Buchcover

Hel­le Stange­rup

Prinzes­sin Christine

 

 

Saga

Kopenhagen

April 1523

1. Kapitel

Es war der Montag nach Ostern 1523. Die Sonne ging fern am Öresund auf, an der Küste von Schonen, zerteilte für Augenblicke eine graue Wolkendecke und tauchte Kopenhagen in ein warmes, goldenes Licht. Es vergoldete die Spitze des hohen, eckigen Turmes der Frauenkirche, schien auf das Königliche Schloß und den Treppengiebel von Sankt Peter und warf seinen Glanz auf das Kloster der Grauen Brüder und die Nikolaj Kirche.

Das Licht gelangte auch zu den Höfen der Kaufleute und den Werkstätten in die Straßen und Gäßchen, in kleine Fenster und Ritzen im Mauerwerk. Es malte Streifen und Würfel auf die Lehmböden in Klædebo Rodemål, wo im roten Haus des Krämers längst die Arbeit begonnen hatte.

Die Krämer-Maren war an diesem Morgen schlechter Laune. Ane, die Magd, hatte Feuer machen sollen, aber es war ihr nicht gelungen. Sie hatte sich mit dem Feuerstein abgemüht, ohne etwas zu erreichen. Die Mägde der Nachbarn waren viel geschickter.

Dann hatte auch noch eine Ratte im Selchfleisch gesessen. Maren griff nach dem Schürhaken und schlug nach ihr. Zuerst verfehlte sie das Biest, traf es aber beim zweiten Versuch mit solcher Wucht, daß der Kopf wegflog und im Kohl landete.

Und außerdem hatte sich Mads der Krämer wieder einmal die ganze Nacht herumgetrieben. Maren glaubte ihm nicht, daß er nur gesoffen hatte. Er sollte was erleben, diesmal würde Maren die Wahrheit schon aus ihm herausholen.

Aber es war nicht nur das mit Ane und der Ratte und Mads und mit wem er es nun getrieben hatte. Für Maren und die anderen Leute von Klædeboderne und auch für ganz Kopenhagen war dieser Montagmorgen nicht wie andere Tage. Zwar wurde in den Werkstätten gearbeitet, und die Schweine grunzten und schmatzten in den Abfallhaufen der Straßen, doch es war nicht das übliche Treiben und Lärmen. Sogar Mette Remsniders in dem gelben Strohdachhaus hielt an diesem Tag ihr loses Mundwerk. Und Ane ersparte sich Prügel, denn Maren hatte an anderes zu denken.

Man munkelte, der König wolle auf Reisen gehen. Mads hatte es bei Anders Brolægger gehört, dessen Schwester bei Jesper Brochmann als Magd diente, und dann mußte es wahr sein. Sobald der Wind günstig war, wolle der König in die Niederlande segeln, um die Mitgift der Königin zu holen und mit einem mächtigen Heer zurückzukehren. Was das alles bedeuten sollte, wußte Maren nicht genau, aber sie kannte sich mit Vorzeichen aus, und davon hatte es genügend gegeben.

Zum Beispiel der Donnerschlag, der schlimmste, an den sie sich erinnerte, und das an einem Tag mit klarem, blauem Himmel. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, und bald verbreiteten sich Gerüchte in der Stadt. Der kleine Prinz Hans hatte im Haus von Mutter Sigbrit gespielt. Und als niemand auf den Jungen achtete, hatte er sich an Sigbrits Flaschen und Kolben zu schaffen gemacht und eine Flasche auf den Boden fallen lassen, daß sie zersprang. Im selben Augenblick ertönte der Knall, denn Sigbrit hatte ihn in der Flasche verwahrt, und dem armen Bürschlein war er entwischt.

Aber Maren glaubte diese Geschichte nicht. Daß Sigbrit eine Hexe war, darüber bestand kein Zweifel, aber ein ganzes Donnerwetter in einer Flasche zu verwahren, das schaffte auch eine Hexe nicht. Das Ereignis war ein Vorzeichen, ein böses Omen, genauso wie das Schwein, das mit verdrehten Beinen auf die Welt gekommen war und nur rückwärts laufen konnte. Oder als die Mühlenflügel bei Windstille vom Blåtårn herunterfielen. Sogar der König war erschrocken, und er befahl, die Flügel in der Nacht wieder anzubringen, damit nicht zu viel Gerede entstünde. Was aber trotzdem geschah. Schließlich kam in Nørre Rodemål ein Kind mit Schwanz und behaartem Rücken zur Welt, und das war fast das Schlimmste.

Man erzählte sich auch, daß der Reichstag im November verschoben werden würde. Allerdings sehnte sich auch keiner nach den adeligen Herren, die in die Bürgerhäuser einzogen und so hochmütig waren, daß sie oft abreisten, ohne zu bezahlen.

Jetzt schmiedeten sie Ränke mit Herzog Friedrich und allen Holsteinern, und das würde für die Dänen schlimme Zeiten bringen. Obwohl der Frühling endlich gekommen war, obwohl ein milder Wind von Süden in die Stadt wehte, widersprach das nicht den Vorzeichen oder täuschte darüber hinweg, daß die Adeligen eidbrüchig wurden und ihren König verrieten.

Maren hatte allerdings König Christian nie leiden können. Schon als Kind war er ein wilder Bursche gewesen, das wußte jeder, und das wurde akzeptiert. Aber daß er die Dyveke, diese Hure, aus Bergen mitbrachte und sogar nach seiner Heirat mit einer so vornehmen Fürstin bei sich behielt, das war zuviel.

Maren hatte ein einfaches Gemüt und beurteilte alles im Leben danach, ob es ihr Probleme brachte oder nicht. Sie vergaß nie, daß Mads der Krämer Abelone mit ins Bett genommen hatte, ohne die Kinder zu verjagen. Es war ein Wunder, daß Abelone das kleinste nicht zerdrückt hatte, während sie mit Mads hurte, denn Abelone war auch noch betrunken gewesen.

Am liebsten hätte Maren Abelone so behandelt wie die Ratte an diesem Morgen, aber auch Maren war nicht nüchtern gewesen, und außerdem hatte sie Sorge wegen der Kinder gehabt.

So begnügte sich Maren damit, Abelone vor die Tür zu setzen, Mads mit Essensentzug zu drohen und als Ersatz die törichte Ane ins Haus zu nehmen. Aber seit damals hatte Maren ihre eigene Meinung über Christian, und daran änderte sich auch nichts nach dem Tod der Dyveke. Wenn sie die Königin sah, auf dem Weg von der Messe in der Frauenkirche zurück ins Schloß, weckte die kleine, zerbrechliche Frau bei Maren Mitgefühl. Das Los einer Frau war nicht leicht, das einer Königin sicher schwerer. Sie hatten etwas gemeinsam, Königin Elisabeth von Dänemark und Maren von Klædeboderne.

Mit eifrigem Interesse beobachtete Maren auch die königlichen Kinder. Prinz Hans war ein schöner Bursche, auch wenn er sich zu viel herumtreiben durfte, und Fräulein Dorothea ein süßes kleines Mädchen mit hellen Locken. Nur die Jüngste, Christine, hatte Maren noch nicht gesehen, hatte aber gehört, daß sie etwas Besonderes sein sollte, die Hübscheste von allen, und dazu ein aufgewecktes Kind.

Während Maren an Dyveke und Abelone dachte, die zweifellos aus demselben Holz geschnitzt waren, und an das Fleisch, das warmgemacht werden sollte, und an die Lederstrümpfe des Krämers, die an der Ferse zerrissen waren, geschah etwas in Kopenhagen.

Die Arbeit in der Ankerschmiede von Bremerholmen geriet langsam ins Stocken, die Reepschläger ließen ihre Seile unfertig liegen, und in der Magstræde und Snaregade erstarb der Lärm in den Werkstätten. Die Schmiede und die Reepschläger schauten hinüber zur düsteren Fassade des Schlosses. Dort drüben begab man sich an Bord der Schiffe.

Allmählich ging ein Raunen durch die Menge, das Angst und Mißtrauen verriet. Da lagen die »Maria«, der Stolz der Flotte, der »Löwe« und achtzehn andere Schiffe. Die Frühlingssonne glitzerte auf der Wasseroberfläche und beleuchtete Masten, Takelagen und Kanonen, nach außen ein prachtvoller Anblick, der von Reichtum und Macht zeugte. So ging der König des Nordens auf Reisen.

Die Zuschauer wußten es besser, vielleicht besser als der König selbst. Sie kannten die Last der Steuern und den Hochmut und die Machtgier der adeligen Herren, die jetzt unterwegs nach Kopenhagen waren. Aber sie wußten auch, daß die Adeligen Dänemark nicht regieren sollten. Für die Bürger war die zur Abfahrt bereite Flotte kein Zeichen von Reichtum, Stärke oder Macht, sondern von Schwäche, Furcht und Ohnmacht. Und wenn sie flüsterten: »Der König reist«, meinten sie in Wirklichkeit: »Der König flieht.«

Das Murmeln der Menge breitete sich wie ein Schmerz in Straßen und Gassen aus. In jedem Haus war es zu hören, und alle strömten zum Wasser, alte Frauen und junge Gecken in Pluderhosen und mit geschlitzten Ärmeln, Bettler und Kaufleute, geschwätziges Gesinde und versoffene Weiber, Professoren, Studenten, Schüler und flüchtige Bauern. Und alle empfanden dasselbe. Zwar waren sie verärgert über ihn, verurteilten, verdammten, verfluchten ihn gar in heimlichen Stunden. Aber trotz Dyveke, trotz Sigbrit und den Steuern war er ihr Mann, ihr Freund, ihr König.

Da standen sie, zurückgeblieben und verlassen, starrten auf Schiffe, die die Anker lichteten und Segel setzten. Sie blickten hinaus auf den Öresund und wußten nur zu genau um die Feinde, Schiffe aus Lübeck zur See und holsteinische Heere zu Lande. Wie ein Fieberschauer kam die letzte Neuigkeit. Die Königin und die königlichen Kinder befanden sich an Bord des »Löwen«, sie segelten mit in die Niederlande, zusammen mit den Schätzen und Insignien des Reiches und mit fast allen Vertrauten des Königs.

Allmählich verstummte die Menge, alle wußten Bescheid. Die Möwen flogen kreischend hinaus auf den Sund, und das Banner des Königs flatterte am Großmast. Die Flotte stach in See und segelte nach Norden.

Als eine der letzten Zuschauer an Land traf Maren ein. Sie war so übereilt von zu Hause losgelaufen, daß sie vergessen hatte, den Holzlöffel liegenzulassen. Und während sie mit dem Löffel in der Hand da stand, verlautete, daß Sigbrit ebenfalls mitfuhr. Einige behaupteten, man habe sie in einer der Kisten an Bord geschmuggelt. Als Sigbrits Name genannt wurde, hoben manche drohend die Faust. Sie gehöre auf den Scheiterhaufen, diese Hexe, sie gehöre dorthin, wo Didrik Slagheck und all die andern waren, die meinten, den König führen zu müssen. Aber der Zorn verebbte rasch, überstieg einfach ihre Kräfte. Schuld waren Sigbrit und die Adeligen und die hinterhältigen Schweden, doch das war jetzt zu spät, und wer glaubte schon daran, daß der König wie versprochen zurückkehrte? Ein paar, vielleicht viele, Kopenhagen mußte jedenfalls verteidigt werden. Sie wollten die Lübecker und die Holsteiner in Schach halten, und in drei, vier Monaten würde der König mit einem neuen Heer und der Hilfe des Kaisers wiederkommen.

Aber während sie da stand und den Holzlöffel umklammerte, wußte Maren in ihrer einfachen Denkweise, daß es nicht so sein würde. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Wenn die Königin, diese edle Frau, Christian treu blieb, konnte sie, Maren, das auch. Sie heulte so verzweifelt, heulte aus Angst, aber auch vor Kummer. Es war, als würde man seine Familie verlieren, und mittendrin fiel ihr ein, daß sie nun niemals Fräulein Christine sehen würde, dieses Mädchen, das etwas Besonderes sein sollte.

Wie würde es der armen Prinzessin und Königin ergehen, und wie würde es ihr und Mads und den Kindern und allen anderen in Klædeboderne und der ganzen Stadt ergehen?

Die Schiffe wurden kleiner, und eines nach dem anderen verschwanden die hellen Segel hinter der Landspitze oben bei Skovshoved.

Die Leute blieben noch ein bißchen stehen, verdrossen und ratlos. Irgendwann gingen die Bürger Kopenhagens still nach Hause.

Niederlande

1526–1533

2. Kapitel

In den frühen Morgenstunden trieb ein dichter Winternebel nach Flandern hinein. Er kam vom Meer, wälzte sich über Grachten und Kanäle, überzog die Felder und breitete kurz nach dem Morgengrauen seinen kalten Schleier über Gent.

Das hinderte die Einwohner der Stadt nicht daran, am frühen Nachmittag an den Straßen, die zur St. Pieters Kirche führten, Aufstellung zu nehmen. Es kündigte sich etwas an. Die Leute stampften mit den Füßen, um sich aufzuwärmen, man hörte unablässig das Husten der Schwindsüchtigen in der Menge, worüber die sich ärgerten, die sich die Wartezeit damit vertreiben wollten, Neuigkeiten, Meinungen und Tratsch auszutauschen. Über ganz Gent läuteten die Kirchenglocken. Von St. Baafs mächtigen Türmen, von der St. Jakobskirche, der St. Elisabeth Kirche, sogar von der kleinen Johannes-der-Täufer Kirche dröhnte es in den Nebel, der in Schichten zwischen den spitzen Giebeln der Häuserreihen lag und auf das grüne Wasser der Kanäle sank.

Königin Elisabeth von Dänemark sollte begraben werden, jeden Augenblick war ein Aufzug zu erwarten, und die Ungeduld wuchs.

Aber würde überhaupt etwas zu sehen sein? Wer sollte bezahlen? Der König von Dänemark besaß keinen ehrlichen Gulden. Wahrscheinlich aber hatte der Kaiser für einen anständigen Leichenzug gesorgt. Schließlich war die Tote seine Schwester, und er konnte es sich leisten.

»Warum mußte sie auch diesen verrückten Barbaren heiraten«, rief ein Seemann und drängte sich in die vorderste Reihe.

»Weil eine Prinzessin aus dem Hause Habsburg nur Könige heiraten darf, alles andere ist nicht fein genug«, erwiderte eine alte Frau hinter ihm und fügte hinzu: »Und die anderen Könige hatten schon ’ne Frau.«

Das brachte den Seemann jedoch nicht zum Schweigen. Er erzählte von dem Land, in das Elisabeth geschickt worden war. Er war mit einer Ladung Salzheringen nach Helsingør gesegelt, das lag in einem der Reiche König Christians, und er wußte seltsame Dinge zu berichten. Die Leute in Dänemark könnten weder lesen noch schreiben, wüschen sich nie, im Bettstroh gebe es Mäuse- und Schlangennester, und man könne keine Versammlung nach acht Uhr morgens einberufen, denn dann seien alle so besoffen, daß man von keinem mehr eine vernünftige Antwort bekomme.

Als er vom Suff sprach, grinsten die Leute, der Seemann hatte nämlich auch seine Schwierigkeiten, gerade auf den Beinen zu stehen.

»Ist das etwa schön, in so ’nem Land Königin zu sein?« rief er, aber als er von dem vielen Geld erzählte, das Christian dem Kaiser und der Regentin und den deutschen Kurfürsten und den Kaufleuten von Lier schuldete, wollte niemand zuhören. Das wußten alle ohnehin. Und während der Seemann mit einem Selbstgespräch über die Stürme auf der Nordsee fortfuhr, diskutierte man eifrig, wie die Regentin diesen König Christian loswerden könne.

Die Glocken läuteten, das Gerede ging weiter, aber nicht alle hatten sich aus Interesse an dem dänischen König unter die Menge gemischt: Das Diebesgesindel wußte, daß dort, wo sich viele versammelten, auch viel zu holen war. Einige waren noch Kinder, zerlumpte Bälger, denen der nagende Hunger einen scharfen Blick und flinke Finger verlieh.

Die Bettler versuchten auf offenere Weise, sich anzueignen, was nicht ihnen gehörte. Einer von ihnen humpelte, die verkrüppelten Beine in Lumpen gewickelt. Er hielt einen Stock mit einem Papier in die Höhe, auf dem stand: »Gib eine milde Gabe zur Freude Gottes.« Ein junger Mann trat nach dem Bettler, der in den Rinnstein fiel, und die Leute lachten, aber er kam rasch wieder hoch.

Einige standen nur da, hörten zu und schwiegen. Sie grübelten, ob die junge Königin wohl deshalb nur vierundzwanzig Jahre alt geworden war, weil sie so offen zu ihrem evangelischen Glauben gestanden hatte und deshalb ein so elendes Leben führen mußte. Während andere über den Bau des Rathauses und die Wollpreise der Engländer redeten, behielten diese Menschen ihre gefährlichen Meinungen für sich. Es saßen schon genug in Antwerpen und Brüssel im Gefängnis.

Auf einmal verstummte das Reden, und alle reckten die Hälse.

Man vernahm Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster, und aus dem Nebel zwischen den Häuserreihen tauchten die kaiserlichen Herolde auf. Beim Anblick der schönen Waffenröcke ging ein Raunen durch die Menge, und an Fackelträgern hatte man auch nicht gespart. Die Flammen erhellten den trüben Winternachmittag, und jeder sah, mit welcher Pracht eine Tochter des vornehmsten Fürstenhauses begraben wurde. Das Volk kam auf seine Kosten.

Der Sarg wurde vorbeigetragen, und alle Blicke gingen rasch zu dem merkwürdigen Mann, der einmal über die Reiche des Nordens geherrscht hatte und geflohen war, obwohl die Flotte, das Heer und die Regierung der Hauptstadt in seiner Hand lagen.

Der König von Dänemark ritt unmittelbar hinter dem Sarg. Er war sehr groß, ganz in Schwarz, und der Schein der Fackeln blitzte in dem Orden des Goldenen Vlieses, der von seiner Schulter hing. Wie auf Kommando beugten sich die Zuschauer vor, wollten etwas in seinem Gesicht lesen, fanden aber nichts. Sie sahen die kräftige Nase, den Vollbart, die dichten Augenbrauen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, als gingen ihn die Welt und ihre Kümmernisse nichts an.

An der Seite des Königs ritt Prinz Hans, Erbe der Reiche, die sein Vater verloren hatte. Er war erst sieben Jahre, doch er saß sicher im Sattel. Beim Anblick des schönen Knaben und seiner hinter ihm folgenden zwei kleinen Schwestern erhob sich ein Flüstern in der Menge. Die armen Kinder, was sollte aus ihnen werden? In Fräulein Christines Augen standen Tränen, und unversehens vergaß man den merkwürdigen Mann, der einmal mächtig gewesen war, aber jetzt deutschen Kurfürsten und flämischen Kaufleuten Geld schuldete. Das Mädchen war so klein und sah so unglücklich aus.

Dahinter folgte der Rest des Aufzuges, Adelige und Geistliche zu Pferd. Man zählte fünf Äbte und zahlreiche Mönche.

Die Königin von Dänemark, Gemahlin Christian II., wurde umgeben von Vertretern der katholischen Kirche begraben.

Chorgesang erklang aus Sint Pieter. Das Tageslicht schwand dahin. Der Sarg wurde hineingetragen, und das Diebesgesindel verzog sich in seine Schlupflöcher, um festzustellen, was der Tag gebracht hatte.

Die Vorstellung war für die normalen Bürger zu Ende, und sie waren zufrieden. Was Elisabeth auch immer zu Lebzeiten entbehrt haben mochte, beim Begräbnis wurde nicht gespart, auch wenn es etwas spät war.

Als letzter humpelte der Bettler weg. Das Schild mit der Bitte um eine Gabe zur Freude Gottes benutzte er jetzt als Stütze, das Papier hatte er zusammengefaltet für ein anderes Mal. Ihn interessierte es nicht im geringsten, ob Elisabeth in dem einen oder dem anderen Glauben gestorben war. Er hatte zwar manchen Tritt einstecken müssen und im Dreck des Rinnsteins gelegen, aber das Geld in seinem Beutel wog schwer.

Der Bettler zählte seine Münzen. Es war ein guter Tag gewesen.


Christines Mutter war jetzt tot und beim lieben Gott. Aber weil Gott gütig war und weil er wußte, daß sie, Christine, ihre Mama über alles in der Welt liebte, würde er die Mutter sicher bald zurückschicken. Er lieh sie nur aus, redete sich das Mädchen ein, er wollte sie natürlich sehen und mit ihr reden, bevor sie wieder auf die Erde kam.

Doch obwohl sich Christine nach der Mutter sehnte, hatte sie nicht deshalb geweint, als sie dem Sarg folgte. Es waren die vielen Menschen, die ihr Angst machten. Sie starrten hinauf zu ihr, und sie rückten näher und näher, diese grauen, drohenden Gesichter, die sie nicht kannte, und sie wußte nicht, was man von ihr wollte.

Eigentlich war Christine es gewohnt, von Menschen umgeben zu sein. In Lier waren die Hellebardiere, aber die paßten auf sie auf. Es gab die Sekretäre und die Hofdamen und Herren der Mutter und die Diener und die, die wuschen, und die, die Essen kochten und Kerzen zogen, aber die lächelten ihr immer zu, sie starrten nicht so. Und als ihre Mama sehr krank wurde und sie nach Zwynaerde umzogen, gab es Mönche, die ihr manchmal etwas Süßes zusteckten und dabei flüsterten, sie dürfe es niemandem sagen.

Als Christine in die Kirche geführt wurde, beruhigte sie sich. Sie fühlte sich geborgen zwischen Mönchen, Kerzen und Chorgesang, hinter ihr schlossen sich die Türen und schützten sie vor den Gesichtern im Nebel.

Einige Tage später dachte Christine nicht mehr an die schweigenden, ausdruckslosen Blicke. Ihr Vater lenkte sie mit seinen fesselnden Geschichten ab.

Bevor Christines Mutter gestorben war, hatte der Vater nie viel Zeit für seine Kinder gehabt. Wenn er endlich nach Hause kam, ließ er sie manchmal holen, hob sie hoch, küßte sie auf den Mund und fragte sie feierlich, ob sie Gott liebten und fürchteten. Hatten sie das bejaht, stellte er sie sofort auf den Boden und winkte den Hofdamen, und sie wurden wieder weggebracht.

Aber seitdem Christines Mutter zum lieben Gott im Himmel gereist war, benahm sich ihr Vater ganz anders. Jeden Abend, wenn es dunkel wurde, setzte er sich in einer kleinen Stube an den Kamin, nahm Christine und ihre Schwester auf die Knie und erzählte Geschichten. Er schilderte die Länder da oben im Norden, wo sie hingehörten. Dort waren die Wälder so riesig, daß man tagelang reisen konnte, ohne einen Menschen zu sehen, dort waren die Felsen so hoch, daß sie bis in die Wolken ragten, und die Flüsse stürzten Abgründe hinunter, beschienen von der Sonne, daß es aussah wie eine Flut von Diamanten.

»Was ist das?« fragte er dann und sah immer zuerst Dorothea an. Aber die kicherte nur verlegen und legte ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters.

»Ein Wasserfall«, sagte Christine artig und bekam einen Kuß von ihrem Vater.

Den bekam sie auch, wenn sie die Namen der großen Städte von da oben hersagte oder Geschichten von Bärenjagden in Norwegen nacherzählte oder von Elchjagden in Schweden und von wilden Ritten durch das schöne, üppige Dänemark. Einen ganzen Monat saßen sie Abend für Abend am selben Kamin und hörten von Ländern, in die sie einmal zurückkehren sollten. Dorothea kicherte oft, aber Christine merkte sich alles, und sie spürte jedesmal das Kratzen von Papas Bart auf der Stirn, wenn er sie an sich drückte.

»Warum reisen wir nicht einfach hin?« fragte sie eines Tages, und da erfuhr sie die Geschichte von Vaters Onkel, der den Thron an sich gerissen hatte. Erst müsse man ein Heer sammeln, ehe der Verräter vertrieben werden könne.

»Er spricht nicht einmal Dänisch«, sagte ihr Vater, »nicht einmal das. Ihr dürft nie vergessen, dänisch zu reden. Es ist gut, daß ihr im Holländischen gewandt seid und schon Französisch könnt. Aber ihr dürft nie die dänische Sprache vergessen, denn das ist eure eigene.«

Und jeder Abend endete damit, daß ihr Vater nach Hans schickte, um sich mit ihm allein zu unterhalten.

Eines Abends standen eine Menge Kisten und Truhen im Zimmer. Der Vater erklärte, daß sie demnächst alle zusammen nach Sachsen reisen würden, wo er ein Heer sammeln wolle. Er erzählte weiter über die Länder da oben, und Christine hatte allmählich das Gefühl, daß jedes der drei einen eigenen Geruch und eine eigene Farbe hatte. Als sie inmitten all der Kisten am Kamin saßen, wagte sie es, das zu sagen.

Ihr Vater lachte, das Lachen dröhnte im Raum. Dorothea schmiegte sich an ihn, während er Christine fragte: »Und welche Farbe hat dann Norwegen?«

»Weiß«, antwortete sie. »Weiß wie Schnee.«

Er lachte wieder und fragte: »Und Dänemark?«

»Grün«, antwortete sie. »Grün wie das Gras und der Wald im Sommer.«

Sie merkte, daß auch das ihrem Vater gefiel. »Und Schweden?«

Christine zögerte ein wenig, war sich nicht ganz sicher, entschied sich dann aber für die schönste Farbe, die sie kannte: »Rot.«

Ihr Vater sagte nichts, und sie wiederholte begeistert: »Rot. Wie Blut.«

Es wurde still. Christine hörte nur das Zischen eines Holzscheites, und ihr Vater ließ sie los. Seine Hand fiel schwer nach unten. Christine streichelte ihn, war bekümmert, etwas Falsches gesagt zu haben, begriff aber nichts. Schließlich sagte er: »Es ist spät.«

Langsam stellte er die beiden Mädchen auf den Boden, erhob sich und rieb sich mit den Händen die Stirn, als habe er Kopfschmerzen. Einen Moment lang glaubte sie, er habe sie vergessen, aber dann bückte er sich, gab ihnen den Gutenachtkuß, und sie wurden weggebracht.


Einen Monat nach dem Begräbnis kam ein Sekretär atemlos ins Zimmer: »Euer Gnaden, die Regentin sind auf dem Weg hierher.«

Christines Vater stieß einen Schrei aus, sprang auf, und die Mädchen fielen herunter wie zwei Schoßhündchen. Der Sekretär wagte nichts mehr zu sagen. Man hörte Reiter auf dem Hof.

»Was will dieses Weibsblid?« rief Christines Vater und ging mit langen Schritten auf das Fenster zu. Der Sekretär zitterte am ganzen Körper, als er jetzt drohend auf ihn zukam.

»Sie denkt wohl, daß sie mir die Kinder wegnehmen kann? Tut sie das?«

Er schrie dem vor Schreck erstarrten Mann ins Gesicht, während die Hofdamen herbeieilten. Christine und ihre Schwester wurden gepackt, hochgehoben und hinausgetragen. Als letztes sah sie den Vater nach Schalen und Silber in den Kisten greifen. Sie hörte das Geräusch von Glas, das zerschlagen wurde, das Poltern von Metall, das auf den Boden knallte, Stühle, die umgestoßen wurden.

Plötzlich war das ganze Schloß ruhig. Die Regentin der Niederlande war angekommen und wünschte eine Unterredung mit König Christian von Dänemark.

In dieser Nacht weinte Christine. Sie weinte richtig, nicht wie bei dem Begräbnis, wo ihr nur Tränen in den Augen gestanden hatten. Sie lag alleine in dem großen Bett hinter dem Vorhang, sie lag da im Dunkeln und wußte auf einmal, daß sie ihre Mutter nie mehr wiedersehen würde. Und ihr wurde klar, wenn man seine Mutter verlieren konnte, so konnte man auch alles andere, was man liebte, verlieren.

Kein Laut war in dem großen Haus zu hören. Durch den Spalt im Vorhang sah sie die Kammerjungfer auf dem Stuhl neben der Tür, und die Flammen des Kamins erhellten den Raum. Christine faltete die Hände und flehte in einem Gebet die Heilige Maria an. Sie bat leise und innig darum, der liebe Gott möge ein bißchen warten, ehe er ihr noch mehr wegnimmt.


Am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang wurden Christine und Dorothea hinunter zu ihrem Vater gebracht. Er lehnte am Kamin, die linke Hand aufgestützt, drehte sich aber nicht um. Hinter ihm saß zwischen vollen Kisten und Truhen eine Frau auf einem Hocker, und die Fackeln waren angezündet. Eine Sekunde lang glaubte Christine, ihre Mama sei trotzdem zurückgekommen und säße hier im Schein der Flammen, dann wandte die Dame ihnen langsam ihr Gesicht zu.

Sie war korpulent, schwarz gekleidet, und ihr Haar war weiß gestärkt.

»Kommt her«, sagte sie gebieterisch, und Christine sah, daß sie denselben Mund wie ihre Mutter hatte, nur größer, wie alles an ihr größer war.

»Laßt euch anschauen«, sagte sie, aber Christine und Dorothea blickten hilfesuchend zum Vater, wußten nicht, ob sie es wagen sollten, hinzugehen.

Der Vater rührte sich nicht. Die Dame sah einen Moment hinüber zu ihm, bis sie ihren Blick wieder auf die Mädchen richtete.

»Ich bin die Tante eurer Mutter und habe mit eurem Vater vereinbart, daß ihr bei mir wohnen werdet, solange er unterwegs ist.«

Christine hörte, daß ihre Schwester zu weinen anfing. Die Dame erhob sich langsam und kam auf sie zu. Christine schaute erschreckt auf, sie hatte Angst vor der Frau und verstand nicht, warum der Vater ihnen den Rücken zukehrte, statt sie zu beschützen.

Die Dame streckte ihre Hand aus, und die Mädchen beugten sich vor und küßten sie. Dann faltete sie die Hände auf dem schwarzen Kleid und sagte: »Ich hatte einmal ein kleines Kind. Es ist gestorben. Ihr hattet eine Mutter, die gestorben ist. Ich werde euch lieben wie meine eigenen Kinder.«

Dorothea hörte auf zu weinen, und Christine blickte die Dame an.

Sie wußte, daß es die gefürchtete Regentin war, die da vor ihr stand. Alles in ihrem Gesicht war schwer. Die Augen und die breite Nase, der Mund mit der dicken Unterlippe, und Christine hatte sich noch nie so allein auf der Welt gefühlt.

Plötzlich drehte sich ihr Vater um.

Er ging langsam zu ihnen, hob sie hoch, jedes auf einen Arm, hielt sie fest und schaute ihnen in die Augen.

»Eure Tante wird euch lieben, es ist sicher am besten so. Vertraut auf Gott und vergeßt nicht die dänische Sprache.«

Die Mädchen antworteten nicht. Die Stimme des Vaters war rauh, und Tränen liefen in die Falten seines Gesichts und verschwanden im Bart. Einen Augenblick blieb er mit ihnen im Arm stehen, ohne etwas zu sagen, dann setzte er sie behutsam ab.

»Ich werde dafür sorgen, daß Prinz Hans hereinkommt«, sagte die Dame, faßte Christine und Dorothea bei der Hand und führte sie hinaus.