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JET 2 - VERRATEN

Russell Blake



übersetzt von Christian Siege



Copyright © 2012 by Russell Blake

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Kapitel 6

Ein dämonenartiges Wehklagen hallte von den Wänden der Irrenanstalt wieder und schreckte die Wachen auf. Das Kreischen war markerschütternd, das schiere Grauen. Es endete mit einem schmerzverzerrten Jaulen, dann war es still.
     »Los. Bewegt euch. Vergesst nicht, womit wir es zu tun haben. Sie ist extrem gefährlich«, erinnerte Fred seine Männer.
     Alle drei schnappten sich einen Taser. Nach Möglichkeit sollten sie keine tödlichen Waffen einsetzen. Die Befehle waren eindeutig.
     »Was wohl passiert ist?«, fragte Jim.
     Fred rieb sich die Nase und schnüffelte. »Es könnten Ratten sein. Ich hielt es zu keinem Zeitpunkt für eine gute Idee, sie unbewacht hier unten zu lassen. Einige von ihnen sind so groß wie ein Kleinwagen. Wenn sich eine Horde von denen auf sie stürzt … dann gute Nacht.«
     »Oder es ist nur ein Trick.«
     »Sie ist ans Bett gefesselt. Du hast mir dabei geholfen. Niemand könnte sich aus diesen Fesseln befreien. Besonders nicht nach einer ordentlichen Dosis Betäubungsmittel, das man auch für Nashörner einsetzt.«
     Fred richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf die rostige Stahltür. Abgesehen vom Atmen der Männer war alles ruhig. Was immer für den Tumult gesorgt hatte, war vorüber. Die einsame Neonröhre im Gang flackerte und reichte nur aus, den fensterlosen Gebäudeteil schwach zu beleuchten. Die anderen vier Lampen waren schon vor langer Zeit ausgefallen, was dem Flur den Eindruck eines alten Verlieses verlieh.
     »Jim, du schiebst den Riegel zur Seite. Carl, du gehst als Erster hinein. Ich folge nach dir«, flüsterte er.
     Die beiden Handlanger nickten und gingen angespannt in Position.
     Der Riegel machte ein dumpfes Geräusch beim Öffnen, dann stieß Jim die Tür weit auf. Der Rand der Tür kratzte über die zerbrochenen Fliesen auf dem ungleichmäßigen Boden und donnerte dann gegen die Wand in der Zelle.
     Der Raum war dunkel. Sie konnten nur den reichlich undeutlichen Umriss des alten Bettes ausmachen. Karl, der ganz vorne stand, streckte seinen Arm zur Seite und tastete nach dem Schalter der Lampe auf dem Stativ. Er wurde fündig, tastete sich nach oben bis zum Schalter und drückte darauf, aber nichts geschah.
     Genervt richtete er seine Taschenlampe auf das Bett. Der Strahl wanderte über die leere Liegefläche, auf einmal fuhr ein gelber Blitz durch sein Blickfeld und etwas Hartes, Rechteckiges aus Metall donnerte mit der Wucht eines Vorschlaghammers gegen Carls Schädel. Warmes Blut strömte aus einer Wunde auf seiner Stirn und er schrie auf, als er die Lampe fallen ließ. Der Raum tauchte in Schwärze und Carl sank mit einem Stöhnen bewusstlos zu Boden.
     Auch Fred wurde von einem kurzen Metallstück am Kopf getroffen. Er fiel um wie ein nasser Sack und landete mit Wucht auf Carls reglosen Beinen. Jim stand wie angewurzelt draußen vor der Tür und starrte stumm in das schwarze Dunkel des Raums. Sein Verstand bemühte sich, das Geschehen zu erfassen. Jet packte eine Rohrleitung an der Decke mit beiden Händen wie eine Turnerin und schwang sich mit beiden Beinen voraus gegen Jims Brust, der von der vollen Kraft der Bewegung getroffen wurde. Sein Taser fiel nutzlos zu Boden, als er mit gebrochenen Rippen auf dem kalten Zementboden in sich zusammenfiel. Jet sah ihn an, wie er nach Luft schnappte, dann griff sie nach der Pistole in seinem Schulterholster. Sie hielt kurz inne, um den Colt 1911, Kaliber .45, Halbautomatik, zu inspizieren, dann steckte sie die Waffe in den Bund ihrer Jeans.
     Zwischen dem Öffnen der Tür und dem Ausschalten des letzten der drei Agenten waren fünfzehn Sekunden vergangen. Sie schüttelte den Kopf. Wenn das hier Aufschluss über die Kompetenz in Arthurs Reihen geben sollte, wunderte sie es nicht, dass er dringend Hilfe benötigte.
     Die Schnalle des Riemens hatte sich als effektive Waffe erwiesen, wie der erste Unglückliche herausfinden musste. Die restlichen Fesseln eigneten sich hervorragend für eine Halterung zwischen den Rohren, die offen an der Decke entlangliefen, da die Gipskartonabdeckungen schon vor langer Zeit verrottet waren.
     Der Mann, den sie mit einem Bodyslam niedergestreckt hat, sah nicht gut aus – er japste immer noch nach Luft und zuckte wie ein Fisch an Deck eines Bootes. Seiner Unfähigkeit zu atmen nach zu urteilen hatte sich möglicherweise eine Rippe in seine Lunge gebohrt, aber das war nicht ihr Problem – sie alle konnten sich glücklich schätzen, überhaupt noch zu leben. Sie packte ihn an den Haaren und deponierte ihn mit seinen bewusstlosen Kollegen in der Zelle, dann betrachtete sie die Versager kurz, zog die Tür zu, schob den Riegel vor und wandte sich mit wachsamem Blick in den Flur. Ein paar noch feuchte Fußspuren im angesammelten Staub verrieten ihr, aus welcher Richtung die Männer gekommen waren.
     Sie hielt die Pistole des Agenten in der Hand und schlich vorsichtig den Gang entlang, vorbei an dreißig Türen, die mit der ihrer Zelle identisch waren, auf eine Treppe am anderen Ende zu. Von oben fiel etwas Licht herein und Jet sah, wie sich öliger Schlick zäh seinen Weg das Treppenhaus hinunter bahnte, das nach Fäulnis und Unrat stank. Wo immer sie sich befand, dieser Ort war schon seit langer Zeit unbewohnt.
     Sie ging die Treppe hoch und blieb oben stehen, bis sich ihre Augen an die unerwartete Dunkelheit des Erdgeschosses gewöhnten. Die Fenster waren alle vernagelt und das einzige Licht stammte von einer nackten Glühbirne, die von einem Arbeitsgerüst hing; Staubpartikel tanzten in der Luft um die Sechzigwattbirne.
     Jet schlich zu der Doppeltür und lugte durch einen Spalt zwischen den gammeligen Sperrholzbrettern. Eine großzügige Einfahrt erstreckte sich vor ihr und war lediglich von einer schwarz-weiß gefleckten Katze bevölkert, die sich bei einem trockenen Springbrunnen in der Mitte des Empfangsplatzes herumtrieb. Einige Außenlampen tauchten die unmittelbare Umgebung in ein unangenehm weißes Licht, glücklicherweise aber wurde es weiter entfernt vom Gebäude dunkler – wenn es Jet gelang, unbemerkt zu den Schatten zu gelangen, hätte sie eine Chance auf Flucht. Sie sah auf die Uhr; es war Sieben. Sie hatte fast einen ganzen Tag verloren.
     Die Zeit war aber egal, sie musste jetzt in Bewegung bleiben, bevor irgendeine Verstärkung auftauchte, die wegen der ausbleibenden Zwischenmeldungen der Männer, die unten in ihrer Gruft weggesperrt lagen, alarmiert wurde.
     Sie nahm die Pistole wieder in Anschlag und stieß eine der riesengroßen Türen ungefähr dreißig Zentimeter weit auf, dann schlüpfte sie durch den Spalt hinaus in die kühle Abendluft. Sie konnte niemanden sehen, wenn also hier draußen Wachposten waren, dann waren sie recht nachlässig. Außer, das Gelände war mit Bewegungsmeldern oder Infrarotsensoren gesichert – wie sie sicher bald herausfinden würde.
     Jet hielt sich nah bei den wild wuchernden Hecken entlang der Auffahrt. Geduckt schritt sie auf das massive Eisentor zu, das den Komplex von der Straße dahinter trennte. Eine rostige Kette hielt das Tor geschlossen, aber es gelang Jet, sich durch die Lücke zwischen den beiden Torflügeln hindurchzuquetschen. Sie drehte sich um und betrachtete eingehend die nachgemachte französische Fassade des Gebäudes, dem sie gerade entkommen war. Es sah verlassen aus, abgesehen von dem neuen Zaun vor der steinernen Ringmauer, die das Grundstück umgab.
     »Hey. Was machen Sie da? Gehen Sie sofort weg. Das ist Privatgrund«, brüllte ruppig ein Mann in der Nähe des Eingangs zum linken Flügel. Jet konnte sehen, dass der Wächter eine Uniform anhatte und eine Schrotflinte trug. Sie steckte die Pistole zurück in die Jeans und zog ihren leichten Pullover darüber. Er war weit genug entfernt, um im abendlichen Zwielicht keine Details zu erkennen.
     »Sorry. Ich habe nur geschaut«, rief sie winkend, dann ging sie ein Stück vom Eingangstor weg, drehte sich nach einem Meter weg und rannte die dunkle Straße in entgegengesetzter Richtung davon.
     Der Wächter merkte wohl, dass etwas faul daran sein musste, dass sich hier mitten im Nirgendwo eine Frau ohne Auto aufhielt, und schrie ihr noch mal hinterher.    »Hey! Warten Sie mal. Kommen Sie zurück.«
     Sie ignorierte ihn und lief noch schneller. Diese sportliche Betätigung war ihr ganz willkommen, nachdem sie sich über viele Stunden nicht hatte bewegen können.
     »Ich sagte, kommen Sie zurück.«
     Seine Stimme verlor sich in der Ferne, während Jet weiterlief.
     Abhängig davon, wie schlau er war, konnte sie davon ausgehen, dass er eine verdächtige Person früher oder später meldete, wem auch immer er zur Meldung verpflichtet war. Eine Fahndung wäre dann die Folge, außer die CIA wollte die Entführung Unschuldiger auf amerikanischem Boden für sich behalten. Jet hoffte, dass dies der Fall war, wollte aber lieber nicht darauf wetten.
     Sie musste von der Straße runter. Bald.
     Als sie außer Sichtweite des Wachmanns war, lief sie auf dem Rasenstreifen am Straßenrand mit unvermindertem Tempo weiter, während das letzte graue Tageslicht vom Dunkel der heraufziehenden Nacht geschluckt wurde. Beim ersten Anzeichen von Scheinwerferlicht wäre sie flugs zwischen den Bäumen verschwunden, die auf beiden Straßenseiten dicht beieinander wuchsen. Wenn die Verfolger keine Infrarotbrillen hatten, würde Jet wahrscheinlich so lange unentdeckt bleiben können, bis sie ihre nächsten Schritte abwägen könnte.
     Oberste Priorität war, Arthur zu finden. Dann würde sie auch Hannah finden.
     Dieser Mann hatte ihr gleich zweimal ihre Tochter weggenommen. Zuerst im Auftrag von Hannahs Vater David und nun für seine eigenen egoistischen Zwecke.
     Er würde schon bald herausfinden, dass er nicht zu Unrecht Angst vor ihr gehabt hatte, als er bei ihr in der Zelle war, um sie mit seinem Problem zu behelligen. Sie wie ein tödliches Raubtier zu fesseln, war ein weiser Entschluss gewesen.
     Sie würde ihn am Ende aber doch zu fassen kriegen. Dann würde sie ihm etwas antun, wogegen ihm die schrecklichen Umstände, denen er sein verbranntes Gesicht zu verdanken hatte, wie ein Hawaii-Urlaub vorkommen würden.

Kapitel 7

Jets Schritte prallten vom festen Erdboden des Straßenrands. Seit sie ihrem Gefängnis entkommen war, hatte sie kein einziges Fahrzeug gesehen, aber sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihre Verfolger eine Suche auf die Beine stellten. Zwanzig Minuten nach der Flucht erreichte sie eine Lichtung mit ein paar ländlichen Gebäuden – einem kleinen Supermarkt, einer Tankstelle und einem Speiselokal mit angrenzender Bar, deren erschöpfte Neonreklametafel unregelmäßig flackerte.
     Ein Dutzend Fahrzeuge standen auf dem verwahrlosten Parkplatz, fast alles Pick-ups. Der Ort sah aus wie ein Wasserloch für die Arbeiterklasse, wo sich die Gäste nach einem langen Tag auf der Baustelle ein paar hinter die Binde kippten, um die unabwendbare Härte des Lebens erträglicher zu machen.
     Für Jets Zwecke perfekt geeignet.
     Sie wurde langsamer und stellte sicher, dass die Pistole auch wirklich vollständig von ihrem Oberteil bedeckt war. Zufrieden mit dem Ergebnis stieß sie die Tür zur Bar auf und überblickte kurz die Gäste. Die meisten waren Männer, größtenteils Mitte dreißig bis Ende vierzig und fast alle trugen eine Baseballkappe mit irgendeinem Logo eines Herstellers von Baufahrzeugen. Jet ging lässig zu dem langen, hölzernen Tresen, wobei sie von fast allen im Raum angeglotzt wurde, dann nahm sie sich einen Barhocker und setzte sich. Ein kahlköpfiger Mann mit rotem Gesicht und locker fünfzig Kilo Übergewicht kam aus einer Ecke gewatschelt, in der er Gläser gespült hatte, während er auf einem Fernseher aus den Siebzigern, der wohl die Hauptattraktion war, eine Castingshow verfolgte.
     »Was darf es denn sein, Schätzchen?«
     »Im Moment noch nichts, danke. Ich … ich warte noch auf jemanden.«
     Er musterte sie.
     »Jemanden wie Sie würde ich nicht zu lange warten lassen«, sagte er, dann ging er zurück an seinen Platz beim Fernseher.
     Jet erhaschte einen Blick auf sich selbst im Spiegel, der hinter halb leeren Schnapsflaschen verborgen war, die aussahen wie eine Truppe, die sich zur Inspektion aufgestellt hatte. Sie wischte sich einen Schmutzfleck von der Wange. Sie sah nicht schlecht aus, wenn man berücksichtigte, dass sie entführt und eingesperrt worden war, drei bewaffnete Wachen ausgeschaltet hatte und locker mindestens fünf Kilometer gelaufen war.
     Sie bemerkte, wie sich jemand neben ihr positionierte. Jet wandte sich dem Mann zu. Er war recht ansehnlich, hatte einen Dreitagebart, ein Profil, das wohl dazu neigte, Fett anzusetzen, aber auch funkelnd blaue Augen, die ihm einen verschmitzten Gesichtsausdruck verliehen.
     »Hallo.«
     Jet ignorierte ihn für ein paar wohlberechnete Sekunden, dann lächelte sie. »Hallo auch.«
     »Was wollen Sie trinken?«
     »Nichts im Moment. Ich warte noch auf jemanden. Wir wollten uns eigentlich treffen, aber ich war spät dran, und er ist nicht … ich warte eben einfach auf jemanden«, wiederholte sie.
     »Barkeeper! Einen Drink auf mich!«, rief er dem trägen Barmann zu, der nur widerwillig seine Augen vom Fernsehschirm löste und mürrisch zu ihnen hinübersah. »Was möchten Sie gerne?«
     »Das ist wirklich sehr nett, aber es ist nicht nötig …«
     »Aber sicher ist es nötig. Also, was darf es sein?«
     Sie zögerte. »Ein leichtes Bier?«
     »Ein Leichtes und noch einen Seven and Seven«, rief er und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Jets Gesicht. »Wie heißen Sie?«
     »Alison.«
     »Alison«, sprach er langsam aus. Er kaute auf dem Namen, als degustiere er einen guten Wein. »Alison. Ein schöner Name. Für eine schöne Frau – die zu meinem Glück allein in meiner Lieblingsbar draußen im Nirgendwo auftaucht.
     »Vielleicht nicht allzu lange. Sie wissen ja, ich warte …«
     »Das klingt, als hätte ich nicht viel Zeit.«
     Sie lächelte erneut, um ihn zu ermutigen. »Dann beeilen Sie sich besser.«
     »Der Barkeeper kennt nur eine Geschwindigkeit.«
     »Er ist nicht unbedingt ein Rennwagen, was?«
     »Eher ein Schwerlaster.«
     »Ein Bus.«
     »Oder ein Traktor.«
     Sie lachten beide unbeschwert, als der Barkeeper mit der Bestellung kam.
     »Wie heißen Sie denn?«
     »Jim. Jim Bassenger.«
     Sie streckte ihm die Hand entgegen und er schüttelte sie. Ihr fiel auf, dass er riesige Hände hatte, aber mit relativ gepflegten Fingernägeln; er war kein Arbeiter.
     »Also, Alison, die darauf wartet, dass ihr Glück durch diese Tür kommt, was bringt Sie in diesen Teil von Virginia?«
     Virginia? Jet ging im Kopf einen Atlas durch. Virginia war irgendwo an der Ostküste. Zuletzt war sie in Nebraska gewesen. Das war ein ziemliches Stück weit weg. Dann fiel es ihr wieder ein. Langley, das CIA-Hauptquartier, befand sich in Virginia. Natürlich wurde sie dann hierher gebracht. Wohin sonst?
     »Ich bin auf dem Weg nach New York. Ich habe dort Freunde, die mich eingeladen haben, ein paar Wochen bei ihnen zu verbringen, um zu sehen, wie es mir gefällt.« Sie zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Bier. »Sie wissen schon. Ein kleines Abenteuer im Leben, in der großen Stadt.«
     »New York, ja? Ein Abenteuer, das stimmt schon, aber dort ist es auch verdammt gefährlich. Und extrem teuer.«
     »Das habe ich auch gehört. Aber manchmal muss ein Mädchen auch etwas riskieren, oder?«, sagte sie und sah dann auf ihre Uhr.
     »Auf wen warten Sie? Ihren Freund? Ein Date?«
     »Nein. Ein Kumpel einer meiner Freundinnen, der irgendwo hier in der Gegend wohnt. Sie hatte mir gesagt, ich könne ihn besuchen …«
     »Nun, falls er nicht auftaucht, werde wohl ich einspringen müssen«, verkündete Jim.
     Sie sah ihn lange mit musterndem Blick an, dann lächelte sie und erhob ihr Bier.
     »Auf unerwartete neue Freunde«, sagte sie.
     »Lassen Sie uns darauf trinken.«
     Eine Viertelstunde später verließen sie die Bar Arm in Arm und Jim führte Jet zu seinem schwarzen Dodge Fünfsitzer-Pick-up. Jim war geschieden, siebenunddreißig, Elektriker, der auf Gewerbebauten spezialisiert war, und er besaß ein kleines Haus, das nur ein paar Kilometer entfernt war. Er lud sie ein, auf einen Film oder dergleichen mit zu ihm zu kommen, was Jet folgerichtig als ›zu viel trinken und dann Sex mit ihm haben‹ interpretierte. Nachdem sie ihr Bier ausgetrunken und Jim noch zwei seiner Lieblingsdrinks hinuntergestürzt hatte, waren sie zu einer stillschweigenden Übereinkunft gekommen.
     Der gewaltige Motor brummte los und Jim trat das Gaspedal durch, als sie zur Straße fuhren. Der Wagen schleuderte einen Hagel aus Schotter hinter sich, als sich die Pferdestärken auf die Räder übertrugen. Jet sah aus dem Seitenfenster und lächelte wieder – sie hatte die perfekte Tarnung. Ein Pärchen mit Alkoholfahnen in einem Fahrzeug mit örtlichem Kennzeichen auf dem Weg nach Hause … Jet griff neben Jim auf den Sitz und eine orangefarbene Baseballkappe mit eingesticktem CAT-Logo. Sie setzte sie auf und betrachtete sich im Rückspiegel, während Jim fuhr.
     »Steht dir gut, Baby.«
     Sie strahlte ihn an. Kein Wunder, dass er Single war.
     Er bog von der Hauptstraße ab und Jet konnte einen kleinen Einkaufsmarkt neben ein paar geschlossenen Geschäften erkennen. Die Neonreklame des Markts blinkte rot und blau, um schnellen Service zu kleinem Preis zu verheißen.
     »Halt mal an, Jim. Ich brauche ein paar Sachen«, sagte sie und zeigte auf den Markt.
     Er gehorchte und lenkte den Wagen in eine Parkbucht.
     »Ich bin in einer Minute zurück. Ob sie wohl ein Münztelefon haben?«
     »Keine Ahnung. Vielleicht«, vermutete Jim, und ihm war deutlich anzuhören, dass er nicht sonderlich von dieser Unterbrechung seiner kleinen Party begeistert war.
     »Bin gleich wieder da. Fahr nicht ohne mich. Jemand muss mich ja irgendwann zu meinem Auto zurückbringen«, sagte sie und ließ es wie das Versprechen klingen, dass es durchaus später werden könnte.
     Das hob seine Stimmung. »Ich würde die ganze Nacht warten. Aber lass es nicht dazu kommen«, bat er, hocherfreut darüber, dass es nach wie vor wie geplant laufen würde.
     Jet ging in den Laden und überblickte ihn kurz. Neben dem Lagerraum gab es einen Hinterausgang. Sie ging zu dem alten Mann hinter der Kasse und bedachte ihn mit einem höchst gewinnenden Lächeln.
     »Entschuldigen Sie bitte vielmals, aber hätten Sie vielleicht eine Toilette, die ich benutzen dürfte? Es ist wirklich schon sehr dringend …«
     Er musterte sie zynisch von oben bis unten, dann entspannte sich sein Gesicht.
     »Dringend, was? Ich würde ja sagen, Sie gehen zweihundert Meter weiter zur Tankstelle, aber deren Klo ist echt widerlich. Da würde ich nicht mal einen räudigen Hund reinschicken wollen.«
     »Bitte. Es dauert auch nicht lange. Das wäre so nett von Ihnen …«
     Er zeigte mit einem knorrigen Finger auf eine Tür, die in den hinteren Teil des Geschäfts führte. »Zweite Tür links. Ich hoffe, Sie brauchen nicht zu lange«, knurrte er, dann las er weiter seine Zeitung.
     Sie blieb einen Augenblick bei der Toilette stehen, ging dann weiter zum Hinterausgang und öffnete den Riegel so leise wie möglich. Dann schob sie die Tür sachte auf und trat hinaus in die Nacht.
     Ein rascher Blick bestätigte ihr, dass hier eine Siedlung von mehreren Dutzend Häusern stand, sie konnte also darauf vertrauen, ein Fahrzeug zu finden, das sie kurzschließen könnte. Jim hatte seinen Zweck erfüllt – sie befand sich jetzt mindestens zehn Kilometer vom Krankenhaus entfernt. Die Chancen für die Verfolger, eine groß angelegte Suche durchzuführen, verringerten sich mit jeder Minute.
     Eine schmale Straße erstreckte sich in einem Wohnviertel fünfzig Meter hinter der Ladenzeile; Jet spurtete dort hin und versteckte sich dabei hinter den Bäumen. Ihre kurze Romanze mit Jim hatte ein abruptes Ende genommen. Sie fragte sich, wie lange er vor der Tür des Ladens warten würde, dann konzentrierte sie sich auf das Wesentliche. Sie benötigte einen fahrbaren Untersatz, um eine angemessene Distanz zwischen sich und die Idioten vom CIA zu bringen.
     Jet schlich durch die Straße und betrachtete eingehend die Autos, die am Gehsteig geparkt waren, als ihr plötzlich ein Geräusch in die Ohren drang, das für die ländliche Region von Virginia gänzlich untypisch war – das Donnern ferner Rotorblätter. Es war ein Hubschrauber.
     Die Suche hatte begonnen.
     Jet bewegte sich von Schatten zu Schatten und versuchte sich an den Türgriffen der jämmerlich anzusehenden Autos. Bei einem zehn Jahre alten Nissan Maxima blieb sie stehen. Die Tür öffnete sich quietschend. Jet glitt auf den Fahrersitz und dachte daran, die Innenbeleuchtung auszuschalten, um nicht aufzufallen. Sie griff unter das Lenkrad und ertastete das Bündel Drähte, dessen Vorhandensein sie sich sicher war, dann wartete sie.
     Das Donnern der Rotorblätter war jetzt definitiv viel näher.
     Jet setzte ihr Tun fort und hatte innerhalb weniger Sekunden die Drähte entwirrt. Sie zog die beiden hervor, die mit der Zündung verbunden waren. Als sie freilagen, kaute Jet mit den Zähnen die Isolierung ab und verband die Drähte, dass es einen Funken gab. Der Anlasser drehte sich, aber der Motor sprang nicht an. Jet wollte es gerade noch einmal versuchen, als ihr ein Instinkt riet, durch die Windschutzscheibe nach oben zu sehen.
     Ungefähr einhundertzwanzig Meter entfernt konnte sie die blinkenden Lichter eines Helikopters erkennen, der gut zehn Meter über den Baumwipfeln schwebte.
        Wie zur Hölle hat man sie hier gefunden?
        
Da man ihren Standort nun so weit eingegrenzt hatte, brachte ihr das Auto nicht mehr viel. Sie stieß die Tür auf und sprintete über die Straße zum Wald. Dabei war sie froh, dunkle Kleidung zu tragen, die nachts nicht auffiel.
     Als sie rannte, hörte sie Autos auf der Straße näherkommen, von der sie gerade weggelaufen war.
     Das war unmöglich.
     Sie zwang sich, schneller zu laufen und preschte durch das Gestrüpp. Äste zersplitterten unter ihren Füßen, während sie größeren Abstand zwischen sich und ihre Verfolger brachte. Im Wald konnten sie Jet unmöglich einholen. Es war zu dunkel und erforderte zu viele Einsatzkräfte.
     Vor ihr zeichneten sich ein paar Gebäude durch die Bäume ab. Häuser. Ein weiteres Viertel.
     Sie änderte ihren Kurs und rannte auf das nächstbeste Wohnhaus zu, und gerade, als sie um einen großen Baum herum lief, bog ein Auto in die Sackgasse und parkte keine zehn Meter von ihr entfernt am Straßenrand.
     Arthur öffnete die Tür des schwarzen Lincoln und stieg aus. Er sah direkt zu Jets Standort hinter dem Baum.
     »Es ist vorbei. Verschwenden Sie nicht weiter meine Zeit. Wenn Sie Ihre Tochter je wieder sehen wollen, gehen Sie von dem Baum weg, legen Sie die Waffe nieder und kommen Sie langsam auf das Auto zu«, sagte er angestrengt, damit seine unverkennbare, unangenehme Stimme auch gehört wurde.
     Jet ging ihre dürftigen Optionen durch und folgte dann den Anweisungen, legte die Waffe auf den Boden und ging dorthin, wo Arthur stand.
     Ein Chevrolet Suburban kam schaukelnd hinter dem Lincoln zum Stehen und zwei muskelbepackte Kerle in Anzügen stiegen durch die hinteren Türen aus.
     Jet hob die Hände über den Kopf und stand still, als sie auf sie zugingen.
     Arthur sah zu, wie sie ihr die Arme auf den Rücken zwangen, ihr Handschellen anlegten und sie dann zum SUV brachten. Sie bedachte ihn mit einem finsteren, hasserfüllten Blick.
     »Meine Liebe, sparen Sie Ihre Energie. Sie haben mir heute Abend jede Menge Ärger eingebracht. Das war Ihr einziger Versuch. Wenn Sie jemals Ihre Tochter wiedersehen wollen, dann tun Sie, was Ihnen gesagt wird und hören Sie mit diesem Scheiß auf. Ich bin nicht der Feind oder zumindest nicht    IhrFeind. Steigen Sie jetzt in den Wagen, versuchen Sie keine Tricks und hören Sie auf, Widerstand zu leisten. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
     »Wie haben Sie mich gefunden?«
     »In der Waffe ist ein Chip. Neue Technologie. Sie hatten zu keinem Zeitpunkt eine Chance.«
     Sie nickte und ließ sich widerstandslos auf den Rücksitz des Suburban bringen.
     »Wenn ich mitmache – woher weiß ich dann, dass Sie Ihr Wort halten, was Hannah angeht?«
     »Weil ich keinen Grund habe, das nicht zu tun. Und weil ich mir ziemlich sicher bin, dass Sie mich sonst töten.«
     Sie betrachtete ihn eingehend.
     »Wenigstens da sind wir einer Meinung.«
     »Ja, das dachte ich mir schon. Sie müssen einsehen, dass Ihre ganze Flucht völlig umsonst war. Alles, was Sie erreicht haben, war, drei meiner Männer zu verletzen und mich gehörig zu verärgern. Sie sind Ihrem Ziel, Ihre Tochter zurückzubekommen, kein Stück nähergekommen. In Wahrheit gibt es nur einen Weg, der Sie dorthin bringt. Diesen Weg habe ich Ihnen gezeigt und Sie wissen, was Sie zu tun haben. Kriegen Sie das endlich in Ihren Schädel, dann kommen wir beide auch einigermaßen gut miteinander aus. Um Ihre Tochter wiederzusehen, müssen Sie mich für meine Hilfe bei Ihrem Sieg über Gridschenko entschädigen. Alles hat seinen Preis. David wusste das. Ich weiß das. Und nun wissen Sie das auch. Bezahlen Sie Ihre Rechnung, danach können Sie in Frieden leben. Verschwenden Sie keine weitere Energie für irgendwelche kindischen Eskapaden. Sie werden damit nichts erreichen«, ließ Arthur sie wissen, mit teilweise sehr feuchter Aussprache, da er so viele Worte aneinanderreihte.
     Sie stieg in den SUV und schwieg. Arthur ging ein Stück auf sie zu, worauf die Agenten diskret außer Hörweite wichen. Der Fahrer verstand den Wink und tat es ihnen gleich.
     »Ich fürchte, ich benötige jetzt eine Antwort. Helfen Sie mir, Ihnen zu helfen, oder nicht?«
     »Was, wenn ich ablehne?«
     »Dann wird Ihre Tochter für Sie nur noch eine Erinnerung sein, denn mehr werden Sie nicht bekommen. Sie können dann auch nur hoffen, die nächsten fünfzig Jahre in einem Straflager für Terroristen zu überleben, denn das wird ihr künftiger Aufenthaltsort sein. Sie werden dann nämlich von der CIA als Terroristin eingestuft und daher ohne Verhandlung oder der Möglichkeit zur Verteidigung inhaftiert.«
     »So viel zum Land der Freiheit.«
     »Soweit ich weiß, sind Sie keine US-Staatsbürgerin, also beschweren Sie sich nicht. Sie wurden mit zwei Reisepässen mit unterschiedlichen Namen aufgegriffen. Sie haben sich zu verbrecherischen Zwecken auf amerikanischem Boden aufgehalten. Ihr Wort wird gegen das der CIA stehen und niemand wird Ihnen Ihre Geschichte abnehmen. Sie werden vierundzwanzig Stunden am Tag isoliert verwahrt werden und zu niemandem außer Ihren Wachen Kontakt haben, und die werden nicht mit Ihnen reden. So wird Ihr Leben aussehen. Außer natürlich, ich beschließe, ihnen einfach bei einem Fluchtversuch eine Kugel in den Kopf zu jagen. Die Idee ist mir schon gekommen und ich bin mir sicher, dass ich in unserem Quartier im Irrenhaus drei Freiwillige finde, die das tun möchten. Einer von ihnen könnte vielleicht an seinen Lungenverletzungen und den inneren Blutungen sterben, die Sie ihm zugefügt haben.«
     »Diese Art Job ist nun einmal mit Gefahren verbunden. Sie sollten sie besser ausbilden.«
     »Vielleicht. Ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ihre Antwort – eine Million Dollar und Ihre Tochter, oder Inhaftierung und eventuell Schlimmeres?«
     Jet seufzte. Sie hatte tatsächlich keine Wahl. Vielleicht, wenn Sie entkommen könnte … aber nicht jetzt.
     »Sie haben gewonnen.«
     »Ich verstehe das als ein Ja.«
     »Es ist ein Ja. Aber unter ein paar Bedingungen. Ich möchte nicht zurück in den Rattenkeller. Und ich brauche ein vollständiges Dossier über das Ziel sowie einen ausführlichen Bericht über die zwei fehlgeschlagenen Missionen. Und ich werde die Verantwortung über die Planung übernehmen, ohne Einschränkungen oder Bedingungen. Ich werde die Diamanten zurückbringen und das Ziel ausschalten. Zu allem anderen sage ich Nein.«
     Arthur nickte, nahm ein Stofftaschentuch zum Mund und tupfte die Spucke weg, die sich in den Mundwinkeln sammelte. »Ich hätte nichts anderes erwartet.«
     »Sie werden mich auch mit allem versorgen, was ich für die Erfüllung dieses Auftrags benötige, ohne Fragen zu stellen.«
     »Nein. Ich behalte mir das Recht vor, Fragen zu stellen. Ich werde Ihnen nicht einfach einen Freibrief ausstellen.«
     Sie schloss für einen Moment die Augen. »Gut, aber keine Einmischung. Ich werde mich nicht hinterher für Abläufe kritisieren lassen, die von meinem Primärauftrag abweichen. Ich habe das zu oft erlebt und es kann tödlich enden.«
     »Das ist nachvollziehbar. Schalten Sie das Ziel aus und bringen Sie mir die Diamanten zurück. Keine zusätzliche Agenda. Das wär’s«, ließ Arthur kühl verlauten.
     »Dann haben wir einen Deal. Nach erfolgreichem Abschluss der Mission bekomme ich meine Tochter zurück, erhalte eine Million Dollar und wir sind quitt. Keine Überraschungen, kein Haken. Abgemacht?«
     »Abgemacht.«

Kapitel 8

Der große SUV brachte Jet zu einem Safehouse, einem sicheren Quartier in Manassas, Virginia, wo sie in einer schlichten, aber gemütlichen Zweizimmerwohnung mit prall gefülltem Kühlschrank untergebracht wurde – eine deutliche Verbesserung gegenüber der feuchten Zelle, in der sie aufgewacht war. Ein Arzt vom CIA erwartete sie bei ihrer Ankunft und erklärte ihr, dass man ihr einen Peilsender im Schulterbereich unter die Haut einsetzen müsse. Als Teil ihrer Vereinbarung mit Arthur. Ihr fiel kein einfacher Weg ein, das zu vermeiden, also setzte sie sich in den angebotenen Stuhl und erlaubte dem Arzt teilnahmslos, den Mikrochip einzusetzen.
     Die Prozedur nahm nur wenige Minuten in Anspruch, dann verließ sie der Arzt mit den zwei Agenten, die sie begleitet hatten. Einer von ihnen ließ sie beim Gehen noch wissen, dass sie nur wenige Meter entfernt in einem geparkten Wagen sitzen würden, falls sie etwas brauchte.
     Obwohl sie müde war, entschied sie sich, die Unterlagen durchzugehen, die auf dem Esstisch lagen. Man hatte ihr auch einen Laptop überlassen. Sie nahm an, dass jeder ihrer Schritte überwacht oder nachverfolgt wurde – in einem Safehouse war das die Standardvorgehensweise. Es hatte keinen Wert, die zahlreichen versteckten Kameras aufzuspüren, die mit Sicherheit in jedem Zimmer installiert waren. Sie konnte ja doch nichts unternehmen, sie auszuschalten, ohne dass es unmittelbar in Problemen mündete, also machte sie einfach das Beste daraus, praktisch eine Gefangene zu sein, wenn auch mit sauberem Bettlaken und frisch gepresstem Orangensaft im Kühlschrank.
     Jet nahm sich den ersten Ordner, ließ sich damit in einem dick gepolsterten Wohnzimmersessel nieder und schaltete die Lampe daneben ein. Ein markanter Top-Secret-Stempel prangte vom oberen und unteren Rand der Dokumentenmappe, als sie diese aus dem Ordner nahm.
     Sie öffnete die Mappe und fand fünf Fotos zusammen auf einem Kontaktformular, gefolgt von sechs weiteren Porträtaufnahmen eines männlichen Weißen Anfang vierzig. In einigen war er blond, in einigen brünett, in anderen wiederum schokobraun. Kosmetische Operationen hatten ihm wohl ein neutraleres Aussehen verschafft – Agenten für Außenmissionen bekamen oft ein gewöhnliches Aussehen verpasst, damit sie besser in jegliche Situation eintauchen können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Der Haarschnitt war von Foto zu Foto anders, auf einigen hatte er lange Zotteln und sah aus wie ein Hippie.
     Die meisten Fotos stammten aus Reisepässen oder anderen offiziellen Ausweisdokumenten. Seine Augenfarbe wechselte genauso häufig wie seine Haarfarbe und ging von Blau über Grün zu Braun.
     Sie beurteilte ihn und befand, dass er ein anständig aussehender, völlig gewöhnlicher männlicher Weißer ohne auffällige Merkmale war – ein Chamäleon. Erschaffen als perfekter Spion, der dazu fähig war, eine Woche lang überzeugend einen Geschäftsmann zu mimen, sich in der nächsten Woche als Tourist auszugeben, kurz darauf als Professor aufzutreten oder nach Lust und Laune einen Journalisten, Arzt oder Anwalt zu geben. Sie nahm an, dass der Mossad irgendwo ähnliche Bilder von ihr besaß, auch wenn David geschworen hatte, dass kein Teammitglied in den offiziellen Akten geführt wurde. Aber wie vieles, das er beteuert hatte, ließ auch diese seine Zusicherung Zweifel an seiner Aufrichtigkeit in ihr aufkeimen.
     Der Name der Zielperson war Matthew Hawker. Seine Ex-Kollegen nannten ihn Matt. Die Liste mit seinen Decknamen war zwei Seiten lang.
     Er war vierundvierzig Jahre alt, geboren in Philadelphia und wurde von der Universität weg rekrutiert, nachdem er eine Weile bei den Ultra-Elite-Truppen der Delta Force gedient hatte. Seine Akte aus dieser Zeit bei der US-Armee war geheim, aber es existierte eine kurze Notiz, dass er auf den folgenden Gebieten Experte war: Spezialoperationen, Undercovereinsätze, Sprengstoff, jede Art von Waffe. Darüber hinaus war er Scharfschütze und Taucher. Drei Jahre nach seiner ehrenvollen Entlassung erwarb er einen Flugschein. Er hat an der Hampton-Universität seinen Bachelor in International Business gemacht. Er sprach fließend vietnamesisch, thailändisch und kantonesisch, da er im Ausland bei Eltern aufgewachsen war, die zum Diplomatischen Corps der USA gehörten. Über ihre genauen Aufgaben gab es keine Einzelheiten.
     Hawkers erster Außeneinsatz für die CIA fand in Kambodscha statt, wo er undercover als Kleinexporteur stationiert war und Daten über strategische Ziele in der Region sammelte, sowie ein Netzwerk von Informanten aufbaute. Von dort aus reiste er viel, zunächst nach Vietnam, dann schließlich nach Thailand, wo er der ranghöchste Agent im Land wurde. Die Einsätze, in die er involviert war, unterlagen einer höheren Geheimhaltungsstufe, als die Akte preisgab, aber da sie gleich an der Grenze zu Myanmar stattfanden, konnte Jet eins und eins zusammenzählen. Ein dermaßen hochrangiger Agent mit solchen Fähigkeiten wäre involviert in Informationsbeschaffung, der Finanzierung von Aufständen und Attentaten – in alles, was auch immer nötig war.
     In den letzten vier Jahren hatte man ihm dreimal einen Schreibtischposten in Langley angeboten, aber er hatte stets abgelehnt. Offenbar fühlte sich Hawker bei Außenmissionen wohl. Sie verstand, welche Persönlichkeit er hatte – sobald man in dieser parallelen Realität lebte, welche die Undercovereinsätze prägte, war es schwer, wieder zu einem normalen Leben zurückzufinden. Es machte trotz der damit verbundenen Lebensgefahr süchtig.
     Sie sah sich erneut die Fotos an und bemerkte, dass seine Augen den gleichen leeren und ausdruckslosen Blick hatten, wie ihre Augen auf ihren Fotos. Eine professionelle Fähigkeit, die man früh lernt. Die Augen waren nämlich tatsächlich der Spiegel der Seele und daher war es eine der ersten Lektionen, sie am besten die ganze Zeit innerlich verschlossen zu halten.
     Hawkers persönliche Beziehungen beschränkten sich auf gelegentliche Freundinnen, nichts Ernsteres – Jet kannte das nur zu gut, da sie ja auch dieses Leben geführt hatte. Man vermied, zu tief in eine Beziehung hineinzugeraten und schottete sich daher in vielen Lebensbereichen ab – man wusste ja nie an einem Tag, ob man nicht am nächsten schon wieder versetzt wurde oder fliehen musste. Es war ein schwieriges Leben, das ein Agent führte, wie auf einer einsamen Insel, isoliert von all den normalen Verbindungen, die Menschen normalerweise hatten. Aus diesem Grund war ihre Beziehung mit David verboten gewesen und hätte sofortige Maßnahmen nach sich gezogen, wenn sie jemals entdeckt worden wäre. Man durfte nie jemandem zu nahe stehen. Es war gefährlich, auch für den Partner. Besser, wenn man nur oberflächliche Beziehungen hatte und sich niemals zu nahe kam.
     Hawkers Hintergrund sprach ganz für einen Vorzeigeagenten. Es war nicht im Geringsten abzusehen, dass er die Herren betrügen würde, denen er für nahezu zwei Jahrzehnte gehorsam gedient hatte.
     Sein letzter Auftrag tauchte in der Akte nicht auf. Was verständlich war. Irgendwann verschwammen die Informationen in so einem Dossier immer, sobald ein Agent sich auf heikleres Gebiet begeben musste – wie Arthur schon sagte: Operationen, die diskret behandelt wurden und glaubhaft abgestritten werden konnten.
     Jet vertiefte sich wieder in die Informationen, prägte sie sich gut ein, dann streckte sie sich und gähnte. Es war zwei Uhr morgens. Der Rest würde bis zum nächsten Tag warten müssen.
     Sie schloss die Haustür ab, legte die Kette vor und schaute durch das Fenster. Die zwei Agenten waren in ihrer Regierungslimousine kaum zu sehen. Sie schlurfte ins Schlafzimmer, duschte kurz und putzte ihre Zähne – im Kopf notierte sie, bald Kleider kaufen zu gehen. Die sie jetzt trug, mussten dringend gewechselt werden.
     Das Bett war erfreulich bequem und Jet schlief innerhalb von Minuten ein, nachdem sie sich niedergelegt hatte. Die Kameras und Abhörgeräte zeichneten ihr Drehen und Wälzen viele Stunden später auf, genauso ein paar gedämpfte Schreie, als ihr Schlaf von Visionen geplagt wurde, in denen ihre Tochter von ihr fortgerissen und von einem weißhaarigen Monster voller Narben anschließend gepeinigt wurde.
     Jet wachte um acht Uhr auf und wusste für einen kurzen Augenblick nicht, wo sie war. Dann kam die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Tages zurück und sie zwang sich, aufzustehen und den Tag zu beginnen.
     Sie öffnete eine Schublade und fand eine kurze Sporthose mit Gummibund, die ihr ganz gut passte, sowie ein paar T-Shirts in XL, die ihr nicht passten. Sie zog eines davon an und betrachtete sich eingehend im Spiegel der Kommode – eine Modenschau würde sie damit nicht gewinnen, aber es war besser als nichts.
     Der Orangensaft beim Frühstück war eine willkommene Ergänzung zu den Energieriegeln, die sie im Küchenschrank fand und nachdem sie zwei davon gegessen hatte, bereitete sie sich auf etwas Lauftraining vor, als plötzlich das Telefon an der Wand in der Küche klingelte.
     »Ich nehme an, dass Sie schon auf sind«, sagte Arthur, als sie den Hörer abnahm.
     »Das wissen Sie ganz genau. Die Kameras haben mich verraten.«
     »Ich werde veranlassen, dass man Ihnen etwas zum Anziehen bringt, während Sie unterwegs zu Ihrem, wie ich annehme, morgendlichem Lauftraining sind.«
     »Gut geraten.«
     »Irgendwelche besonderen Wünsche?«
     »Ja. Lassen Sie das mit den Kleidern. Bringen Sie lieber tausend Dollar und einen Autoschlüssel. Ich möchte mir meine eigene Kleidung aussuchen.«
     »Das mit dem Geld geht klar, das mit dem Auto nicht. Sie haben noch keinen Ausweis, geschweige denn einen Führerschein. Ich kann es mir nicht leisten, dass Sie in einen Unfall verwickelt werden und damit Fragen aufwerfen. Ich stelle Ihnen jederzeit einen Fahrer zur Verfügung.«
     Sie sah auf ihre Uhr.
     »Um eins. Ich will mich vorher ein paar Stunden mit den Akten beschäftigen.«
     »Perfekt. Brauchen Sie darüber hinaus noch etwas?«
     »Wenn mir etwas einfällt, sage ich es einfach laut in einem der Zimmer. Sie hören das ja dann.«
     »Sie werden nicht lange hier sein. Ich hoffe, dass Sie bald zur Tat schreiten und diesen Auftrag erledigen wollen.«
     »Gibt es sonst noch etwas?«
     »Nein. Ich schicke Ihnen um eins jemanden.«
     Allein der Klang seiner Stimme machte sie wütend und ließ sie gleichzeitig schaudern. Sie schluckte ihren Ärger mit Mühe hinunter, dann ging sie zur Tür und machte sie weit auf. Dank der beiden Agenten, die draußen parkten, brauchte sie nicht abzuschließen. Zwei Neue, fiel ihr auf, als sie sich dehnte, bevor sie den Gehsteig entlang zu einem Park am Ende des Blocks lief. Die Agentur scheute keine Mühen.
     Eine Stunde später trabte sie zurück zur Haustür und dehnte ihre Muskeln zum Abkühlen, bevor sie die drei Stufen hinauf ins Haus ging. Ein kleiner Stapel Zwanziger und Hunderter lag zusammen mit einem kleineren T-Shirt und ein paar Hygieneartikeln auf dem Küchentisch. Jemand hat mitgedacht, aber nur dürftig, also würde sie neben einem Bekleidungsgeschäft auch eine Apotheke aufsuchen müssen.
     Nach einer weiteren Dusche rubbelte sie ihr Haar trocken und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Akten. Sie nahm eine der beiden, die sie noch nicht gelesen hatte.
     Diese hier war anders. Ein vorläufiger Bericht, unvollständig und voller Spekulationen.
     Anthony Simms, zweiunddreißig Jahre alt, wurde nach Laos geschickt, nachdem bekannt geworden war, dass sich Hawker dort in den Hügeln niedergelassen und eine Gruppe von zehn bis fünfzig bewaffneten Männern angeheuert hatte. Die Zahl der Männer variierte je nach Quelle. Simms war ein erfahrener Agent mit einer zehnjährigen Geschichte voller erfolgreicher Einsätze in der Region – mit anderen Worten, ein Attentäter, der nur zum Töten da war. Sein Einsatzhintergrund bestand ausschließlich aus Hinrichtungen. Keine andere Art von Mission.
     Simms war einem Tipp über den Standort des Basislagers der Zielperson gefolgt. Er hatte sich wie erforderlich alle vier Stunden gemeldet, aber eineinhalb Tage nach dem Beginn seiner Expedition war er von der Bildfläche verschwunden. Sein Peilsender zeigte sein Signal nördlich vom Mekong in einem unbewohnten Dschungelgebiet, das berüchtigt für Schmuggler und Drogensyndikate war. Der Chip hatte um zehn Uhr Ortszeit aufgehört zu senden. Danach hat man nie wieder etwas von Simms gehört. Seine Leiche wurde eine Woche später in Thailand nahe der Grenze zu Laos gefunden. Sie war schrecklich verwest und größtenteils von den einheimischen Tieren aufgefressen. Die endgültige Identifizierung war nur über die zahnärztliche Akte möglich gewesen.
     Das war nicht besonders hilfreich.
     Anders als die Information, dass einer der erfahrensten Killer der CIA seinen letzten Fehler begangen hatte.
     Sie legte die Akte zurück auf den Tisch und öffnete die zweite.
     Dieses Mal waren zwei Agenten geschickt worden, sie gehörten zu den Besten der Besten unter den Auftragskillern der CIA. Sie waren entsandt worden, als der zuständige Agent in Thailand Wind davon bekommen hatte, dass Hawker mit einem Menschenhändlerring und einem Sklavenhaltersyndikat zu tun hatte, die einen der größeren Prostitutionsringe in Bangkok versorgten.
     Jet las die Akte, die aus einer Reihe scheinbar unzusammenhängender Geheimdienstinformationen bestand, die von einer neuen Bande im Goldenen Dreieck handelten, welche von einem    Farang    angeführt wurde – einem weißen Teufel, dem man nachsagte, dass er menschliche Herzen fresse und beschmiert mit dem Blut seiner Opfer im Mondlicht tanze. Gerüchten zufolge sollte er unermesslich reich sein und hundert Männer befehligen, die alle mit den neuesten Waffen ausgestattet waren. Er war ein Geist, den sogar das Militär von Myanmar fürchtete.
     Zwei Männer wagten sich zu ihm.
     Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört.
     Beide waren erfahrene Kriegsveteranen mit sehr langen Hintergrundgeschichten und waren in den gefährlichsten Gebieten der Erde im Einsatz gewesen. Afrika. Nahost. Balkan.
     Vor einer Woche waren sie in den Dschungel gegangen.
     Drei Tage später waren sie spurlos verschwunden.
     Die Einzelheiten des Berichts gingen auf eine Gruppe in Bangkok ein, die sich auf minderjährige Prostituierte und Sadismus spezialisiert hatte. Die Gruppe bot extremere Versionen dieses Spektrums für internationale Kundschaft an, die aus aller Welt angereist kam, um von den verbotenen Früchten zu kosten, welche sie dort bekommen konnte. Der Anführer der Organisation war ein Mann namens Lap Pu – zweifellos ein Deckname –, der fast ebenso nur ein Phantom war wie der    Farang.
     Pu wurde nachgesagt, er pflege ein enges Verhältnis zu dem weißen Geist und fungiere als dessen Augen und Ohren in Thailand.
     Jet las noch eine Stunde lang weiter, aber das komplizierte Gewirr aus Beziehungen, Rivalitäten und vermuteten Bündnissen war überwältigend und würde tiefer gehende Einblicke erfordern, wenn sie irgendeinen stimmigen Plan ausarbeiten wollte.
     Nur eins schien ihr ganz offensichtlich.
     Die Spur begann in Thailand. Dort war Hawker stationiert gewesen, also befanden sich dort wohl seine Kontakte. Wenn sie unter seinen Verbündeten eine Schwachstelle finden konnte, würde sie dadurch mit ein bisschen Glück zu ihrer Zielperson geführt werden.

Kapitel 9

Nach zwei Stunden Shopping war Jet mit Kleidung ausgestattet, und als sie ins Haus zurückkehrte, war sie froh, dass sie sich ihre Sachen selbst ausgesucht hatte. Auch wenn sie jetzt keinen Cent mehr besaß, hatte sie wenigstens Kleidung, die passte und nicht so schrecklich aussah.
     Jet stieß die Tür auf, drei Plastiktüten im Schlepptau, und erblickte Arthur, der im Wohnzimmer saß und eine Diätlimo schlürfte. Er benutzte einen Strohhalm – eine Notwendigkeit, die der Zustand seines Gesichts erforderte.
     »Ah, wie ich sehe, sind Sie zurück. Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?«
     »Alles Notwendige, ja. Was machen Sie hier?«
     »Ich hoffte, Sie hätten schon ein paar vorläufige Gedanken zu unserem Szenario.«
     »Sie meinen das Szenario, in welchem Sie meine Tochter entführt haben und mich erpressen, damit ich jemanden für Sie töte?«
     Er ignorierte das.
     »Nein, es geht mehr um die Frage, wie Sie unseren abtrünnigen Agenten ausfindig machen wollen und was Sie dafür alles brauchen.«
     Sie stellte die Tüten ab und starrte ihn ungläubig an.
     »Ich habe vor dem Mittagessen erst die letzte Akte gelesen. Wollen Sie mich veräppeln?«
     »Es heißt, Sie seien die Beste. Aber da war ich wohl ein bisschen zu optimistisch …«
     »Kann schon sein, ich bin aber kein Zauberer. Die Planung könnte noch Wochen dauern. Ich habe nicht viel, mit dem ich etwas anfangen kann. Die Akten sind nur voller Gerüchte, dass Ihr Mann sich dort unter den Einheimischen niedergelassen hat, aber wirkliche Fakten gibt es nur wenige.«
     »Ja, dessen bin ich mir bewusst. Wir haben zwar neue Satellitenfotos bekommen, aber sie werden auch keine große Hilfe sein. Das Gebiet ist riesengroß. Zudem gibt es dort Höhlen, Dörfer und jede Menge dubiose Feldlager, die von Schmugglern errichtet wurden. Die Zielperson könnte sich dort befinden, es könnte aber auch sein, dass man absichtlich eine falsche Fährte legt.«
     »Ich brauche ein bis zwei Tage, um mir das durch den Kopf gehen zu lassen, dann werde ich wahrscheinlich ein bisschen in seinem ehemaligen Revier herumschnüffeln. Bangkok. Ich war noch nie dort, deshalb wird es etwas schwieriger für mich werden. Ideal wäre gewesen, wenn Sie alle Informationen hätten, wo sich die Zielperson aufhält, dann könnte ich von dort aus weitermachen. Das ist eine völlig andere Situation. Ich muss also nicht nur herausfinden, wie ich die Diamanten zurückhole und das Ziel ausschalte, ich muss es sogar erst einmal selbst finden.« Sie fixierte ihn mit eiskaltem Blick. »Ich habe keinen Zauberstab, sonst würde ich einfach Hannah herzaubern und Sie dafür verschwinden lassen.«
     »Ich brauche achtundvierzig Stunden, um Ihnen einen Ausweis zu besorgen und eine Tarnung dort drüben für Sie einzurichten.«
     »Nein, brauchen Sie nicht. Sie müssen mir nur meinen belgischen Reisepass und meine Ausweise zurückgeben. Dann brauchen wir noch einen Haufen Geld, mit dem ich dort ein paar Antworten kaufen kann.«
     »Geld ist nicht das Problem.« Er stand auf, blickte sich in dem kleinen Zimmer um und ging dann zur Tür. »Ich habe vollstes Vertrauen in Sie. Aber ich habe nicht unbegrenzt Zeit. Je früher, umso besser, sollten Sie wissen.«
     »Diese Art von Einsatz erfordert normalerweise einen Monat für die ganze Planung. Wenn man davon ausgeht, dass ich die Unterstützung bekomme, die ich gewohnt bin. David war auf diesem Gebiet der Beste. Aber jetzt ist er nicht mehr da und Sie geben mir nur ein vages Gerüst an Hinweisen, erwarten aber, dass ich anhand dessen Zauberkunststücke vollführe. Ihre letzten beiden Versuche, das Ziel zu fassen, sind gescheitert. Haben Sie mal daran gedacht, dass dieses Ergebnis von der schlechten Vorbereitung herrührt?«
     »Ja, das habe ich. Deshalb habe ich ja Sie ins Spiel gebracht.« Er winkte herablassend ab. »Sie kriegen das schon hin. Lassen Sie sich nur nicht zu viel Zeit.«
     »Das ist wie eine Schwangerschaft. Egal, was Sie sagen oder tun, sie dauert trotzdem neun Monate.«
     Er öffnete die Tür. »Ist angekommen. Wenn Sie mich sprechen wollen, rufen Sie einfach an«, sagte er und griff in seine Jackentasche nach einem Mobiltelefon, das er ihr zuwarf.
     Ihre Augen ließen nicht von ihm ab, als sie es in der Luft auffing.
     »Das werde ich.«


  
   Als sie im Dunkeln auf dem Bett lag und an die Decke starrte, schwirrten ihr zahllose mögliche Ansätze im Kopf umher. Schließlich schloss sie ihre Augen und wischte die Ideenflut beiseite. Stattdessen dachte sie an ihre Tochter, die fröhlich in ihrem Autositz lachte und nicht wusste, dass sie nur ein Bauernopfer in einer tödlichen Schachpartie war.