Inhaltsverzeichnis

Für Stella

Prolog

Ich erinnere mich an Dinge,

die ich vergessen will

und vergesse die, die ich

nicht vergessen will.

EURIPIDES (485?–406 a.C.)

AMARCORD nannte Fellini den Erinnerungsfilm an seine Jugend im heimatlichen Rimini. Amarcord ist ein wehmütiger Ausruf im Dialekt der Romagna, die Verschleifung des italienischen ›Ah, mi ricordo!‹ zu ›Amarcord!‹ – Ah, ich erinnere mich! – Eine mundartliche Wendung wird in ihrem Wohlklang POESIE.

Ich beneide die Italiener um diese sprachlichen Möglichkeiten. Auf der Suche nach einem Titel für dieses Buch habe ich in unserer deutschen Sprache, die ich genauso liebe, vergeblich nach einem solchen poetischen Bild gesucht. Bei meinen Erinnerungen an die Kindheitsjahre fiel mir – gewiss viel prosaischer – ein volkstümliches Gericht ein. In der Eifel und im rheinischen Raum war »Himmel un Äd« ein einfacher Eintopf der eher mageren Jahre, aus Äpfeln und Kartoffeln zusammengekocht. Die Äpfel wachsen auf den Bäumen, daher: Himmel, die Kartoffeln im Ackerboden, darum: Erde. Und so gemischt wie »Himmel un Äd« stellen sich meine Erinnerungen ein, mal fallen sie vom Himmel, mal steigen sie aus der Erde und bevölkern den Bereich dazwischen, in dem es bekanntlich mehr Dinge gibt, als sich unsere Schulweisheit träumen lässt.

Ich habe mich vom Beginn meiner Schreibversuche an gesträubt, eine Autobiografie zu schreiben. Zwar haben Freunde oder Leser meiner Bücher immer wieder einmal behauptet, dass man aus meinen bisher veröffentlichten Geschichten so etwas wie eine Autobiografie herauslesen könnte, wenn ich auch mit den von mir selbst eingestreuten Vorbehalten über die Wahrhaftigkeit meiner Geschichten einen Stolperstein eingebaut hatte. Diese Zweifel wurden häufig missverstanden und für bewusstes Flunkern gehalten, aber zumindest meine autobiografischen Geschichten waren immer wahr, ich wollte sie nur nicht an das unbarmherzige Kreuz der absoluten Wahrheit genagelt sehen. Auch die Geschichten dieses Buches sind wahr, so wahr, wie es Erinnerungen überhaupt sein können. Nur habe ich zum Schutz von vielleicht noch lebenden Personen hier und da Veränderungen gegenüber den realen Ereignissen und Namen vorgenommen. Darüber hinaus habe ich keine eigenen Aufzeichnungen zu Hilfe genommen, nicht das Internet befragt und auch keine Briefe an Einwohnermeldeämter geschrieben, um mich der genauen Namen und Daten zu vergewissern.

Ich habe nie an die Autobiografie geglaubt, mit der ein Autor eine lückenlose Lebensbeschreibung vorlegt. An vielen Autobiografien störte mich, dass da ein Mensch sein Leben im Rückblick in eine organische Form gepresst hat, die es in seinem wahren Ablauf nie gehabt haben konnte, so als würde man die Federn eines Kopfkissens numerieren und zu einem schönen Federkleid zusammenkleben.

Hinzu kommt: Wir neigen dazu, dass wir von uns und anderen verlangen, eindeutig zu sein. Dabei habe ich immer wieder Menschen getroffen, die diesem Muster nicht folgten. Sie konnten durchaus zwei unterschiedliche Sichtweisen zu einem Thema haben. Wenn man sie allerdings darauf aufmerksam machte, stritten auch sie es ab und bestanden auf Eindeutigkeit. Fast niemand möchte ambivalent sein.

Es fiel mir immer schwer, glaubhaft zu machen, dass ich das eine, aber gleichzeitig auch das andere sein konnte, ohne mich deswegen als unaufrichtig oder unentschieden zu sehen: Schon der Fünfjährige, der in dem Mann mit dem Bischofshut und dem weißen Wattebart gnadenlos den freundlichen Onkel aus dem Altersheim erkannte und doch weiter an den Weihnachtsmann glaubte. Auf der einen Seite der stramme Hitlerjunge, auf der anderen der Zweifler, der Hitler nicht liebte, wie man es von ihm verlangte, der begeistert Nazilieder sang und doch heimlich mit der Decke über dem Kopf Radio London hörte – und das ohne Gewissensbisse. Oder wie der neunjährige Ministrant, der an Gott glaubte, aber die Existenz eines gütigen Gottvaters oder später die jungfräuliche Empfängnis Marias bezweifelte.

Diese Ambivalenzen habe ich selten oder nie in einer Autobiografie eingestanden gefunden. Was wir als Erinnerung bezeichnen, ist ja zweierlei, einmal das Abrufen von im Gedächtnis Gespeichertem und dann das Uns-wieder-Einfallen des Vergessen-Geglaubten. Diesmal sind es die Franzosen, die besser als wir unterscheiden zwischen se rappeler, dem gezielten Zurückrufen von gespeicherter Vergangenheit, und se souvenir, wörtlich: dem Uns-»wieder-Unterkommen« von Vergessenem. Und Erinnerungen dieser letzten Art gehorchen nun einmal nicht unseren Wünschen, sie lassen sich nicht fein geordnet herbeirufen. Sie sind immer bruchstückhaft, tauchen wie überflutete Halligen aus dem Meer der vergessen geglaubten Vergangenheit auf, steigen ungerufen ins Bewußtsein oder widersetzen sich hartnäckig dem Versuch, ans Tageslicht gespült zu werden.

Hätte ich dieses Buch vor einem Jahr geschrieben oder würde ich sie in einem Jahr schreiben, so wären es, von den ganz frühen Erinnerungen vielleicht abgesehen, wahrscheinlich völlig andere Erinnerungen geworden. Ich möchte sie daher auch in ihrem sporadischen, lückenhaften, unordentlichen Zustand belassen und habe sie nur in eine ungefähre chronologische Folge gesetzt. Ich möchte ihnen auch das Nebensächliche, Zufällige erhalten, gerade weil sie nicht den wesentlichen Daten und Linien meines Lebens folgen, nur selten zur sichtbaren Fassade meines Lebens gehören. Es geht mir vielmehr um Geschichten aus meiner Kindheit und solche, die sich neben meiner Arbeit, in den Kulissen sozusagen, oder abseits vom Schauspielerleben während der oft zu kurzen Zeiten des Privatlebens zugetragen haben. Alles in allem also: Erinnerungen zwischen Himmel und Erde – und gemischt wie Himmel un Äd.

 

Saint-Tropez, September 2003

M. A.

Zwischen Orgel und Fanfaren

Das Spitälchen · Maria zu lieben · Der Fluch · Silberpfeile · Arme Menschen · Das magische Auge · Zwischen Orgel und Fanfaren

Ich habe kaum Erinnerungen an die ersten Jahre im Marienhaus, von den Mayenern »Spitälchen« genannt, das Waisenhaus der Stadt, in das meine Mutter mich, als ich drei Jahre alt war, geben musste. In jenem Jahr 1933, das die Machtergreifung durch Hitler brachte, hatte sie sicher keine Zeit, sich um Politik zu kümmern. Bis dahin hatte sie mich mitgenommen, wenn sie zum Nähen in die Wohnungen ihrer Kundinnen ging. Ich war offenbar kein besonders ruhiges Kind, und man gab meiner Mutter zu verstehen, dass man sie gerne zum Kleidernähen in die Wohnung ließ, dass sie aber nur allein und nicht mit ihrem Kleinen willkommen sei.

Das Marienhaus war ein großer, düsterer, fast schwarzer Basaltbau mit einem gotischen Treppengiebel, zwischen Stehbachstraße und Glacis gelegen. Die Ringstraße nannte man aus alter Franzosenzeit noch immer Glacis. In früherer Zeit war das Spitälchen wohl, wie der Name sagt, ein Spital, aber nach dem Bau des Krankenhauses in der Siegfriedstraße wurde es das städtische Waisenhaus. Ein Stockwerk diente auch als Altersheim. Auf dem Grundstück, das mir als Kind riesengroß erschien, hatten außer dem Hauptgebäude eine Kirche, ein Wasch- und Bügelhaus und ein Leichenhäuschen ihren Platz. Der große Hof zum Glacis hin diente als Spielplatz, der mit seinem spitzen Splitkies für immer wieder aufgeschürfte Knie sorgte. In einer Ecke war ein Sandkasten für die Kleinsten. Davor eine Schaukel und ein Reck. Das ganze Grundstück umschloss eine hohe Mauer, wegen der spitzen Glasscherben, die oben einzementiert waren, ein abschreckendes Hindernis für jeden, der sich als Ausreißer hätte versuchen wollen. Meine erste Erinnerung ist recht genau: Ich stehe im Treppenhaus und kann kaum über die Fensterbank schauen. Dazu stütze ich die Fußspitzen auf eine der Fliesen, die über den Stufen der Treppen entlanglaufen. Ich sehe über die Hofmauer bis zur Möhrenstraße hinauf. Die rote Fahne mit dem weißen Kreis und dem schwarzen Hakenkreuz, die aus dem von hier unsichtbaren »Braunen Haus« über die Straße ragt, ist weniger als sonst zu sehen, und man erklärt mir, dass sie auf Halbmast gesetzt ist. Als ich frage warum, erfahre ich: »Der Hindenburg ist gestorben.« Wusste ich, dass dies der alte Mann mit dem weißen Stiftenkopf und dem gezwirbelten Schnurrbart war, oder hat sich dieses Bild erst später der Erinnerung der lakonischen Todesnachricht hinzugesellt, so wie ich diesem Ereignis sicher erst später ein Datum geben konnte: den 22. August 1934.

Ich erinnere mich nur an wenige der etwa fünfzehn Jungen im Waisenhaus, von denen die meisten älter als ich waren. Da war der starke, sportliche Karl, vor allem Herbert, der Anführer der kleinen Bande, die er um sich scharte und zu der ich als Kleinster gehören durfte. Er führte uns heimlich ins Leichenhäuschen, als Mutprobe, wenn wieder einmal jemand dort aufgebahrt lag. Ich würde heute noch den stickigen, süßlichen Geruch der Totenkammer wieder erkennen. Herbert schlug das Leichentuch zurück, und wir sahen schaudernd eine Greisin aus dem Altersheim, die wir noch wenige Tage vorher über den Hof hatten humpeln sehen. Ihr spitzes Gesicht war gelblich, und um ihre dürren, gefalteten Hände war ein Rosenkranz geschlungen. Herbert nahm das Gefäß mit dem Weihwasser, tauchte den Wedel hinein, sprengte es kreuzweise über die Leiche, gluckste dabei: »Dominus, wo bist du?«, und gab sich selbst die Antwort: »Et cum schpiritus tuo«, platzte vor Lachen und gab den Sprengel an den Nächsten weiter, und wir alle mussten es ihm nachtun.

Da war noch Josef, ein dreijähriger wunderschöner Junge mit großen meerblauen Augen, der aber offenbar zurückgeblieben war, nicht gehen und sprechen konnte, den man »ohs Jüppche« nannte und den alle abgöttisch liebten, vor allem die Mädchen, die ihn streichelten und küssten und sich darum rissen, ihn herumtragen und verwöhnen zu dürfen. Er starb sehr bald. Zielscheibe unseres Spotts allerdings war der taubstumme Steff, eine Art Faktotum des Spitälchens. Wenn wir ihn wieder einmal geärgert hatten, schüttelte er den Zeigfinger hoch über dem kahlen Kopf und quälte kaum verständlich die Worte aus seiner Kehle: »Gott straft! Gott straft!« Das sorgte dann für Gewissensbisse, und wir verschonten ihn einige Tage lang mit unseren grausamen Streichen.

*

An Sonntagen begleitete mich Schwester Arimathäa – das Waisenhaus wurde von Benediktinerinnen geführt – über das Glacis zu dem schwarzen Eckhaus der Möhrenstraße 1, wo meine Mutter eine Dachkammer gefunden hatte und wo sie mich wenigstens nachts in ihrer Nähe wusste. Ich sprang hinauf in den dritten Stock, wo sie noch schlief. Ich klopfte an die Tür, hörte, wie sie aufstand, die Tür öffnete und gleich wieder zurück ins Bett huschte. Es war die einzige Zeit, in der sie es zuließ, mit mir herumzutollen und zu »schmusen«, sie, die später alle Bezeugungen von Zärtlichkeit mied. Immer gab es ein kleines Geschenk – mal eine Tafel Schokolade, mal ein Zeichenblock mit Farbstiften oder eine Wollmütze –, das sie versteckt hatte und das ich suchen musste: »Kalt – kälter – Nordpol – warm – wärmer – heiß«. Einmal hatte sie für mich eine weiße Seidenbluse mit Rüschen oder ein andermal gar einen schwarzen Samtanzug gemacht. Oder es gab schwarze Lackschuhe, die drückten und die mit einem Riemchen über den Rist nur mit Mühe zu schließen waren.

Ich stand brav abgewendet, wenn sie sich anzog. Sie machte sich fein, wie sie sagte, für unseren gemeinsamen Spaziergang in die Stadt. Sie hielt mich an der Hand, und wir gingen die Ringstraße hinunter, durch das Brückentor, weiter in die Marktstraße. Sie kaufte mir ein Eis oder ging mit mir ins Café Schütz, wo es Kakao und Kuchen gab. Was ich damals nicht wusste, war, dass diese Spaziergänge für sie etwas Demonstratives hatten. Sie wollte den Mayenern stolz ihren kleinen Sohn, den manche hinter vorgehaltener Hand den »Bankert vom Alice« nannten, vorführen und ihnen zeigen, wie fein er angezogen war, mit welchem Anstand er seinen Kuchen essen konnte.

8. 9. 1933 – Dritter Geburtstag. Fotos, aber dazwischen Tränen: Was keiner wusste: Die Lackschuhe drückten. (Rechtenachweis Nr. 1)

Das Leben im Spitälchen ging fast ohne Erinnerungen dahin bis zur Einschulung in die Clemens-Knabenschule weiter unten auf der Ringstraße. Ich sah mit großen Augen und etwas neidisch die bunten, spitzen Tüten meiner zukünftigen Mitschüler. Deren Eltern hatten ihren Sprösslingen ein kleines Schild vor die Füße gestellt, auf dem in Sütterlinschrift »Mein erster Schultag« stand, und mit altmodischen Apparaten Fotos gemacht, aber ich tröstete mich damit, dass meine Mutter mir den schönsten Schulranzen aus rotbraunem Leder gekauft hatte, den ich, später als Tasche umgearbeitet, bis zum Abitur benützt habe.

Meine Mutter hatte für mich eine weiße Seidenbluse mit Rüschen gemacht. (Rechtenachweis Nr. 2)

Der Tag im Spitälchen begann für mich seit jenen ersten Schultagen sehr früh. Um sechs Uhr morgens führte uns eine Nonne zur Frühmesse in die Kirche, die Mädchen auf die rechte, die Jungen auf die linke Seite, wo wir uns in die harten Holzbänke drückten. Die Nonnen mit ihren gestärkten Flügelhauben und den schwarzen Ordenskleidern saßen schon seit fünf Uhr früh in den hinteren Bänken und beteten ihre Rosenkranzlitaneien herunter.

Ich war noch schlaftrunken, bis die Orgel einsetzte und die Kirchenlieder begleitete, die ich bald auswendig konnte und die ich heute noch weiß. Ich sang kräftig mit. »Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn«, »Meerstern, ich dich grüße, o Maria hilf! …« Aber auch die lateinische Liturgie – damals wurden die Messen noch auf Lateinisch gehalten – konnte ich bald auswendig. Das fiel auf. Eigentlich musste man, um Messdiener zu werden, zur ersten Kommunion gegangen, also mindestens zehn Jahre alt sein. Ich war nicht einmal acht, als ich zum ersten Mal mit Herbert zusammen ministrieren durfte. Nur das schwere Messbuch, das auf einem Holzpult mehrere Male während der Messe von einer zur anderen Altarseite getragen werden musste, war noch zu groß und schwer für mich. Beim ersten Gang zur anderen Seite hatte ich mir, als ich vor der Altarmitte das Knie beugen musste, in den Saum des viel zu langen roten Ministrantenkittels getreten, so dass Messbuch samt Pult zu Boden polterte und ich hinterdrein. Die Nonnen schreckten hörbar auf wie ein Schwarm von Kirchturmdohlen, und Herbert, der auf der anderen Altarseite ministrierte, grinste schadenfroh.

Der Priester, der die Messe hielt, war Pater Oster. Er war ein großer, schwerer Mann mit hochrotem Gesicht und der blauroten Knollennase des Trinkers. Er kontrollierte vor dem Gottesdienst in der Sakristei, ob die gar nicht so kleine Karaffe mit dem Messwein auch randvoll gefüllt war. Beim Abbeten der Liturgie lallte er manchmal bedenklich, dann ließ ihn gewöhnlich bald sein Gedächtnis im Stich, und ich war stolz, ihm den fehlenden Text soufflieren zu können. Zum Lohn gab er mir nachher in der Sakristei einige der Pfefferminz- oder Eukalyptusbonbons, die er immer lutschte; wahrscheinlich, um seine Alkoholfahne zu verdecken.

Am meisten liebte ich die Hochämter, bei denen ganze Teile der Liturgie gesungen wurden, und das feierliche »Te Deum«, zu dem wir Messdiener unter dem Dröhnen der Orgelbässe unaufhörlich die Handglocken schüttelten, verursachte mir fromme Schauer.

Die Nonnen schätzten es weniger, wenn ich ministrierte, denn dann pflegte die Messe zehn Minuten länger zu dauern, weil ich nicht bereit war, den lateinischen Gebetstext, wie die Schwestern es sonst taten, zu vernuscheln. Sie mogelten, indem sie den Anfang sprachen, dann murmelnd über lange Strecken des Textes glitten, in der Mitte des »Confiteors« etwa, noch einmal »mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa« erkennbar sprachen, dann unverständlich alle möglichen Heiligen übersprangen, um zum erlösenden »Amen« zu kommen. Nein, bei mir kam wie gestochen jedes einzelne lateinische Wort, wovon ich natürlich keines verstand. »Confiteor Deo omnipotenti, beatae Mariae semper Virgini, beato Michaeli Archangelo, beato Joanni Baptistae, sanctis Apostolis Petro et Paulo, omnibus Sanctis, et tibi, pater: quia peccavi nimis cogitatione, verbo et opere: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Ideo precor beatam Mariam semper Virginem, beatum Michaelem Archangelum, beatum Joannem Baptistam, sanctos Apostolos Petrum et Paulum, omnes Sanctos, et te, pater: orare pro me ad Dominum, Deum nostrum. Amen.«

Für die überlangen Messen rächten sich die Nonnen an mir, indem sie mich an Nachmittagen zu stundenlangem Kartoffelschälen im Hof vor der Küche verdammten. Doch die Schwestern wurden nie handgreiflich. Das besorgte eine Putzmagd, ich glaube, sie hieß Johanna, ein riesiger Trampel aus der hintersten Eifel. Wenn ich mir irgendetwas zuschulden kommen ließ, den verhassten Spinat nicht aufaß oder Ähnliches, packte sie mich, zerrte mich in das Badezimmer am Ende des Flurs, sperrte die Tür ab und traktierte mich mit einem Besenstiel. Alles Schreien half nichts, sie war bärenstark und ließ ihre unbegreifliche Wut an mir aus. Ich flüchtete mich in die Badewanne und versuchte, mit den Füßen die Schläge abzuwehren. Heute frage ich mich, warum ich mich nie bei meiner Mutter oder den Nonnen beklagte.

Im Kindergarten sorgte eines Tages ein blond gelockter Junge für Aufsehen. Er trug die genaue Nachahmung einer SA-Uniform mit Mütze, Breecheshosen und braunen Schaftstiefeln. Es wurden Fotos gemacht und jemand setzte mir die SA-Mütze auf. Der kleine Eigentümer heulte protestierend, dabei war es gar nicht die Mütze, sondern die Schaftstiefel, die es mir angetan hatten. Ich muss meiner Mutter mächtig zugesetzt haben, denn zu Weihnachten 1935 bekam ich ein Paar hohe braune Stiefel als Weihnachtsgeschenk. Die Enttäuschung war groß, denn sie passten mir nicht. Ich musste das Ende der Festtage abwarten, bis meine Mutter mit mir zum Schuster gehen konnte. Der spannte die Stiefel in eine Maschine, die sie allmählich ausweitete, bis sie einigermaßen passten. Ich trug sie etwa ein Jahr lang unter Schmerzen, die ich nie jemandem verraten habe.

Meine ganze Kindheit über, und auch später bis in die Nachkriegszeit hinein, litt ich unter zu kleinen Schuhen. Und auch danach dachte ich jahrelang, dass neue Schuhe schmerzen mussten, bis man sie eingetragen hatte, dass Blasen an den Fersen und Hühneraugen an den Zehen eine unabdingbare Voraussetzung für späteres schmerzloses oder gar bequemes Tragen der Schuhe waren. Erst 1957, also mit 26 Jahren, kaufte ich mir bei Bally in der Münchener Perusastraße ein Paar Schuhe für damals sündhafte 84,00 DM, die, wie ich mit Staunen feststellte, von Anfang an ohne Schmerzen passten.

*

Am 22. November 1963 fand im Münchener Royal Filmpalast die feierliche Premiere des amerikanischen Monumentalfilms CLEOPATRA mit Elizabeth Taylor, Richard Burton und Rex Harrison statt. In der Mitte des Films etwa geschah der Mord an Cäsar, im Senat an der »Säule des Pompeius, von der das Blut rann«. Brutus, Cassius, Casca und die anderen Verschwörer erstechen Cäsar mit ihren Dolchen. »Auch du, mein Sohn Brutus?« Als das Publikum, von der effektvollen Mordszene noch beeindruckt, zur Pause dieses Dreistunden-Films aus dem Saal strömte, ging wie ein Lauffeuer die Nachricht durch die Menge, dass Präsident Kennedy ermordet worden sei. Die Meldung war so nahe am eindrucksvollen Cäsarenmord des Films, dass sie von vielen als ein völlig absurdes Gerücht abgetan wurde, dem man keinen Glauben schenken konnte. Sie konnten und wollten es nicht glauben. Manche verließen das Kino wie beträubt oder in fassungsloser Panik, aber viele Besucher gingen nach der Pause wieder zurück in den Saal, als könnten sie, immer noch ungläubig, im Schutz der Traumwelt Kino der grausamen Wirklichkeit entkommen.

Nachdem John F. Kennedy beim Attentat in Dallas durch die Kugeln wahrscheinlich mehrerer Attentäter tödlich am Kopf getroffen und einige Jahre später sein Bruder Robert durch einen Kopfschuss getötet worden war, danach der jüngste Bruder Teddy sich bei einem Flugzeugabsturz das Genick gebrochen, jedoch überlebt hatte, war ich wieder einmal geneigt, an das, was man Prädisposition nennt, zu glauben, an eine Vorbestimmung, eine Neigung eines Menschen oder gar einer ganzen Familie, auf Unfälle oder Verletzungen wie vorprogrammiert zu sein.

Als dann eine Generation später der J.-F.-Kennedy-Sohn John-John beim Absturz eines von ihm gesteuerten Flugzeuges ums Leben kam, bestätigte sich mir wieder einmal, dass auf manchen Familien ein Fluch zu liegen scheint, der durch allen Reichtum und alle Macht nicht abgewendet werden kann. Weniger welterschütternd und doch unvergesslich ist für mich die Geschichte, die ich während des Zweiten Weltkriegs aus nächster Nähe miterlebt hatte.

Reudelsterz ist ein kleines Eifeldorf etwa sechs Kilometer westlich von Mayen, in der Nähe von Monreal gelegen. Dort besaß die Familie Engels einen Bauernhof, einen recht ansehnlichen landwirtschaftlichen Betrieb mit Feldern, Wiesen, einem kleinen Waldstück, drei Pferden, einer Herde von Kühen, Schweinen und allerlei Kleinvieh. Bei Kriegsbeginn bestand die Familie aus dem Vater Johann, der Mutter Katharina, dem unverheirateten Bruder des Vaters, Anton, und fünf Kindern im Alter von zweiundzwanzig bis acht Jahren.

Der Krieg hatte begonnen, zwei Pferde wurden »requiriert«, auch Milch und Eier mussten teilweise abgeliefert werden, der älteste Sohn war eingezogen worden, da stürzte der Vater eines Morgens von der Tenne und brach sich das Genick. Damals kamen die beiden Töchter Therese und Maria zum ersten Mal in das kleine Schneideratelier meiner Mutter, um für sich und ihre Mutter Trauerkleider anfertigen zu lassen. Da sie Mutter Engels die Fahrt in die Stadt nicht zumuten wollten, hatten sie ein altes Kleid als Muster mitgebracht. Nach zwei Tagen und einer Nacht durchgehender Arbeit an der ratternden Nähmaschine hatte meine Mutter die Kleider fertig, die ich nun nach Reudelsterz bringen musste. Da ich kein Fahrrad besaß, nahm ich frühmorgens den Zug nach Monreal und stieg zu Fuß den recht steilen Weg nach Reudelsterz hinauf. Meine Mutter hatte mir die Rechnung diktiert, die ich stillschweigend korrigierte, denn ich hielt ihre Arbeit für unterbezahlt. Hatte sie etwa gesagt: Machelohn 25 RM, so stockte ich auf: 35 RM.

Als ich in Reudelsterz ankam, wartete man schon händeringend auf die Kleider, weil das Begräbnis unmittelbar bevorstand. Außer dem Lohn für meine Mutter gab es etwas Butter, ein paar Eier und ein halbes Bauernbrot. Voller Stolz zählte ich zu Hause den Zugewinn durch die von mir erhöhte Rechnung auf den Tisch. Meine Mutter schüttelte missbilligend den Kopf, aber ich glaubte zu verstehen, dass sie es nicht ernst meinte.

Nach dem Trauerjahr ließen die beiden Schwestern sich von meiner Mutter bunt geblümte Kleider machen. Sie waren jung und wollten nach der schweren Arbeit auf dem Hof an Wochenenden nach Monreal zum Tanzen gehen. Die Kleider waren kaum ein- oder zweimal getragen, als der älteste Sohn Peter in Russland fiel, durch Kopfschuss, wie ein Kriegskamerad in einem Brief berichtete. So wurde wieder Trauer getragen. Kaum ein Jahr später erfuhren meine Mutter und ich, dass Onkel Anton, der Bruder des Vaters, an Meningitis gestorben war. Damals sagte meine Mutter zu mir: »Fällt es dir nicht auf, dass alle drei am Kopf, am Genick, am Hirn zu Tode kamen?« Und sie erklärte mir, dass Meningitis eine Gehirnerkrankung war.

Es war um diese Zeit herum, dass meine Mutter mich nach Reudelsterz brachte. Während der Osterferien sollte ich mich dort etwas erholen. Im dritten Kriegsjahr wurde das Essen knapp, das es auf Lebensmittelmarken gab, und ein paar Wochen auf dem Land, so meinte meine Mutter, würden mir gut tun. Für das gute Essen hatte ich natürlich zu arbeiten. Sechs Uhr aufstehen, den Pferde- und Kuhstall ausmisten helfen, dann Frühstück, frische, fette Milch, riesige Brotscheiben mit Rübenkraut und einer dicken Schicht Quark darüber. Danach ging es hinaus auf die gemähten Wiesen zum Heuwenden oder aufs Feld zum Rübenvereinzeln, eine kreuzbrechende Arbeit, bei der die kleinen Pflanzen bis auf eine ausgerupft, also vereinzelt werden mussten. Wenn wir den ganzen Tag auf einem Feld arbeiteten, das manchmal einige Kilometer vom Hof entfernt lag, blieben wir zur Mittagspause draußen und aßen im Schatten eines Baumes. Therese oder Maria brachten mit dem Fahrrad, auf das vorne ein Korb geschnallt war, Blechgeschirr, Teller und einen großen Topf mit einem Eintopf, Kartoffeln und Gulasch oder »Himmel un Äd«. Nach der Mahlzeit versuchte ich noch etwas zu schlafen, doch bald ging es weiter, mit schmerzendem Rücken in einen langen Nachmittag hinein. An manchen Tagen durfte ich zum Kühehüten hinaus. Das war eine ruhige Beschäftigung, wenn nicht eines der Tiere ausbrach, im Gestrüpp gesucht und zu der Herde zurückgescheucht werden musste.

Nach dem Tod von Vater und Onkel war es Josef, der zweitälteste Sohn, etwa achtzehn Jahre alt, der die Hauptarbeit auf dem Hof verrichtete. Er war ein kräftiger Bursche, der sehr gut reiten konnte, doch oft verschwand er mit einem dicken Knüppel im Pferdestall, schloss die Tür hinter sich und prügelte voll unverständlicher Wut und Brutalität auf Hans, das doch so brave Zugpferd, ein. Von Hans hörte man nur das Donnern der schweren Hufe, wenn er gegen die Wände und die Stalltür ausschlug. Ich mochte Hans, ging in den Stall zum Füttern, streichelte die zarten Nüstern und sagte ihm, wie Leid es mir täte, wenn Josef ihn prügelte.

Ich wäre gerne länger auf dem Hof geblieben, aber die Schule rief, und so kehrte ich schweren Herzens, aber körperlich gestärkt, nach Mayen zurück. Eines Tages kam Therese Engels zu meiner Mutter und brauchte wieder ein Trauerkleid. Ihre jüngere Schwester Maria sei gerade im Krankenhaus in Mayen gestorben, an Meningitis, wie ihr Onkel. Wieder brachte ich ein Trauerkleid nach Reudelsterz und blieb zum Begräbnis dort. Beim Dorf gab es keinen Friedhof, und so ging die Trauerprozession nach Monreal hinunter. Ich höre noch die Litanei der Ave Marias der dem Sarg folgenden Bauersfrauen. Ein merkwürdiger, abgeschliffener Singsang. Die Solostimme der Vorbeterin: »Grüß’ seis’ du Maria vollder Gna’n, der Herr’s mit dirdubist gebenedeit unter den Weibernund gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus.« Und darauf der Chor der Frauen – die Männer murmelten kaum hörbar mit –: »Heilje Maria, Mutter Jottes, bitte für uns Sünder jetzuninder Stundunseres Todesamm.«

Im Sommer, im nunmehr fünften Kriegsjahr – ich war gerade von einem Wehrertüchtigungslehrgang als nicht einmal vierzehnjähriger Kriegsfreiwilliger nach Hause zurückgekommen –, wartete ich auf meine Abberufung zu einem NS-Führerlehrgang in Jena. Bis dahin sollte ich als Wachtposten Dienst tun und schob Wache vor der Ortskommandantur. Da mein Marschbefehl immer noch nicht kam, der übrigens nie eintreffen sollte, machte man mich zum Melder und übergab mir ein Fahrrad, mit dem ich Meldungen zu den verschiedenen Truppenteilen in der Umgebung bringen musste. Dann hieß es, es sei wichtiger, beim Ernteeinsatz mitzuhelfen. Ich schlug vor, mich zu der Familie Engels in Reudelsterz zu schicken, die den ältesten Sohn im Krieg verloren hätten. Zu meiner Verwunderung war man einverstanden. So fuhr ich also diesmal mit einem Fahrrad nach Reudelsterz.

Es war die Zeit, als das Korn gedroschen wurde. Im Hof stand eine große Dreschmaschine, die abwechselnd auf den Höfen der Umgebung zum Einsatz kam. Josef Engels thronte mit nacktem, schweißglänzenden Oberkörper ganz oben und schob unaufhörlich Roggen- oder Weizengarben in den gierigen Schlund der Maschine. Ich musste mit Alfons, dem jüngsten Sohn der Familie, einem hübschen, dunkel gelockten Jungen, und dem russischen Kriegsgefangenen, den alle Iwan riefen, obwohl er Wladímir hieß, die Getreidebündel zu Josef hinaufreichen, eine heiße und staubige Arbeit. Nach dem Dreschen wurden die Strohballen in der großen Scheune aufgestapelt

Es war Herbst geworden. Wir arbeiteten auf dem Feld. Das Geräusch der Motoren hörten wir erst, als die ersten Geschossgarben um uns herum in die Ackererde einschlugen und vier Tiefflieger kaum höher als zwanzig, dreißig Meter über uns hinwegdonnerten. Ich warf mich hin und hielt die Hände schützend über meinen Kopf. Dann rasten sie schon wieder heran. Ich spürte die Einschläge der Geschosse ihrer Bordkanonen knapp an mir vorbeirattern wie die Stiche einer riesigen Nähmaschine, und ich grub mein Gesicht in den Ackerboden. Noch lange lag ich zitternd da. Würden sie wiederkommen? Warum schossen sie auf uns? Nach der Arbeit sammelte ich mit Alfons die Patronenhülsen der amerikanischen Bordkanonen auf. Sie waren aus goldglänzendem Messing, rochen noch nach Pulver, und ich dachte, wie reich müssen die Amerikaner sein, dass sie auf uns schießen und dabei diese kostbaren Patronenhülsen vergeuden. Wir sammelten einige ein und trugen sie zum Hof, wussten aber nicht, wozu man sie gebrauchen könnte.

Ein paar Tage später kam Hans, das Pferd, mit dem Josef zum Eggen aufs Feld geritten war, ohne Josef, mit der Egge, deren Zähne kreischend übers Kopfsteinpflaster der Dorfstraße schleiften, durch das Tor getrottet. Etwas musste geschehen sein. Alle vom Hof, Therese, Alfons, Iwan und ich – nur die Mutter Engels blieb zurück –, liefen den Spuren der Egge nach auf das Feld hinaus. Da lag Josef, sein Gesicht war voller Blut, und in der Stirn war ein tiefes, halbrundes Loch in der Form eines Hufeisens, des Hufeisens von Hans. – Wieder ein Begräbnis, wieder die Litanei der Ave Marias, wieder ein frisches Grab auf dem Friedhof von Monreal.

Bei der Rübenernte, an einem Tag mit tief hängenden Wolken, hörten wir wieder einmal die amerikanischen Bombengeschwader über unseren Köpfen brummen. Doch auf einmal heulte ein einzelner Bomber mit einer schwarzen Rauchfahne aus den Wolken, warf seine ganze Bombenlast ab, es begann zu pfeifen und zu zischen, und schon hagelte es Dutzende von Bomben in den nahen Wald und unseren Acker. Ich hatte mich hingeworfen und versuchte, mich wie ein Maulwurf in die Ackererde zu buddeln. Dabei blieb mein rechtes Bein draußen, es gelang mir nicht, es unter die Erde zu bringen. Es schien anzuschwellen wie ein Ballon und zu einem riesigen Bein zu werden, das für die herumzischenden Bombensplitter ein sicheres Ziel sein musste. Wir alle lagen noch da, als die Bomber längst nicht mehr zu hören waren. Als ich aufstand, war mein Bein zu meiner Verwunderung wieder auf seine normale Dimension zusammengeschrumpft und unverletzt geblieben. Auch den anderen auf dem Feld war nichts geschehen, nur ein Rad des Leiterwagens war zersplittert und einige Runkelrüben zerfetzt. Alfons fand einen großen Bombensplitter mit gefährlich scharfen Kanten. Wie eine Trophäe trug er ihn am Abend nach Hause.

Nach der Erntezeit musste ich wieder zurück nach Mayen. Auf dem Heimweg wurde ich von einem einzelnen Tiefflieger beschossen. Ich warf mein Fahrrad in den Straßengraben und hechtete hinterher. Als ich nach einer halben Stunde aufstand, bemerkte ich in dem Dreiecksschild mit dem S-Kurven-Zeichen, unter dem ich gelegen hatte, zwei perfekt runde Einschüsse. Mit zitternden Knien fuhr ich nach Mayen, das unten im Talkessel lag. Ich konnte beobachten, wie zwei englische »Lightning«-Jagdbomber sich immer wieder auf das Eisenbahnviadukt im Nettetal stürzten und Bomben warfen. Das Heulen der Motoren beim Abfangen der Maschinen kam mit Verspätung bei mir an. Am Abend erfuhr ich, dass sie nicht getroffen hatten. Sie kamen an einem anderen Tag wieder, und erst kurz vor Kriegsende trafen sie.

Die Amerikaner rückten am 9. März 45 in Mayen ein. Der Krieg war bald danach zu Ende. Therese Engels kam und ließ sich bei meiner Mutter wieder bunte Kleider machen. »Die kriegt keinen Mann mehr, nicht mal einen Ami«, sagte meine Mutter zu mir. Einen Monat später kam die traurige Nachricht: Alfons, der jüngste Sohn, hatte im Wald eine Granate gefunden. Man weiß nicht, wie er es angestellt hatte, aber sie war explodiert und hatte ihm den Kopf abgerissen.

Frau Engels, die ich als resolute Frau kennen gelernt und die im Hause das Kommando geführt hatte, wurde immer stiller. Sie saß tagelang neben dem Herd und rührte sich nicht. Jetzt war es Therese, die letzte der fünf Geschwister, die sich in die Arbeit stürzte. Sie machte alles alleine, assistiert nur von dem neuen Knecht, einem Flüchtling aus Ostpreußen. Iwan, der russische Kriegsgefangene, war noch vor Kriegsende über Nacht verschwunden. Therese melkte die Kühe, fuhr den Traktor wie ein Mann und erledigte auch die lästigen Schreibgeschäfte.

Ich fuhr zur Beerdigung von Alfons mit einem Fahrrad, das nach dem Einmarsch der Amerikaner vier Tage lang offenbar herrenlos auf der anderen Straßenseite gestanden und das ich nachts »weggefunden« hatte. Auf dem Weg nach Reudelsterz hielt ich unter dem S-Kurven-Schild an. Die beiden Einschusslöcher hatten einen Rostrand.

Beim Begräbnis von Alfons hörte ich wieder die Litanei der Ave Marias. Während ich hinter dem mit schwarzem Tuch ausgeschlagenen Leiterwagen herging, auf dem der mit Blumengebinden und Kränzen beladene Sarg hin und her hüpfte, wenn der Wagen über das grobe Pflaster holperte, ging mir die Frage nicht aus dem Sinn, ob man den abgerissenen Kopf von Alfons wieder angenäht hatte oder ob der jetzt im Sarg herumkollerte.

Da der Schulbetrieb noch nicht wieder begonnen hatte, blieb ich in Reudelsterz. Jetzt musste ich allerdings auch schwerere Arbeiten verrichten. Aber ich war zufrieden, das Essen war gut und die Angst der Bombenzeit, die noch in den Knochen steckte, fiel allmählich von mir ab, wenn auch die Albträume noch jahrelang blieben.

Der heiße Sommer 45 verging. Ich hatte mir die Krätze zugezogen, eine schrecklich juckende Hautkrankheit. Frau Engels rieb meinen ganzen Körper mit einer übel riechenden Paste ein, dann musste ich so die Nacht und den Tag bis zum nächsten Morgen im Bett liegen. Die Arbeit ging weiter. Ich hasste das Kartoffelernten, den ganzen Tag gebückt hinter der von Hans gezogenen und Therese gelenkten Maschine herhasten, die die Kartoffeln aus der Erde warf, die in einen Korb gesammelt und, wenn der voll war, in Säcke gefüllt wurden.

Einige Wochen später war ich gerade dabei, zusammen mit dem neuen Knecht Runkelrüben zur Überwinterung in eine Miete zu stapeln. Therese wollte einen kleinen Wagen Rüben zum Füttern bei uns abholen, und wir sollten dann mit ihr zurückfahren. Sie kam nie bei uns an. Wir warteten bis zum Dunkelwerden und trotteten dann zu Fuß zum Hof zurück. Vor der Toreinfahrt hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Als wir näher kamen, merkten wir, dass kein Mensch sprach. Wir drängten uns durch die Leute und betraten den Hof. Einige Nachbarn, die ich vom Sehen kannte, standen auf der Treppe, die zum Eingang des Haupthauses führte. Wir erfuhren, dass Therese mit dem Traktor eine Böschung hinuntergestürzt war und sich dabei das Genick gebrochen hatte. Jetzt war nur noch Mutter Engels übrig, die vormals schwere Frau war eine magere Alte geworden. Zu diesem Begräbnis war auch meine Mutter mit dem nun letzten Trauerkleid gekommen.

Als wir am nächsten Tag den Unglücksort verließen, saß Mutter Engels allein mitten im Hof auf einem Schemel. Sie hatte eine verbeulte blaue Emailschüssel auf dem Schoß und warf wie ein Automat den Hühnern ab und zu eine Hand voll Körner hin. Sie reagierte nicht, als wir uns verabschieden wollten, und starrte ausdruckslos vor sich hin. Niobe ohne Tränen.

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Öhm Fupp, der Besitzer des Hauses im Trinnel 10, in dem wir später wohnen sollten, besaß zusammen mit seinem jüngeren Bruder Pitt ein Transportgeschäft. Pitt fuhr den Autobus, Öhm Fupp einen sechssitzigen Mercedes, mit dem er Taxifahrten machte. Wenn meine Mutter an manchen Sonntagen arbeiten musste und keine Zeit für mich hatte, übergab sie mich Öhm Fupp. Dann durfte ich mit ihm herumfahren, saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und zündete alle naselang eine Zigarette an, die ich ihm zwischen die Lippen klemmte. Die Tachometerskala zeigte bis 120 km, doch 80 km pro Stunde waren für mich damals eine halsbrecherische Geschwindigkeit. Wenn Öhm Fupp müde wurde, forderte er mich auf zu singen, um ihn wach zu halten. Oft kehrte er in kleinen Dörfern in ein Wirtshaus ein, er trank ein paar Schnäpse, ich bekam einen Apfelsaft oder durfte auch schon mal an einem Glas Wein nippen. Einmal zog er mir in einer großen Wirtschaft die Schuhe aus, stellte mich auf einen Billardtisch, und ich musste ein Lied singen.

Öhm Fupp war ein vierschrötiger Mann mit starken Armen und knochigen Fingern, deren Nägel krallenartig gewölbt und so hart waren, dass er sie nur mit einer Beißzange stutzen konnte, wobei einem die Hornsplitter um die Ohren flogen. Er hatte, wie auch sein Bruder Pitt, in der Werkstatt seines Vaters das Schmiedehandwerk gelernt. Im Ersten Weltkrieg hatte er bei den Ulanen gedient, danach waren beide Brüder nach Amerika ausgewandert und Anfang der dreißiger Jahre mit einigem Geld zurückgekehrt, um damit ihr Fuhrgeschäft aufzumachen.

Im Sommer 1937 durfte ich sogar mit Öhm Fupp zum Nürburgrennen fahren. Ich war sechs und konnte kaum über das hölzerne Instrumentenbrett vor mir schauen. Man sah in der Ferne schon die Nürburg, als sich hinter einer Kurve die Autos stauten. Öhm Fupp, eigentlich ein bedächtiger Fahrer, musste plötzlich bremsen, und ich prallte mit dem Kopf auf die Holzkante des Instrumentenbretts vor mir. Es knirschte in meinem Mund, und als wir standen, spuckte ich meine Schneidezähne, die vorher schon gewackelt hatten, in meine Hand. Öhm Fupp gab mir ein Taschentuch. Meine Oberlippe hing dick geschwollen wie eine Wurst unter meiner Nase. Ich heulte ein bisschen. Doch als wir schließlich am »Schwalbenschwanz«, einer der beliebtesten Kurven des Nürburgrings, ganz nah am Straßenrand unter den Zuschauern saßen und die ersten Rennwagen vorbeirasten, waren die Schmerzen verflogen. Damals fand das Rennen noch auf der Nordschleife statt, die über 20 km lang war.

Erinnerung an das erste Nürburgring-Rennen 1937. Hier an gleicher Stelle 20 Jahre später (Rechtenachweis Nr. 4)

Ich unterschied schnell die Mercedes-Silberpfeile mit ihrem lang gestreckten Motorgehäuse vorne und die Auto-Unionrenner mit dem kurzen Vorderteil und dem ausladenden Heckmotor. Öhm Fupp kannte alle Fahrer und rief mir die Namen zu, bis ich sie selber kannte: Rudolf Caracciola, Bernd Rosemeyer, Manfred von Brauchitsch, Hans Stuck, Hermann Lang. Am meisten gefiel mir Tazio Nuvolari, der Italiener. Er trug eine gelbe Stoffhaube, eine kleine Fahrerbrille, und am Körper flatterte ein weinrotes Polohemd mit kurzen Ärmeln. Wenn keine Wagen vorbeisausten, hörte man über Lautsprecher die dröhnende Stimme eines Kommentators. Nach dem Rennen, das Caracciola wieder einmal gewonnen hatte, hing noch lange der aufregende Geruch des Benzingemischs in der Luft, den ich nie vergessen werde. Wir kamen an einer Eisbude vorbei, und Öhm Fupp kaufte mir ein Eis, das meiner geschwollenen Lippe gut tat.

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Mir ist oft der Glaube begegnet, dass der Kriegsbeginn 1939 als der große Überraschungsschlag Hitlers über Deutschland gekommen sei. Doch schon über ein Jahr vorher, bei den Münchener Verhandlungen, als sich Engländer und Franzosen von Hitler über den Tisch ziehen ließen, war die Angst vor einem Krieg überall zu spüren, gerade an einem so unkriegerischen Ort wie dem Spitälchen. Es gab Luftschutzübungen, Probeverdunklung und Probealarm der Stadtsirenen. Eine davon befand sich auf dem Dach des Gefängnisses auf der Stehbachstraße, genau gegenüber der Rückseite des Spitälchens, wo unser Schlafsaal lag. Während dieser Übungen saßen alle unten in der Halle bei Kerzenlicht, und es wurde gebetet: »Lieber Gott, mach, dass es keinen Krieg gibt.«

Eines Abends im November gab es draußen auf der Straße große Aufregung. Mehrmals heulte die Sirene, man hörte Marschschritte, laute Befehle, als auf einmal der taubstumme Steff herumlief und zu erzählen versuchte, was sich draußen tat. Wir verstanden ihn nicht, wir hatten ihn nie so aufgeregt gestikulieren sehen. Allmählich kam heraus, dass die Synagoge brannte. Wir liefen zu den Fenstern und sahen tatsächlich einen Feuerschein hinter dem Entenpfuhl, wo die Synagoge stand. Wir wären gerne hinausgelaufen, um das Feuer zu sehen, aber wir durften natürlich nicht aus dem Haus. Aufgeregt standen wir auf unseren Betten und wussten nicht, was der Brand bedeutete. War das schon der Krieg? Wir schliefen lange nicht ein.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren alle schon angezogen und bereit, in die Schule zu gehen. Ich hatte verschlafen, und keiner hatte mich geweckt. Schwester Arimathäa beugte sich über mich und legte ihre Hand auf meine Stirn. Gleich darauf kam sie mit einem Fieberthermometer, schüttelte es und steckte es mir in den Mund. Dann fühlte sie meinen Puls. Als sie dann auf das Thermometer schaute, sagte sie: »Über 38°, das kommt von der ganzen Aufregung und davon, wenn ihr die halbe Nacht auf den kalten Fliesen herumlauft. Du gehst mir heute nicht zur Schule!«

Ich war mit ihr allein in dem großen Schlafsaal. Draußen hörte man den Motorenlärm von schweren Lastwagen und wieder die lauten Befehlsschreie. Ich sah die Schwester am Fenster stehen und hörte sie murmeln: »Die armen Menschen, die armen Menschen.« Ich kroch aus dem Bett und stieg beim Fenster auf ein Bett, um hinausschauen zu können.

Zuerst sah ich eine schwarze Rauchsäule kerzengerade in den klaren, blauen Himmel aufsteigen, dort, wo nachts die Synagoge gebrannt hatte. Schwester Arimathäa schickte mich nicht zurück ins Bett, sie stand nur da und blickte hinunter auf die Straße. Vor dem Gefängnis standen zwei Lastwagen. Männer in braunen Uniformen trieben dunkle Gestalten aus dem Kittchen, wie wir es nannten. Viele alte Leute, die von den SA