Michael E. Vieten

Christine Bernard

Der Fall Siebenschön

Die Handlung in diesem Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Christine Bernard

Regennächte. Eine Katzenwäsche für eine schmutzige Welt. Eine Welt, die nicht mehr zu retten ist. Da war sie sich sicher. Doch sie stand wenigstens auf der richtigen Seite. Von dort konnte sie sich all den Schmutz dieser Welt genau ansehen.

Leben heißt leiden, hatte sie in einer ihrer vielen schlaflosen Nächte in einem Roman gelesen. Ob der gut versorgte Bestseller-Autor überhaupt wusste, was das war? Leiden?

In der vergangenen Nacht hatte Christine Bernard endlich wieder einmal gut geschlafen. Am Abend trommelte sie ein lang anhaltender kräftiger Regen in den Schlaf. Die frühen Vögel am Morgen hatten sie in den Tag gesungen.

So erholt, wie schon seit langer Zeit nicht mehr, schummelte die junge Kriminalkommissarin ihren weißen Renault Mégane an diesem sonnigen Morgen durch den Berufsverkehr.

Losfahren, Vorfahrt nehmen und gleichzeitig halb dankend, halb entschuldigend die Hand heben und darauf achten, dem Übervorteilten ein Lächeln aus ihrem hübschen von langen dunklen Haaren umgebenen Gesicht zu schenken.

Das klappte nicht immer. Manche Autofahrer hupten, fluchten oder beschwerten sich auf andere Weise über diese kleine charmante Unverschämtheit. Junge Frauen fast immer, junge Männer vereinzelt. Alle anderen ergaben sich meist der forschen Fahrweise dieser unbekannten Schönen. Fahrertraining. Polizeischule. Trotzdem hätte sie sich an so manchem Morgen ihren Weg durch den Berufsverkehr liebend gerne mit aufgesetztem Blaulicht gebahnt. Aber zu privaten Zwecken war das streng verboten. Auch wenn es kein Geheimnis war, dass die Kollegen Kluge und Rottmann in dringenden Fällen schon mal mit Sondersignal und Blaulicht Bier holen fuhren.

Der baldige Beginn einer Fernsehübertragung eines Fußball-Länderspiels war für die beiden so ein dringender Fall. Schon zwei Mal mussten sie deswegen in Josef Weinigs Büro antreten und sich ihre Abmahnungen abholen. Kopie in die Personalakte. Da versteht der Herr Kriminaldirektor keinen Spaß. Der interessiert sich nicht für Fußball. Der geht lieber kegeln.

Seine undisziplinierten Kriminalhauptkommissare verpflichtete er beide Male auch gleich zu einer der wenig beliebten Sitzungen bei Polizeipsychologin Karin Vollmer. Die Vollmer und der Rottmann konnten sich nicht ausstehen. Nach Karin Vollmers persönlicher Meinung war KHK Jörg Rottmann weder zum Tragen einer Waffe noch zum Steuern eines üppig motorisierten Dienstwagens geeignet. Aber mit diesem vernichtenden Urteil seine Karriere beenden? Nein, das wollte sie auch nicht. Also schrammte Rüpel Rottmann immer gerade so an einer Suspendierung vorbei.

Und Kluge?

Kommissarin Bernards Partner Kriminalhauptkommissar Torsten Kluge war ein Durchschummler. So ein weicher Typ, der sich an jedem Hindernis vorbeimogeln konnte. So hatte er es bis zum Hauptkommissar geschafft.

Christine Bernard unterbrach die geistige Betrachtung ihrer beiden so unterschiedlichen Kollegen und blickte amüsiert auf ihre neue Armbanduhr. Sie liebte diese großen weißen Plastikuhren, wie sie jetzt modern waren. Auf ihrer dunklen Haut wirkte die helle Uhr besonders auffallend. Den braunen Teint hatte sie von ihrer Mutter, einer stolzen Portugiesin.

Die Erinnerung an ihre schöne Mutter trübten für einen Moment Christine Bernards Gesichtszüge. Der lange, schwere Kampf gegen den Krebs hatte von der attraktiven Frau wenig übrig gelassen. Sie starb im Frühjahr, noch bevor der letzte Schnee sich aus den Weinbergen zurückgezogen hatte. Für alle Betroffenen war es eine Erlösung. Außer für Vater. Er folgte ihr wenige Wochen später. Aus Gram. Davon war Christine Bernard fest überzeugt.

Papa war Luxemburger und nahe der französischen Grenze aufgewachsen. Groß, schlank, in jungen Jahren dunkelhaarig, später grau. Immer charmant und elegant und das Leben liebend.

Nach Christines Geburt zog er mit seiner jungen Familie nach Deutschland. Ihm zu Ehren verwies Christine Bernard immer gerne auf ihre frankophilen Wurzeln und wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass ihr Vorname und ihr Nachname bitte wie im Französischen üblich ohne die abschließenden Buchstaben ausgesprochen wurden. Christin’ Bernar’ klang viel weicher und sie hörte es lieber als ihren deutschen Namen, bescherte es ihr doch immer ein kurzes Andenken an ihren liebevollen Vater.

Und als ob es nicht schon leidvoll genug gewesen wäre, seine Eltern in so kurzer Zeit hintereinander zu verlieren, wurde sie auch noch von Frank verlassen. Einfach Schluss gemacht, per SMS. Sie hatte ihn zwar noch zu einem letzten Gespräch in ihrer Wohnung bewegen können, aber sein Entschluss stand fest. Seit Wochen. Daran bestand für sie kein Zweifel. All diese vielen Vorwürfe, chronologisch sortiert und zurechtgelegt. Was sie wann und wo falsch gemacht hatte und wie sehr es ihn störte.

Frank wusste, dass sie ihn nicht so einfach gehen lassen würde und hatte sich gut vorbereitet. Sie klangen wie ein Vortrag, seine Antworten auf ihre Fragen nach dem Warum.

Die Suche nach einem freien Parkplatz vor der Kriminaldirektion verscheuchte Christine Bernards böse Erinnerungen. Jetzt hatte sie eine neue Wohnung und einen neuen Job in Trier. Alles auf Anfang. Zurück auf Los.

Auf ihrem Weg über den Parkplatz, hinein in das große rote Backsteingebäude, spürte sie den leichten kühlen Wind und die wärmenden Sonnenstrahlen des Septembermorgens auf ihrer Haut. Sie wich den letzten Pfützen aus, die der Nachtregen hinterlassen hatte. Es roch nach feuchtem Asphalt.

Christine Bernards attraktives Äußeres brachte ihr zwar gewisse Sympathien bei den Kollegen ein, aber die Kehrseite war ein unangenehmes, sie immer wieder beschleichendes Gefühl, im Kommissariat 1 der Trierer Kriminalpolizei nicht ganz ernst genommen zu werden.

Besonders in den ersten Wochen nach ihrem Dienstantritt spürte sie die Distanz zu den neuen Kollegen sehr deutlich. Natürlich war sie noch nicht so erfahren, wie die altehrwürdigen Hauptkommissare des K1. Allen voran Jörg Rottmann, der in ihr mehr ein Kaffeehäschen sah als eine Kollegin auf Augenhöhe. Doch dann hatte Staatsanwalt Walter Lorscheider plötzlich einen Narren an der jungen Kommissarin gefressen. Warum auch immer.

Vielleicht hatte ihr Ex-Chef aus der Kriminalinspektion Wittlich ein gutes Wort für sie eingelegt oder sie hatte Vatergefühle bei Lorscheider ausgelöst. Das arme Mädchen ohne Eltern und ohne Mann im Haus.

Durch die schützende Hand von Walter Lorscheider war sie im K1 die Kollegin Kommissarin, auch wenn sich der Chauvinist Rottmann immer noch einredete, dass sie für den Kaffee zuständig sei.

Lorscheiders junge Lieblings-Kommissarin verzichtete auf die Nutzung des Aufzugs und nahm die Treppe. Zwei Stufen gleichzeitig. Im vierten Stock war sie doch ein wenig außer Atem und lief Staatsanwalt Lorscheider direkt in die Arme.

„Guten Morgen, Frau Kommissarin. Stürmisch und entschlossen voran. Immer wieder ein Vergnügen zu sehen, was wir doch für engagierte Kolleginnen im K1 haben.“

Lächelnd stand Walter Lorscheider vor ihr und seine Mimik und Gestik verrieten Christine, dass er seine Komplimente durchaus ernst meinte. Sie lächelte zurück. „Guten Morgen, Herr Staatsanwalt.“

Dann quietschten die Sohlen ihrer flachen Schuhe über den Boden des Ganges in Richtung ihres Büros. Auf ihrem Rücken glaubte sie, die Blicke von Walter Lorscheider zu spüren. Doch als sie die Bürotür öffnete und dabei einen kurzen Blick in seine Richtung riskierte, war er bereits verschwunden.

Wieder eine Begegnung, bei der es ihr nicht gelang, Staatsanwalt Lorscheiders Verhalten endgültig einzuordnen. Entweder würde sie irgendwann heilfroh sein, in seinen Gunsten zu stehen, oder sie würde es bitter bereuen. So viel war sicher. Bis dahin empfand sie Walter Lorscheiders schützende Hand über sich nicht als unangenehm.

Christine Bernard teilte sich das Büro mit Hauptkommissar Torsten Kluge. Sie waren ein Team.

Während die Deckenbeleuchtung nach einem kurzen Druck auf den Lichtschalter flackernd ihren Dienst aufnahm, stieg der jungen Kommissarin der Geruch von Putzmittel, Druckertoner und Akten in die Nase. Sie öffnete eines der großen Fenster weit und schaute auf den Bahnhofsvorplatz hinunter.

Das Gebäude der Kriminaldirektion stand in einem rechten Winkel zu den Bahngleisen und war eines der höchsten Gebäude in der näheren Umgebung. Reisende, gefolgt von Koffern auf Rädern oder bepackt mit Rucksäcken, überquerten den großen Platz auf ihrem Weg irgendwohin.

Eine Gruppe Schüler stieg in einen bereitstehenden Linienbus ein. Aus einem anderen Bus stiegen johlend welche aus. Reges Treiben. Abfahrende Busse ließen Dieselwolken stehen. Taxis eilten davon oder stellten sich in der Schlange der wartenden Kollegen hinten wieder an. Haltende und wieder anfahrende Autos. Der Straßenlärm drang nur gedämpft bis in diese Höhe empor.

Wie an jedem Morgen gönnte Christine Bernard der halb vertrockneten Birkenfeige den Rest ihres abgestandenen Mineralwassers aus ihrer Plastikflasche. Schon lange hatte die junge Kommissarin den Verdacht, dass der arme Benjamini nicht einfach verdurstete, sondern an den Folgen einer Vergiftung durch die aus dem Kunststoff ausdünstenden Weichmacher der PET-Flaschen langsam zugrunde ging. Nach ihrer Überzeugung raffte die Lebensmittelindustrie durch giftige Chemikalien in den Produkten langsam ihre Kundschaft dahin. Und warum? Wie immer ging es um Geld. Um was sonst? Hauptsache billig. Gier frisst Hirn. So war es schon immer. Papa konnte sich furchtbar darüber aufregen und wurde nicht müde, die Industrie dafür zu verfluchen.

Kommissarin Bernard klopfte den letzten Tropfen Flüssigkeit aus ihrer Trinkflasche vom Vortag, schraubte sie zu und warf sie in einen bereitstehenden Korb zu den anderen. Da sich die beiden Hauptkommissare Kluge und Rottmann wohl eher aus dem Fenster stürzen würden, bevor sie die leeren Flaschen zum Pfandautomaten brachten, blieb diese Aufgabe an ihr hängen. Den Erlös der Pfand-Bons spendete sie alle paar Monate einem Kinder-Hospiz in Trier.

Nachdem die Pad-Maschine eine Tasse Kaffee in Christine Bernards Becher geröchelt hatte, setzte sie sich damit an den Dienstcomputer und las ihre E-Mails. Um diese Zeit war es noch ruhig im K1. Kommissarin Bernard erschien gerne etwas früher zum Dienst, damit die Kollegen aus der vorherigen Schicht sie nicht sofort mit Arbeit eindeckten, sobald sie das Büro betrat.

Die letzte E-Mail enthielt ihr Tageshoroskop. Sie liebte diese Art der Unterhaltung. Denn mehr waren diese gratis abonnierten Weissagungen für sie nicht. Im Gegensatz zu ihrer Mutter stand sie der gesamten Esoterik eher skeptisch gegenüber.

Sie wissen sehr genau, was sie wollen, und sie können es auch erreichen. Nicht mit den Ellenbogen, sondern mit Kompetenz und Zielstrebigkeit. Da sie sich in andere Menschen gut hineinversetzen können, fällt ihnen der Umgang mit schwierigen Zeitgenossen oft leicht. Zwischenmenschliche Beziehungen stehen heute unter einem guten Stern. Seien sie verständnisvoll und freundlich.

Verständnisvoll und freundlich? Zwischenmenschliche Beziehungen? Davon hatte sie vorerst die Nase voll. Energisch löschte sie die Nachricht. Ausgerechnet mit Ruth, einer Freundin seit ihrer Schulzeit, hatte Frank sie betrogen. Und das kurz nach dem Tod ihrer Eltern. Der denkbar ungünstigste Zeitpunkt.

Verständnis und mehr Freundlichkeit hätte sie damals nötig gehabt. Stattdessen machte Frank sich aus dem Staub. Hatte sich eine andere gesucht. Eine, die weniger weint. Eine, die sich uneingeschränkt um seine Interessen kümmern konnte. Eine, die so ganz anders war als Christine, die zu dieser schweren Zeit mit sich und ihrem Seelenleben beschäftigt war und sich verzweifelt bemühte, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Das würde sie ihm nie verzeihen. Er hatte sich von ihr und den gemeinsamen Zielen in ihrer schwersten Stunde abgewendet. Ihr Vertrauen und die gemeinsame Intimität verraten. Ihr den Dolch von hinten ins Herz gestoßen.

Bei ihrem letzten Gedanken musste Christine Bernard grinsen. Wie theatralisch. Aber war sie das nicht immer, die Liebe? Ein wenig theatralisch zum Schluss, manchmal auch dramatisch im Abgang?

Sollte ihn der Teufel holen, auch wenn er jetzt schon wieder hinter ihr her winselte. Sie wollte ihn nicht zurück.