christi statt „brüllender Demagogen“. Romero: „Viele Schreie, viele Worte, um einen noch mehr umzubringen, aber nichts, was mir sagt, welches deine Vorstellung ist, welches deine Leitgedanken sind, um im Land das Gute aufzubauen.“

„Lasst uns lernen, die politische Sprache zu sprechen und nicht nur die der Gewalt!“ forderte er und warnte davor, Gottes Reich mit Bomben, Entführungen und Mordanschlägen herbeizwingen zu wollen. Als der Bloque Popular Revolucionario Ministerien in San Salvador besetzte und zweihundert Geiseln nahm, machte sich Monseñor Romero zum Sprecher ihrer besorgten Familien und äußerte, Menschenrechte könne man so wohl nicht verteidigen.

Im Grunde sah der Erzbischof auch hier die verhängnisvolle Bevormundung des Volkes am Werk, die er im kirchlichen Binnenraum bekämpfte: Das Volk in seiner Gesamtheit sollte seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen, vom Wohltatenempfänger zum „Akteur“ seiner Befreiung werden. „Das Volk muss der Schöpfer seiner eigenen Gesellschaft sein“, predigte er in der Kathedrale, „deshalb ist das, was ich hier mache, eine Herausforderung an die politische Kreativität des Volkes.“ Man möge doch nicht darauf warten, „was der Bischof am Sonntag sagt“, sondern selber denken!

Wann ist der Aufstand legitim?

Also doch ein Erzbischof, der sich im Kampf um soziale Gerechtigkeit verlor und im Menschen wie Marx bloß das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse sah? In der Tat, Romero hielt es für eine Illusion und sogar für die „größte Blasphemie“, zu vergessen, dass das Leben mit Brot, Heim und Arbeit beginne.

Aber eine Befreiung, die sich in höheren Löhnen, niedrigeren Preisen und dem Auswechseln von Regierungsmannschaften erschöpfe, nannte er genauso entschieden ein „verstümmeltes Bruchstück“ von Befreiung, weil sie nicht vom „Großen Befreier Christus“ komme. Das Herz des Menschen wandle sich nicht allein schon durch bessere Strukturen, und diese notwendigen neuen Strukturen müssten von neuen Menschen belebt werden.

Christliche Liebe lehne den „ehrenvollen Kampf“ nicht ab und demaskiere den „falschen Pazifismus“, stellte er bei seiner Rede in der Universität Löwen klar. Aber Aufgabe der Christen sei es, menschliche Werte auch im Kampf zu bewahren. Furchtbar war ihm die „Mystik der Gewalt“, die Überzeugung, dass die erforderlichen radikalen Veränderungen nur im blutigen Kampf zu bewerkstelligen seien, im Bruderkrieg der Salvadorianer gegeneinander. „Wie bösartig muss dieses System sein“, rief er aus, als seine Kathedrale von Soldaten eingekreist war, „das den Armen gegen den Armen stellt, den Campesino in Militäruniform gegen den arbeitenden Campesino!“

Gewalt könne niemals ein christlicher Weg sein, da blieb er eisern bis zum frühen Tod. „Brüder Mörder, wir lieben euch“, bot er beim Totengottesdienst für einen ermordeten Priester an. Alle Gewalt gehe aus den „sündhaften Strukturen“ der sozialen Ungerechtigkeit hervor, aber ebenso unzweideutig lehnte er die terroristische Gegengewalt ab. Erst wenn ein diktatorisches Regime alle Kanäle zum vernünftigen Gespräch versperre, alle friedlichen Lösungen verhindere und die Menschenrechte mit Füßen trete, sei – nach der Entwicklungsenzyklika Papst Pauls VI. Populorum progressio – das Recht zum Volksaufstand gegeben.

Eine solche Situation schien in El Salvador vorzuliegen, wenn auch der Putsch junger Offiziere am 15. Oktober 1979 für kurze Zeit Hoffnungen geweckt hatte. Das brutale Regime des Generals Carlos Humberto Romero – eines Namensvetters des Erzbischofs – wurde gestürzt und durch eine Junta ersetzt, der unter anderem der Rektor der Jesuitenuniversität, ein führender Sozialdemokrat und Vertreter der reformfreudigen Juventud Militar angehörten.

Auf das attraktive Reformprogramm der neuen Regierung – Versammlungsfreiheit, Verstaatlichung der Banken, Mindestlohn für die Ernten, Landreform – reagierte Erzbischof Romero abwartend: Der Putsch sei zwar legitim gewesen, doch ob die Junta das Vertrauen des Volkes verdiene, werde sie erst durch Taten beweisen müssen. Ein Vierteljahr später trat ein Teil der Juntamitglieder zurück. Sie hatten sich gegen die eigentlichen Machthaber in Militär, Sicherheitskräften und Landbesitz nicht durchsetzen können. Terror von oben und verzweifelte Gegenwehr des Volkes nahmen in einem ungeahnten Ausmaß zu.

Diese Junta werde nicht mehr vom Volk getragen, erklärte der Erzbischof, sondern nur noch vom Militär und von fremden Mächten. Als bekannt wurde, die USA plane ihre Hilfe für die Junta zu verstärken, schrieb Romero dem amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter im Februar 1980 einen ungeschminkten Brief:

Militärberater, Gasmasken und kugelsichere Westen für die Soldaten der Junta würden nur die Unterdrückung des Volkes verschärfen. Die Junta habe längst mehr Tote und Verwundete auf dem Gewissen als die Militärregimes der Vergangenheit. Die Volksorganisationen seien als einzige soziale Kraft zur Lösung der Krise fähig. Später bekam der Oberhirte von San Salvador Schützenhilfe durch die US-Bischöfe. Carter ließ sich natürlich in seinem Vertrauen auf die Junta nicht beirren.

Immer häufiger legte man dem Erzbischof jetzt die Leichen von Erschossenen und zu Tode Gefolterten vor die Füße, wenn er sonntags in der Kathedrale Eucharistie feierte. Und immer klarer wuchs Oscar Arnulfo Romero in seine Rolle hinein, la voz de los sin voz zu sein, Stimme derer, die keine Stimme hatten. Seine Predigten, informierend und motivierend, waren von unschätzbarem Wert für das Volk. Den zahlreichen Analphabeten ersetzten sie die Zeitung.

Romero predigte nicht selten eineinhalb Stunden und länger, aber die Menschen drängten sich vor den Toren der Kathedrale, um ihn zu hören, und über den Rundfunksender YSAX erreichte er, wie man festgestellt hat, im ganzen Land 73 Prozent der Landbewohner und 47 Prozent in den Städten. Die Stimme des Erzbischofs tönte an jedem Sonntagmorgen überall in El Salvador aus Wohnungen, Autos und Transistorradios.

Romero legte das Evangelium aus und sprach vom Reich Gottes, wie es jeder Priester tut. Aber er machte das nie, ohne einen Bogen zu der aktuellen Situation seines Landes zu schlagen. Er gab Nachrichten aus den Dörfern und Basisgemeinden bekannt, prangerte Menschenrechtsverletzungen und Terrorakte an, nannte die Verantwortlichen beim Namen, verlas lange Listen von Toten und Verschwundenen.

Diese Predigten beschämten, entlarvten, protestierten, forderten, klagten an. Romero formulierte Empörung und Freiheitssehnsucht des Volkes, in dem ihm der gekreuzigte Christus begegnete.

Solche Ansprachen hörten sich dann etwa so an: „In der Nähe von Tecnivillanvas hat man nach der Vertreibung der Angestellten durch das Militär die Leichen von vier Arbeitern gefunden, die bei dieser Aktion verhaftet worden waren. Beim Kilometerstein 38 an der Straße nach Suchito im Bezirk Montepeque sind 16 Bauern ums Leben gekommen. Am gleichen Tag hat man in Tecnillantas zwei Studenten der Universität von Zentralamerika verhaftet, zwei Brüder: Mario Nelson und Miguel Alberto Rodriguez Velado. Der erste wurde nach vier Tagen illegalen Festhaltens den Gerichten übergeben, während sein verwundeter Bruder immer noch illegal festgehalten wird. Die Rechtshilfe leistet ihm Beistand.“ Romero meinte damit das Socorro Juridico, das Rechtshilfebüro der Erzdiözese, dessen Anwälte die Armen kostenlos vor Gericht vertraten.

Mit seinen furchtlosen Sonntagspredigten, die über Radio Noticias del Continente häufig in ganz Lateinamerika zu hören waren, zimmerte sich der arme Priester Romero sein eigenes Kreuz. Die Mächtigen im Lande mussten diesen Propheten zum Schweigen bringen.

Die Vereinigung der Landbesitzer, Exportkaufleute und Industriellen ließ Unmengen von verleumderischen Flugblättern gegen Romero drucken und finanzierte enorm teure Anzeigenkampagnen in den großen Zeitungen: Romero – 118 britische Unterhausabgeordnete hatten ihn gerade für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen – sei ein korrupter „Psychopath“, der die „ruhmreichen Streitkräfte“ beleidige, ein Mann, der „seine Seele dem Teufel verkauft“.

Die Unternehmer sammelten Geld für diese Aktionen und für eine eigene Anti-Romero-Zeitung mit dem Werbeslogan: „Gib uns, um den Bischof zu stoppen!“ Beleidigende Briefe und telefonische Morddrohungen häuften sich. Romeros Wohnung wurde beschossen. Eines Tages fand man einen Koffer mit 72 Dynamitstäben in der Kathedrale.

Es gab zwar Solidaritätsbriefe wie den von dreißig lateinamerikanischen Bischöfen, aber viele Mitbrüder standen Romeros Engagement verständnislos, ja sogar feindlich gegenüber. Sein Hilfsbischof und einstiger Freund René Revelo putzte während der römischen Bischofssynode die Katecheten der heimischen Basisgemeinschaften vor der internationalen Presse als „Maoisten“ herunter. Romeros Nachbarbischöfe schleuderten Zitate aus alten päpstlichen Lehrschreiben gegen die Volksorganisationen, die sie für atheistisch verseucht hielten.

Auf der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Puebla wurde Romero von seinen salvadorianischen Amtsbrüdern geschnitten. Als ein Brief mit der Bitte um Solidarität mit El Salvador herumging, weigerten sich viele Bischöfe zu unterschreiben.

An der römischen Kurie, die regelmäßig von einem salvadorianischen Kaffeebaron besucht und mit bösen Gerüchten gefüttert wurde, hatte der Erzbischof ebenfalls kaum Freunde. 1979 musste er sich in einer allgemeinen Audienz mit Ellenbogengewalt zum Papst vordrängen, um ein Gespräch zu erbitten. Danach erzählte er enttäuscht: „Ich war dort völlig isoliert. Sie sahen mich alle an, als spräche ich Chinesisch.“

Papst Johannes Paul II. konnte sich mit der Auffassung Romeros und seines Vorgängers Paul VI., revolutionäre Gewalt sei als letztes Mittel gegen eine „eindeutige und langdauernde“ Gewaltherrschaft erlaubt, nicht anfreunden und ermahnte den Erzbischof wenige Wochen vor seinem Tod bei seinem letzten Rom-Besuch entsprechend.

Als Romero nach San Salvador zurückkehrte, trug man ihm erneut verstümmelte Leichen in die Kathedrale, die von den Sicherheitskräften auf die Müllhalden geworfen worden waren. Der Erzbischof brach in lautes Weinen aus und rief, nichts Wichtigeres gebe es für die Kirche als das Leben der Menschen und die Person der Armen, „die nicht nur menschliche, sondern göttliche Wesen sind, denn Jesus hat gesagt, alles, was man ihnen tue, sei ihm getan. Und all dieses vergossene Blut, alle diese Toten, das geht weit über jede Politik, das rührt an das Herz Gottes!“

Erzbischof auf der Schwarzen Liste

Am Passionssonntag, dem 23. März 1980, redete Oscar Romero deshalb noch einmal Klartext in der Kathedrale – so unmissverständlich, dass jeder wusste: Diesen Mann konnten die Herrschenden nicht am Leben lassen. Auf die zahlreichen Morddrohungen der letzten Jahre hatte er immer mit Gleichmut reagiert: „Ich werde mein Volk nicht verlassen“, versprach er, „sondern mit ihm alle Risiken durchlaufen, die mein Amt erfordert.“ Er wisse, dass er auf der Schwarzen Liste stehe. Aber die Stimme der Gerechtigkeit könne man nicht umbringen. „Wenn sie mich töten, werde ich im Volk von El Salvador wieder auferstehen!“

In dieser Predigt zog er einen klaren Trennungsstrich gegenüber den frömmelnden Unterdrückern des Volkes und sprach ihnen ihr Christsein ab. Denn: „Auch wenn sie getauft sind, auch wenn sie zur Messe gehen, sind sie nicht mehr Gottes Volk, sobald sie sich weigern, die Forderungen des Evangeliums mit den konkreten Folgerungen anzunehmen, die unsere Seelsorge daraus zieht.“

Und am Ende stand der offene Aufruf zur Befehlsverweigerung an Soldaten, Nationalgardisten und Polizisten! „Brüder, ihr gehört zu unserem Volk, ihr tötet eure eigenen Brüder unter den Bauern“, rief der Erzbischof. „Es ist höchste Zeit, dass ihr euer Gewissen wiederentdeckt und ihm gehorcht statt sündhaften Befehlen.“ Denn kein Soldat sei verpflichtet, einem Befehl zu gehorchen, der „unmoralisch“ und gegen das Gebot Gottes gerichtet sei.

„Im Namen Gottes“ – Romero legte seine ganze Leidenschaft in diese Worte – „im Namen Gottes und seines von langen Leiden gequälten Volkes, dessen Klagen tagtäglich im Himmel gehört werden, bitte ich, flehe ich, befehle ich: Im Namen Gottes, macht Schluss mit der Unterdrückung!“

Nun war das Maß voll. Am nächsten Tag, dem 24. März, wartete ein Scharfschütze auf den Erzbischof, als er in der Kapelle des Krebskrankenhauses, wo er wohnte, eine Totenmesse feierte. Es sollte sein eigenes Requiem werden.

„Es ist zwecklos, sich selbst zu lieben, sich vor den Gefahren des Lebens zu hüten“, sagte er in seiner letzten Predigt. „Die Geschichte stellt die Menschen in diese Gefahren, und wer ihnen ausweichen will, verliert sein Leben. Wer sich dagegen aus Liebe zu Christus in den Dienst der anderen stellt, wird leben – wie das Weizenkorn, das stirbt, aber nur dem Schein nach. Stirbt es nicht, so bleibt es allein. Die Ernte setzt das Sterben voraus.“

„Wir wissen, dass niemand für immer stirbt“, fuhr er fort, „und dass diejenigen, die ihre Aufgabe mit tiefem Glauben, mit Hoffnung und Liebe erfüllt haben, die Krone erhalten werden. In diesem Sinn beten wir für Doña Sarita und für uns selbst –“

In diesem Augenblick peitschten Schüsse durch die Kirche. Dumdumgeschosse – eine heimtückische Munition, die im Körper explodiert und verheerende Wirkungen anrichtet – trafen Oscar Romero in den Kopf und ins Herz. Der Erzbischof sackte am Altar zusammen. Dicke Blutströme rannen ihm aus Mund und Ohren. Die Nonnen, die sich weinend um ihn bemühten, hörten ihn noch flüstern: „Möge Gott mit meinen Mördern Erbarmen haben!“

Oscar Arnulfo Romero starb nach wenigen Minuten auf dem Transport in die Poliklinik.

Sein Mörder und dessen Komplizen entkamen in der allgemeinen Panik unerkannt in einem roten Volkswagen. Die Spuren des Attentats führten in die Militärkasernen, und US-Geheimdienstler sind sich sicher, dass der einstige Geheimdienstchef und Kopf der Terrororganisation ORDEN