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Bernardin Schellenberger

Ein anderes Leben

topos taschenbücher, Band 1003

Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Eine Initiative der

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1003-9
E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5011-0
E-Pub: ISBN 978-3-8367-6011-9

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der
Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer.
Umschlagabbildung: © K. Finken, Prüm
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Vorwort

I.Ein ganz anderes Leben

II.Leer werden für Gott

III.Die Quelle der inneren Ruhe

IV.Von der Trauer und von der Freude des Christen

V.Eine Erfahrung des Karsamstags

Nachwort

Anmerkungen

Vorwort zur Neuausgabe

Dieses Buch habe ich 1980 geschrieben. Damals war ich 36 Jahre alt und seit 14 Jahren Mönch in der Abtei Mariawald, dem einzigen Trappistenkloster Deutschlands. Seit sechs Jahren war ich Prior und Novizenmeister des Klosters und bekam in diesen beiden Ämtern ganz besonders stark die Turbulenzen der Krise mit, in die das traditionelle Ordensleben geriet. Darüber hielt ich 1977 bei einer Tagung über die verschiedenen Formen des Ordenslebens in Freiburg einen Vortrag, der große Aufmerksamkeit erregte, weil er an die Substanz der Problematik rührte. Sein Text findet sich im Wesentlichen hier im 2. Kapitel („Leer werden für Gott“). Ich wurde gebeten, mich noch ausführlicher zu diesem Thema zu äußern, und so entstand schließlich nach etlichem Zögern und Überlegen das Buch Ein anderes Leben, mein erstes Buch. Es erschien bald danach auch im englischen und französischen Sprachraum und in Polen.

Ich spreche in diesem Buch in „Wir“-Form, also als Ordens-Insider. Was ich formulierte, half mir auch selbst, mit der Krise umzugehen, die mein Kloster an den Rand des Erlöschens und mich schließlich ins sogenannte „Weltleben“ führte. 1991 schied ich formell aus dem Klosterleben aus.

Im Nachhinein entdeckte ich, dass ich mir – damals noch nicht ahnend – bereits 1980 den Weg selbst gewiesen hatte. Da hatte ich zum Beispiel im 5. Kapitel formuliert: „Wäre es nicht möglich, dass wir auf eine neue, intensive und sehr existenzielle Weise aufgefordert sind, jenes ‚Ite, missa est‘, das am Ende zahlloser feierlicher Choralämter in reichen, herrlichen Melodien gesungen worden ist, nicht nur in seinem ästhetischen Wohlklang, sondern in seinem letzten Ernst zu hören und zu befolgen: Geht hinaus aus dem Raum der religiösen Erfahrung und lasst die Messe, die ihr zelebriert habt, wahr werden in eurem Leben! … Geht mit Christus hinaus ‚außerhalb des Lagers‘ der religiösen Kultur, ‚um seine Schmach mit ihm zu teilen‘ (vgl. Hebräer 13,13) […] Das wäre keine Verarmung, sondern eine intensive Möglichkeit, in das Schicksal Christi einzugehen und ihm nahe zu sein.“

So kann ich auch heute noch voll und ganz zu diesem Buch stehen und habe seinen Wortlaut nicht verändert. Mit dem „Wir“ kann ich jetzt mühelos auch alle sogenannten „Christen in der Welt“ umfassen. Sie werden rasch merken, dass das, „was ein Mönch erfährt“, sich mit ihrer Erfahrung deckt und folglich auch ihnen helfen kann.

Bernardin Schellenberger, im Herbst 2014

Vorwort

Eine alte Redewendung sagt, es sei noch kein Baum in den Himmel gewachsen. Wie wahr das ist, spüren wir besonders schmerzlich in unserem Zeitalter, da uns der Flug zum Mond gelingt. Je mehr wir können, desto ferner rückt uns der Himmel.

Entsprechendes empfinden eigenartigerweise auch viele, die sich ehrlich mühen, in Treue und Geduld nach Gott zu suchen. Allen Techniken und Methoden zum Trotz scheint er sich immer mehr zu verbergen. Wer redlich versucht, seine Wurzeln am Wasserstrom des Glaubens in die Erde zu senken, erfährt nicht alsbald, was der erste Psalm so verlockend verheißt: dass er Frucht bringt zur rechten Zeit, dass seine Blätter nicht welken und dass ihm alles wohl gerät, was er tut. Nein, der Gottsucher gedeiht nicht wie die Palme und wächst nicht wie eine Zeder des Libanon (vgl. Psalm 92), und auch die Kirche insgesamt bietet nicht gerade das Bild einer Pflanzung üppiger Ölbäume, die sprießen im Haus ihres Gottes (vgl. Psalm 52). Wir wissen nicht, weshalb das so ist und womöglich so sein muss. Wir wissen nur im Glauben, dass es seinen Sinn hat, weil es ganz wesentlich mit dem Schicksal Jesu Christi zusammenhängt, dessen gewaltsam abgerissenes Leben und dessen gebrochener Leib uns den ganz anderen Gott und ein ganz anderes Leben erschließen.

Das Mönchsleben, wie ich es erfahre, ist in diesem Grund der christlichen Existenz angesiedelt. So hoffe ich, dass ich mit dem vorliegenden Buch einigen Brüdern und Schwestern helfen kann, ihr Leben und ihr Schicksal im Licht des Glaubens zu sehen und zu bestehen, damit wir alle zu Zeichen in der Landschaft unserer Zeit werden und einander etwas zu sagen haben und damit so neues Leben entsteht, oder ganz einfach die Geduld des Wartens auf das Feuer vom Himmel, das auch noch den ausgedörrtesten Baum zu verwandeln vermag.

Abtei Mariawald, Januar 1980
Bernardin Schellenberger

I. Ein ganz anderes Leben

Das romantische Missverständnis

Vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert gehörte zum Bestand der höfischen Parks und Anlagen neben dem Gehege mit seltenen exotischen Tieren eine malerisch eingerichtete Einsiedelei, nach Möglichkeit mit einem „richtigen“ Eremiten. Diese „Ziereremiten“, wie man sie in England nannte, sind sozusagen die Vorläufer unserer Gartenzwerge. Ziereremit zu sein war ein regelrechter Beruf, und wenn eine Stelle vakant geworden war, konnte es geschehen, dass der Arbeitgeber durch eine Zeitungsannonce einen neuen Mann suchte. In einem Inserat Mitte des 18. Jahrhunderts schrieb Charles Hamilton für die Eremitage im Park von Pain’s Hill in Surrey folgende Bedingungen aus: „Der Eremit soll mindestens sieben Jahre in der Eremitage bleiben. Er wird mit einer Bibel, mit optischen Gläsern, einer Fußmatte, einem Betschemel, einem Stundenglas, mit Wasser und Nahrung vom Hause versehen werden. Er muss eine Kamelottrobe tragen und darf sich nie, unter keinen Umständen, das Haar, den Bart oder die Nägel schneiden, noch den Grundbesitz von Mr. Hamilton verlassen oder mit dessen Dienern sprechen.“ Nach sieben Jahren Eremitenlebens sollten diesem Einsiedler 700 Pfund ausgezahlt werden. Der schließlich eingestellte Eremit musste aber schon nach drei Wochen wieder entlassen werden, weil er unerlaubterweise in ein Wirtshaus geschlichen war. Mr. Hamilton legte offensichtlich Wert auf ein „authentisches“ Eremitenleben.

Ließ sich kein lebendiger Einsiedler anheuern, so tat es auch eine lebensgroße Einsiedlerfigur. Jean Paul beschreibt 1793 die Bayreuther Eremitage: „… neun bemooste Klafter Holz […] Die Klafter umrangen eine Klause, die man – weil am ganzen Hofe keine Seele zu einem lebendigen Einsiedler Ansatz hatte – einem hölzernen anvertraute, der still und mit Verstand darin saß und so viel meditierte und bedachte, als einem solchen Manne möglich ist. Man hatte den Anachoreten aus der Scheerauischen Schulbibliothek mit einigen aszetischen Werken versehen, die für ihn recht passten und ihn zu einer Abtötung des Fleisches ermahnten, die er schon hatte …“

Diese Einsiedelei besuchten die Damen und Herren des Hofes, wenn sie im Park lustwandelten, um sich von einem romantischen heiligen Schauer anrühren zu lassen. In Bayreuth spielte Anfang des 18. Jahrhunderts der Markgraf Georg Wilhelm mit seiner Gemahlin Wilhelmine – der Schwester des aufgeklärten Friedrich des Großen – und seinem Hof zuweilen gar selbst Eremit. Die ganze Gesellschaft hüllte sich in malerische Einsiedlerkutten, logierte in kleinen, aus Tuffstein gebauten Höhlen, die über den Wald verstreut und durch unregelmäßig geschlängelte Pfade mit dem Hauptbau verbunden waren, und ein Glöcklein rief die Herrschaften zum Gebet.

Den Sinn einer solchen Einrichtung gibt C.C.L. Hirschfeld in seinem umfassenden Werk „Theorie der Gartenkunst“ (Leipzig 1780) an: Die beim Anblick solcher Einsiedeleien erwachende Erinnerung habe „eine Kraft zu Rührungen, die ein Herz, das nicht allein für die Welt empfindet, gern bei sich unterhält. Ich weiß nicht, warum wir solche Bilder nicht wieder erneuern sollen, die Veranlassung zu sanften und der menschlichen Würde so angemessenen Empfindungen sind. Es ist schon eine Äußerung von Tugend, wenn uns die Denkmäler der Tugend erwärmen; und man nähert sich schon um einige Schritte der Frömmigkeit, wenn man den Ort ehrwürdig findet, wo ein frommer Mann in Anbetung liegt.“ In der Eremitage im Park zu Hagley fand sich eine Inschrift nach Miltons „Penseroso“, die Hirschfeld so „sehr passend“ fand, dass er sie abdruckte: „Möchte ich doch in meinem entkräfteten Alter eine ruhige Einsiedelei, ein schlechtes Kleid und eine bemooste Zelle finden, wo ich sitzen und über jeden Stern des Firmaments, über jedes vom Tau befeuchtete Gras nachdenken kann, bis ich eine vieljährige Erfahrung und dadurch gleichsam einen prophetischen Geist erreiche. Dies Vergnügen gewähre mir, Melancholie, so will ich gerne mit dir meine Tage beschließen.“1

Das hier beschriebene romantisch-sentimentale Verständnis, von Carl Spitzweg, Ludwig Richter, Moritz von Schwind und vielen anderen anmutig ins Bild gebracht und von Wilhelm Busch karikiert, hat bis in unsere Tage die landläufige Vorstellung vom Mönchs- und Eremitenleben beeinflusst, und noch heute gehört das Rückenfoto des Mönchs mit großer Kapuze, der melancholisch in eine weite Landschaft oder über einen stillen See blickt oder in einem alten Buch liest, zum festen Bestand der Broschüren und Bildbände, in denen wir unsere Lebensweise der Öffentlichkeit darstellen. Es fehlt dann nicht an Menschen, die uns ihren Dank und ihre Wertschätzung aussprechen, dass es uns Mönche „noch“ (!) gibt, und die uns sagen, sie beneideten uns aufrichtig um unsere Möglichkeiten zu einem intensiveren, erfüllteren, stilleren Leben, nach dem auch sie sich sehnen. So nähren wir immer wieder selbst ein „ziereremitisches“ Missverständnis des Mönchslebens: Wir verkörpern und bestätigen bestimmte Sehnsüchte, Wünsche, Träume und Illusionen, die in vielen Menschen stecken – Sehnsüchte und Träume, die diese Menschen freilich niemals allen Ernstes zur bestimmenden Form ihres eigenen Lebens machen würden, weil nämlich, wie sie doch richtig spüren, diese Lebensform so gar nicht lebbar ist, sondern am ehesten von ausgestopften oder gemalten Eremiten verwirklicht werden kann.

Ein Ideal fern der praktischen Alltagserfahrung

In den Augen ernsthafter, nüchterner Menschen und Christen stellt ein solches Mönchsleben ein Kuriosum ohne echte Glaubwürdigkeit und Aussagekraft dar. Es ist sicher kein Zufall, dass im Fernsehen vor einigen Jahren der Film über ein italienisches Kartäuserkloster in der Sendereihe „Reservate“ gezeigt worden ist.

Wäre das nur die Folge einer Fehlinterpretation durch Außenstehende, ein Verkannt- und Missverstandenwerden durch schlecht Informierte, dann könnte man das als unvermeidlich betrachten. Schwerer wiegt, dass wir selbst immer wieder solche Vorstellungen unterstützen, weil wir auch selbst mit ihnen zu kämpfen haben und oft viel Energie dafür verbrauchen, den weiten Abstand zwischen einem illusionären Ideal und unserer Wirklichkeit, wie wir sie tagtäglich erfahren, auszuhalten. In wie viele Konflikte, in welche Berufskrisen hat es schon geführt, und wie viele Berufungen sind schon in der Enttäuschung gescheitert, weil Mönche und Nonnen nach ihrer Noviziatszeit feststellen mussten, dass aus ihnen recht schnell alles andere als stille, beschauliche und in heiliger Muße lebende Menschen wurden und dass ihre Gemeinschaft durchaus kein immer harmonisches, friedvolles Miteinander war. Das aber sollten sie doch sein und darstellen. So beschreiben es zahllose Texte aus der Tradition, und so erwartet man es auch heute in der Kirche von ihnen.

Papst Paul VI. zum Beispiel hat in seiner Predigt am 24. Oktober 1964 auf Monte Cassino gesagt: „Ja, die Kirche und die Welt haben es nötig, dass der heilige Benedikt in der Gemeinschaft der Kirche und der Gesellschaft neu auftritt, sich umgibt mit seinem Gehege von Einsamkeit und Schweigen und von dort her den bezaubernden Klang seines friedvollen und tiefen Gebets verlauten lasse; dass er uns von dort her sozusagen betöre und uns in seine klösterlichen Heiligtümer rufe, um uns das Muster einer Werkstätte des ‚Göttlichen Dienstes‘ vor Augen zu führen, eine kleine ideale Gesellschaft, wo endlich die Liebe herrscht, der Gehorsam, die Unschuld, die Freiheit von allen Dingen und die Kunst, sie gut zu gebrauchen, der Vorrang des Geistes, der Friede – mit einem Wort: das Evangelium.“

Jeder „Insider“ wird auf eine solche Beschreibung je nach Temperament mit Wehmut, Resignation, Sarkasmus oder Gleichgültigkeit reagieren, weil das Bild und das Ideal freilich irgendwie „stimmen“, aber zugleich auch nicht stimmen und ein bisschen weit weg von der praktischen Alltagserfahrung des Klosterlebens sind. Natürlich ist unser Ideal und unser Ziel die volle Verwirklichung des Evangeliums, mit allen Früchten der Liebe, des Friedens und der Freude, die ihr verheißen ist. Das ist nicht das Problem. Das Problem besteht darin, dass wir uns unter dem Druck fühlen – oder uns selbst unter diesen Druck setzen –, dieses Ideal als schon hier und heute erreicht erfahren und darstellen zu müssen und deshalb uns selbst und andern immer wieder etwas vorzumachen. Das lähmt uns eher, als dass es uns Mut und Schwung verleiht.

Anders gesagt: Uns fehlt ein realistisches Konzept vom Mönch, wie er hier und heute tatsächlich leben kann, ein Modell, mit dem wir uns wirklich identifizieren können. Und weil dieses Konzept fehlt, kommt es zu den typischen Reaktionen, die ein unrealistisches Ideal hervorruft. Da gibt es einerseits die „Unverbesserlichen“, die diesem Ideal treu bleiben und es von Weitem mit Schuldgefühlen, mit Enttäuschung oder mit Unzufriedenheit über ihre tatsächliche Situation traurig grüßen. Da gibt es auf der andern Seite die Pragmatiker – die gewöhnlich in der Mehrzahl sind –, die die Fragen nach Ideal und Lebenskonzept als Kindereien für Novizenmeister und Novizen und Leute, die nicht genug zu tun haben, hinter sich gelassen und sich einer vernünftigen, befriedigenden praktischen Aufgabe im Kloster oder außer Haus verschrieben haben. Und da pendelt sich aus beidem ein Unternehmen ein, in dem man irgendwie halbherzig und gespalten ein beträchtliches Quantum an Gebet und ein noch gehörigeres Quantum an Arbeit verrichtet und die Auskunft gibt, Sinn und Berechtigung dieser Lebensart seien nur im Glauben zu begreifen. Damit scheinen dann alle weiteren Fragen und Einwände schachmatt gesetzt zu sein. Mönche widmen täglich eine beträchtliche Zeit dem Gebet, wie jedermann leicht sehen kann. Entweder man glaubt an Sinn und Fruchtbarkeit des (stellvertretenden) Gebets, und damit ist das Mönchsleben gerechtfertigt – oder man glaubt nicht daran, und dann hat man eben kein Verständnis für das Mönchsleben, oder höchstens für dessen „nützliche“ Nebenleistungen.

Gebet und Leben ohne echten Bezug zur Wirklichkeit

Sehr fragwürdig an dieser Argumentation ist, dass dabei unkritisch ein fast handwerklicher Begriff von Gebet vorausgesetzt und das Beten als einer unter vielen Arbeitsbereichen innerhalb der Kirche eingeordnet wird: Die einen pflegen Kranke, andere treiben Mission, andere erledigen die Verwaltungsarbeit in den Ordinariaten und Pfarrämtern, und die Mönche verrichten eben das Gebet und loben Gott; das (liturgische) Gebet ist sozusagen ihr spezifisches Handwerk. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil kam das besonders deutlich dadurch zum Ausdruck, dass ihnen von der Kirche ein sehr altehrwürdiges, bis in alle Einzelheiten genau festgelegtes, unwandelbares lateinisches „Offizium“ in die Hand gedrückt wurde, das sie in ihrem Auftrag tagtäglich vollziehen, rezitieren, persolvieren sollten. Schon im Vokabular verrät sich das sehr materiell gewordene Verständnis. Natürlich ist das Chor- und Breviergebet nie – oder doch selten – völlig äußerlich-technisch verstanden worden, sondern immer wurden die Mönche angehalten, sich das, was sie da sangen und beteten, subjektiv anzueignen und innerlich mitzuvollziehen. Aber trotzdem bestand die Tendenz, das Gebet in diesem recht objektiven Sinn zu verstehen und es praktisch abzuspalten von den wesentlichen Fragen um Lebensstil, Askese und persönliche Erfahrung des Einzelnen, die in Wirklichkeit von zentraler Bedeutung für das Gebet selbst sind; denn wirkliches Gebet bedeutet eine Hinwendung des Menschen mit seiner ganzen Existenz zu Gott: Zeige mir, wie du lebst, und ich sage dir, wie du betest.

So kam es, dass die Mönche hauptsächlich mit Gebet in diesem veräußerlichten Sinn und mit Arbeit beschäftigt sind, während die Grundfragen mönchischer Existenz, zum Beispiel das Problem der Einsamkeit, der Langeweile, des Überdrusses, der Konfrontation mit Leid und Tod, der Auseinandersetzung mit unserer heutigen Zivilisation, des Sinns des menschlichen Daseins, der Möglichkeiten und Spannungen menschlichen Miteinanders auf überzeugende Weise fast nur noch von Schriftstellern verhandelt werden, die den Kontakt zur Erfahrung der christlichen Mönche längst verloren haben. Ein Peter Handke mit seinen säkularisiert-mönchischen Erfahrungen und Fragestellungen wird schwerlich unter christlichen Mönchen einen adäquaten Gesprächspartner finden. Und auf Themen der Mystik, Spiritualität und Meditation haben sich gottlob einige Jesuiten spezialisiert, derweil die Mönche für solche Dinge wenig Zeit und Verständnis zu haben scheinen, weil sie voll damit ausgelastet sind, ihre klösterlichen Betriebe und Einrichtungen in Schwung zu halten.

Schon vor dreißig Jahren, am 20. Dezember 1949, hat Thomas Merton in seinem Tagebuch vermerkt: „Rilkes Notizbücher sind so voller Kraft, dass ich mich fragen muss, warum niemand in einem Kloster so schreibt. Nicht etwa, dass in Klöstern nicht schon bessere Bücher geschrieben worden wären, Bücher voll tieferer Heiterkeit. Aber Mönche scheinen nicht fähig, so gut zu schreiben – es ist, als verschleierte unsere berufsmäßige Geistigkeit zuweilen den Kontakt mit der nackten Wirklichkeit in uns. Es ist eine allgemeine Schwäche von Mönchen, sich in einer beruflichen Kollektivpersönlichkeit zu verlieren, sich in eine Form pressen zu lassen. Dennoch scheint diese Form nicht mit dem aufzuräumen, was unnötig oder sogar unerfreulich an einer Persönlichkeit ist. Wir halten an unseren Absonderlichkeiten und unserem Egoismus fest, aber in einer Weise, die nicht mehr interessant ist, denn sie ist schließlich doch nur mechanisch und gewöhnlich.“2

Zum Ursprung vorbohren

Mit dem bisher Gesagten und den noch folgenden Gedanken möchte ich niemandem die Freude am gregorianischen Choral, an der traditionellen Liturgie und an einer Reihe alter Bräuche und Formen nehmen – zumal ich selbst Freude daran habe und es für töricht halte, all das abzuwerfen, ohne wirklich Besseres und Gehaltvolleres an seine Stelle setzen zu können. Ich möchte auch niemandem durch eine allzu scharfe und zugespitzte Begriffsbestimmung den Titel „Mönch“ absprechen, der seine besten Kräfte in Seelsorge, Schule und Werken der Liebe einsetzt, statt sich nur innerhalb der Klostermauern aufzuhalten und irgendetwas Belangloses zu tun und zu meinen, schon allein dadurch sei er ein Kontemplativer. Und ich möchte auch niemandem den Mut nehmen, der sich sein Leben lang innerhalb der Klostermauern aufhält und nichts Vorzeigbares tut, weil er seltsamerweise ausgerechnet dazu berufen zu sein scheint. Ich möchte vielmehr im Folgenden versuchen, zu jener flüssigen Lava unserer mönchischen – nein: christlichen, menschlichen – Berufung vorzubohren, aus der unsere Lebensform einmal geronnen ist und von der her sie immer wieder ihre Inspiration und Kraft erhalten muss; von der aus alles immer wieder verflüssigt und relativiert wird, sodass es vielleicht tatsächlich gar nicht so wichtig ist, was man im Einzelnen tut; die einen lebendigen, wesentlichen Kontakt zu Jesus Christus und seinem Schicksal herstellt; und aus der eine wirkliche, ernsthafte Verständigung mit allen Menschen möglich ist, die geistig wach und die von der heutigen Unruhe des Suchens gepackt sind, ganz gleich, welcher Weltanschauung oder Konfession sie angehören.

Von diesem glühenden, flüssigen Ursprung her erwarte ich mir eine neue Vitalität; auch gewisse praktische Konsequenzen für unser konkretes Leben. Ob ich dieses etwas groß gefasste Programm erfüllen kann, weiß ich nicht; jedenfalls will ich ein wenig schildern, worauf ich bei meinem Bohren gestoßen bin und woraus ich bis zur Stunde leben und Kraft schöpfen kann. Wenn es mir gelingen würde, einigen anderen Menschen damit zu helfen, ein klein wenig klarer zu sehen und mit neuer Kraft ihr Leben und ihre merkwürdige, faszinierende Berufung zu bejahen, würde mir das schon genügen.

Der Prophet im „Loch“ zwischen Gegenwart und Zukunft