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Joseph Roth

NACHT UND
HOFFNUNGSLICHTER

Herausgegeben von Alexander Kluy

Mit einem Vorwort von
Wolfgang Müller-Funk

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GELEITWORT

VON ALEXANDER KLUY

Joseph Roth, der Romancier, ist Teil der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, ja der Weltliteratur.

Joseph Roth, der heilige unheilige Trinker, der Freund, der magisch-berückende charmante Unterhalter von größeren Runden in Kaffeehäusern und Bistros, ist Zentrum der um ihn gerankten privaten und privatwissenschaftlichen Mythen.

Aber Joseph Roth, der Zeitgenosse bewegter Zeiten, der Journalist, der Reporter, kein rasender, aber ein enorm schnell schreibender, ein höchst produktiver, doch nie schludrig formulierender, was ist mit diesem, umtriebig zwischen Wien und Berlin pendelnd?

Wien und Berlin waren Städte, die nach dem Ersten Weltkrieg für mehrere Jahre auf unterschiedliche Weise glänzend aufschienen, die eine – Wien – illuminiert von der erloschenen kalten Sonne der Habsburger, die andere – Berlin – von Lichtarchitektur, Kinowerbung, Reklame, von Jazz, Moderne und Boxen, Lebensgier und Sehnsucht. Beide beschrieb Roth, beide boten ihm Material in Fülle, von beiden war er auf unterschiedliche Art fasziniert.

Als Erzähler bannte Joseph Roth »bittere Märchen über die Vergänglichkeit« aufs Papier, »raunende Beschwörungen einer vergangenen Welt, in der auch noch in den kleinsten Dörfern römisch-katholische Polen, griechisch-orthodoxe oder unierte Ruthenen, protestantische Deutsche und Juden zusammenlebten«, so Arno Widmann, der zudem anmerkte: »Er war – in seinen Reportagen – auch einer der Buchhalter dieses Verlusts. Er war der seltene Fall eines Menschen, dessen Empfindungen seiner Beobachtungsgabe nicht im Wege standen. Er schärfte seinen Blick durch Zärtlichkeit.«

Jozef Wittlin, Roths Freund und späterer Übersetzer, hatte dies bereits 1949, zehn Jahre nach dessen Tod, in zauberische Worte voller Anmut und Bewunderung gefasst: »Er war ein feuilletonistischer Artist der Grazie, ein Zauberkünstler der leichten Form, ein Wortmaler poetischer Bilder, ein erbarmungsloser Fanatiker, wenn es notwendig war, die Wahrheit auszusagen, anzuprangern. […] Joseph Roth war nicht nur ein Zauberer der Sprache, der oft Flauberts Schönheit erreichte, er war nicht nur ein geistvoller, realistischer Lebensschilderer, der die Erkenntnis der Wahrheit mit der Kunst der Form auf höchstem Niveau zu vereinen verstand, er war nicht nur ein Aktivist der Intelligenz – in ihm schlug auch ein großes Herz

Joseph Roths Reportagen, Feuilletons, journalistische Miniaturen und Porträts sind aber weit über den Tag hinaus lesenswert geblieben – weil sie journalistische Literatur sind, und oft überzeitliche Literatur von Rang. Der vorliegende Band versammelt ausgesuchte Texte über Wien, wo er von April 1919 bis April 1920 Redakteur und Kolumnist der neu gegründeten, programmatisch »Der Neue Tag« benannten Zeitung war, und über Berlin, in der Roth, der spätere »Legitimist« und nostalgische Verklärer des Habsburgerreiches, 1925 »Der blinde Spiegel« in dem der deutschen Sozialdemokratie sehr nahestehenden Verlag J. H. W. Dietz publizierte. Dieser »kleine Roman« spielt im Wien zwischen 1916 und 1920, jenen Jahren, die er bewusst erlebt und beschrieben und sich erschrieben hatte.

In die deutsche Hauptstadt war Joseph Roth nach der Schließung des »Neuen Tags« übersiedelt, wie so viele andere österreichische Journalisten, Feuilletonisten und Kritiker auch, und schrieb für zahlreiche namhafte Zeitungen, Journale und Periodika mit staunenswerter Produktivität, mit überbordender Neugier aufs Urbane und mit einer beeindruckenden intellektuellen Flexibilität.

Flankiert wird Roths Prosa von Arbeiten, Texten und Aphorismen Wiener und Berliner Journalisten, Reporter und Feuilletonisten – von Karl Kraus bis Kurt Tucholsky, von Anton Kuh bis Stefan Großmann, von Arnold Höllriegel bis Victor Auburtin und Sling –: als Ergänzung, als Konterpart, als Gegenüberstellung wie als deckungsgleicher Kontrast, als erstaunlich lebendige Texte der Zwanzigerjahre. Und sichtbar wird, auch in der gleichen/ungleichen Behandlung derselben Themen, vom Verkehrswesen bis zu nächtlichen Vergnügungen, von Kaffeehausgästen und Beobachtungen während Gängen durch die Städte und Promenaden durch deren Mentalitäten, vom Hotel Sacher bis zum Café Kranzler, solcherart eine Ära zwischen Nachkrieg und Vorkrieg, zwischen untergegangenen monarchischen Systemen und bedrohlich aufziehenden mörderischen Diktaturen.

VORWORT

VON WOLFGANG MÜLLER-FUNK

Joseph Roth ist ein bis heute literarisch und intellektuell unterschätzter Autor. Eine solche Aussage mag angesichts der ungebrochenen Beliebtheit und Verbreitung eines Autors, der die Welt, die er auf seiner endlosen Reise, die sein Leben war, aus der ungläubigen Perspektive eines Fremden beschrieb, der in der Welt, vor allem in deren Zentren, nie angekommen ist (ob dieses Zentrum nun Berlin oder Wien, Paris oder, höchst imaginär, New York hieß), überraschen.

Noch die heutigen Auflagen seiner beliebtesten Werke könnten so manche Gegenwartsautoren und -autorinnen neidisch machen. Was aber so viel bedeutet, dass sein literarisches wie auch sein feuilletonistisch-journalistisches Werk noch immer eine Dimension von Aktualität besitzt, die in philologischer Traditionspflege nicht aufgeht. Bis heute wird an Roth das unterschätzt, was ich als Prägungskraft seines Werkes bezeichnen möchte, eine gewisse Zentralität der kleinen Form. Joseph Roth ist weder ein Autor der deutschen Neuen Sachlichkeit noch ein regionales österreichisches Phänomen, etwas für den sentimentalen Hausgebrauch Post-Kakaniens und seiner identitätsstiftenden Erzählkomplexe. Sein Œuvre ist Produkt und Produzent dessen, was man einigermaßen verschliffen und paradox als »klassische Moderne« bezeichnet hat. Joseph Roth gehört im doppelten Sinn in diesen Kanon, als Meister einer kleinteiligen, lyrisch-märchenhaften Prosa ebenso wie als scharfsinniger und pointierter Zeitzeuge der großen Krisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Seine sichere Hand, anschauliche Tableaus zu Papier zu bringen, die er in heute vergessenen feuilletonistischen Formaten eingeübt hat (etwa in seinen Glossen und Miniaturen in Der neue Tag), sind viel hintergründiger, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Diese Schilderungen aus dem Alltagsleben etwa der Wiener und Berliner Nachkriegszeit sind Türöffner, die uns Auskunft geben über die Verschiebungen, Brüche, Kränkungen und Absurditäten, die sich aus dem ungleichen Verhältnis von großen Ereignissen und kleinen Menschen, von unsichtbaren, aber bedeutsamen Veränderungen und ihrem Widerhall in Lebensverhältnissen ergeben, in denen diese nicht zu Bewusstsein kommen, aber, wie in dem beinahe vergessenen Roman Der blinde Spiegel, gleichwohl wirksam werden.

Der vorliegende Band versammelt Texte aus den ersten zehn Jahren des literarischen und journalistischen Schaffens von Joseph Roth. Seit den Publikationen von Ingeborg Sültemeyer und Hartmut Scheible in den 1970er-Jahren ist es üblich geworden, Roths Werk in mindestens zwei Perioden aufzuspalten: hier der Linksrepublikaner, der seine Artikel häufig mit der »rote Joseph« signiert, dort der konservative Monarchist und ›heilige Trinker‹, der mit der Welt im Hader ist. Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, diese Wende zu kommentieren und zu analysieren. Viel wichtiger erscheint es mir indes, darauf hinzuweisen, dass es ungeachtet dieser politischen Wende, die zweifelsohne mit Roths Reise in das vorstalinistische Sowjetrussland und seiner zunehmenden Enttäuschung der politischen Entwicklung in Deutschland zusammenhängt, auch so etwas wie eine Kontinuität der Schreibweise, des literarischen Gestus, des hohen Maßes an Empathie und der damit verbundenen narrativen Techniken gibt. Ein Satz wie »Es regnete wirklich und der Vater kam, mit ergrauten Schläfen« (»Der blinde Spiegel« 1925), könnte sich auch in vielen späteren literarischen Texten finden, die auf eigentümliche Weise die Opposition von Roman und Erzählung neutralisieren. Das hängt ganz offenkundig mit jenen einsamen lyrischen Sätzen zusammen, die nicht selten ein Tableau vor dem Lesepublikum entfalten. Der höchst amüsante und merkwürdige Zusatz, dass es wirklich regnet, wenn der Vater von Fini aus dem Krieg nach Hause kommt, ist ein Indiz für jene ironische Märchenhaftigkeit, die in der Joseph-Roth-Welt obwaltet, übrigens nicht nur in der literarischen Prosa, sondern auch in den fast immer poetisch durchsetzten Feuilletons, jenen Gebrauchstexten, von denen der Autor leben musste und mehr und mehr leben konnte.

»Manchmal ist die Welt kleinwinzig wie ein Ameisenhaufen, so daß man ordentlich den Respekt vor ihr verliert«, heißt es in einem frühen Feuilleton-Text. Es spricht sich hier eine Weltfremdheit aus, die generell ist und aus der das poetische Schaffen Roths erwächst. Die Fremdheit des jungen Gefühlssozialisten und später ebenso romantischen »Monarchisten« ist eine vielfache, es gibt da, Kafka durchaus nicht unähnlich, eine Fremdheit, die mit der jüdischen Herkunft einhergeht. Es gibt ferner, weniger oft vermerkt, die Fragilität männlicher Identität. Weltverlorenheit stellt sich historisch zwiefach ein, als Ergebnis des Ersten Weltkriegs, der den Staat hinwegspült, in dem Roth höchst peripher geboren wurde, und als Folge des sich ankündigenden Scheiterns des sozialistischen Experiments in Russland. Fremd bleiben Roth zudem lebenslang jene urbanen Zentren, von denen er sich zugleich angezogen fühlt, so sehr, dass er lange vor dem Ende der Weimarer Republik Paris zum provisorischen Lebensmittelpunkt erkoren hat. Roth befindet sich, lange vor dem inneren Bruch mit dem marxistischen Sozialismus, auf einer permanenten Suche nach einer politischen Heimat. Er möchte sich so gerne mit etwas und jemand identifizieren, mit Friedrich Ebert oder mit Kaiser Franz Joseph, und vermag es doch eigentlich nie, weder als Linksrepublikaner noch als Über-Monarchist, in dem doch insgeheim sehr viel von seiner unbestimmten Linksorientierung der Jugendzeit bleibt, etwa seine Gegnerschaft zu Deutschnationalismus, Militarismus, völkischem Denken und schlussendlich zum Nationalsozialismus – politische Phänomene, mit denen sich Roth schon sehr früh beschäftigt hat, als Berichterstatter des Hitler-Ludendorff-Prozesses, aber auch in seinem frühen Roman Das Spinnennetz.

Der Raum des Literarischen erlaubt Roth eine Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit zu etablieren, aus der vor allem das literarische Werk seine innere wie äußere Spannung des Wortes bezieht. In literarischen Texten, aber auch an den heute nicht mehr existenten, an Kraus und Polgar geschulten Formaten des Feuilletons müssen nicht endgültige Urteile gesprochen werden – was Anteilnahme für die einen oder Spott für die anderen nicht ausschließt, so etwa, wenn ein »neugegründeter Sicherheitskörper« in der Custozzagasse einen »italiänischen« Revolver erbeutet und ganz kurz am Horizont jene Schlacht aufscheint, die nicht in der Custozzagasse, wohl aber zu Custozza stattgefunden hat. Dieser »Sicherheitskörper« sieht dem heutigen übrigens zum Verwechseln ähnlich.

RUDOLF OLDEN:
NACHRUF AUF EINEN FREUND

»In der Redaktion des Neuen Tag war ich zusammen mit Alfred Polgar, R. A. Bermann, – bekannter als Arnold Höllriegel –, mit Karl Tschuppik, Egon Erwin Kisch, dem Zeichner Carl Josef, Karl Otten. Oft kam spät abends ein sehr magerer und sehr stolzer junger Mensch, dessen kurze Manuskripte Tschuppik mit zur Schau getragenem Respekt übernahm. Auch er war ein eben abgerüsteter Offizier. Man wußte nichts von ihm, als daß er auf eine besondere Art sah und Joseph Roth hieß. […]

Ich zweifle, ob wir wirklich eine gute Zeitung gemacht haben. Die Arbeiter-Zeitung hieß die erste Nummer des Neuen Tags mit einer freundschaftlichen Notiz willkommen. Aber eine Woche später hatte Friedrich Austerlitz, der große Journalist, der ein grausamer Polemiker sein konnte, uns en gruppe genommen, und wir sind das ganze Jahr nicht mehr aus der Polemik herausgekommen. Eigentlich sollte sie doch die Bürger mit den neuen Dingen versöhnen und, oh oft geträumter Traum, die böse alte Neue Freie Presse entthronen. Nun war stattdessen der tägliche Bruderkrieg. Darunter wird die Qualität der Zeitung wohl gelitten haben, und ich zweifle, ob sie war, was sie hätte sein können. Aber ich weiß, daß es die einzige Redaktion gewesen ist, die mir jemals Spaß gemacht hat, und das bißchen, was ich journalistisch kann, habe ich dort von Karpeles [Benno Karpeles, Gründer und Herausgeber des »Neuen Tags«] und Bermann gelernt. Ein Jahr lang, wie gesagt, dauerte das Vergnügen. Eine Zeitschrift und eine Zeitung, das ist teurer als ein Rennstall, und außerdem fraß inzwischen hinterrücks die Inflation Karpeles’ Vermögen auf. Wir wurden tückisch verkauft. Karpeles ging beleidigt weg, als seine souveräne Unabhängigkeit in Frage gestellt war. Eine Woche später gab der Kreis, den ich genannt habe, dem neuen Eigentümer den Rat, die Sache aufzugeben. Sie wollten nicht mehr mitmachen. Ungewöhnliches Ende einer Zeitung, von den eigenen Redakteuren gesprengt zu werden!«

Das Neue Tage-Buch, Jg. 6, Heft 6, 5.2.1938

JOSEPH ROTH:
WIENER SYMPTOME

DAS JOURNALISTISCHE WERK

1915–1923

WIENER SYMPTOME

Mai und Mais

Fast hätte ich geglaubt, es wäre ein fataler Druckfehler im himmlischen Verordnungsblatt. Als der Mai trotz Abschaffung der Sommerzeit noch über die Welt kam und das Maisbrot noch auf den Tisch, kostete ich noch einmal das erhabene Gefühl des Durchhaltens in vollen Zügen und würzenden Bissen, schwamm ich in goldgelben Reminiszenzen aus der Zeit, in der man Gold für Maisbrot gab, das schwer verdaulich war wie ein Kriegsbericht und zwerchfellblähend wie ein A-Befund …

Es kommt just zur rechten Zeit: Dieweil Paris Kriegsschlüsse diktiert, erinnert sich das Wiener Volksernährungsamt nicht mit Unrecht des Mai, der jahrelang »Offensive«, und des Maises, der »Volksnahrungsmittel« hieß, und unternimmt mit dem letzteren die erstere gegen die Wiener Bevölkerung. Keiner weiß, woher er kam, der Mais. Name und Art nur kennen wir zur Genüge. Stammt er etwa noch aus den Vorratskammern des ukrainischen Brotfriedens? Drischt man ihn aus den Ähren jener Felder, deren Ähren man zerstampft? Oder ist er eigens zurückbelassen aus jenen Jahren straffster Drosselungen als sinniges Maisgeschenk zum Zeichen des Friedensschlusses? Oder als Abschiedsgruß einer aus der Kommune scheidenden Partei? Etwa: im Weltkrieg habe ich dein, o Wiener, gedacht. Drum hab’ ich dir zum Frieden dies dargebracht?! …

Es ist jedenfalls ein kunstvoll dramatischer Aufbau in der Wiener Brotversorgung der letzten Wochen zu sehen. Nach dem Höhepunkt des Weißbrotes die Peripetie des Maisbrotes. Allen dramatischen Regeln zum Trotz unterbleibt hoffentlich die Katastrophe. Denn dieses goldgelbe Verhängnis ist an und für sich schon sinniger Abschluß einer gastrischen Tragödie, auf gefallenem Vorhang ein Fragezeichen, an Paris, ernste Mahnung an übermütig gewordene Zwölffingerdärme, Schlußakkord der 42-Zentimeter-Haubitzensymphonie, Punkt und Pause hinter der ganz ungenügend ausgefallenen Hausarbeit über die große Zeit … Alles in allem: ein Wiener Symptom …

Schokolade

Ich sah eine Rippe um zwei Kronen vierzig in der Auslage. Ein blondes Mäderl, barfuß, Hunger in den blauen Kinderaugen, stand davor. Im Anblick der schwarzbraun glänzenden Schokoladerippen wurde Fames vulgaris (gemeiner Hunger) zu beflügelter Sehnsucht, gierig-körperliches Verlangen zu beschwingtem Himmelanstreben, animalische Angelegenheit zur rein seelischen. So etwa sieht der Himmel dieses Kindes aus: braun und mit Schokolade tapeziert. Und diese kleine Rippe um 2 Kronen 40 ist die Schwelle, über die man ins Himmelreich tritt …

Schokolade! Sie trägt eine Zürcher Marke und ist sicher durch den Schleichhandel in die Anlage geschmuggelt worden. Ich aber vergebe und vergesse in diesem Augenblick allen Schleichhändlern der Welt ihr Preistreiben für bloßen Anblick. Dem Feinde neben mir ist die Rippe die Schwelle zum Himmelreich. Mir – Schwelle am Tor der Zukunft. Durch wie viele Länder mit Grenzen, Verzollungen, Repetitionen, Vidierungen, Visitationen mußte diese Rippe wandern, ehe sie ins Schaufenster des Zuckerbäckers Thomas Helferding gelangte! Und nun ist sie da: Aller Völkerfeindschaft, Seelenverhetzung zum Trotze, ein schwarzbraun glänzendes Zeichen ewiger Völkergemeinschaft!

Still standen wir da und schmeckten die Herrlichkeiten schlaraffenländischer Zukunft. Unsere Augen schimmerten in Liebe, Sehnsucht und Verehrung. Unser Blick ward Gebet.

Dann ging ich in den Laden und kaufte eine Rippe. Brach sie sorgfältig und gab dem barfüßigen Mädchen die Hälfte. Und aß die andere selbst. Und wetteiferte mit dem Kinde im Kindsein …

Josephus

Der Neue Tag, 18.5.1919

KAFFEEHAUSFRÜHLING

Er offenbarte sich bisher bloß darin, daß die Kaffeesieder Preise trieben, die tägliche Ausgabe für Frühstück und Jause in die Höhe schoß, im »Schwarzen« lenzlichgeheime Säfte goren, die Ausbeutung des Publikums ungeahnte Blüten trieb und das Geschäft überhaupt florierte. So sieht der Wiener Kaffeehausfrühling aus. In der letzten Woche kam noch ein Neues hinzu: Schani trug den Garten hinaus. Der »Garten« besteht aus ein paar Latten und Dielenbrettern, die wohlverwahrt auf dem Dachboden Winterschlaf hielten, und einem Gitter aus Drahtgeflecht oder Eisen. Ein besonderes Zuvorkommen dem Mai und den Gästen gegenüber bedeuten noch einige Blumentöpfe und jene grünen Zweige, auf die in diesem abnorm kalten Frühjahr nur die Kaffeesieder kamen. Und somit ist alles für die Sonne gerüstet, die leider »infolge Ausbleibens wichtiger meteorologischer Nachrichten« von der Sternwarte nicht angekündigt werden kann und sich ohne zuverlässige Prognosen nicht recht aus den Wolken hervortraut …

Sieht man diese gottverlassenen Caféveranden an, so drängt sich einem fast unwillkürlich der Vergleich mit nie erfüllten Friedensträumen, verregneten Aussichten und verschnupften Weltlagen. Diese umgekehrten Tische mit den umgestülpten Korbstühlen, die vor Nässe weinen, sehen einer verkehrten Welt verzweifelt ähnlich, in der alles auf dem Kopf stünde, wenn auch nur etwas einen Kopf hätte. Die Luft, die man eigentlich von Rechts wegen hier draußen genießen sollte, ist erfüllt mit Kriegsberichten, die von den Friedenskonferenzen kommen, und das Eis, das in normalen Zeiten hier geschluckt werden würde, hält leider noch immer die Herzen der Menschen krampfhaft umschlossen. So wird, was dereinst Fortsetzung gemächlichen Familienlebens und gemütlicher Tarockpartien auf die Straße war, heute eine recht ungemütliche Verquickung einer ungemütlichen Öffentlichkeit mit privaten Familiensorgen. Die Kaffeehausterrasse ist heute nur mehr ein überflüssiges Requisit aus besseren Zeiten und obendrein noch ein Verkehrshindernis wie Straßenbahn, Post, Telephon und andere »Verbindungsmittel«. Für Kaffeesieder hat sie allerdings einen Vorteil: Sie ermöglicht ihnen, unangenehme Stammgäste, die über die Preiserhöhung schimpfen, auf glatte Weise und im wahrsten Sinne des Wortes – an die Luft zu setzen …

Nachtleben

Nacht für Nacht gehe ich denselben Weg. Nacht für Nacht sehe ich dieselben Bilder. Vor dem Versorgungshause fährt der Leichenwagen vor, unerbittlich, nüchtern, geschäftsmäßig, um diejenigen zu versargen, die ehemals versorgt waren. Man weiß wirklich nicht, was vorteilhafter ist. Es könnte auch ein boshafter Druckfehler sein …

Ein paar Häuser weiter, vor dem anatomischen Institut, steht wieder der Tod. Diesmal in modernerem Gewande. Ein Straßenbahnwagen, dessen rückwärtige Wand ein weithin leuchtendes Kreuz trägt. Die Tore des anatomischen Instituts stehen weit offen. In plumpen glattgehobelten Holzkästen, die eine verschwommene Ähnlichkeit mit Holzsärgen haben, liegen die sezierten, geprüften, durchstudierten Leichname. Kasten um Kasten wird in den Straßenbahnwagen geschoben. Vollbeladen mit zu wissenschaftlichen Zwecken hinaufavancierten Leichen fährt die Straßenbahn mit dem weithin leuchtenden Kreuz schließlich davon. Es ist die einzige Wiener Elektrische, deren Gäste sich in stummer Liebenswürdigkeit nicht auf die längst sezierten Hühneraugen treten …

Was ist das dort vor dem Votivplatz? Wieder der Tod? Werden Gräber geschaufelt? Geheimnisvoll vermummte Männer um ein flackerndes Windlicht gruppiert. Sie hacken mit Spaten und Krampen in der Straßenmitte, zwischen den Schienen der Straßenbahn, krempeln das ganze Pflaster auf. Schatzgräber etwa? Symbol wären sie dann, Repräsentanz des deutschösterreichischen Volkes, das, arm an Beutel, krank am Herzen, nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn es Regenwürmer findet, um sie zu verspeisen …

Es sind weder Toten- noch Schatzgräber, sondern Arbeiter aus der Reparaturwerkstätte der städtischen Elektrizitätszentrale, und ihr musterloses nächtliches Hantieren dient der Aufrechterhaltung der Straßenbahnverbindungen. Sie schaufeln sozusagen das Grab des Wiener Verkehrs ab, um diesem seine Auferstehung zu erleichtern …

Auf dem Hof steht seit einiger Zeit ein Mann mit einem Sodawasserkarren. Täglich um die Stunde, zu der, den Lichtsparmaßnahmen zufolge, die Nacht unerbittlich eintreten muß, besetzt der Mann seinen Posten. Er ist eine Kombination von Salamutschl- und Würstelmann, eine Neubildung ungefähr, den geänderten Umständen angepaßt. Er verkauft Speck, Sodawasser und Backwerk und ist die einzige Erscheinung im Wiener Nachtleben, die mit ihrem flackernden Gasolinlicht in eine frohe Zukunft weist.

Denn so ist unser »Nachtleben«: Unsere Mitbürger sterben und werden eingesargt wie unsere Vergangenheit, ihre Leichen seziert wie unser Vaterland, die Auferstehung unseres Straßenverkehrs sieht einem Begräbnis verzweifelt ähnlich, und das Licht unserer Hoffnung ist ein irrlichterndes Gasolinflämmchen, das über gesalzenem Amerikaspeck und unerschwinglichen Ersatzmehlspeisen im Nachtwinde taumelt …

Josephus

Der Neue Tag, 23.5.1919

DIE MÜLLI!

Plötzlich geschah es, daß eine Frau aus der Ecke des übervollen Straßenbahnwagens den Ruf ausstieß: »Die Mülli!« Hätte sie: »Es brennt!« gerufen, die Aufregung wäre viel geringer gewesen. Ich sah aus bleichen, bartstoppelübersäten Mannsköpfen gierige Heißhungeraugen hervorquellen, ich sah Frauen aus zermarterten Gesichtern Habichtblicke wie Pfeile abschnellen, Kinder, blasse, semmelblonde, dürr und pergamenten wie Dörrgemüse, erstaunt, erschrocken bebend wie vor einem Großen, Ungeahnten, Schönen und doch Schauerlichen die Köpfe zusammenstecken und neugierig zwischen Armen und Beinen der Großen hindurch in jene Ecke blicken, allwo ein dünner Strahl, weiß und fettgelblich, wie Elfenbein, in einer Ritze des Waggonbodens bedächtig und gemächlich rann. Die Milchkanne der Bäuerin aus Stockerau war über die Füße eines Fahrgastes gestolpert, der an einem Ersatzriemen aus Papierleinwand hart unter dem Waggondach hing, als wollte er demonstrativ die Abschaffung der Todesstrafe leugnen. Der Inhalt der Milchkanne bahnte sich viele Wege durch Ritzen und Spalten des Waggonbodens. Die Leute, die im Waggon saßen, hoben die Füße in die Höhe, aus Angst, in die Milch treten zu müssen. War es die Milch einer Zeus geweihten Kuh, vielleicht Europas? War es Milch aus den heiligen Eutern Mahabharathus? Was war das für eine Milch, in der die Augen aller Passagiere ehrfurchtsvoll ersoffen und vor der die Leute auf die Bänke stiegen, um sie nicht zu beschmutzen? Es war die Milch einer sterblichen Kuh aus den irdischen Gefilden von Stockerau. Milch war es, eine halbverklungene Sage aus den Zeiten der Vorvergangenheit für die Großen, ein weißes Silbermärchen von ungeahnten Geheimnissen für die Kleinen. Es war eine Milch wie jene, die per Liter 15 Kreuzer kostete zu einer Zeit, da die Krone noch einen Nährwert hatte und die Milch eine Valuta. Es war Milch, gewöhnliche, außerordentliche, einfache, göttliche Milch …

Es hat wenig gefehlt und ich hätte das erhebende Schauspiel erlebt, daß gestoßene, zerschundene, verhungerte, vom Kriege und seinen Anleihen gezeichnete, durchgehaltene, Schulter an Schulter überstandene, Teisinger und Tode entgangene, von Blockaden gedrosselte und von Ernährungsmaßnahmen rationierte Ebenbilder Gottes auf den Boden einer Elektrischen glatt und bäuchlings ausgestreckt gelegen hätten, um mit jenen Zungen, mit denen sie mit Hurrah Hötzendorf gepriesen, die ausgeronnene Milch zu schlecken.

Trara!

Seit einiger Zeit schwingt mitten durch das Brummen der Autos, das Kreischen der Elektrischen und das Tuten der Schaffner ein seltsamer Ton von wunderbarer Melodie. Es klingt wie das Halali einer Jagd und das selige Trara eines Postillons. Es sind die Signale eines Autos; von dem ich vermute, daß es Eigentum einer fremden Militärmission ist. Ich sage seinem Besitzer somit öffentlich Dank. Das Signal ist hell und lustig und klingt wie eine Aufforderung mitzukommen. Komm mit, ruft es, sehen wir uns die Welt an! In diesem silbernen Trompetenton vernehme ich die hellen Stimmen einer europäischen Zukunft: Liebliche Maiennächte mit fliegenden Silberwölklein, Postillon, Abschied und Reise ins Märchenblaue. Ich sehe Grenzen fallen, Pässe überflüssig werden, Visitationen und Requisitionen überflüssig werden, und ich fahre auf einer mondlichtüberfluteten breiten Straße durch die römische Campagna. Und ich sehe in eine Zukunft, in der ich ohne jede Einreisebewilligung selbst nach Hütteldorf-Hacking gelange …

Die Politik, die Mädel und der italienische Stern

Einmal, als die Zeit noch so groß war, daß selbst die kleinen Mädel sie begriffen, waren patriotische Kokarden, Matrosenschleifen mit Namen vaterländischer Fregatten und Abzeichen, die man an Kriegsblinden- und anderen Festtagen verkaufte, Schmuck und Zierrat jener Mizzis, Poldis, Fritzis und Franzis, deren Tagewerk mit Anbruch der Nacht begann und in der harmlosen Gesellschaft eines Leutnants in Erholungsurlaub vor sich ging. Heute, da eine neue Welt die alten Kokarden unmöglich macht, erweisen sich alle diese kleinen Mädel als große Staatsmänner, die die Abzeichen ihrer Zeit besser verstehen als unsere Diplomaten die Zeichen. Der fünfzackige italienische Stern in jenen Tagen, da die Italiener Katzelmacher hießen, armseliges Schmuckstück auf dem Rock italienischer Kriegsgefangener, schimmert heute an den Blusen aller Mizzis. Er ist ihr Leitstern geworden, der ihnen auf dem Weg in die Hinterstübchen italienischer Militärmissionen leuchtet, uns anderen mag er der Stern des Frieden sein, der am Himmel der – Geschlechterversöhnung glänzt. An allen Ecken und Enden der Kärntnerstraße und des Rings taucht er in den Abendstunden auf, und sein Schimmern bedeutet den italienischen Fremden: si parla italiano! Die Wiener Gemütlichkeit ist weit von den Mitteln entfernt, die im heiligen Lande Tirol Anwendung fanden. Der Wiener zitiert höchstens frei nach Schiller: An ihrer Brust sind ihres Schicksals Sterne.

Josephus

Der Neue Tag, 1.6.1919

SCHUHRIEMEN, BITTE!

Sinnbild und Überrest einer großen Zeit, durch Teisingermethoden aus Alltagsmaterial schnellstens hergestelltes Heldentum, mit moderner Prothesenkonstruktion neu angelegtes und repariertes Ebenbild Gottes, aufgestellt an der Straßenecke, wo Kriegsgewinn und Jetzt sich kreuzen, schwingt ein Etwas von einem Menschen in der durch einen gutmütigen oder boshaften Zufall nicht auf dem Felde der Ehre verbliebenen Rechten einen Bund Schnürsenkel. Statt auf Beinen, die andere Schnürsenkelverkäufer außer der Bronzenen auch noch nach Hause gebracht haben, steht dieser auf zwei hosenumschlotterten Prothesen. Mit der Leidenschaft jener Verzweiflung, der man es ansieht, daß sie ein Kind der Wiener Invalidenfürsorge ist, schwingt er sein Bund über den Häuptern arbeits- und beschäftigungsloser Passanten, schwingt sie siegreich, die schwarze Fahne des Elends. Schmettert immer wieder, immer wieder sein: Schuhriemen, bitte! In die Menge, als müßte er diese zum Sturm anführen. Seine Schuhriemen sind unverfälschter Papierspagat – sonst hätte er sich schon längst aufgeknüpft. Von frühem Morgen bis in die Nacht hinein kann man meinen Schnürsenkelverkäufer sehen. Sein Bund bleibt immer gleich groß, kein Mensch kauft Schnürsenkel aus Papierspagat. Aber unermüdlich schreit und fuchtelt dort an der Ecke das Fragment eines Menschen herum, flackernden Hunger in der Miene, Drohung und Gebet in der Stimme. Ist gar kein Schnürsenkelverkäufer mehr, sondern Mahnbild und Prophet. Sein Schrei wird überfahren vom Gekreisch der um die Ecke biegenden Elektrischen, seine Handbewegung weggewischt von der Geste des Profitgeistes. Um ihn herum feilscht Welt, Weib und Gewinn, linkswalzt Wien, die Stadt des Blaufuchses und des Kriegsblinden …

Der General

Täglich um die Morgenstunde, zu der ein Pfeifendeckel zur Salzsäule erstarrte: Exzellenz, ich melde gehorsamst …, geht der General die Straße entlang, frisch rasiert und backenbartgepflegt. In seinem Gang militärische Knappheit und Pseudozielbewußtsein, in seiner Haltung inhaltslose Dressur. Sein Auge noch so blitzblau wie damals, als er vor dem Feinde und zwischen den beiden eine Brigade stand. Bemüht, in die Zukunft zu sehen, sieht er Vergangenheit. Vergangenheit mit Marschmusik, Donnerhall, Prinz-Eugen-Brücken, Gehorsam und Sklavensinn. Wenn ein Soldat an dem General vorbeikommt, bemüht sich der Alte, nicht zu sehen. Er will nachsichtig sein und drückt ein Auge zu. Aber dann ist Bitterkeit, Leere, gähnender Weltraum, Grenze der Vernunft. Er war General, weil sie ihn Exzellenz nannten. Er war General im Gefüge der Brigade. Er war »komplett«, als ihn die anderen grüßten. Er war nie Individuum. Immer ein Bestandteil, wie ein Knopf, ein Kolbenhals, ein Tornister, eine Wasserjacke. Er fand seine Ergänzung im Gehorsam der anderen. Jetzt ist er Überrest, Fragment, Brigadier oder Brigade, Stratege ohne Dienstreglement, Herr ohne Diener. Aber Herr noch immer, mit der Gloriole einer tragischen Ironie um die Generalskappe, standesbewußt ohne Stand und ehrenhaft ohne Kodex …

DIE GALGENFRIST

Als ich eines Abends, wie es meine Gewohnheit ist, pünktlich und höchst loyal zehn Minuten vor 9 Uhr vor meinem Haustor ankam, war es – offen. Die für 9 Uhr angesetzt gewesene Haustorsperre hatte auf meinen Tugendwächter, so sich »Hausmeister« nennt, einen so vortrefflichen Eindruck gemacht, daß er, der typische Repräsentant altösterreichisch-gemütlichen Konservatismus, der trotz Umwälzungen und Götterdämmerungen christlichsozial und konservativ gesinnt geblieben war, angefangen hatte, nicht nur mit der Zeit zu gehen, sondern auch ihr vorauszueilen. Unter der Devise: »Zeit ist Sperrsechserl« hatte er schon um ¼ 9 Uhr das Haustor geschlossen und und Parteien, die zwischen ¼ 9 und 9 Uhr kamen, ganz einfach warten lassen, bis es neun geschlagen hatte und kein Einwand mehr möglich war. Man war eben erst da, nachdem man seine Anwesenheit vom Herrn Hausmeister bestätigt erhalten hatte, zahlte seinen Obolus und schwamm in den Hades seiner gaslichterdrosselten Behausung. So kam es mitunter vor, daß sich einige Mietsparteien vor dem Haustore angesammelt hatten und daß ich mich anstellen mußte, um schlafen gehen zu können. Einmal hatte ich es zwar versucht, einen Haustorschlüssel zu bekommen. Ich ging zum Herrn Inspektor und sprach: Herr Inspektor, halten zu Gnaden, da wir schon einmal in einer freien Republik schlafen zu gehn gezwungen sind, bitte ich, mir den Haustorschlüssel zu meiner persönlichen Freiheit gegen ein angemessenes Entgelt und Trinkgeld ausfolgen lassen zu wollen. – Aber der Herr Inspektor erschrak vor dem Worte: persönliche Freiheit und verweigerte mir den Schlüssel. Also gewöhnte ich es mir an, zehn Minuten vor neun Uhr nach Hause zu kommen, um erst fünf Minuten nach neun nach Hause kommen zu können …

An jenem Abend aber, da ich das Haustor offen fand, war ich in arger Verlegenheit. Dem Hausmeister konnte ein Unglück passiert sein. Oder die persönliche Freiheit war in der deutschösterreichischen Republik tatsächlich eingeführt worden. Oder der ganze Magistrat ist meschugge. Oder es sitzen schon Bolschewisten im Gemeinderat. Oder das Haus, in dem ich wohne, ist sozialisiert. Oder das Schloß ist kaputt und funktioniert nicht. Ich zog also mein Sperrsechserl, ging in die Wohnung des Hausbesorgers und hub an: Werter Herr Hausmeister, ich bitte sehr um Verzeihung, Sie dürften sich heute geirrt haben, da ist Ihr Sperrsechserl. »Na« – sagte der Gewaltige – »mir ham uns net geirrt. Wir sperren scho um zehne!«

Was war geschehen? Was hatte den Hausmeister zu der Gewährung einer Galgenfrist von einer Stunde bewogen? Hatte ihn ein Hauch der neuen Zeit angeblasen?

Ich komme jedenfalls seit damals erst um – halb elf Uhr nach Hause. Die Mietsparteien stehen in langen Ketten vor dem Hause. Ein Wachmann sieht auf Ordnung in den Reihen der Angestellten. Punkt zehn Uhr beginnt der Einlaß. Denn seit die Haustorsperre für zehn Uhr festgesetzt ist, sperrt mein Hausmeister, immer noch der Zeit voranfliegend und seine eben erwähnte Devise beibehaltend, erst um – neun Uhr …

Josephus

Der Neue Tag, 15.6.1919

BARRIKADEN

Nein, sie stammen wahrlich nicht aus der Zeit der Revolutionen. Sie sind nicht Anzeichen eines aufgeregten, sondern im Gegenteil: eines gemütlichen Wien. Sie sind nicht Zweck und Ziel einer Strömung, sondern Grund und Ursache einer Untugend. Aber was auch beim Anblick dieser Barrikaden so empört, ist eben der Umstand, daß sie der Ausdruck jener Zwecklosigkeit sind, die die Existenz des Winters ausmacht und die, aufgeweicht in einem Viertelliter Heurigen, als sogenannte »Gemütlichkeit« von Volkssängern und Feuilletonisten wiedergekäut und ausgespuckt wird. Ist eben jene Schlamperei, die nicht der Fehler der alten österreichisch-ungarischen Monarchie war, sondern die Tugend dieses unseres Deutschösterreich, daß diese seine Tugend allen Teilstaaten aufoktroyiert. Und wenn auch tausendmal erklärt wird: Deutschösterreich sei ein funkelnagelneuer Staat, der mit dem alten Reiche nichts zu tun habe, so verweise ich dringend und unerbittlich auf jene uralte Bretterverschalung des neuen Boltzmann-Instituts in der Währingerstraße, auf jene Bretterverzierung, die jedem Einsichtigen beweisen muß, daß wir zwar ein funkelnagelneuer Staat geworden, aber mit alten k.k. Brettern jämmerlich geflickt sind.

Wozu steht dieses Brettergerüst immer noch da? In der Nacht verrichteten Hunde und Heurigenmenschen dort ihre Notdurft, und am Vormittag klebt man dort Plakate auf mit der Ankündigung von Linkstänzen um Blaufüchse und Rechtstänze um goldene Kälber. Wäre es nicht vernünftiger, das letztere in der Stille einer Sommernacht und das erstere im Sonnenglanz des Tages zu erledigen? …

Heimgekehrt

Plötzlich tauchten sie auf, zwei Gestalten in der Kärtnerstraße, Robinsons oder so was, mitten zwischen Bügelfalten, Crêpe de Chine – Kleidchen, Lackstiefeletten und Telepathen: zwei Gestalten, robust, schwer, schmutzig und antediluvial. Bei näherem Zusehen entpuppen sie sich als zwei Heimkehrer. Sie waren aus Irkutsk oder sonst einer Gegend, wo nicht mehr der schwarze, sondern der rote Pfeffer wächst, im Sommer vergangenen Jahres aufgebrochen und hatten das zweifelhafte Glück gehabt, im Jahre des Herrn 1919 in ihre Heimatstadt Wien, die Stadt ihrer Träume, zu gelangen. Auf ihren zerfetzten Stiefeln lagerte der Staub von drei langen, total zerwanderten Jahren, und ihre braungebrannten Körper staken in Säcken von einer undefinierbaren Färbung, die sehr entfernt an Gelbweiß erinnerte, aber ebenso gut auch sandige Erde hätte sein können. Sie schritten mächtig aus, sie suchten das Kommando, bei dem sie sich zu melden hätten. Sie staunten nicht, sie wunderten sich nicht. Scheinbar war das mächtige Erleben spurlos an ihnen vorbeigegangen. Ich sprach mit ihnen. Es war ihnen gutgegangen in Rußland. Wozu sie heimgekehrt seien? – Weil man doch einmal zu Hause sein wolle. Wissen sie, in welches Haus sie heimgekehrt sind? Als sie auszogen, war die Zeit noch groß, da sie zurückkamen, ist sie neu. Aber jene haben wir so lang enden lassen, daß wir diese nicht alt werden lassen. Und so sind sie, die beiden Heimkehrer, heimgekehrt in einer Zeit, deren Neuheit darin besteht, daß sie mit Neuerungen mißlungener Experimente verunstaltet, heimgekehrt in eine Stadt, deren Straßenpflaster die Ehre haben, auf dem ebensogut Blut fließt wie auf den Feldern desselben Namens, heimgekehrt in ein Land, das nicht weiß, was anzufangen, weil es überall aufhört, heimgekehrt zu Menschen, die »Genosse« einander sagen und den Revolver in der Hosentasche tragen. Wozu sind diese beiden heimgekehrt? Sie wissen es ebensowenig wie den Grund, weshalb sie ausgezogen sind. –

Josephus

Der Neue Tag, 22.6.1919

Eine Kaffeehausterrasse und noch eine

An einem schönen Sommerabend hat ein Ringstraßencafé nächst der Oper zwei Terrassen:

In der ersten sitzen erwachsene Kriegsgewinner und schlürfen Eis und spielen Buki oder Tarock. Das ist die legale, anerkannte gesetzlich geschützte Terrasse. Eine Terrasse mit gesellschaftsfähigen und bügelfaltengezierten Besuchern.

Vor dieser Terrasse eine etwas elementarere, improvisierte: deren Besucher ohne Bügelfalten, noch nicht erwachsene Kriegsgewinner, sitzen nicht auf Korbstühlen, sondern teils auf dem Pflaster, teils auf dem sehr schwindsüchtigen Rasen im Schatten eines Ringstraßenbaumes.

Und spielen Tarock.

Es sind Kolporteure der öffentlichen Meinung, und es scheint mir notwendig, diese auf das Vergnügen ihrer Verkäufer aufmerksam machen zu müssen.

Denn die Öffentlichkeit flaniert achtlos an den zigarettenrauchenden tarockierenden Knaben vorbei, und nur, wenn sie im Auto sitzt, läßt sie ein Hupensignal vernehmen oder weicht dem spielenden Rudel halbwüchsiger Kolporteure aus. Man darf die Kleinen in ihrem Vergnügen nicht stören. Es ist ja sozusagen das Jahrhundert des Kindes.

Ein Wachmann steht in der Nähe und wartet aus Berufsgründen auf eine Gelegenheit, einschreiten zu können. Da heute ausnahmsweise nicht eine einzige Kriegswitwe einen Demonstrationszug über den Ring veranstaltet, läßt der Wachmann die Kriegswaisen ungeschoren. Vielleicht auch, weil er meint, das sei der Anfang der angekündigten Schulreformen: Um den Tüchtigen unter den Knaben freie Bahn zu schaffen, läßt man sie vorläufig, in den Ferien, die Fahrbahn der Ringstraße besetzen. Der Aufstieg der Begabten beginnt damit, daß diese vorderhand auf dem Pflaster sitzen bleiben. Wer die Partie gewinnt, hat seine Begabung erwiesen und darf aufsteigen.

Wie soll man das nennen? Im Zentrum einer Kulturstadt, auf der Straße tarockierende Knaben: eine »Kulturschande«?

Nun: Schande hätten wir seit eh und je genug gehabt!

Aber – das erstere?…

Josephus

Der Neue Tag, 10.8.1919

IN UND AUSSER DIENST