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Das Buch

Friedhofsgärtnerin Gesine Cordes ist schockiert, als sie plötzlich am Grab ihrer eigenen Schwester steht. Seit zehn Jahren haben sich die beiden Schwestern nicht mehr gesehen. Seit Gesines Sohn unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben kam. Beide gaben sich gegenseitig die Schuld an seinem Tod. Gesine hat damals aus Trauer alles verloren: ihre Arbeit als Kriminalkommissarin, ihre Wohnung, ihre Familie. Bis heute ist sie davon überzeugt, dass die Schwester für das Unglück verantwortlich ist.

Jetzt ist es zu spät, um sich auszusprechen, um zu vergeben. Doch der Tod der Schwester ist geheimnisumwittert und lässt Gesine nicht los. Warum musste sie sterben? War es Mord? Was wissen die Eltern? Als Gesine nachforscht, stößt sie auf eine Mauer des Hasses.

Die Autorin

Annette Wieners, geboren in Paderborn, hat für ARD, ZDF und WDR als Drehbuchautorin gearbeitet. Sie lebt als Autorin und Journalistin in Köln. Kaninchenherz ist ihr Krimidebüt und der erste Teil einer Serie.

Annette Wieners

KANINCHENHERZ

Kriminalroman

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List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-1084-8

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung – Cornelia Niere, München
Titelabbildung: Haus: mauritius images/alamy;
Acker: David Johnson/Trevillion Images
Grafiken Innenteil: © Katharina Hacka

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Für Georg, meinen Bruder

1

Der Asphalt war bucklig, durchzogen von Baumwurzeln, und die Trauerkränze auf der Ladefläche gerieten ins Rutschen. Gesine hatte keine Zeit zu verlieren. Sie lenkte ihren Pick-up auf den Weg, der zur Kapelle führte. Sie gab noch mehr Gas und wäre am liebsten bis vor den Eingang der Kapelle geprescht, aber dort hockte ein Mann und sah ihr entgegen. Er hielt zwei Mädchen an den Händen, auch sie drehten die Köpfe, als der Pick-up näher kam. Jäh trat Gesine auf die Bremse und klappte die Sonnenblende herunter, siebzig oder achtzig Meter von den dreien entfernt.

Der Mann war ihr fremd, vom Alter her vielleicht passend, aber sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Der Anblick der Mädchen dagegen war ein Schock. Sie hatten lange, lockige Haare. Mahagonifarben.

Sie schaffte es kaum, den Rückwärtsgang einzulegen, schaffte es noch viel weniger, unter den Blicken der anderen zu wenden, sondern trat wieder auf die Bremse. Keine Aufmerksamkeit erregen, sich nicht verdächtig machen. Außerdem hatte sie ja die Kränze geladen. Wohin mit dem teuren Zeug, wenn sie den Friedhof jetzt fluchtartig verließ? Mitnehmen? Und dann? Hätte sie bloß rechtzeitig die Auftragspapiere gelesen, heute früh, bevor sie die Kränze packte.

Der Mann und die Mädchen starrten zu ihr herüber. Gesine ließ den Wagen nach rechts an den Wegesrand rollen und schaltete den Motor aus. Die Kinder schienen über etwas zu lachen, das der Mann ihnen erzählte, und endlich guckten sie woanders hin. Sie fingen sogar an zu hüpfen, sahen beinahe fröhlich aus, aber Gesine ließ sich nicht täuschen. Kinder mussten immerzu zappeln, gerade wenn es ans Eingemachte ging.

Ihr wurde schlecht. Sie nahm ihr Handy und stellte es stumm für den Fall, dass der Chef anrief. Was sollte sie ihm sagen, wenn er fragte, wie sie in der Kapelle zurechtkam? Dass sie auf dem besten Weg war, die Beerdigung zu sprengen? Dass sie heute leider nicht arbeiten konnte, aus Gründen, die ihr aber nicht über die Lippen kamen?

Sie schob ihr Haar zusammen, tastete neben dem Sitz nach der Kappe und setzte sie auf. So ging es ein wenig besser. Jetzt noch die Sonnenbrille. In der Mittelkonsole steckte das Etui. Es war leer. Sie wühlte im Handschuhfach: eine Tüte Erdnüsse, das Messer, die Amboss-Schere. Sie ratschte sich den Daumen, fand dann aber doch noch die Brille, verschränkte die Arme und drückte die Finger fest in die Muskeln.

Die beiden Mädchen waren gleich gekleidet, mit kurzen weißen Röcken und T-Shirts. Sie waren auch gleich groß, obwohl das eine etwas dünner wirkte als das andere. Zwillinge also. Vielleicht konnte Gesine sich beruhigen, denn Zwillinge lagen überhaupt nicht in der Familie. Es war absurd, sich allein aufgrund einer Haarfarbe verrückt zu machen.

Die Auftragspapiere glitten raschelnd vom Schoß in den Fußraum. Sie schob sie mit der Hacke unter den Sitz. Eigentlich galt es nur, die Nerven zu bewahren und die Arbeit genau so zu erledigen wie sonst auch. Sie musste Kränze und Gebinde zügig vom Pick-up laden und sich nicht darum kümmern, was auf den Schleifen stand. Außerdem durfte sie sich nicht in ein Gespräch verwickeln lassen, während sie das Zeug in die Kapelle brachte. Das war alles.

Nur mit Hannes sollte sie noch reden, später, wenn er mit dem Sarg kam. Wenn sie ihn kurz und knapp einweihte, würde er ihr augenblicklich helfen, vom Friedhof zu verschwinden, bevor die Trauergemeinde zusammenfand.

Ein Kiefernzapfen fiel auf die Kühlerhaube und rollte zur Seite. Hoch oben, zwischen den alten Kronen, glitzerte die Frühjahrssonne. Ein Specht klopfte. Gesine schloss den Fensterspalt und machte sich bereit.

Als sie die Autotür ins Schloss warf, schaute eines der Mädchen zu ihr. Kein Problem. Die Kappe warf einen Schatten, und die große, dunkle Sonnenbrille verhinderte den Blickkontakt.

Sie ging energisch auf den Vorplatz und grüßte den Mann mit einem knappen Nicken. Für eine Friedhofsgärtnerin war es die perfekte Art zu grüßen: Man zollte Respekt, trat aber niemandem zu nahe. Der Mann allerdings machte sofort Anstalten, ihr entgegenzugehen. Ein sportlicher Typ mit einem Lederband um den Hals. Er schob die Kinder vor sich her. Dicht an dicht saßen die Sommersprossen auf ihren Nasen. Gesine ging noch eine Spur schneller. Ihre eigenen Sommersprossen brannten plötzlich wie Funken auf der Haut.

»Ist es so weit?«, fragte der Mann.

»Nein, ich bringe nur die Sachen von der Gärtnerei.« Sie fingerte nach dem Schlüssel für die Kapelle.

»Welche Sachen?« Eines der Kinder kam bedrohlich nah.

Der Schlüssel fiel zu Boden, Gesine bückte sich und ersparte sich eine Antwort, indem sie die Kapelle in Rekordzeit aufschloss und ins Dämmerlicht tauchte. Mit einem Ruck zog sie die Tür hinter sich zu, hielt die Klinke fest und lauschte. Unhöflich war sie, auffallend hektisch, aber niemand wagte, ihr zu folgen. Der Mann murmelte draußen noch etwas, vermutlich enttäuscht, und entfernte sich. Sie nahm die Brille ab und schob an der Tür den eisernen Riegel vor.

Neun Uhr schon. Die Beerdigung war erst für zwölf angesetzt, aber weil das Wetter so schön war, würden sich die Leute vielleicht früher treffen. Sie könnten sich auf dem Parkplatz versammeln und über die Verstorbene austauschen. Wo und wie war es passiert? Hatte sie Schmerzen gehabt, war sie allein gewesen? Und dann, wie zur Probe, konnte die Trauergemeinde schon einmal zum offenen Grab gehen und in die Tiefe schauen.

Ob ihre Eltern heute auch dabei sein würden? Aber was war das für eine Frage, selbstverständlich würden die Eltern kommen. Sie würden es als ihre Pflicht ansehen, auch wenn sie vor zehn Jahren noch behauptet hatten, auf einem Friedhof spiele Pflicht keine Rolle, sondern es gehe um den Wunsch, etwas über den Tod hinaus am Leben zu erhalten, selbst wenn es weh tue. Eine Erinnerungsstätte zu schaffen.

Wie weh tat es den Eltern denn heute im Vergleich zu damals, vor zehn Jahren?

Gesine zog die Kappe vom Kopf und stellte die Oberlichter der Kapelle hoch. Die laue Morgenluft strich über ihre Wangen. Vor dem Podest, auf dem später der Sarg stehen würde, war Wachs angetrocknet, weiße Spritzer auf dem Schieferimitat. Ein Papiertuch klemmte zwischen den Stühlen in der ersten Reihe. Ein Fehler der Putzfrau oder sogar ein Fehler von Hannes.

Sie nahm das Tuch, suchte den Mülleimer und fand ihn in der Ecke, bis an den Rand mit Taschentüchern und Bonbonpapier gefüllt. Ein zerknitterter Text lag obenauf, wässrig verwischte Schrift. Das Manuskript einer traurigen Rede. An anderen Tagen hätte Gesine die Zeilen genommen, sich rasch damit hingesetzt und gelesen. Heute aber huschte sie weiter in den Abstellraum und zerrte den Gitterwagen für die Kränze hervor.

Uralte Gummireifen, die rostigen Achsen quietschten. Am Stahlgeflecht, das senkrecht aus der Mitte ragte, schwankten gewaltige Haken. Der Wagen war ein Ungetüm, doch mit ihm ließ sich Zeit sparen, denn mit ihm konnte man ein Dutzend Trauerkränze auf einmal transportieren. Falls es gelang, ihn zu manövrieren.

Um wie viel Uhr kam Hannes, um ihr zu helfen?

Erneut lauschte Gesine nach draußen. Vor den Oberlichtern stritten sich Vögel. Ein Grünfink saß auf dem Sims. Von dem Mann und den Zwillingen war nichts mehr zu hören.

Sie rollte den Wagen bis zur Eingangstür und wollte gerade den Riegel zurückschieben, da fielen ihr Kappe und Sonnenbrille ein. Hastig setzte sie die Brille auf und zog den Schirm der Kappe tief in ihr Gesicht.

Der Mann und die Kinder standen stumm auf dem Vorplatz. Als der Gitterwagen kam, wichen sie zur Seite. Der Mann lächelte Gesine zu, sich entschuldigend, weil er im Weg war. Ein Fehler, dieses Lächeln. Zu freundlich war es, zu nah. Gesine stieß sich das Schienbein am Wagen. »Autsch«, kommentierte eines der Kinder. Sie schubste das Gefährt nach vorn. Die Räder holperten hart über den Lehm und die Haken klapperten erbärmlich, aber es nützte überhaupt nichts, einen solchen Lärm zu machen. Das Bild hatte sich längst in Gesines Hirn gebrannt: Die Mädchen sahen eindeutig so aus, wie sie selbst früher ausgesehen hatte. Sie selbst und auch ihre Schwester Mareike.

Das musste man sich einmal vorstellen: Gesine und Mareike waren sich ähnlich gewesen, und Gesine hatte das auch noch gefallen! Auszusehen wie die große Mareike, die hoch in die Luft spucken konnte und darunter hindurchlief. Die Gitarre spielte und ihre Augenlider herunterklappte wie ein Star, ohne peinlich zu wirken. Die jeden küssen durfte, der ihr gefiel.

Der Gitterwagen kam zum Stehen. Gesines Schienbein brannte. Hinter ihr wurde gekichert, und die Mädchen liefen umeinander, während der Mann sich die Hosenbeine abklopfte. Niemandem schien etwas aufgefallen zu sein. Unglaublich, aber es war ja auch alles schon so lange her.

Sie rückte Brille und Kappe zurecht und spürte ihre Hände feucht am Gesicht. Dann bugsierte sie den Kranzwagen längs neben den Pick-up und holte sich die Arbeitshandschuhe vom Beifahrersitz. Kurz lehnte sie sich an die Tür. Der Autolack glänzte, tiefschwarz, obwohl alle anderen Friedhofsgärtner grüne Wagen fuhren.

Von der Ladefläche stieg Tannenduft auf. Die Kränze, Gestecke und Buchsbaumkugeln, die zu verteilen waren, lagen in der prallen Sonne. Sie öffnete die Seitenklappen. Eine Hummel brummte zwischen den Blüten, wütend, weil die Treibhausware nichts hergab.

»Was steht da?«

Das dünne Mädchen hatte sich zum Pick-up geschlichen und zupfte an der weißen Schleife, die von der Ladefläche hing. Gesine wandte ihr Gesicht ab.

»In Liebe«, sagte sie, »und ein paar Namen.«

»Ich bin Frida. Das da ist Marta.«

Frida zeigte auf ihre Schwester, die hinten an der Kapelle hüpfte. Eigentlich waren die Zwillinge so alt, dass sie schon selbst lesen konnten. Die Frage nach der Schleife war nichts als ein Kontaktversuch gewesen. Gesine biss die Zähne zusammen.

Andererseits schien Frida das Interesse an ihr sofort wieder zu verlieren, denn sie holte jetzt aus und schoss mit Schwung ein Steinchen ins Gebüsch. Schweiß stand auf der kleinen Stirn, die Haut war fleckig und blass. Besser, das Kind würde in den Schatten gehen, wo es noch kühler war, und sich ausruhen.

Ein weiteres Steinchen flog, und diesmal sprang es gegen den Pick-up. Der Mann rief mahnend herüber, doch Gesine winkte mit einer raschen Geste ab. Kein Gespräch anfangen, erst recht keine Diskussion.

»Mach Platz.« Sie schob Frida, die den Autolack untersuchen wollte, zur Seite und erschrak über das Fliegengewicht. Die dünnen Arme, die staubigen Sandalen. Wie grob man selbst dagegen wirkte.

Und dann, während Gesine am Gitterwagen rückte, als stünde er noch immer nicht korrekt, musste sie auch noch feststellen, dass das Kind vor Sorge kaum atmen konnte. Vor Sorge, dass es zwölf Uhr würde und der Sarg unter der Erde verschwände. Warum lief es nicht zu den anderen und ließ sich trösten?

Mit einem Ruck hob sie den ersten Kranz vom Pick-up. Das Kind fasste die Schleife mit beiden Händen wie eine Schleppe. In Liebe. Marta, Frida und Jan. Rote Rosen, weiße Gerbera und Chrysanthemen in bester Gebinde-Qualität.

Gesine steckte den Kranz auf den vordersten Haken des Gitterwagens, und Frida ließ die Hände sinken. Die Lippen ein Strich, die Schultern mager unter dem T-Shirt.

Ein zweiter Kranz lag auf der Ladefläche, der den ersten an Gewicht noch übertrumpfte. Lilien, gepaart mit Anthurium crystallinum, ein vornehm blasses Manifest des Leblosen. Gesine brauchte nicht auf die Schleife zu schauen, sie erkannte den Geschmack ihrer Eltern.

»Frida!« Der Mann rief von der Kapelle aus nach dem Kind. Es kniff Gesine in den Oberschenkel und rannte davon. Ob es doch etwas ahnte? Ob es doch genauer hingeguckt hatte?

Zügig die Arbeit hinter sich bringen.

Als alle Kränze auf den Haken hingen, schob Gesine den Wagen zurück zum Vorplatz. Ein mühsames Unterfangen. Es fehlte Luft in den Reifen, eine Achse eierte, und die Gebinde schaukelten hin und her. Ihr war mittlerweile so warm, dass die Sonnenbrille rutschte, aber da der Mann und die Kinder jetzt nicht mehr zu sehen waren, konnte sie die Brille auch abnehmen und in der Brusttasche verstauen. Sie lüftete die Kappe.

Bisher war alles gutgegangen, zum Beispiel war sie zeitlich locker im Rahmen, und trotzdem war ihre Unruhe noch gewachsen. Sie musste aufpassen, sie musste gelassener sein, sonst wurde sie am Ende zu ihrem eigenen Risiko.

Sie griff wieder nach den Holmen und drückte, aber der Wagen blieb an einem Stein hängen, und einer der Kränze schlug ihr ins Gesicht. Sofort fingen die Kontaktlinsen an zu scheuern, und dann kam auch noch der Mann aus dem Gebüsch gekrochen.

»Marta!« Ein Schweißfleck hatte sich auf seinem Rücken ausgebreitet, das blaue Oberhemd klebte an den Schultern. Er drehte sich suchend um: »Marta!«

Sie beeilte sich, den Kranzwagen in die Kapelle zu stoßen, direkt vor das Podest für den Sarg, dann zog sie die Tür ins Schloss und versorgte sich mit Augentropfen. Auf den Oberlichtern tanzten Schatten.

Der Mann draußen wurde ungeduldig. »Marta! Komm jetzt her!«, drang es durch die Fenster.

Gesine blinzelte. Die Schleifen, die vom Wagen hingen, glänzten im Zwielicht. Marta, Frida und Jan. Goldene Buchstaben, silberne Symbole wie kostbare, mystische Versprechen, und nur wer genau hinsah, erkannte den billigen Druck aus der Standardschablone.

Sie ging zum Lichtschalter, plötzlich erschöpft, und überhörte beinahe, dass die Tür knarrte.

»Hilfe!« Frida stand auf der Schwelle. »Hilfe, meine Schwester ist weg.«

Gesine ließ die Lampen leuchten und schob das Kind zurück, so wenig ruppig wie möglich.

Draußen, neben der Kapelle, saß der Mann im Staub. Er weinte in seine Hände, er schluchzte in erstaunlich tiefen Tönen. Sein Rücken schlug rhythmisch gegen die Bruchsteinmauer. Frida streckte einen Arm aus und streichelte seine schwarzen Locken. Gesine dagegen hätte ihm am liebsten in den Hintern getreten. Es war bereits nach zehn!

Sie berührte ihn an der Schulter, damit er wenigstens aufhörte, so grob gegen die Mauer zu wippen. »Es wird Zeit«, sagte sie.

Er verbarg jedoch sein Gesicht und unternahm keinen Versuch, sich zusammenzureißen. Wusste er denn nicht, dass er seine Kinder unter die Fittiche nehmen und sie auf die Zeremonie vorbereiten musste? Sollten sich die Mädchen nicht auf ihren Vater verlassen können, an diesem schlimmsten Tag in ihrem Leben?

Frida schaute zu ihr hoch, kritisch. Die Kappe fehlte, die Sonnenbrille auch.

»Ja, was denn?« Gesine drehte sich um und marschierte los, ohne darauf zu achten, ob ihr jemand folgte.

Das Grab, das für die Beerdigung gekauft worden war, lag im Feld C, Nummer 212. Rhododendren unter hohen Kiefern und Birken. Giftige Azaleen. Sie machte große Schritte und merkte bald, dass Frida trotzdem mithielt. Das Kind gab keinen Ton von sich, es lief einfach nur mit, aber noch bevor Feld C in Sichtweite kam, schob sich seine kleine Hand zwischen Gesines Finger.

Die Bohlen aus Metall, die das Grab über Nacht abgedeckt hatten, waren längst entfernt worden. Ein Tiefgrab war es, der Sarg würde in die untere Lage kommen. Wohlgeformt wölbte sich der Aushub am Wegesrand, ein grünes Vlies war darübergespannt. Frida kletterte hinauf und schaute von oben in die Grube.

Es roch, als sei Sommer. Seit Wochen schon trocknete der Friedhof aus. Die Lehmkanten des Grabes bröckelten, die verschiedenen Schichten der Erde waren gut zu erkennen. In zwei Meter achtzig Tiefe sammelte sich Sand. Ein zweckmäßiger, durchlässiger Boden. Allerdings nicht durchlässig genug für die Schuld, die zu groß und zu schwer war.

»Marta!«

Auf dem Hintern schob Frida sich den Hügel herunter. Gesine war in Versuchung, ihr zu helfen, steckte dann aber die Hände in die Hosentaschen und starrte in das Gebüsch.

»Komm da raus«, sagte sie. Das Barsche in ihrer Stimme ließ sich entschuldigen, bei dem Zeitdruck, unter dem sie stand.

Es raschelte und knackte. Plötzlich sprang Marta aus den Sträuchern, fiel Frida um den Hals, und die beiden klammerten sich aneinander. Lautlos, wie unter Wasser, gar nicht nach Kinderart.

Gesine machte kehrt und ging zur Kapelle zurück. Das hier war nicht ihr Job. Auch das mit dem Mann nicht, der immer noch an der Mauer saß und heulte.

»Ihre Tochter ist aufgetaucht«, sagte sie trotzdem im Vorbeigehen.

Er nickte und erwiderte, ohne aufzuschauen: »Ich schaffe das nicht.«

Sie verzog das Gesicht. So oft hatte sie diesen Satz schon gehört, dass er kaum noch etwas in ihr rührte. Außerdem machte dieser Akzent sie nervös. Spanisch, was sonst. Man durfte nicht darüber nachdenken.

Sie wollte jetzt lieber Hannes anrufen, damit er endlich herkam. Er hatte selbst schon versucht, sie zu erreichen, doch als sie die Mobilbox anwählte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie der Mann plötzlich vom Boden aufstand und in die Kapelle schlüpfte. Alarmiert steckte sie das Handy weg und ging ihm nach. Sie konnte sich keine Zwischenfälle mehr leisten, und der Mann wirkte äußerst labil.

Er hatte den Gitterwagen gepackt und fächerte die Kränze auseinander. Die Haken knirschten am Gestänge.

»In Liebe«, seine Stimme hallte in der Kapelle, »Marta, Frida und Jan.«

»Die Mädchen sollten nicht allein am Grab sein«, sagte Gesine und blieb in der Tür stehen.

Er ließ die Kränze los und sackte mit dem Hintern auf das Podest. »Unser Hochzeitstag. Und meine Frau hat nichts Besseres zu tun, als mitten in der Nacht aufzustehen und über das Feld zu marschieren.«

Und? Es ging sie nichts an. Gesine hielt Ausschau nach der Sonnenbrille. Sie lag auf einem der vorderen Stühle.

»Bitte.« Sie machte eine Geste zur Tür, aber der Mann ließ den Kopf hängen und fing wieder an zu schluchzen. Eine Weile hielt sie es aus, abzuwarten und nur mit dem Fuß zu wippen, aber dann musste sie deutlicher werden.

»Für Ihre Kinder kann der Tag der Beerdigung traumatisch sein. Sie müssen jetzt rausgehen und sich um sie kümmern.«

»Ich kümmere mich um nichts anderes mehr als um meine Kinder.«

Sie schwieg, setzte die Brille auf, fühlte sich aber mit den dunklen Gläsern unwohl unter dem Kunstlicht. Sie legte die Brille wieder weg und registrierte, dass der Mann sich jetzt anstrengte, sein Schluchzen in den Griff zu bekommen. Immerhin. Er atmete durch, zerrte ein Taschentuch aus seiner Jeans und faltete es in Zeitlupe auseinander.

»Man merkt, dass Sie in diesen Dingen Routine haben.« Er schnäuzte sich. »Aber für mich hat sich das Leben von einem auf den anderen Augenblick komplett verändert.«

»Sicher.«

»Ich habe geschlafen, als meine Frau nach draußen gegangen ist! Wissen Sie, was das bedeutet?«

Selbstvorwürfe, das war klar. An anderen Tagen wäre Gesine sogar darauf eingegangen. Sie hätte geredet und geholfen, die realistischen von den unrealistischen Vorwürfen zu trennen und Ballast abzuwerfen. Aber bei dieser Beerdigung heute? Bei ihm? Dass sie überhaupt hier herumstehen und sich Klagen anhören musste!

Sie bückte sich nach dem überfüllten Papierkorb und stellte ihn mit einem harten Geräusch in eine andere Ecke. Der Mann steckte das Taschentuch umständlich wieder ein.

»Man macht sich keine Vorstellung davon, wozu Menschen in der Lage sind«, sagte er, »selbst wenn man meint, sie zu kennen.«

Sie schnaubte, ein Reflex, den sie weder unterdrücken konnte noch unterdrücken wollte. Der Mann richtete sich auf, als fühlte er sich provoziert.

»Ich sage damit nicht, dass meine Frau mit Absicht auf die Gleise gegangen ist!«

Bitte was? Auf die Gleise?

»Ich habe geschlafen«, wiederholte er, »an unserem Hochzeitstag. Und sie ist übers Feld gegangen, mitten in der Nacht, bis zu den Gleisen. Dann kam ein Zug.«

»Entschuldigung«, sagte Gesine, zu ihrem eigenen Ärger, denn warum sollte ausgerechnet sie sich jetzt entschuldigen? Sie sollte eher losschreien und den Kerl aus der Kapelle jagen! Nichts wollte sie wissen über diesen Todesfall, und erst recht wollte sie nicht überlegen, ob es ein Selbstmord war oder nicht. Wie dreist von ihm, ihr ein Detail nach dem anderen in den Kopf zu pflanzen.

»Hallo?« Er musterte sie kritisch vom Podest aus. »Hallo, kennen wir uns eigentlich?«

Sie blickte zur Seite, entdeckte an der Wand den Kasten für die elektrischen Sicherungen und öffnete die Klappe, als habe sie dort etwas zu kontrollieren. Hinter ihrem Rücken hörte sie ein Knirschen auf dem Schieferimitat. Offenbar war der Mann aufgestanden.

»Wir sind schon länger nicht mehr in Spanien. Sie wollte unbedingt zurück. Aber wozu? Um nachts aus dem Haus zu gehen und sich auf den Gleisen umzubringen? Nein!«

Er hustete, fürchterlich, sie schloss für einen Moment die Augen. Dann zog sie ein Blatt Papier aus der Gesäßtasche und strich es glatt. Der Wochenplan für die Gräber, C-212 war orange markiert. Nüchtern, faktisch. Sie wollte so tun, als handele es sich bei dem Papier um einen Schaltplan für die Elektrik und als sei sie in ihre Arbeit vertieft. Doch ein würgender Laut ließ sie herumfahren. Der Mann stand nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, die Hand zitternd vor den Mund gelegt. Seine Augen wurden immer größer.

»Wirklich. Sie sind das!«, brachte er hervor. »Sie!«

Sie schloss die Kastenklappe an der Wand.

»Mich geht die ganze Geschichte trotzdem nichts an«, sagte sie gegen die Steine.

Es stimmte doch. Krebstod, Unfalltod, Ertrinken, Ersticken, Erhängen. Schuld, Mitschuld. Schlechtes Gewissen, Liebe. Sie hatte auf diesem Friedhof alles gehört, alles gesehen, was es rund um das Sterben gab. Sie hatte sich in all den Jahren auch gerne gekümmert, sich der Trauernden angenommen. Immer. Aber nicht heute, nicht in diesem Fall.

»Schade.« Seine Stimme war kaum zu verstehen. »Sehr, sehr schade. Aber Sie sollten trotzdem wissen, dass ich einen Selbstmord für ausgeschlossen halte.«

Er ging nach draußen, mit wackeligen Schritten. Die Tür blieb offen, es zog, und noch während Gesine an der Wand stand, merkte sie, dass der Duft der Kränze sich auszubreiten begann. Ein Albtraum, das alles. Und die Kinder? Sie saßen bestimmt noch immer im giftigen Rhododendron neben dem offenen Grab.

Sie schloss die Kapelle ab und lief über den Weg zu C-212. Marta, Frida und Jan. Die Mädchen konnten doch nichts dafür, weder für heute noch für damals.

Sie überholte Jan, wortlos, und tauchte am Grab zwischen die Sträucher. Die Zweige wischten ihr über das Gesicht. Da hockten die Kinder, Blätter in den Händen. Sie kniete sich vor sie in den Dreck und nahm ihnen die Blätter ab.

»Tut es eigentlich weh, wenn man stirbt«, fragte Marta, »oder ist man schon tot, bevor es weh tun kann?«

»Keine Ahnung. Ihr müsst jetzt jedenfalls hier raus. Ich bin für die Büsche zuständig, und mir gefällt es nicht, dass ihr hier herumkriecht.«

Sie scheuchte die beiden ins Freie. Jan stand neben der Grube und nahm seine Töchter in Empfang.

»Bis gleich«, sagte Frida und winkte Gesine zu.

Sie tat, als habe sie nichts gehört.

Notizbuch

Rhododendron

Rhododendron_gemalt.tifBlütengehölz, wichtiger Zierstrauch sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich.

Bekannt sind Hunderte Arten, Tausende Sorten. Als Untergattung die Azalee.

Immergrün, sommergrün, wintergrün.

Vielgestaltige Blätter: lanzettlich, elliptisch, kreisrund. Drüsen, Härchen, Schuppen oder wolliger Belag. Oft ähnlich dem Lorbeerblatt.

Reiche Blüte in zahlreichen Farben, meist duftend, einzelständig oder in Dolden, meist an den Enden der Zweige.

Giftstoffe aus der Gruppe der Diterpene.

Gift enthalten in Blättern, Blüten, Nektar und Früchten.

Anschwellender Speichelfluss, Erbrechen, Durchfall, starke Bauchschmerzen, Krämpfe, Brennen der Haut oder Taubheitsgefühl, Blutdruckabfall, Herzrhythmusstörungen, Bewusstlosigkeit.

Medizinische Kohle. 1 g pro kg Körpergewicht. Zufuhr von Flüssigkeit.

2

Die roten Hartriegelzweige klopften gegen die Seitenscheiben. Wind war aufgekommen und trieb heiße Luft über den Friedhof. Wie angekündigt, kam der Wind aus der Sahara und brachte Wüstensand mit. Auf dem schwarzen Autolack lag bereits eine dünne Schicht.

Gesine rutschte tief in den Fahrersitz. Sie hatte den Pick-up an den Rand eines Seitenwegs gefahren, um vor der Trauergemeinde sicher zu sein. Sie hatte nicht viel geschafft. Erst recht nicht, vom Friedhof zu verschwinden, bevor die Beerdigung begann.

Sie hatte stattdessen die Kontrolle verloren. Schwindelig war ihr geworden, als sie vom offenen Grab und den Kindern zurückgekommen war. Um sich mit kaltem Wasser zu erfrischen, war sie ins Toilettenhäuschen gestolpert, das sich an die Kapelle lehnte. Der Schwindel aber ließ nicht nach, und außerdem hing da noch der Spiegel über dem Waschbecken. Sie sah ihre Sommersprossen, ihr verschwitztes mahagonifarbenes Haar. Schließlich sperrte sie sich in eine Kabine, um dort, auf dem Klodeckel sitzend, auszuharren. Einatmen, ausatmen.

Erst als sie gehört hatte, wie Hannes mit dem Sargwagen vorfuhr, hatte sie erleichtert zum Handy gegriffen, um ihn anzurufen und ihm zu sagen, was los war. Aber dann stellte sie fest, dass Hannes gar nicht allein war. Natascha lief auf dem Vorplatz herum und quatschte. Ausgerechnet heute. Es würde nicht möglich sein, ein vertrauliches Gespräch zu führen. Sie schaltete das Handy aus, ohne gewählt zu haben, und blieb in der Kabine. Sie würde sich selbst helfen müssen, so wie gewohnt.

Einatmen, ausatmen.

Unterdessen amüsierte sich Natascha lautstark über Hannes, weil er nach Gesine rief und herumsuchte, anstatt sich an die Arbeit zu machen. Für eine freie Mitarbeiterin war sie ganz schön frech. Die Türen am Sargwagen schlugen, und schließlich betraten Natascha und Hannes die Kapelle, deren Oberlichter über dem Toilettenhäuschen schwebten. Absätze klackerten auf dem Schieferimitat, Stuhlbeine schrappten.

Wie immer würde Hannes aus der düsteren Kapelle einen intimen Ort der Andacht machen. Mit farbigen Tüchern, wo die Wand dreckig war, und Kerzen, wo der Blick nicht in die Ferne schweifen sollte. Die perfekte Kulisse für den Akt der Augenwischerei, aber heute würde sich Hannes schämen, wenn er erfuhr, für wen er den Trauerraum schmückte.

Einatmen, ausatmen, besser nicht auf die Uhr schauen. Die Toilettenfliesen zählen. Es war nicht schlimm, sich selbst zu helfen. Es brauchte nur ein wenig länger.

Endlich, als in der Kapelle bereits die Musikanlage getestet wurde, konnte Gesine das Toilettenhäuschen wieder verlassen. Ihr war nicht mehr schwindelig, und ihr war auch nicht mehr schlecht, dafür rückte jetzt bereits die Trauergesellschaft an. Auf dem Parkplatz rangierten zahlreiche Autos, und vor dem Haupttor versammelten sich erste Gruppen. Wie sollte sie den Ausgang erreichen, ohne gesehen und angesprochen zu werden?

Sie schlich zu ihrem Pick-up, der noch immer in der Nähe der Kapelle stand, und zog die Tür sachte ins Schloss. Untertourig fuhr sie in den Seitenweg, um den Wagen mit der Kühlerhaube voran in den Hartriegel rollen zu lassen. Seitdem wartete sie. Sie lauerte. Sobald die Leute sich in die Kapelle verzogen hatten, würde sie davonbrausen.

Inzwischen lag der Wüstensand auf dem Autolack wie ein Tuch aus dichter Gaze. Die Sonne hatte den Innenraum aufgeheizt, trotz der geöffneten Fenster, und die Erdnüsse, die Gesine aus dem Handschuhfach holte, klebten vom Salz. Zwölf Uhr war vorbei, so lange wartete sie nun schon im Wagen, und doch waren die Wege noch immer von Menschen belagert. Niemand hatte es eilig, die Kapelle zu betreten. Die Trauerfeier verzögerte sich, wohl wegen des großen Andrangs.

Sie lehnte sich aus dem Fenster und hielt das Gesicht in den heißen Wind. Dahinten trottete eine Schar Kinder den Hauptweg hoch. Freunde von Marta und Frida vermutlich. Wie ruhig sie waren, wie klein unter den hohen Bäumen. Der Anblick gab ihr einen Stich.

Sie spähte in die andere Richtung, durch die Sträucher zum Vorplatz der Kapelle. Waren dort Jan und die Zwillinge zu erkennen? Tatsächlich. Sie trugen jetzt, zur Feier, dunkle Klamotten und fielen damit auf, denn alle anderen Leute steckten in bunten Kleidern. Mit Sicherheit hatte auf der Einladungskarte gestanden: Trauerkleidung nicht erwünscht. Warum hielt sich ausgerechnet Jan nicht daran?

Gesine zog sich in den Pick-up zurück und suchte nach ihrer Trinkflasche. Das Wasser war natürlich warm.

Wie Jan am Vormittag geschwitzt hatte in seinem blauen Hemd. Wie er Gesine in der Kapelle angestarrt hatte, als ihm klarwurde, wer da vor ihm stand. Und wie er darauf gepocht hatte, dass seine Frau keine Selbstmörderin war, auch wenn sie an den Gleisen gelegen hatte.

Zerfetzt. Eine verzweifelte, entschlossene Tat. Eine besonders brutale Art zu sterben.

»Tut es weh«, hatte Marta vorhin im Gebüsch gefragt, »oder ist man tot, bevor es weh tun kann?« Eine heikle Frage.

Gesine schraubte die Flasche zu. Es rührte sich etwas an der Kapelle. Endlich. Eine allgemeine Bewegung, man schlenderte auf Jan zu. Er schüttelte Hände und ließ die Gruppen an sich vorüberziehen. Ein Begrüßungsdefilee, aber seltsamerweise mit dem Rücken zur Eingangstür. Die Tür blieb immer noch zu! Man könnte wirklich wütend werden.

Wenigstens waren die Eltern nicht zu sehen. Ein paar andere Leute kamen Gesine bekannt vor, aber nur vage, aus einer Zeit, in der sie selbst noch gern unter Menschen gewesen war.

Sie zog den Kopf ein und bog den Rückspiegel zurecht. Weiterwarten, weiterlauern, und bald musste es doch vorbei sein. Wenn sie nur durchhielt. Passiv und nervös, ganz gegen ihre Art.

Heute Morgen zum Beispiel war alles noch anders gewesen. Sie hatte den Tag optimistisch begonnen, entspannt und im Trott. Weit vor Sonnenaufgang hatte sie in ihrem Wohnwagen die Luken geöffnet und Kaffee gekocht. Sie hatte sich in eine Decke gewickelt und vor die Tür gesetzt, wie immer. Die Wiese war nass, die Sohlen der Gummistiefel kühlten aus, aber sie hielt die Füße trotzdem still, denn mit einem Mal stieg die Sonne auf. Zügig schob sie sich hinter dem Wald hoch, und Gesine musste ihren Campingstuhl nur ein paar Meter zur Seite rücken, um die Strahlen auf dem Gesicht zu spüren. Warm, friedlich, vielversprechend. Der Kaffee dampfte, die Nase lief, und dann kam Bauer Josef dazu. Sie roch die Seife, mit der er sich morgens rasierte. Seine Lederjacke knarzte, als er seinen Hocker neben ihren Campingstuhl stellte. Nicht zu nah, sie schlug die Beine übereinander. Im Stall nebenan klirrten die Ketten. Und wo blieb der Hund?

Sie deutete auf die Thermoskanne, die am Boden stand, und genoss das Geräusch, als der alte Bauer sich den Becher füllte. Den schwarzweißen Becher wohl wieder, ein abscheuliches Werbegeschenk der Molkerei. Und dann lachte Josef. Er fand es komisch, wie sie da saßen. Er auf der Wiese neben der Hofeinfahrt, anstatt in seiner Stube über der Zeitung wie die anderen alten Bauern, und Gesine vor ihrem Wohnwagen, von dem sie längst das Nummernschild hätte entfernen können, denn von hier, von dieser Wiese, würde sie nie wieder wegziehen.

Sie ließ Josef lachen und ging nach drinnen, um Eier zu braten. Nur ausnahmsweise. Er zuckte mit den Schultern: »Ich habe sowieso keine Zeit, öfter mit dir zu frühstücken.« Aber sie konnte doch sehen, dass er seinen Teller besonders sorgfältig auf den Knien balancierte und dass er vom Toast nur kleine Bissen nahm, um nicht allzu schnell fertig zu werden. Fünfzehn Jahre war seine Frau schon tot, und er vermisste sie immer noch. Er hielt ihren Stuhl in der Stube frei. Zum Fürchten.

Später, nach dem Frühstück, musste Gesine sich plötzlich beeilen, um pünktlich zur Gärtnerei zu kommen. Die Teller blieben schmutzig in der kleinen Spüle zurück, das Bett im Heck des Wohnwagens blieb ungemacht.

Vermutlich war es diese Eile gewesen, die sie veranlasst hatte, die Auftragspapiere, die der Chef ihr in die Hand gedrückt hatte, ungelesen in den Pick-up zu werfen. Sie hatte die Trauerkränze einfach aufgeladen, ohne auf die Schleifen zu schauen. Sie hatte noch wahrgenommen, unter welchem Namen die Beerdigung lief, Alvarez, fett gedruckt, aber das hatte ihr nichts gesagt.

Beerdigung Alvarez, Ostfriedhof, Kapelle komplett.

Der Hartriegel wiegte sich unbeirrt im Wind. Der Sand auf der Frontscheibe erschwerte zunehmend die Sicht, und das Gemurmel vom Vorplatz der Kapelle drang immer lauter in den Pick-up. Jeder in dieser Trauergemeinde schien etwas mitteilen zu müssen. Ein weinerliches Raunen. Ein Gehüstel. Man sollte die Seitenfenster schließen, um sich davor zu schützen.

Wenn bloß die Hitze im Wagen nicht wäre.

Und wenn es nicht so dermaßen deprimierend wäre, dass man Ewigkeiten im Auto herumsaß und die Gegend observierte, als sei man noch die Polizistin von früher und nicht die Friedhofsgärtnerin von heute in einem völlig neuen Leben.

Schluss damit. Gesine öffnete die Tür und stieg in den Hartriegel. Ein Kaninchen guckte unter dem Busch hervor, schreckensstarr, und verschwand. Und was war das? Über den Hauptweg kamen tatsächlich noch mehr Leute zur Kapelle. Am Haupttor stand ein Sammeltaxi. Die Zeremonie uferte aus.

Sie verschloss den Pick-up und entfernte sich geduckt. Um den Hauptweg nicht kreuzen zu müssen, ging sie in Richtung Feld D, wachsam und eilig. Feld D grenzte zwar an Feld C, aber von dort aus führte eine kleine Nebenpforte direkt in den Wald. Die einzige Lösung. Das Auto musste sie später abholen, am Abend, wenn die Luft rein war.

Sie lockerte die Muskeln. Sie huschte, fast trabte sie über den Friedhof, und es tat gut. Die Geräusche vom Vorplatz verblassten, nur die Vögel zwitscherten weiter, und die Kronen der Kiefern rauschten. Eine alte Dame harkte ihr Beet und winkte herüber. Gesine mäßigte ihr Tempo. Kein Aufsehen erregen, sich auch besser nicht mehr ducken. Sie winkte verhalten zurück, und die alte Dame harkte weiter.

Ob sie sich später die Beerdigung ansehen würde? Die Harke weglegen und nachfragen würde, um wen es hier ging? Sicher würde man ihr Auskunft erteilen: Eine Frau hatte an den Gleisen gelegen, allein im Dunkeln, an ihrem Hochzeitstag, während ihr Mann und die Kinder zu Hause schliefen.

Mareike.

Der matte Glanz der Schienen in der Nacht. Der Geruch der Imprägnierung, der von den Bahnschwellen aufstieg. Der Schotter. Und dann das Fahrgeräusch des Zuges, schnell wachsend, hart, ein beinahe ohrenbetäubendes Jaulen. Woran hatte Mareike in diesem Moment gedacht? An ihre Schuld von damals, ihre bodenlose Schuld?

Außer Atem bog Gesine um die Kurve. Die Haut auf ihrem Gesicht spannte inzwischen, als habe sich der gelbrote Staub mit dem Schweißfilm verbacken. Sie wischte sich über die Stirn. Die Körner schmirgelten über die Haut.

»Gesine?«

Sie fuhr herum. Diese Stimme.

»Gesine! Das darf doch nicht wahr sein!«

Links, im Stichweg, der zu den Parzellen führte, stand eine Gestalt. Das Bild flimmerte vor Gesines Augen, der Halbschatten irritierte sie mit seinen zittrigen Flecken, doch die Gestalt ließ keinen Zweifel zu.

»Mutter?« Das Wort, das sie nie wieder hatte aussprechen wollen.

Die Mutter antwortete nicht. Sie wedelte stattdessen mit erhobener Hand nach hinten. Am Ende des Weges tauchte der Vater auf. Und neben ihm ging Hannes!

»Dass du es wagst, zur Beerdigung zu kommen!«, rief der Vater.

Hannes überholte ihn. »Wo hast du bloß gesteckt, Gesine?«

Sie öffnete und schloss den Mund. Die Füße pochten in den Arbeitsstiefeln, die Augenhöhlen pulsierten. Zehn Jahre waren vergangen, und wie alt waren die Eltern geworden. Das schlohweiße Haar des Vaters schütter, die Mähne der Mutter kunstvoll über die Ohren gedreht.

Hannes nahm Gesine in den Arm. »Ich weiß Bescheid«, sagte er dicht an ihrem Ohr. »Ich habe das Foto für die Kapelle gesehen.«

Sie bog sich weg. Natürlich, das Porträtfoto. Wie hatte sie das vergessen können? Das große Bild, das in der Kapelle neben dem Sarg aufgestellt wurde.

Der Vater baute sich breitbeinig auf. »Wie kannst du es wagen!« Seine Stirn war knallrot.

»Ich weiß es selbst erst seit heute Morgen.« Gesines Zunge klebte am Gaumen.

»Du arbeitest in der Gärtnerei?«, fragte die Mutter.

Gesine hätte ihr gern etwas entgegnet, ihr vielleicht sogar die Hand gegeben, aber die Mutter hielt sich am Vater fest und stellte schon die nächste Frage: »Was hast du bloß getan?«

Ihre Stimme klang tiefer als früher. Von den vollen Lippen liefen feine Falten. Die hohen Wangenknochen schimmerten, noch immer apothekengepflegt, doch der Blick, mit dem sie Gesine bedachte, war dunkel und schwer. Es war der Blick einer Fremden, die nach Hause will.

Hannes breitete die Arme aus. »Herr und Frau Augenthaler, ich darf Sie jetzt zur Kapelle bitten.«

Der Vater senkte das Kinn auf die Brust und schaute Hannes von unten her an. »Sie machen die ganze Zeit gemeinsame Sache mit Gesine? Kassieren unser Geld als Bestatter und verraten uns nicht, mit wem wir es in Wahrheit zu tun haben?«

Hannes blieb ruhig. »Sie missverstehen die Situation, Herr Augenthaler.«

»Nein. Die Polizei wird denken, wir ticken nicht richtig, dass wir ausgerechnet mit Ihnen zusammenarbeiten.«

»Die Polizei?« Gesine straffte sich.

Die Mutter stieß den Finger in ihre Richtung. »Du hast Mareike doch auf dem Gewissen!«

Vor Überraschung entfuhr Gesine ein Laut, der fast wie ein Lachen klang. Die Mutter setzte nach: »Ich habe es immer gewusst, dass du dich eines Tages an deiner Schwester rächen würdest.«

»Aber ich habe Mareike seit zehn Jahren nicht mehr gesehen«, rief Gesine.

»Das hat sie uns anders erzählt.«

»Dann hat sie gelogen! Ich wusste ja nicht einmal, dass sie aus Spanien zurückgekommen ist.«

»Hier am Friedhof habt ihr euch getroffen. Vor zwei Wochen zuletzt.«

»Nein!«

Hannes mischte sich ein. »Frau Augenthaler, das kann wirklich nicht stimmen.«

Von der Kapelle wehte der Glockenschlag über den Friedhof. Die Eltern horchten auf.

»Wir brauchen das nicht zu diskutieren«, sagte der Vater. »Die Polizei wird die richtigen Schlüsse ziehen.«

Er schob die Mutter auf den Weg, und gemeinsam gingen sie davon, stoisch, ohne sich noch einmal umzudrehen.