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Luftschiff | HIER UND JETZT

   Ready to Eat– Die Schweiz entdeckt amerikanische Esskultur– Eva Maria von Wyl– HIER UND JETZT

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Ready to Eat

Teil I

Grundzüge der modernen Ernährung

Die Entstehung der modernen Ernährung

Von Birchers Müesli zu Kellogg’s Cornflakes: Reformen in Europa und den USA

Europäische Ernährungskonzepte

Die Entstehung eigenständiger Ernährungskonzepte in den USA

Vom Eiweissdogma zur «Vitamania»

Ernährung im Banne der Industrie

Vereinheitlichung, Assimilierung, Amerikanisierung

Kellogg erfindet das Frühstück neu

Ernährung im Zeitalter von Massenkonsum und American way of life

Was sind amerikanische Essgewohnheiten?

Teil II

Vorbild Amerika

Push- und Pullfaktoren der Amerikanisierung

Fünf Sphären des Einflusses

Lebensmittelverarbeitung im Zeitalter von Fliessband und Automaten

Erfolgreich vermarktet: Werbung und Marktforschung

Scientific merchandising: Selbstbedienung und Supermärkte

Ready to heat!
Mehr Zeit für den Haushalt

Ready to eat!
Die Essgewohnheiten wandeln sich

Fünf Geschichten des Einflusses

«Aus der amerikanischen Party-Küche»: Zweifel Pomy-Chips

Hafermühle Lützelflüh: Aus Haferflocken werden Cornflakes

Nestea Eistee: eine schweizerischamerikanische Erfindung

Unerwünscht: J. Walter Thompson in der Schweiz

Von Vivi-Kola zu Coca-Cola: Trinkgewohnheiten im Wandel

Teil III

Widerstand gegen die Amerikanisierung

Kampf gegen die Coca-Colonisierung 1949/50

Die Anti-Coca-Cola-Kampagne der Getränkeindustrie

Coca-Cola wird zur aussenpolitischen Affäre

Die Interpellation Geissbühler und die innenpolitischen Folgen

Die Coca-Cola-Affäre im antiamerikanischen Kontext

Bundesrat Etters Plan zum Schutz einheimischer Obstsäfte – ein Nachtrag

Fazit

Amerikanisierung oder Verschweizerung?

Anhang

Forschungsstand und Quellenlage

Anmerkungen

Abkürzungen

Quellen

Archive und Privatsammlungen

Mündliche Quellen

Websites sowie digitale Datenbanken und Lexika

Videoportale, Radio- und Fernsehbeiträge

Gedruckte Quellen

Literatur und Darstellungen

Abbildungen

«Ready to eat» beziehungsweise «Ready to eat meals» oder «Ready to eat foods» bezeichnet im amerikanischen Sprachgebrauch Fertiggerichte aller Art, die zubereitet und portioniert im Supermarkt gekauft und entweder sofort konsumiert oder aber in der Mikrowelle oder im Ofen aufgewärmt werden. Die Palette an Fertiggerichten ist in amerikanischen Supermärkten gross. Sie reicht von einfachen Dosenprodukten über gefriergetrocknete Suppen und Pastagerichte bis hin zu vollständigen Tiefkühlmenüs, angerichtet auf Plastiktellern und in abgetrennten Bereichen – alles «ready to heat», bereit zum Aufwärmen. Die Tiefkühlabteilung amerikanischer Supermärkte nimmt flächenmässig je nach Region und Supermarktkette etwa gleich viel Platz ein wie alle übrigen Food- und Nonfood-Abteilungen zusammen. Das Sortiment für Ready to eat meals türmt sich in endlos wirkenden Reihen von überdimensionierten Gefrierschränken. Das Angebot ist grenzenlos – es gibt nichts, was es nicht gibt. Diese Dimensionen sind – hat man es nicht selbst erlebt – kaum vorstellbar. Die Abteilungen für Fertiggerichte in hiesigen Supermärkten sind dagegen Miniaturen und schon fast banal. Dennoch basieren die Ausgestaltung des Sortiments, die Anordnung der Regale, das Konzept der Selbstbedienung, ja sogar die neusten Selfcheckout-Kassen auf den Errungenschaften der amerikanischen Vorbilder. Für das vorliegende Buch habe ich mich intensiv mit solchen amerikanischen Errungenschaften, aber auch mit amerikanischen Lebensmitteln und Gerichten und ihrer globalen Ausstrahlungskraft auseinandergesetzt – nicht nur im wissenschaftlichen Sinn, sondern zunehmend auch im Alltag. Ich habe versucht herauszufinden, warum die Amerikaner bis heute so erfolgreich sind bei der Verbreitung ihrer Ideen, Werte und ihrer Lebensweise. Zudem wollte ich wissen, warum wir so hungrig sind auf alles, was von «drüben» kommt, die amerikanische Kultur aber gleichzeitig auch belächeln oder gar verachten.

Je länger ich mich mit diesen Fragen auseinandergesetzt habe, desto schwieriger fiel mir eine Antwort und desto mehr hat mich das amerikanische Selbstverständnis und der American way of life in seinen – durchaus ambivalenten – Bann gezogen. Insofern sind die hier präsentierten Ergebnisse über die transatlantischen Beziehungen und die wechselseitige Beeinflussung ein vorläufiger Bericht meiner Erkenntnisse und noch lange nicht abgeschlossen.

Ich danke all jenen, die mich auf kleineren oder grösseren Abschnitten meiner transatlantischen Entdeckungsreise begleitet und massgeblich zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Namentlich danke ich den Professoren Jakob Tanner und Frank Trentmann, die «Ready to Eat» als Dissertation kritisch und wohlwollend begleitet haben. Jakob Tanner danke ich für seine zahlreichen und richtungsweisenden Inputs, Frank Trentmann für die spannenden Gespräche in London und die wertvollen Hinweise und Anregungen.

Ein grosser Dank geht an all jene, die mir bei den Recherchen in den verschiedenen Archiven und Bibliotheken in der Schweiz, in den USA und in England geholfen haben. Tricia Terrell danke ich dafür, dass sie so hartnäckig mit dem Archivar des Coca-Cola-Archivs in Atlanta verhandelte und nicht locker liess, bis dieser ihr den Hinweis auf den Nachlass des ehemaligen Coca-Cola-Präsidenten, Robert Woodruff, in der Manuscript, Archives, and Rare Book Library der Emory University gab. Hier stiess ich schliesslich auf das Dossier «Campaign against Coca-Cola in Switzerland», das mein Buch um ein zentrales Kapitel bereichert hat. Sabina Bellofatto, Franziska Egli, Adrian Hänni, Eveline Hipeli, Simon Hofmann, Konrad Kuhn, Ariane Knüsel, Lea Moliterni, Oliver Schneider, Johannes Theler, Roman Wild und Julia von Wyl Anderegg danke ich für die kritische Lektüre des Manuskripts. Ein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle meinem Vater, Hans Peter von Wyl, der nicht nur das ganze Manuskript in einer ersten Fassung Korrektur gelesen hat, sondern eine grosse Hilfe war beim Entziffern des Amtsfranzösischen und des französischen Telegrammstils der 1940er- und 1950er-Jahre. Meiner Mutter, Bernadet Habermacher, danke ich für die bunten thematischen Inputs in Form von Postkarten, Werbeprospekten und Trouvaillen wie dem Kellogg’s Rice Krispies T-Shirt.

Ein Dank geht auch an den Verlag Hier und Jetzt für die Aufnahme dieses Buchs in sein Programm und die Begleitung auf der allerletzten Etappe meines transatlantischen Unterfangens.

Für die finanzielle Unterstützung während der Recherchearbeit danke ich insbesondere dem Schweizerischen Nationalfonds und der Salomon David Steinberg-Stipendien-Stiftung.

Meinen letzten und tiefsten Dank richte ich an meinen Mann David Dürrenmatt. Er hat meinetwegen nicht nur unzählige Stunden im Flugzeug verbracht, sondern hat mich während des ganzen Dissertations- und später Buchprojekts in jeglicher Hinsicht unterstützt und vorangetrieben.

Eva Maria von Wyl

Zürich, März 2015

Einleitung

Ready to Eat

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Abb. 1: Zweifel Chips – eine zeitsparende Menübeilage, Werbeplakat von 1974.

Pommes-Chips als Beilage zum Poulet, zum Steak oder zu grilliertem Fleisch und Würsten, Pommes-Chips zum Apéro, Pommes-Chips fürs Picknick, Pommes-Chips zum Fernsehen, Pommes-Chips als Party-Snack … Pommes-Chips sind längst fester Bestandteil der Essgewohnheiten in der Schweiz geworden, und ihrem Einsatz sind – wie die Beispiele zeigen – keine Grenzen gesetzt. Was heute so alltäglich, fast schon gewöhnlich klingt, musste den Konsumentinnen und Konsumenten jedoch zuerst «beigebracht» werden. Als die Mosterei Gebr. Zweifel, ein Familienunternehmen im zürcherischen Höngg, gegen Ende der 1950er-Jahre von einem verwandten Bauer vier Hotelfritteusen und das Rezept für die Verarbeitung von Kartoffeln zu frittierten Kartoffelscheibchen erbte, war der amerikanische Snack in der Schweiz noch praktisch unbekannt. Nur ein paar Beizen und Restaurants in der Umgebung kannten Bauer Meiers «Pomy-Chips» und servierten sie ihren Gästen. Hansheinrich Zweifel, dem Sohn des Mostereibesitzers, war klar: Wenn er mit der Produktion von Chips ein neues Firmenstandbein aufbauen wollte, musste er seine Pomy-Chips unter die Leute bringen und die Produktion ausbauen. Auf einer ausgedehnten USA-Reise besuchte er im Sommer 1959 amerikanische Chips-Fabriken, tauschte sich mit seinesgleichen aus und lernte eine Menge über amerikanische Vermarktungsstrategien. Zurück in der Schweiz, machte er sich daran, die Schweiz mit amerikanischen Tischsitten vertraut zu machen. Auf Broschüren und Flyern druckte die Firma Zweifel Rezeptvorschläge und pries Pomy-Chips als amerikanischen Party-Snack und zeitsparende Menübeilage an (Abbildung 1). Völlig gegen die damals gängigen Tischregeln verstossend, forderte Zweifel seine Kundinnen und Kunden auf, die Chips mit blossen Händen zu essen – ganz nach amerikanischem Vorbild eben. Nichtsdestotrotz brauchte es nicht lange, bis die Schweizerinnen und Schweizer Gefallen fanden an diesem amerikanischen Snack und den damit einhergehenden amerikanischen Sitten.

Zweifels grösster Erfolg war indes die Idee mit der zeitsparenden Menübeilage – die Kombination von Chips und Grillpoulet beziehungsweise Chips und Grilladen eroberte die Schweizer Haushalte im Sturm und wurde gar zu einer Art Nationalgericht. Nirgendwo sonst, weder in den USA noch in den benachbarten europäischen Ländern, werden Chips als Beilage zu Fleischgerichten gegessen – sie sind dort hauptsächlich ein Snack für zwischendurch, für Partys oder zum Apéro. Damit trug die Firma Zweifel nicht nur zur Verbreitung eines amerikanischen Snacks und amerikanischer Essgewohnheiten bei, sondern schuf auf Basis eines Produkts amerikanischer Herkunft neue schweizerische Essgewohnheiten.

Eng mit der Etablierung amerikanischer Essgewohnheiten verbunden sind auch Innovationen im Bereich der Lebensmittelproduktion, der Werbung, des Verkaufs und der Zubereitung von Nahrungsmitteln. «Ready to Eat» untersucht, wie die amerikanische Kultur und Wirtschaft die Essgewohnheiten in der Schweiz im weitesten Sinn beeinflussten. Es behandelt den Zeitraum von 1948 – als Eckdatum für die vollständige Aufhebung der Lebensmittelrationierung – bis zur Ölkrise von 1973 und bezieht sich in erster Linie auf die Schweiz als geografischen Untersuchungsraum. Wo gegeben, werde ich jedoch auch Vergleiche mit den Nachbarländern ziehen und Parallelen beziehungsweise Unterschiede zwischen der Schweiz und anderen europäischen Ländern aufzeigen.

Obwohl davon ausgegangen werden muss, dass die Essgewohnheiten in der Schweiz traditionellerweise von Region zu Region unterschiedlich sind und Ernährungsbestandteile und -rhythmen zum Teil sehr stark voneinander abweichen können, ist die Herausarbeitung der Gegensätze und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Regionen punkto Ernährung nicht Gegenstand von «Ready to Eat». Stattdessen orientiert sich die Studie an modernen, industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln und national agierenden Nahrungsmittelunternehmen, die tendenziell sogar eher in Richtung einer Harmonisierung der Essgewohnheiten in der Schweiz wirkten. Auf Basis von Massenproduktion und verkaufsfördernden Massnahmen wie Werbung und Marketing zielte die Nahrungsmittelindustrie darauf hin, einen möglichst grossen, überregionalen Markt anzusprechen, und generierte damit neue, überregionale oder gar globale Ess- und Trinkgewohnheiten.

Die Basis für die Untersuchung bildet die Vorstellung, dass sich die Essgewohnheiten in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg parallel zur Entstehung der modernen Massenkonsumgesellschaft grundlegend verändert haben und dass die USA dabei eine zentrale Rolle spielten. Die neue Wirtschaftsmacht USA und der American way of life stellten, so die These, einerseits ein wichtiges Leitbild für die hiesige Wirtschaft und Gesellschaft dar, andererseits waren die USA ihrerseits während des Kalten Kriegs bestrebt, auf die europäischen Länder und deren Wirtschaft und Kultur gezielt Einfluss zu nehmen. Ziel ist, herauszuarbeiten, welche Rolle die amerikanische Wirtschaft, Lebensweise und Esskultur bei der Etablierung neuer Essgewohnheiten und Konsummuster in der Schweiz spielten. Oder anders ausgedrückt: Inwiefern wurden der American way of life und der dazugehörige Ernährungsstil zu einem Leitbild für die Essgewohnheiten in der Schweiz? Wie und auf welchem Weg wurden amerikanische Essgewohnheiten übernommen und gegebenenfalls an die eigenen Bedürfnisse angepasst? Wurden die hiesigen Essgewohnheiten tatsächlich «amerikanisiert»? Oder handelte es sich nicht viel eher um eine «Verschweizerung» amerikanischer Gewohnheiten? Welche Rolle spielten amerikanische Firmen bei der Einführung amerikanischer Konsummuster und Nahrungsmittel? Und welchen Anteil hatten Schweizer Unternehmen bei der Etablierung neuer Essgewohnheiten?

Um diese Fragen zu beantworten, habe ich fünf Sphären des amerikanischen Einflusses definiert, die entlang der industriellen Nahrungsmittelkette verlaufen: die Lebensmittelindustrie, die Werbung und Vermarktung, der Lebensmittelhandel, die Zubereitung und die Essgewohnheiten im engsten Sinn. Abbildung 2 zeigt die fünf Sphären als Modell. Die Darstellung dient in erster Linie dazu, die Vielschichtigkeit des amerikanischen Einflusses abzubilden.

Die Herstellung von Lebensmitteln markiert nicht nur den Anfang des hier verwendeten Ausschnitts der industriellen Lebensmittelkette, sondern sie wird innerhalb des Sphärenmodells auch als erste von der Amerikanisierung erfasst. Bereits in der Zwischenkriegszeit finden amerikanische Konzepte, Technologien und Methoden Eingang in die europäische Produktion. Die amerikanische Industrie zeichnete sich durch einen hohen Grad an Standardisierung, Technisierung und Rationalisierung aus und bildete so die Grundlage für die Massenproduktion. Die Aushängeschilder für diese Entwicklung sind bekanntlich Taylor und Ford. Eingang in die Schweizer Nahrungsmittelindustrie fanden amerikanische Produktionsmethoden jedoch erst in den 1950er-Jahren, als die industrielle Verarbeitung von Nahrungsmitteln an Bedeutung gewann und sich auszudifferenzieren begann.

Die riesigen Produktionskapazitäten der amerikanischen Industrie wiederum benötigten ein adäquates Vertriebs- und Verkaufssystem. Auch dafür fanden die Amerikaner kurz nach der Jahrhundertwende die ideale Lösung: Selbstbedienung und Supermärkte. Der Durchbruch dieser Innovationen gelang in der Schweiz nach anfänglichem Widerstand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Pionier und zugleich Sündenbock für die «Veramerikanisierung»1 des Detailhandels war der bekannteste Schweizer Detailhändler, die Migros.

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Abb. 2: Vereinfachtes Schema des Sphären-Modells: Die Werbung agiert als kommunikative Brücke zwischen Produzenten und Konsumenten.

Nach und nach waren in der Schweiz die Einflüsse des American way of life auch bei der Zubereitung von Mahlzeiten sowie den Gewohnheiten in Bezug auf das Essen an sich zu beobachten. Obwohl die Schweiz mit Nestlé und Maggi zu den Pionieren der Nahrungsmittelindustrie gehörte, schaffte das Convenience food, das in den USA bereits seit den 1930er-Jahren weit verbreitet war, den Durchbruch hierzulande erst im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre. Erst der enorme wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg schuf diejenigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, die für einen breiten Markt für Konservennahrung, Tiefkühlnahrung und Fertigprodukte notwendig waren: Wohlstand, «Englische Arbeitszeit» mit kurzen Mittagspausen, Berufstätigkeit von Müttern, Freizeitgesellschaft. In den Zeitschriften und Illustrierten wimmelt es im Untersuchungszeitraum von Berichten über den American way of life, von amerikanischen Rezepten und von Inseraten für die neusten Errungenschaften der Nahrungsmittelindustrie.

Ein Element, das sich über alle fünf Einflusssphären hinwegzieht, ist der Gedanke der Rationalisierung beziehungsweise der Optimierung, Standardisierung, Uniformierung. Das damit verbundene Prinzip der Effizienz- und Produktionssteigerung wird in diesem Kontext sozusagen zu einem Merkmal des American way – und zwar sowohl in der Wahrnehmung der Europäer als auch aus Sicht der Amerikaner, die mit der Marshallhilfe und der Productivity Mission die Europäer geradezu dazu erziehen wollen.

Mit dem Modell der fünf Einflusssphären verzichte ich bewusst auf den Miteinbezug von Rohstoffen beziehungsweise der Agrarproduktion. Zum einen, weil es in diesem Buch nicht um die Thematik globaler Warenströme und Märkte geht, bei denen insbesondere Rohstoffe wie Zucker, Gewürze oder auch Kaffee im Fokus stehen. Vielmehr geht es um die hochkomplexen Lebensmittel der industriellen Massenproduktion, wie sie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung treten. Im Gegensatz zu Rohstoffen, die seit der Antike Gegenstand globaler Märkte waren, gerade in früheren Jahrhunderten meist als Luxusgüter gehandelt wurden und zu individualisierten, regional unterschiedlichen Produkten (weiter)verarbeitet werden können, handelt es sich bei den industriellen Nahrungsmitteln um relativ neue, standardisierte, oft auch rationalisierte und anonymisierte Massenprodukte, die explizit eine breite Gesellschaftsschicht erreichen sollen und meist mehr leisten (müssen) als blosse Sättigung.2

Dies bringt mich zu einem weiteren Grund für die Fokussierung auf die industrielle Nahrungsmittelkette: Im Vordergrund steht nicht der Import von amerikanischen Produkten an sich, sondern vielmehr der Transfer des American way of life und damit verbunden der Transfer von Methoden, Konzepten und Wertvorstellungen über die Lebensmittel sowie deren Produktion, Vertrieb und Konsum. Indem Nahrungsmittel mit bestimmten Botschaften, Dienstleistungen und Funktionen versehen werden, werden sie von blosser Nahrung zu einem Übermittler von Werten und Gewohnheiten von einer Kultur auf eine andere. Ein besonderer Stellenwert kommt hierbei dem Markenprodukt und der Werbung zu. Insbesondere die Werbung fungiert in diesem Kontext als Bindeglied zwischen der Produktion und dem Verkauf von Gütern. Zusammen mit dem Konzept der Marke wirkt sie als Vermittlerin von Botschaften und kreiert ganz gezielte Images. Unter anderem auf diesem Weg beeinflusste die amerikanische Kultur auch die Essgewohnheiten in der Schweiz. Axel Schild spricht in diesem Zusammenhang auch von «gelenkter Werbung für die amerikanischen Leitbilder» sowie von «Konsumpropaganda».3 Die Werbung indes hat nicht nur eine Vermittlerrolle beim Transfer von Konsumgewohnheiten von den USA nach Europa, sie ist in ihrer modernen Ausführung selbst ein Produkt der amerikanischen Wirtschaft und wird als solches von den Europäern kopiert und adaptiert – genauso wie zahllose andere Produkte und Dienstleistungen.

Konsummuster einer ganzen Gesellschaft verändern sich allerdings kaum schlagartig, sondern unterliegen einem langjährigen Prozess und gehen mit wirtschaftlichen, mentalen und auch technischen Veränderungen einher. Gerade bei der Ernährung, die eng mit kulturellen Traditionen und Identitäten verbunden ist, können solche Veränderungen neben Neugier und Nachahmungswillen auch Kritik und Abwehr auslösen, gerade auch dann, wenn sie in einem hohen Tempo vonstattengehen und/oder ein kritisches Ausmass erreicht haben. Besonders heftige Reaktionen können Veränderungen auch auslösen, wenn sie nicht von innen heraus wachsen, sondern von aussen oder in Form von kulturellen und wirtschaftlichen Fremdeinflüssen angestossen werden. Die Furcht vor einem Identitätsverlust ist dabei genauso entscheidend wie die Angst vor Souveränitätseinbussen. Mehr noch: Die kulturellen und wirtschaftlichen Einflüsse der USA führten dazu, dass man sich des Eigenen beziehungsweise des als schweizerisch Empfundenen stärker bewusst wurde. Die Fremdeinflüsse riefen somit eine verstärkte Wahrnehmung dessen hervor, was lokal und deshalb besonderes und identitätsstiftend war. Als Reaktion auf die Fremdeinflüsse fand also eine Art Nationalisierung in Bezug auf Nahrungsmittel statt. Und dieses Bewusstsein über die eigenen Traditionen wiederum führte dazu, dass man dieses zu schützen versuchte und gleichzeitig die amerikanischen Einflüsse abgelehnte oder gar bekämpfte.

Fünf solcher Geschichten des amerikanischen Einflusses werden in «Ready to Eat» erzählt. Es handelt sich dabei entweder um Produkte, die von amerikanischen Firmen in der Schweiz eingeführt wurden, oder um Produkte mit amerikanischen Wurzeln, die von einheimischen Firmen auf den Schweizer Markt gebracht wurden. Dabei zeigt sich eindrücklich, dass sich der Prozess der Übernahme und Implementierung selten auf das Produkt und den Konsum desselben beschränkte, sondern zumeist Veränderungen in weiteren Bereichen nach sich zog. Ein Zitat aus einer Marktstudie aus den 1970er-Jahren über das Aufkommen amerikanischer Softdrinks vermag dies zu illustrieren:

«Aber auch auf einem andern Gebiet brachten diese amerikanischen Wasser eine Veränderung. Sie gingen Hand in Hand mit amerikanischem Management, amerikanischen Partygewohnheiten, kurz dem gesamten amerikanischen ‹way of life›, welcher zum modernen Lebensstil ganz allgemein wurde. Überall[,] wo moderndes Leben Einzug hielt, feierten die ‹soft-drinks› Erfolge.»4

Die fünf Beispiele geben ein eindrückliches Bild davon ab, in welch unterschiedlichen Formen sich der amerikanische Einfluss in der Schweiz bemerkbar machte.

«Ready to Eat» basiert auf weiten Strecken auf meiner Dissertation, die ich im Januar 2014 an der Universität Zürich eingereicht habe. Für die vorliegende Publikation habe ich den Titel abgeändert und das Manuskript überarbeitet. Der ursprüngliche Titel der vorliegenden Studie war als Frage formuliert: «Ready to Eat! Amerikanisierung der Essgewohnheiten in der Schweiz?» Er stellte die Bedeutung und das Ausmass des amerikanischen Einflusses bewusst infrage: Wurden die Essgewohnheiten in der Schweiz der Nachkriegszeit tatsächlich amerikanisiert, wie es von Kritikern behauptet wurde? Damit wird deutlich, dass der Begriff beziehungsweise die These der «Amerikanisierung» einer Präzisierung bedarf. Angesichts der zahlreichen Studien, die diesen Begriff in Bezug auf unterschiedlichste Fragestellungen verwenden,5 ist es unerlässlich, sich Gedanken über die Bedeutung und Funktion von Amerikanisierung für die eigene Arbeit und Fragestellung zu machen.

Zunächst einmal kann der Begriff der Amerikanisierung beziehungsweise der Americanization je nach Kontext ganz andere Prozesse beschreiben. Vor dem Hintergrund einer Verschmelzung verschiedener ethnischer Identitäten aufgrund der Einwanderung verstehen etwa die Amerikaner unter Amerikanisierung in erster Linie die Herausbildung einer einheitlichen amerikanischen Kultur beziehungsweise die Herausbildung einheitlicher amerikanischer Essgewohnheiten. Der Begriff beschreibt in diesem Kontext die Entstehung des viel diskutierten amerikanischen Schmelztiegels.6

Aus europäischer Perspektive hingegen beschreibt der Begriff die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Kultur, dem American way of life, mit amerikanischen Wirtschafts- und Geschäftspraktiken sowie mit dem amerikanischen Einfluss auf andere Nationen und Kulturen. Doch auch innerhalb der europäischen Perspektive gibt es eine breite Palette von Fragestellungen, die sich mit Amerikanisierung auseinandersetzen. Victoria de Grazia macht in ihrem bibliografischen Essay über Amerikanisierung nicht weniger als acht (historische) Forschungsfelder aus, die sich mit dem Begriff und dem damit verbunden Prozess auseinandersetzen, wobei sich einige auch mindestens teilweise überschneiden. Es wird aber deutlich, dass es prinzipiell drei Ebenen gibt, auf denen Amerikanisierung untersucht wird: kulturell, wirtschaftlich und politisch. Wobei je nachdem das amerikanische Sendebewusstsein beziehungsweise die Imperialismus-Perspektive oder aber der europäische Nachahmungswille beziehungsweise die USA als Leitnation die Untersuchungsperspektive vorgeben.7

Typischerweise kommt bei all jenen Studien, die sich mit Amerikanisierung als Transfer- und Vermittlungsprozess auseinandersetzten, die Bedeutung von Stereotypen sehr deutlich zum Vorschein.8 Sie werden zu einer Art Definition des Amerikanischen, und sie markieren gleichzeitig die Unterschiede zwischen dem European way und dem American way. In diesem Sinne werden sie zu einem Instrument, um den Grad der Amerikanisierung zu messen, oder, in den Worten von Christian Kleinschmidt, zu einem «Hilfsmittel zur Interpretation des Fremden».9 Auch die vorliegende Untersuchung ist nicht vor Stereotypen gefeit – im Gegenteil, ich werde mir diese ganz bewusst zunutze machen. Denn sowohl die Befürworter als auch die Kritiker der amerikanischen Einflüsse beziehen sich, so die hier zugrunde liegende These, in ihrer Interpretation des Amerikanischen auf Klischees und Stereotype. In ihrem Diskurs über das Amerikanische festigen sie zudem bestehende Stereotype und bilden gleichzeitig neue.

Beim Begriff «Amerikanisierung» schwingt jedoch immer auch etwas Negatives mit. Insbesondere im hier relevanten Zeitraum der 1950er- und 1960er-Jahre wird Amerikanisierung oder auch «Veramerikanisierung» vorderhand negativ gebraucht. Der Begriff wird dort zum Ausdruck der Angst vor der Verdrängung eigener Traditionen durch (barbarische) fremde Lebensweisen, Güter und fremdes Gedankengut. Er steht in diesem Kontext für amerikanischen Kultur- und Wirtschaftsimperialismus, aber auch für amerikanischen Kapitalismus, gnadenlosen Wettbewerb, zügellosen Materialismus, Wegwerfmentalität und Überfluss. Gerade vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit amerikanischen Einflüssen stellt sich deshalb auch die Frage nach der Tiefe des Eindringens der amerikanischen Einflüsse und deren Nachhaltigkeit. Der Begriff «Amerikanisierung», und noch stärker der Begriff «Veramerikanisierung», erweckt den Eindruck der totalen Übernahme amerikanischer Gewohnheiten, Denk- und Handlungsweisen – gerade wenn man sich in Erinnerung ruft, wofür der Begriff Americanization im Amerikanischen steht. Dass es sich jedoch nur um eine graduelle Übernahme amerikanischer Techniken, Strukturen, Lebensweisen und Essgewohnheiten handelte, werde ich im Verlauf meiner Untersuchung immer wieder zeigen. Der amerikanische Kulturhistoriker Richard Pells kritisiert in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der These der Amerikanisierung Europas um einen «powerful and enduring myth», also um einen einflussreichen und beständigen Mythos handle, der nicht zuletzt von den Europäern selbst hochgehalten werde, um eine Erklärung dafür zu finden, warum sich die europäische Gesellschaft in einer als mitunter schlecht empfundenen Art und Weise veränderte.10 Pells liegt mit seiner Einschätzung gerade im Hinblick auf die pejorative Verwendung von «Amerikanisierung» nicht grundsätzlich falsch, doch sie erscheint mir zu eindimensional. Es wäre zwar durchaus verfehlt, Veränderungen im Bereich der Essgewohnheiten in der Nachkriegszeit einzig dem Einfluss der USA und ihrer besonderen Stellung in der Weltordnung nach 1945 zuzuschreiben, denn die Essgewohnheiten änderten sich hierzulande in den 1950er- und 1960er-Jahre auch aufgrund zunehmenden Wohlstands, technischen Fortschritts, neuer Gesundheitsvorstellungen. Dennoch ist der Einfluss der USA auch nicht zu unterschätzen. Die USA agierten in dieser Zeit nämlich durchaus als Ideengeber und Leitbild, und ebenso waren Politik und Wirtschaft Amerikas daran interessiert, ihren Technologie- und Produktivitätsvorsprung nach Europa zu bringen (siehe Kapitel «Push- und Pullfaktoren der Amerikanisierung»).

Gegenstand von «Ready to Eat» ist deshalb, herauszuarbeiten, wie gross der amerikanische Einfluss war, worin er sich zeigte und welche Bereiche er umfasste. Es geht mir darum, aufzuzeigen, wie sich die Schweiz bei der Etablierung der modernen Konsumkultur und den damit verbundenen Essgewohnheiten an Amerika, dem «Leitbild der Konsum-Moderne»,11 orientierte, wobei ein differenziertes Bild der Amerikanisierung angestrebt wird. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Amerikanisierungsthese denn auch als einen Prozess des kulturellen Austausches im Sinn Peter Burkes.12 Burke geht bei seinen Überlegungen von zwei Prämissen aus: Erstens versteht er den Prozess der Globalisierung – und davon abgeleitet den Prozess Amerikanisierung – als einen (kulturellen) Austausch in zwei Richtungen. Er ist überzeugt, dass es sich dabei nicht um eine einseitige Anleihe handelt, bei der bloss die eine Seite von der anderen übernimmt, sondern dass beide Seiten voneinander übernehmen beziehungsweise dass beide Seiten nachahmen und aneignen (Transkulturation statt Akkulturation). Zweitens ist dieses Nachahmen und Aneignen in der Regel mit Anpassungen auf Seiten des Entleihenden verbunden. Kurz: Beim kulturellen Austausch handelt es sich primär um eine selektive Aneignung derjenigen Elemente, die von Interesse sind, wobei diese nach Bedarf an die bereits vorhandenen Bedingungen und Vorstellungen angepasst werden. Auf die Anpassungsleistung und die Adaptionen werde ich bei der nachfolgenden Analyse immer wieder zu sprechen kommen. Immer wieder stellt sich dabei die Frage: Haben sich die Essgewohnheiten in der Schweiz amerikanisiert, oder haben sich amerikanische Gewohnheiten verschweizert?

Teil I

Grundzüge der modernen Ernährung

« Am weitesten vorangeschritten ist die Revolution bei Tisch in den Vereinigten Staaten, die im zwanzigsten Jahrhundert zur führenden Weltmacht aufstiegen und die der Entwicklung zur Konsumgesellschaft weltweit Pate standen, nachdem noch im neunzehnten Jahrhundert Grossbritannien und Frankreich die kulturellen Leitbilder geliefert hatten. Man kann sich streiten, was am amerikanischen Essen amerikanisch ist und was Anpassung an die Bedingungen der industriellen Essenszubereitung, an die Esssitten und Geschmackspräferenzen einer mobilen Massengesellschaft.13     »

Die Entstehung der modernen Ernährung

Führen wir uns die vergangen zwei Jahrhunderte der Ernährungsgeschichte im Zeitraffer vor Augen, stellen wir schnell fest, welch enormen Wandel die Ernährung durchlaufen hat: Bis vor rund 200 Jahren war der Speisezettel der Europäer fest an die Jahreszeiten und an regionale Bedingungen gebunden. Überfluss und Mangel unterlagen wiederkehrenden Phasen im Jahresverlauf. Rund 100 Jahre später büssten diese Faktoren an Bedeutung ein, stattdessen entschieden nun finanzielle Ressourcen über den Menüplan. Heute, wiederum ein Jahrhundert später, ist es dank Nahrungsmittelindustrie und vielseitigen Konservierungstechniken gelungen, die saisonale und regionale Abhängigkeit zu überwinden. Für einen grossen Teil der Bevölkerung bestimmen nicht mal mehr die finanziellen Ressourcen die Auswahl der Lebensmittel. Wir essen, wonach uns gerade ist. Seien es Erdbeeren im Winter oder Trauben im Frühling: Modernste Produktionstechniken und ein effizientes globales Verkehrsnetz machen es möglich.14 In der vergleichsweise kurzen Zeit von 200 Jahren veränderten sich die Essgewohnheiten in Europa also nicht nur hinsichtlich der natürlichen Bedingungen, sondern auch in Bezug auf die Nahrungsmittelvielfalt und die Nahrungsmittelherstellung und -verarbeitung. Dabei lässt sich auf der einen Seite ein Wandel von der Selbstversorgung zu einer globalen Marktwirtschaft nachzeichnen, andererseits ist die Ernährung auch Indikator für gesellschaftliche Veränderungen.

Die Entstehung der modernen Ernährung kann bis zur Agrarrevolution im 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden, denn damals wurden die Grundpfeiler für eine ertragreiche Landwirtschaft gesetzt, mit der sich die seit dem 16. Jahrhundert prekäre Nahrungsversorgung in Europa entscheidend verbessert hatte. Die Agrarrevolution ermöglichte eine landwirtschaftliche Produktivitätssteigerung und reduzierte dadurch die Krisenanfälligkeit. Die Verbesserung der Ernährung und der Nahrungsversorgung wiederum waren denn auch eine wichtige Grundlage für die industrielle Revolution und die Industrialisierung Europas, weil erst die Produktion von Überschüssen in der Landwirtschaft es den Menschen überhaupt ermöglichte, sich von der Selbstversorgung abzuwenden und in die Städte zu ziehen, um dort einer Beschäftigung in den Fabriken nachzugehen.

Die für die vorliegende Studie zentrale Entwicklungslinie beginnt mit dem Aufkommen der Nahrungsmittelindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil sich ab diesem Moment die Nahrungsmittelproduktion vom bäuerlich-häuslichen und zumeist ländlichen Umfeld in die städtische Fabrik verschob.15 Gleichzeitig etablierte sich eine standardisierte, rationalisierte und anonymisierte Massenproduktion von Lebensmitteln, wie sie sich in den Vereinigten Staaten am schnellsten und am konsequentesten durchsetzte, bevor sie von dort zurück nach Europa und in die übrige Welt gelangte. Das Attribut «Masse» ist dabei ein zentraler Aspekt und wichtiges Charakteristikum des Terminus «Industrie», denn es impliziert ebendieses standardisierte, rationalisierte Produktionsverfahren, mit dem eine anonyme Masse versorgt werden soll. Damit unterscheidet es sich von der ursprünglich häuslichen, bäuerlichen oder kleinbetrieblichen Herstellung von Einzelstücken, die wiederum persönlich auf dem Markt angeboten werden.

Es ist wichtig zu betonen, dass der Wandel der Essgewohnheiten zunächst nicht von der Nahrungsmittelindustrie ausging. Vielmehr ist diese im 19. Jahrhundert als Produkt eines viel komplexeren gesellschaftlichen, technischen und strukturellen Prozesses zu sehen, der die nötigen Voraussetzungen für die Herausbildung einer industrialisierten Nahrungsmittelproduktion schuf – und zwar sowohl auf der Produzenten- als auch auf der Konsumentenseite.16 Gleichzeitig hatte sich aber auch die Existenz vorgefertigter, proportionierter und haltbarer Lebensmittel auf die Essgewohnheiten ausgewirkt, quasi nach dem Prinzip, dass das Angebot die Nachfrage schafft. Nach der Jahrhundertwende wird die Ernährungsindustrie im Zuge von Produktionssteigerung, Überfluss und Konkurrenz durch Werbung und Marketing schliesslich gezielt auf die Essgewohnheiten der Bevölkerung Einfluss nehmen und sich – wie noch zu zeigen sein wird – vermehrt in die Ernährungslehre einbringen und bald sogar entscheidenden Einfluss darauf ausüben.

Doch gehen wir nochmals einen Schritt zurück: Welche Bedingungen und Errungenschaften waren überhaupt notwendig, damit sich die Nahrungsmittelindustrie herausbilden konnte? Basierend auf der bereits zitierten Forschungsliteratur17 scheinen vier Voraussetzungen zentral. Als erstes ist die Existenz einer Markt- und Geldwirtschaft zu nennen: Das heisst, es musste genug Menschen geben, die bereit (oder gezwungen) waren, vorgefertigte Nahrung mit Geld zu erwerben. Entscheidend hierfür waren die mit der Industrialisierung einhergehende Urbanisierung und die in den Fabriken arbeitende Bevölkerung. Diese war durch die Arbeit in den Fabriken nicht mehr in der Lage, ihre Nahrung selbst zu erzeugen. Es versteht sich von selbst, dass nur diejenigen fabrikgefertigte Lebensmittel kaufen konnten, die auch über Geld verfügten. Dies traf zur Zeit der Industrialisierung in erster Linie für die Menschen in den Städten zu, die für ihre Arbeit mit Geld entlöhnt wurden.

Als zweite, besonders bedeutende Voraussetzung sind die Errungenschaften im Bereich des Transports zu nennen. Zunächst brauchte es die Eisenbahn und die Hochseeschifffahrt, die es ermöglichten, günstige Rohstoffe (etwa Getreide) in grosser Menge aus der ganzen Welt zu importieren, die in den Fabriken verarbeitet werden konnten. Doch erst das ausgebaute, effiziente Verkehrsnetz schaffte den für die Massenproduktion notwendigen Absatzmarkt im In- und Ausland. Dieser wiederum war von der Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit abhängig.

Damit die Lebensmittel aber überhaupt über weite Distanzen transportiert werden konnten, war neben einer geeigneten, raumsparenden Verpackung auch die Haltbarkeit eine Bedingung. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Haltbarkeit der Nahrung sowie im Bereich von Bakterien und Sterilisierung waren demnach eine dritte wichtige Voraussetzung für die Lebensmittelindustrie. Nicolas Apperts Konservierungsmethode, bei der die Nahrungsmittel unter Luftabschluss erhitzt wurden, bedeutete einen ersten Meilenstein in der Haltbarmachung und begründete sozusagen die Konservendose, die geradezu als Sinnbild der modernen Essgewohnheiten angesehen werden kann. Einen zweiten Meilenstein setzte etwas später die Gefrier- und Kühltechnik, die vor allem für die Fleischkonservierung entscheidend war. Wie bei Tannahill nachzulesen ist, waren die Chinesen bereits im 16. Jahrhundert auf die Idee gekommen, Eis als Konservierungsmethode einzusetzen. Sie transportierten so frisches Obst und Bambussprossen auf dem Wasserweg nach Peking.18

Die letzte Voraussetzung ist die Existenz einer Ernährungsforschung, die einerseits die Basis bildete, um die Nahrung auf ihre Bestandteile zu untersuchen, und andererseits die Entwicklung neuer Technologien zur Verarbeitung von Nahrungsmitteln ermöglichte. Von grosser Bedeutung war die Erkenntnis, dass Lebensmittel aus verschiedenen Nährstoffen – sprich aus Kohlenhydraten, Fetten und Proteinen – bestehen. Die Analyse der Nahrung mit naturwissenschaftlichen Methoden wurde bald zu einer eigentlichen Lebensmittelwissenschaft, aufgrund deren Ergebnissen erstmals Kostnormen festgelegt wurden.19 Die Existenz der Ernährungsforschung ist umso wichtiger, als sie eine Diskussion über eine «gesunde Ernährung» in Gang setzte, auf die ich in den folgenden Kapiteln hinsichtlich verschiedener Ernährungsreformen und -lehren in Europa und in den USA noch stärker eingehen werde.

Ein Produkt, das die beschriebene Herausbildung der modernen, industrialisierten Essgewohnheiten eindrücklich veranschaulicht, ist die oben angesprochene Konserve. Nicht nur verkörpert – beziehungsweise konserviert – sie die Entstehung und Herausbildung der Lebensmittelindustrie, sondern sie zeichnet gleichzeitig deren «Errungenschaften» nach.20 Als der Franzose Nicolas Appert an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert seine berühmt gewordene Methode zur Haltbarmachung verderblicher Lebensmittel, die «Appertisierung», entwickelte und verfeinerte, legte er damit den Grundstein sowohl für die Überwindung der jahreszyklischen Ernährung als auch für die Nahrungsmittelindustrie, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausbildete. Die Konserve beziehungsweise die Konservendose wird damit zu einer Art Ikone für die industrielle Produktion, die auf den Prinzipien der Rationalisierung, Uniformierung und des Fliessbands basiert und den Übergang von der manuellen zur maschinellen Verarbeitung darstellt. Gleichzeitig dient die Konserve aber nicht nur als «Vehikel der Zeitüberbrückung»,21 sondern eignet sich auch hervorragend, um weite geografische Strecken zu überwinden. Die Haltbarkeit, die einheitliche, leicht stapelbare Verpackung, aber auch die kompakte Form der Nahrungsmittel eröffneten neue Möglichkeiten für den Transport über lange Strecken, womit sich erstmals nicht nur Kolonialwaren, Gewürze und Getreide, sondern auch die sogenannten verderblichen Produkte wie Fleisch und Gemüse auf dem Weltmarkt verkaufen liessen.

Nach der Jahrhundertwende werden zwei weitere Aspekte der Konserve bedeutsam: Erstens eigneten sich ihre Eigenschaften als stapelbare und lang haltbare Ware nicht nur hervorragend für den Transport, sondern auch für die aus den USA stammende, neue Vertriebsart im Selbstbedienungsladen und Supermarkt. Dort konnten die bereits in der Fabrik abgewogenen und abgepackten Dosen mühelos in Regalen gestapelt werden, von wo sie die Kundinnen und Kunden bequem in den Einkaufskorb legen und am Schluss an der Kasse bezahlen konnten. Zweitens wird die Verpackung in diesem Kontext zu einem zentralen Moment und stellt einen Meilenstein in der Ernährungsgeschichte dar. Denn weil die Büchse den Blick auf die Nahrung versperrte, kam der Gestaltung der Etikette und der Verpackung eine zentrale Rolle zu. Als «stumme Verkäufer»22 ersetzen sie den Händler, der die Ware auf dem Markt anpries und bei Bedarf Auskunft geben konnte. Martin Schärer folgert, dass die Etikette damit zum «wichtigen Bestandteil des Produktes» wurde, denn: «sie benannte und erläuterte den Inhalt der Verpackung, erwähnte deren Grösse und Preis, gab Hinweise über die Verwendung und bezeichnete den Hersteller, der die Qualität garantierte.»23 Die Verpackung der Konserve musste aber nicht nur informieren, sondern besonders auch ansprechend und funktional gestaltet sein, weshalb oft der Inhalt auf der Verpackung abgebildet wurde. Die Verpackung und die Etikette wurden so zum eigentlichen Werbeträger, der gerade bei der Selbstbedienung über den Kauf oder Nichtkauf entscheiden konnte.

Damit ist bereits der nächste Entwicklungsschritt angesprochen: die Geburt und der Aufstieg des Markenartikels.24 Weil mit der industriellen Herstellung und der Selbstbedienung ein Prozess der Anonymisierung und der Entfremdung von Produzent und Endverbraucher, aber auch von Verkäufer und Käufer Einzug hielt, galt es, das Vertrauen der Konsumenten auf einer anderen Ebene zu gewinnen. Der Markenartikel versprach durch seine serielle, standardisierte Verarbeitung eine immer gleich bleibende Qualität.

Dass dieses Versprechen bei Weitem nicht immer eingehalten wurde, zeigen verschiedenste Fälle des Etikettenschwindels und der Nahrungsmittelfälschungen, die das durch die Marke hergestellte Vertrauen wieder zerstörten. Gerade bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts stellten Etikettenschwindel und Fälschungen ein echtes Problem dar. Weil zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitere grundlegende und als gesund geltende Bestandteile der Nahrung wie Vitamine, Mineralien und Spurenelemente zwar identifiziert waren, aber bis in die 1930er-Jahre noch keine Aussagen über deren Menge in der Nahrung und über deren Aufnahme im Körper gemacht werden konnten, eigneten sich diese geruch- und farblosen Bestandteile hervorragend als Werbeargumente. Die Lebensmittelindustrie konnte im Prinzip über ihre Produkte behaupten, was sie wollte.25 Oftmals wurden den Nahrungsmittelkonserven auch unerlaubte oder gar giftige Substanzen zugefügt, sei es zur Streckung, zur optischen Aufbesserung durch Farbstoffe oder auch als (chemische) Konservierungsmethode. Auch Ge schmacksverstärker, oft in Form von Zucker, wurden relevant, womit die in Zusammenhang mit der Industrialisierung kritisierte Entfremdung von natürlichem Geschmack und Aussehen angesprochen ist.

Nahrungsmittelfälschungen und Etikettenschwindel waren in der jungen Lebensmittelindustrie stark verbreitet; jedoch waren sie keine neuen Phänomene. Im 20. Jahrhundert gerieten insbesondere Konservierungs- und Farbstoffe in die Kritik, was dazu führte, dass Nahrungsmittelgesetze eingeführt beziehungsweise verschärft wurden.26

Auch auf der Konsumentenseite kann die Konserve zur Veranschaulichung für eine Reihe von Veränderungen herangezogen werden, die sich ähnlich wie bei der Produktion durch Rationalisierung und Zeiteinsparung auszeichnen. Dadurch, dass die Zubereitung und Vorbereitung der Lebensmittel in die Fabrik verlegt wurde, rückten das sogenannte Convenience food und die Fertiggerichte ins Zentrum – beides war zuerst in der Dose erhältlich. Die Industrie übernimmt dabei eine Reihe von Aufgaben, für die traditionellerweise die heimische Küche zuständig war. Angefangen bei der Ernte, übernimmt sie das Putzen, Rüsten, Kochen und Würzen. Dabei gibt es verschiedene Abstufungen der Verarbeitung. Gemüsekonserven sind verhältnismässig einfaches Convenience food. Sie bestehen lediglich aus einem, vielleicht zwei Nahrungsmitteln, die gerüstet und vorgekocht werden und von den Endverbrauchern nur noch aufgewärmt werden müssen. Büchsenravioli hingegen sind viel komplexer, sie stellen fixfertige Gerichte dar. Die Herstellung ist sehr aufwendig und geschieht kaum mehr vollständig in einem Haushalt. Zunächst müssen Teig und Füllung hergestellt werden, anschliessend wird beides zu kleinen Teigtaschen verarbeitet. In einem weiteren Arbeitsschritt werden sie gar gekocht, und eine Sauce wird zubereitet. Erst dann kann beides kombiniert und serviert werden. Bei Büchsenravioli geschehen alle diese Arbeitsschritte bereits in der Fabrik. Die Ravioli kommen fixfertig mit Tomatensauce vermischt in die Dose und müssen zu Hause nur noch erhitzt und eventuell mit Käse verfeinert werden – schon ist ein komplettes Menü auf dem Tisch: Ready to eat.

Schliesslich lässt sich anhand der Konserve auch der Übergang vom Luxusgut zum Massenprodukt aufzeigen. Die Nahrungskonserve, die anfänglich als Luxusgut gehandelt wurde, konnte im Verlauf der Industrialisierung dank Transportrevolution, technischen Fortschritten und Rationalisierung immer günstiger produziert werden. Allerdings war die Verbilligung häufig auch mit der Verwendung von preisgünstigeren Surrogaten und damit mit Täuschung verbunden. In Europa vermochte sich die Dosenkonserve – wie viele andere Konsumgüter – erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchzusetzen, während sie in den USA bereits nach der Jahrhundertwende zum Massenkonsumgut avancierte.

Von Birchers Müesli zu Kellogg’s Cornflakes: Reformen in Europa und den USA

Obwohl sich, wie oben skizziert, seit dem Industriezeitalter die Ernährungslage in Europa wesentlich verbessert hatte und dank landwirtschaftlicher Produktivitätssteigerung, leistungsfähigeren Verkehrsnetzen, neuen Produktionstechnologien, naturwissenschaftlichen Fortschritten und neuen Konservierungstechniken Versorgungsengpässe seltener wurden, war die Kost in Europa, aber auch in den USA bis ins 20. Jahrhundert hinein bei Weitem nicht immer ausreichend. Gerade bei den tieferen Schichten in den Städten konnte trotz Nahrungsmittelüberfluss eine Mangelernährung festgestellt werden, wobei unter Mangel nun nicht mehr primär das Fehlen von Nahrung, sondern insbesondere das Fehlen von Nahrungsbestandteilen gemeint war. Gerade in den USA, wo im Vergleich zu Europa seit je Nahrung in Fülle vorhanden war und wo es kaum zu Versorgungsengpässen kam,27 schlug sich dieses Phänomen ab 1912 in einem Begriffswechsel nieder: Aus under-fed wurde under-nourished oder malnourished.28

Auch in der Schweiz war eine ähnliche Entwicklung zu beobachten, wobei hierzulande im Unterschied zu den Vereinigten Staaten kriegs- und krisenbedingte Versorgungsengpässe hinzukamen. Wie bei Schärer nachzulesen ist, zeigte die erste Ernährungsbilanz in der Schweiz von 1910, dass die Schweizer Bevölkerung vor dem Ersten Weltkrieg im Durchschnitt «grad ausreichend» ernährt war. Schärer schreibt: «Dies bedeutet, dass die Nahrung ärmerer Bevölkerungsschichten nicht immer genügte» beziehungsweise dass «gewisse Risikogruppen unter- und mangelernährt» waren.29

Die Mangel- und Fehlernährung breiter Bevölkerungsschichten war – wenn nicht durch Knappheit bedingt – häufig auf einseitige und ungesunde Essgewohnheiten und auch auf Fälschungen oder verminderte Qualität zurückzuführen. Dies rief verschiedene Ernährungsreformer auf den Plan. Meist aus der (gebildeten) Mittel- und Oberschicht stammend, kritisierten sie die Entfremdung von Natur und Nahrung und die (neue) Unkenntnis der Herkunft und der Produktion der täglichen Kost. Mit den unterschiedlichsten Konzepten und Theorien und nach den jeweils neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen versuchten sie die Ernährungsmuster der Massen und besonders der Unterschicht zu steuern und zu verbessern und das Wissen um eine ausgewogene Ernährung zu erweitern. Aufgrund der Diskrepanzen zwischen den Gesellschaftsschichten gelang dies allerdings nur selten im ersten Anlauf – weder in der Alten noch in der Neuen Welt.

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Abb. 3: Maggi-Suppe statt Schnaps: Julius Maggi und Fridolin Schuler kreierten eines der ersten Convenience-Produkte, Werbeplakat von 1920.

Viele der Reformbewegungen im 19. Jahrhundert sind im Kontext der Hygiene- und Abstinenzbewegungen zu sehen, die auf die Mangel- und Fehlernährung – besonders der Unterschichten – ausgerichtet waren. Auch wenn die Hygiene und die Alkoholfrage nicht zu den primären Programmpunkten der Ernährungs- und Lebensreformen zählten, so wirkten sie sich immer mehr oder weniger ausgeprägt darauf aus. Denn sowohl Epidemien, die auf mangelnde Hygienemassnahmen zurückzuführen waren, als auch Alkoholismus stellten für die damalige Gesellschaft, die sich im Zuge der Industrialisierung rasant urbanisierte, ein echtes Problem dar. So gehörten nicht nur Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Typhus und Lungenentzündung zu den häufigsten Todesursachen, sondern auch die Folgen von Alkoholismus. Beides traf zumeist die Paupers der urbanen Industriegesellschaften am härtesten.30 Vor diesem Hintergrund scheint es wenig erstaunlich, dass eines der ersten und bedeutendsten Massenerzeugnisse der Nahrungsmittelindustrie sich der «Schnapsbekämpfung» verschrieb: Der nahrhafte und eiweissreiche Suppenwürfel von Fridolin Schuler (1832–1903) und Julius Maggi (1846–1912), der später unter dem Begriff «Maggi-Würfel» Karriere machen sollte, wurde als Alternative zu den leeren Kalorien des gebrannten Wassers propagiert.31 Das ursprünglich als Leguminosenmehl eingeführte Convenience32