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ROBERT SPAEMANN

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SCHRITTE
ÜBER UNS
HINAUS

Gesammelte Reden und Aufsätze II

 

 

 

 

KLETT-COTTA

 

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Klett-Cotta
© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: buero-jorge-schmidt.de
Abbildung: © Hanns-Gregor Nissing, 2007
Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94249-1
E-Book: ISBN 978-3-608-10186-7

SEIN UND
GEWORDENSEIN

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Antinomien der Liebe

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(2007)

»We never advance one step beyond ourselves.« Mit diesem Satz hat David Hume den Kern der modernen Weltanschauung ausgesprochen. Vielleicht wird dieser Umstand noch klarer, wenn wir den Satz von Thomas Hobbes hinzufügen, der sagt, eine Sache erkennen heiße »to know what we can do with it when we have it«. Bedenken wir, dass das hebräische »Jadah«, also das Wort für Erkennen, in der Bibel zum ersten Mal vorkommt, wo es heißt: »Adam erkannte sein Weib, und sie gebar ihren ersten Sohn.« Der Satz des Aristoteles Intelligere in actu et intellectum in actu sunt idem (wirkliches Erkennen und wirklich Erkanntes sind dasselbe) lebt auch noch von dieser Sicht: Erkennen als Einswerden mit dem Erkannten, bei welchem Einswerden das Erkannte zu sich selbst kommt.

Die cartesische Sicht ist anders. Prototyp der Erkenntnis ist die fensterlose Helle des bei sich bleibenden Subjekts, das seine Herrschaft sichert. Aber der Satz Humes sagt: Das Subjekt bleibt sowieso bei sich selbst, und alles Außer-sich-Sein ist Illusion. Es ist hier nicht meine Aufgabe, den logischen Widersinn dieses Satzes aufzuzeigen. Wenn er wahr wäre, dann wäre es nämlich unmöglich, dies zu wissen und es auszusprechen. Mir kommt es nur darauf an, darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Satz den Mainstream des modernen Bewusstseins kennzeichnet. Das heißt nicht, dass die meisten Menschen so denken. Der common sense kann so nicht denken. Aber der common sense findet sich nicht mehr wieder in dem, was die offiziellen Interpreten der Wirklichkeit uns glauben machen wollen. Sie wollen uns glauben machen, dass wir nicht sind, wofür wir uns halten. Sie wollen uns glauben machen, dass es das nicht gibt, was wir unter Wahrheit verstehen, und das nicht, was das Wort »Liebe« meint.

Aber meint dieses Wort überhaupt etwas Eindeutiges? Ist Liebe eine clara et distincta perceptio? Tatsächlich gibt es doch kein Wort – außer dem Wort »Freiheit« vielleicht –, das ein solches Sammelsurium von Bedeutungen in sich vereinigt, und zwar von einander diametral entgegengesetzten Bedeutungen, wie das Wort »Liebe«. Es bezeichnet Gefühle, die Eltern ihren Kindern, Kinder ihren Eltern, Freunde ihren Freunden entgegenbringen. Aber auch und vor allem das berühmte und nie genug gerühmte Gefühl, das einen Mann und eine Frau miteinander verbindet und das in den heiligen Büchern der Juden und der Christen ebenso wie bei vielen Heiligen als Metapher zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk oder zwischen Gott und dem Frommen dient. Und dann sprechen wir von Vaterlandsliebe. Wenn einer unserer früheren Bundespräsidenten, auf seine Vaterlandsliebe angesprochen, antwortete: »Ich liebe meine Frau, nicht den Staat«, so hieß das, die Frage verdrehen. Niemand muss den Staat lieben, um seine Heimat und sein Vaterland zu lieben, und zwar bis zur Opferung des eigenen Lebens. Aber das Wort »Liebe« benutzen wir auch, um das pure sexuelle Begehren und dessen Befriedigung zu bezeichnen. Die Zweideutigkeit dieses Wortes wird hier am offenkundigsten. Denn der gleiche Akt der sexuellen Vereinigung kann als tiefster Ausdruck von Liebe erfahren werden und als pure Instrumentalisierung im Dienste des krassesten Egoismus. Aber die Sache ist in Wirklichkeit noch weit subtiler. Auch das enthusiastischste Gefühl der Liebe kann ein bloßes Mittel zur Steigerung des eigenen Lebensgefühls sein und der Andere ein Mittel, dieses Gefühl zu erleben, geliebt also nur, solange diese Droge wirkt. Und wenn ein Treueversprechen dadurch gebrochen wird, absolviert die Intensität der neuen Liebe alles, wie der alte Schlager sagt: »Kann denn Liebe Sünde sein?«

Aber hier muss ich die am Anfang gegebene Bezeichnung der Liebe als Gefühl in Frage stellen.

Einerseits scheint sie ein Gefühl zu sein. Wenn eine Frau ihren Mann fragt – oder vice versa –, ob er sie noch liebt, und er würde antworten, dass er sie liebt, aber dass er nichts für sie empfindet, dann würde die Frau – oder der Mann – das mit Recht sehr sonderbar finden. Dennoch – niemand würde sagen, er hätte heute Vormittag seine Frau nicht geliebt, weil er nämlich den ganzen Vormittag keine Zeit hatte, an sie zu denken. Der Liebende ist dadurch ein Liebender, dass er, wenn er an den geliebten Menschen denkt, mit dem Gefühl der Liebe an sie denkt. Daraus folgt, dass er gern an sie denkt, und daraus folgt, dass er oft an sie denkt und dass er gern in ihrer Nähe ist. Genau das ist es aber, was Aristoteles eine hexis und die Lateiner einen habitus nennen. In diesem Sinne ist zum Beispiel Wissen ein habitus. Man muss nicht immer an alles denken, was man weiß. Aber wenn man daran denkt, dann mit jener Art von Überzeugung, die man Wissen nennt. Wobei allerdings beim Wissen noch etwas hinzukommt, was überhaupt nicht als bloß mentaler Zustand beschrieben werden kann. Denn es gehört zwar zum Wissen, dass man sich in einem bestimmten mentalen Zustand befindet, das heißt, dass man überzeugt ist zu wissen. Aber diese Überzeugung kann ein Irrtum sein. Wissen liegt nur dann vor, wenn die Dinge tatsächlich so sind, wie ich denke, dass sie sind. Mit der Liebe verhält es sich anders. Ich kann mich zwar auch hier täuschen. Ich kann glauben zu lieben, während ich tatsächlich nicht liebe. Aber diese Täuschung ist nicht eine Täuschung über Tatsachen der Welt, sondern über mich selbst.

Noch in einer anderen Hinsicht unterscheidet sich der Habitus der Liebe von dem des Wissens. Ich weiß etwas, wenn ich das Gewusste durch Gründe einfügen kann in alles andere, was ich weiß, wenn ich es mit der Gesamtheit meiner Überzeugungen so verknüpft habe, dass es zu einem Teil meiner Identität geworden ist. Auch dann allerdings kann es sich noch um einen Irrtum handeln. Die Relation, die eine Überzeugung zum Wissen macht, also die Wahrheitsrelation, ist eine rein objektive, die den mentalen Zustand des Glaubens, dass ich weiß, gar nicht tangiert und modifiziert. Insofern gilt hier in einem gewissen Sinn tatsächlich das Wort Humes: »We never advance one step beyond ourselves.« Aber wir möchten diesen Schritt tun. Und der mentale Zustand des Glaubens zu wissen ist der Glaube, diesen Schritt tatsächlich zu tun. Descartes hat gezeigt, dass wir diesen Glauben immer wieder in Frage stellen können, dass wir aber in einem Fall gewiss sein können, dass wir diesen Schritt wirklich getan haben, nämlich dann, wenn wir den Satz Humes denken oder aussprechen. Wir beanspruchen nämlich Realität für das »ourselves«. »Ich denke« bedeutet zugleich: »Es wird gedacht.« Das heißt: Ich denke nicht nur, dass ich denke, sondern mein Denken findet in einem Raum statt, der größer ist als mein Bewusstseinsraum und in dem mein Denken als objektive Tatsache vorkommt. Es ist die Gottesidee, die diesen Raum eröffnet. Und die Idee Gottes ist es auch, die mich glauben lässt, es gebe so etwas wie eine Wahrheitsrelation meines Denkens. Einen direkten Weg zum Anderen meiner selbst gibt es nicht, also nicht so etwas wie eine wirkliche Berührung. Und es gibt sie auch nicht für die Leibniz’sche Monade, wenn sie träumt, beim Andern zu sein. Wir alle träumen lebenslang von Gott koordinierte Träume.

Mit der Liebe scheint es sich anders zu verhalten. Was das Wort »erkennen« meint, scheint nur durch die Liebe eingelöst zu werden. Ubi amor, ibi oculus heißt es bei Richard von St. Viktor: »Wo Liebe ist, da ist Auge.« Ob es sich bei einem bestimmten intentionalen Zustand um Erkenntnis handelt, kann nicht durch Beobachtung dieses Zustandes entschieden werden, sondern nur durch Umstände, die diesem Zustand ganz äußerlich sind. Ob es sich um Liebe handelt, ergibt sich einzig aus der Art eines bestimmten Gemütszustandes.

Aber bedeutet das nicht, dass Liebe eben gerade nicht mit Erkenntnis und Wissen auf eine Stufe gestellt werden kann, also mit mentalen Zuständen, die sich selbst transzendieren, sondern mit mentalen Zuständen, zu deren Definition solche Transzendenz nicht gehört? Amor oculus est heißt es bei Richard von St. Viktor. Aber der Volksmund sagt das Gegenteil: Liebe macht blind. Der Verliebte macht sich ein Bild von der Geliebten, das die späteren Tests der Erfahrung nicht aushält. Andererseits transzendiert personale Liebe alle Bilder, alle Qualitäten der Geliebten und geht auf die Person jenseits dieser Qualitäten. Die Qualitäten sind es, an denen sich die Liebe entzündet. Aber wenn sie einmal entzündet ist, dann lässt sie die Qualitäten hinter sich. Wer auf die Frage, warum er diesen Menschen liebt, eine Antwort geben kann, der liebt noch nicht wirklich. Der Liebende ist deshalb bereit, sich auf alle künftigen Wandlungen des geliebten Menschen einzulassen und die eigenen Wandlungen, die eigene Biografie mit der des Anderen unabänderlich, auf Gedeih und Verderb zu verknüpfen. Eine der Antinomien, über die ich sprechen möchte, liegt hier. Die Bedingungslosigkeit der Hingabe, d. h. das Versprechen der Treue, ist konstitutiv für die Liebe. Aber wieder stoßen wir auf eine Antinomie. Denn der Fall, dass das Versprechen nicht gehalten wird, ist sehr, sehr häufig. Und zwar wird es nicht gehalten, weil der Andere sich mehr geändert hat, als der Liebende es verkraftet, oder weil dem Liebenden seine Liebe abhanden kommt »wie ein Stock oder ein Hut«. Weil die Bedingungslosigkeit und die Perspektive der Unabänderlichkeit aber konstitutiv für die Liebe ist, darum erscheint es dem ehemals Liebenden im Rückblick so, als habe er eigentlich gar nicht wirklich geliebt. Und dies vor allem dann, wenn eine neue Liebe die alte ihres Glanzes beraubt. Und in der Tat: Es gehört zur katholischen Lehre von der Gottes- und Nächstenliebe, dass niemand mit Sicherheit wissen kann, ob er sie besitzt oder nicht.

Nun kann man natürlich sehr wohl wissen, ob man verliebt ist oder nicht. Es ist in dieser Glaubenslehre daher nicht von Verliebtheit die Rede, sondern von dem Habitus des amor benevolentiae, der wohlwollenden Liebe.

Hier stoßen wir nun auf den Kern aller Antinomien, die im Zusammenhang mit dem Begriff der Liebe auftreten. Das Wort scheint tatsächlich zwei ganz verschiedene Dinge zu bezeichnen, zwei Haltungen, die Aristoteles schon unterscheidet, wenn er von den drei Formen der Freundschaft spricht: jener, die um des Vergnügens willen gepflegt wird, jener um des Nutzens willen und jener deshalb, weil der Freund es wert ist, um seiner selbst willen geliebt zu werden.

Die Tradition hat dann von amor concupiscentiae und amor benevolentiae gesprochen. Das Neue Testament nennt die Freundschaft um des Freundes willen agape, caritas – wobei für den, der Gott in Freundschaft verbunden ist, potentiell jeder Mensch Freund ist. Auch hier allerdings schleicht sich schon wieder ein Widerspruch ein: Wenn jeder Mensch Freund ist, bräuchten wir ein neues Wort, um das Phänomen exklusiver Freundschaft zu bezeichnen, das ja im Christentum nicht verloren geht und das in der Bibel zudem das Modell abgibt für die besondere Beziehung zwischen Gott und dem Volk Gottes. Andererseits scheinen amor concupiscentiae und amor benevolentiae so entgegengesetzte Phänomene zu bezeichnen, dass es Wunder nimmt, wenn für beide das Wort Liebe gebraucht wird. Das eine muss mit dem anderen zu tun haben. Und dass sie miteinander etwas zu tun haben, ist ja wohl auch die wichtigste Botschaft in der Enzyklika Benedikts XVI. »Deus caritas est«, in der der amor concupiscentiae dadurch aufgewertet wird, dass er Gott selbst zugeschrieben wird: Gott erscheint bei den Propheten als eifersüchtiger Liebhaber seiner Braut, des Volkes Israel. Und in der Inkarnation begibt sich Gott sogar in die Lage dessen, der der Liebe anderer bedürftig und auf sie angewiesen ist.

Nichtsdestoweniger ist die Tradition der inneren Gegensätzlichkeit im Liebesbegriff dadurch aus dem Weg gegangen, dass sie einfach zwei Arten der Liebe unterschieden hat, ohne nach deren innerer Zusammengehörigkeit zu fragen. Friedrich von Spee unterscheidet in seinem von Leibniz hochgeschätzten »Güldenen Tugendbuch« die »begierliche Liebe« und die »Liebe der Gutwilligkeit«, die er auch Liebe der Freundschaft nennt. Mit Bezug auf Gott identifiziert er den amor concupiscentiae mit der Tugend der Hoffnung, ähnlich wie später Fénelon, wenn er schreibt: »En perdant l’espérance on retrouve la paix.« Für Spee ist von Liebe im vollen Sinn eigentlich nur die Rede, wenn beide zusammenkommen. So schreibt er:

 

Dass oft beide zusammen sind, nimm dieses Exempel: Ein Bräutigam liebt seine Braut mit beiden diesen Lieben, denn er liebt sie mit der Liebe der Begierlichkeit, indem er sie für sich begehret und herzlich umfängt, als welche ihm behaglich und, wie er vermeinet, sein Heil und seine Lust ist. Er liebt sie auch mit der Liebe der Gutwilligkeit oder der Freundschaft, indem er ihr auch von Herzen wohl will und ihr alles Gute wünscht und begehrt.

Zum anderen: Dass auch oft man etwas liebt allein mit der Liebe der Begierlichkeit und nicht mit der Liebe der Gutwilligkeit oder der Freundschaft, nimm dieses Exempel: Es liebt mancher böse Mensch ein Weibsbild nur allein mit der Liebe der Begierlichkeit; weil er sie seiner Wollust und ihrer Schönheit halben umfängt, da er doch sonst ihr nichts Gutes gönnt noch wünscht, sondern wohl leiden möchte, sie wäre wo der Pfeffer wächst, wenn er nur seiner Begierden ein Genüge hätte. Da liebt er sie dann mit der Liebe der Begierlichkeit und nicht mit der Liebe der Gutwilligkeit oder Freundschaft, da er ihr nichts Gutes gönnt. Gleich auch ich eine gute Speise, Apfel oder Rose liebe mit einer Liebe der Begierlichkeit allein, nicht aber mit einer Liebe der Gutwilligkeit oder der Freundschaft.1

 

An anderer Stelle stellt er die »reine Liebe«, die reine Freundschaft ohne Begehren vor. Dazu wählt er, ähnlich wiederum wie Thomas von Aquin und wie später Fénelon, Beispiele aus dem politischen Raum. Thomas spricht von der Vaterlandsliebe, Fénelon – bezeichnenderweise – von der Liebe der Bürger zur antiken Republik, Spee von der Liebe zum Kaiser, »unserem gnädigsten Herrn Ferdinandum II, den ich nicht sonderlich liebe mit einer Liebe der Begierlichkeit, aber doch liebe ich ihn mit einer starken Liebe der Gutwilligkeit«; und diese Liebe wird dann ausgemalt als ein Beispiel uneigennütziger Liebe, denn von dem Glück des Kaisers, seinen gewonnenen Schlachten usw. hat der Untertan keinen unmittelbaren Gewinn, und er kann sich nicht einmal am Anblick seines Triumphes ergötzen, denn der Kaiser ist weit weg.

Aber die politischen Beispiele zeigen, dass der amor benevolentiae ohne alles Begehren ebenfalls nicht jene vollkommene Liebe exemplifiziert, die von Person zu Person geht. Es muss einen inneren, einen konstitutiven Zusammenhang zwischen amor concupiscentiae und amor benevolentiae geben. Philia, amor amicitiae ist etwas anderes als die bloß zufällige Addition zweier Elemente unserer Gemütsverfassung. Eher müsste man von einer Dialektik der Liebe sprechen. Leibniz hat eine Definition der Liebe vorgeschlagen, die ihm dann später auch als geeignet erschien, den berühmten amour-pur-Streit zwischen Bossuet und Fénelon zu schlichten, eine Konkordienformel sozusagen. Die Definition lautete: delectatio in felicitate alterius, Freude am Glück des Anderen. In dieser Definition ist beides enthalten: erstens dass Liebe eine Gemütsverfassung des Liebenden ist, eine delectatio. Das widersprach Fénelons Jansenismuskritik. Die Jansenisten sprachen ja von der »delectation supérieure«. Sie hatten sich das Trahit sua quemque voluptas Vergils zu eigen gemacht. Ob jemand ein Kind der Gnade ist oder nicht, das zeigt sich daran, woran er seine Freude hat. Für Fénelon erweist sich das desintéressement der Liebe dagegen in der festen Ausrichtung des Willens auch dort, wo die Seele in der Berührung mit den göttlichen Dingen gar nichts empfindet, also im Zustand jener Trockenheit, der für die Schüler des heiligen Augustinus ein Zeichen der Verlorenheit war. Liebe hat es mit delectatio zu tun, darauf insistiert Leibniz. Aber der Inhalt dieser delectatio ist das Glück des Anderen. (Nebenbei fällt auf, dass Leibniz als Beispiel für die so definierte Liebe die Freude nennt, die jemand im Anblick eines Bildes von Raphael empfindet, auch wenn er dieses Bild weder besitzen noch irgendeinen Vorteil daraus ziehen will. »Interesseloses Wohlgefallen«, so definiert dann Kant, im Gefolge von Leibniz, das ästhetische Gefühl. Den Einwand, das Beispiel sei schlecht gewählt, Bilder könnten ja nicht glücklich sein, weist Leibniz mit dem Hinweis darauf zurück, dass delectatio nur die subjektive Erlebnisform einer objektiven Vollkommenheit sei, so dass man Liebe auch definieren könne als delectatio in perfectione alterius, als Freude an der Vollkommenheit des Anderen. Diese aber könne eben auch einem Bild von Raphael gelten. Übrigens eine unbefriedigende Antwort. Denn personale Liebe gilt einem Jenseits aller wahrnehmbaren Qualitäten, während die Freude an dem Bild nur den Qualitäten gilt und deshalb auch kein Versprechen der Treue durch alle eventuellen Veränderungen des Bildes hindurch enthält.)

Delectatio in felicitate alterius. Die Definition lautet nicht delectatio per felicitatem alterius. Das ist entscheidend. Wenn das Ziel die eigene Freude ist und das Glück des Anderen nur ein Mittel, um solche Freude zu genießen, dann kann von Liebe nicht die Rede sein. Delectatio in felicitate alterius, das heißt: Die delectatio ist nicht ein bloßer Zustand des Subjekts, sondern sie hat einen intentionalen Gehalt, durch den sie qualifiziert wird. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, eine kleine Schrift des großen Arnauld zu lesen, die »Dissertation sur le prétendu bonheur des plaisirs des sens«. In dieser Schrift insistiert Arnauld, mitten im 18. Jahrhundert, auf dem intentionalen Charakter der Freude. Freude hat nicht nur Wirkursachen, was ja z. B. auch Psychopharmaka sein können. Freude hat einen Inhalt, durch den sie spezifisch qualifiziert wird. Die Freude an den blühenden Apfelbäumen im Mai, die Freude über das Wiedersehen mit einem lieben Menschen oder die Freude an einer bestimmten Musik haben nicht nur verschiedene Ursachen, sie sind verschiedene Freuden. Arnauld nennt den Inhalt der delectatio ihre causa formalis im Gegensatz zur causa efficiens. In der Sache geht es um dasselbe, wenn Thomas von Aquin die beatitudo formalis unterscheidet von der beatitudo obiectiva. Die Gottesliebe liebt Gott nicht, weil er in uns einen mentalen Zustand des Wohlbefindens bewirkt, sondern Gott ist der objektive Inhalt dieses Glücks, so dass es in der Gottesliebe nicht darum geht, Gott als Mittel zu einem ihm äußerlichen Zweck zu instrumentalisieren, sondern es geht einzig um Gott selbst. Aber in dieser Selbsttranszendenz der Liebe liegt zugleich die Erfüllung des eigenen Wesens. Fénelon sah bei Bossuet eine solche Instrumentalisierung Gottes für ein im Kern endliches Glück. Er selbst beschrieb dagegen die reine Liebe als Sterben, als Tod der endlichen Natur, während Thomas geschrieben hatte, dass von Natur jedes Wesen Gott mehr liebt als sich selbst, so wie der Teil das Ganze mehr liebt als sich selbst. Wieder ist es die Vaterlandsliebe, die hier als Paradigma dient.

Im 17. Jahrhundert sind indessen Ontologie und Psychologie so weit auseinandergetreten, dass von der einen keine Brücke mehr zu der anderen führt. Die Akzeptanz der eigenen Verdammnis, wenn sie im Willen Gottes liegt, ist ontologisch bedeutungslos, aber sie ist ein Stadium auf dem Weg der Reinigung des Herzens von jeder egoistischen Reflexion. Die Reflexion findet in der Tat keine Unschuld, sie kann jeden Antrieb uneigennütziger Tätigkeit als von subtiler Eigenliebe motiviert entlarven. Das war ja auch Luthers Problem. Gerade im sexuellen Umgang ist das offenkundig. Die Lust des Anderen ist ein wesentlicher Teil der eigenen: Delectatio in felicitate alterius. Ist das Interesse an der Lust des Anderen also egoistisch? Sollte die Dame, der ich einen Blumenstrauß mitbringe, ihn mit der Bemerkung annehmen: »Wie schön, dass Sie sich die Freude gemacht haben, mir einen so schönen Strauß zu schenken«? Wir wären wohl etwas frustriert über diese Reaktion. Aber wir könnten uns natürlich rächen durch die Antwort: »Ach, wissen Sie, mich lässt es eigentlich ganz kalt, ob Sie sich freuen oder nicht. Aber ich finde es einfach richtig, also moralisch gut, einem anderen Menschen Freude zu machen, obwohl es mir selbst gar keine macht.« So können wir uns das Vergnügen subtil und gründlich verderben, das des Schenkens und das des Beschenktwerdens.

Dass die Reflexion immer nur auf Eigenliebe, auf amour propre stößt und nicht auf Liebe, das hat schon La Rochefoucauld bemerkt, aber Fénelon hat den Grund dafür aufgedeckt: Die Reflexion selbst entspringt der Eigenliebe. Sie selbst ist es, die die Unschuld zerstört und deshalb bei ihrer Durchsuchung des eigenen Inneren immer nur auf Eigenliebe stoßen kann. »Wer eine Frau ansieht, um sie zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen«, heißt es im Evangelium. Es heißt nicht, »wer eine Frau ansieht und begehrt«, sondern »wer sie ansieht, um sie zu begehren«. Das »Um-zu« ist es, durch das die Angeschaute nicht mehr selbst Gegenstand des amor concupiscentiae ist, sondern das Begehren zum Zweck und der begehrte Mensch zum Mittel wird, das Begehren zu erleben. Das ist der Bruch der Ehe, und zwar auch dann, wenn es sich um die eigene Frau handelt. Unschuld hat etwas mit Unmittelbarkeit zu tun. Heinrich von Kleist hat in seinem Essay über das Marionettentheater geschildert, wie durch einen unmerklichen Schritt der Reflexion die Unschuld der Unmittelbarkeit zerstört wird. Wiederhergestellt werden kann sie nur, so schreibt Kleist, wenn »das Bewusstsein durch ein Unendliches gegangen ist«. Denn durch ein unmittelbares Anstreben kann die Unmittelbarkeit nicht zurückgewonnen werden. Im Gegenteil – wo Unmittelbarkeit, Spontaneität zur Berufungsinstanz wird, um Verletzung der Treue und Bruch eines Versprechens zu entschuldigen – »Kann denn Liebe Sünde sein?« –, da ist es schon um sie geschehen: Corruptio optimi pessima.

Aber der Mensch ist nun einmal ein Wesen der Reflexion, das seine anfängliche Unschuld immer schon verloren hat. Und ihre Rückgewinnung geschieht gerade nicht durch das Geltendmachen jener Spontaneität, die im Geltendmachen ja schon verloren ist, sondern im Verzicht auf alle derartigen Schliche und die schlichte Antwort: »Nein. Liebe ist nie Sünde. Aber die Verletzung eines Menschen ist es, die Verletzung der Treue ist es, und der Bruch eines Versprechens ist es.« Und die Redensart: »Ich bin eben so, und du musst mich akzeptieren, wie ich bin«, ist eine Unverschämtheit, auch wenn sie sich theologisch mit dem unsäglichen Unsinn rechtfertigt, Gott akzeptiere uns, wie wir sind. Wenn das der Fall wäre, dann gäbe es keine Verzeihung. Dem Anderen, der mir gegenüber schuldig geworden ist, sagen: »So bist du eben«, ist das Gegenteil von Verzeihung. Verzeihen heißt, den Anderen nicht festlegen auf das, was er ist, ein Feigling, ein Lügner oder ein Verräter, sondern ihm erlauben, dieses Sosein zu distanzieren und neu anzufangen. Das zu können, ist ja das, was die Person ausmacht. Und weil die Liebe auf die Person geht, darum kann sie auf das »So bist du eben« verzichten und dem Anderen erlauben, sich von sich zu distanzieren und neu anzufangen.

Jemanden akzeptieren, wie er ist, ist die äußerste Form von Resignation. Die Botschaft Jesu beginnt nicht mit den Worten: »Gott nimmt euch, wie ihr seid«, sondern mit den Worten: »Kehrt um. Seid anders, als ihr jetzt seid.« Die Liebe gibt der geliebten Person die Möglichkeit, Person zu sein, und zwar auf eine einmalige, unverwechselbare Art Person zu sein. Und es sind die Augen des Liebenden, die diese Einzigartigkeit wahrnehmen, eine Einzigartigkeit, die mehr ist als die Kombination empirischer Qualitäten. Nicolás Gómez Dávila schreibt: »Jemanden lieben heißt den Grund verstehen, den Gott hatte, diesen Menschen zu erschaffen.« In diesem Sinn macht Liebe sehend: Ubi amor, ibi oculus. Sie lässt den Geliebten in einem Glanz erscheinen, den niemand sonst wahrnimmt. Und wenn der Glanz in der Alltäglichkeit zu verblassen beginnt, dann heißt das nicht, dass nun langsam die Wirklichkeit so erscheint, wie sie ist, sondern im Gegenteil. Der Liebende wird die Erinnerung an den gesehenen Glanz bewahren, wie die drei Apostel die Erinnerung an die Verklärung Christi, und er wird wissen, dass ihm damals die eigentliche Wirklichkeit gezeigt wurde, das »Ding an sich«, das, wie Kant sagt, das Ding ist, wie es dem intellectus archetypus erscheint. Auch der liebevolle Erzieher braucht diesen Blick, der den Grund verstehen lehrt, warum ein junger Mensch, der ihm anvertraut ist, existiert.

Aber indem ich rede, gehe ich über eine weitere Antinomie hinweg, oder eine weitere Doppeldeutigkeit im Begriff der Liebe. Das sogenannte Liebesgebot des Evangeliums erstreckt sich auf alle Menschen. Jeder Mensch ist eine Imago Dei, und wer ihm sein Leben opfert, tut nie etwas Sinnloses. Mutter Teresa suchte sich die Leute nicht aus, für die sie da war. Aber sie war für sie da. Aber es gibt einen ordo amoris. Es gibt das kreatürliche Verhältnis von Nähe und Ferne, das durch das Gebot der Nächstenliebe nicht aufgehoben wird. Peter Singer meint, wenn zwei Kinder am Ertrinken sind und ich kann nur eines retten, dann dürfte für die Frage, welches ich retten soll, die Tatsache keine Rolle spielen, dass eines dieser Kinder meines ist. Ich müsste das Kind retten, das wegen seiner hohen Begabung und seiner besonderen Qualitäten die Welt in einem größeren Maße zu optimieren verspricht. Das ist der Versuch, den Gottesstandpunkt einzunehmen und die kreatürlichen Beziehungen zu entwerten – so als wüssten wir, wodurch die Welt optimiert wird. Sie wird es sicher nicht durch Menschen, die sich eine Verantwortung für das Weltall imaginieren.

Nein, die Liebe ist ihrer Natur nach ungleich verteilt. Es gibt Freundschaftsbeziehungen, die ihrer Natur nach exklusiv sind. Wenn der heilige Benedikt in seiner Regel private Freundschaften zwischen Mönchen verbietet, dann deshalb, weil er die Mönchsgemeinde von vornherein als eine solche Gemeinde von Freunden versteht. Der Verzicht auf exklusive Zweierbeziehungen muss auf einer Linie mit dem Verzicht auf die Ehe gesehen werden, auf jene exklusive Beziehung eines Mannes und einer Frau, die ebenso wie die Freundschaft normalerweise zum guten Leben des Menschen gehört. Warum?

Lassen Sie mich, um die Frage zu beantworten, kurz ausholen. Eine Definition der Liebe findet sich in einer Schrift von Valentin Tomberg. Sie lautet: Liebe ist das Wirklichwerden des Anderen für mich. Erkenntnis subsumiert das Andere immer unter allgemeine Begriffe. Etwas kann nur als Dies-da identifiziert werden, indem es als ein So-und-so identifiziert wird. Das Individuum als solches ist ein Ineffabile, und die Referenz auf es bleibt immer, wie Quine gezeigt hat, unbestimmt. Es bleibt für mich immer unwirklicher, als ich für mich selbst bin. Die Zahnschmerzen des Anderen sind für mich einfach weniger real als meine eigenen. Der Buddhismus lehrt einen Weg, wie wir uns selbst so unwirklich werden, wie uns die Anderen sind. Das Christentum lehrt – als Religion der Liebe –, dass die Anderen umgekehrt so wirklich sind wie wir selbst. Es lehrt, sich zu freuen mit den Fröhlichen und zu weinen mit den Weinenden. Die Unbestimmtheit der Referenz verschwindet, wenn die Referenz mit dem Wort »Du« hergestellt wird. Ich kann mich zwar über das Sosein einer anderen Person täuschen. Aber die Identität der Person ist nicht eine qualitative, sondern eine numerische. Und wer als Du angesprochen wird, kann dem Sprechenden antworten und damit bestätigen, dass er eben dieser Jemand ist, der angesprochen wurde.

Wenn wir aber mit vielen Menschen umgehen, dann geht das nicht anders als über Verallgemeinerungen, über Begriffe. Das Ineffabile der individuellen Person kann mir nicht in dem emphatischen Sinne wirklich werden, von dem ich vorhin sprach. Es kann nicht über jedem für mich der Glanz liegen, der auf dem geliebten Menschen liegt. Die große Menge der Menschen wird von mir nur unter bestimmten Gesichtspunkten und Begriffen wahrgenommen. Der Einzigartigkeit jeder einzelnen Person kann niemand gerecht werden außer Gott. »Nur für Gott ist jeder von uns unersetzlich«, schreibt wiederum Dávila. Nur für Gott verschwindet der Einzelne nicht in der großen Menge. Wirklich werden als dieser unverwechselbare einzigartige Eine kann für mich jemand nur in einer exklusiven Form der Freundschaft und der Liebe. Niemand kann geben, ohne zu nehmen. Die Liebe, die der Einzigartigkeit der Person gerecht wird, kann nur verteidigt werden, wenn die Exklusivität verteidigt wird. Darum gehört zum amor amicitiae die Eifersucht. Pawel Florenskij hat in seinem Hauptwerk »Die Säulen und Grundfesten der Wahrheit« den letzten seiner 22 Briefe der Verteidigung der Eifersucht gewidmet. Völliges Fehlen von Eifersucht bei gegebenem Anlass ist eine Beleidigung des geliebten Menschen, der dadurch zu einem unter anderen herabgesetzt wird. Darum spricht vor allem das Alte Testament oft von der Eifersucht Gottes mit Bezug auf sein Volk. Keine fremden Götter neben ihm zu haben, ist das erste der Zehn Gebote – ein Ausdruck der Eifersucht. Der exklusive amor amicitiae aber steht tatsächlich nicht in Konkurrenz zu dem Gebot der Nächstenliebe gegen jeden, der durch die Umstände mein Nächster wird. Er gibt dieser Nächstenliebe vielmehr erst ihre Tiefe. Jeder nämlich hat Anspruch darauf, als wirklich wahrgenommen zu werden. Und zwar wirklich als diese einmalige Person. Was jeder Mensch ist, das wird für uns real erfahrbar an einem Menschen in der exklusiven Beziehung der Freundschaft. Und es wird nur erfahrbar für den, der sich mit Bezug auf einen Menschen in diese Beziehung begibt und sein Geschick mit dem des Anderen auf Gedeih und Verderb verbindet. Der amor amicitiae lässt den Gegensatz von Begehren und Wohlwollen hinter sich. Beides ist für ihn unzertrennlich. Wer einem Menschen wirklich aus vollem Herzen wohl will, der lässt ihn spüren, dass er, der Liebende, den Anderen braucht. Wer nur der Gebende sein will, der gibt nicht genug. In der christlichen Lehre ist das Äußerste, was Gott gibt, dass er sich dem Menschen gegenüber zum Empfangenden macht. Wer einem Menschen zu verstehen gibt, dass er alles für ihn zu tun bereit ist, aber dass ihm selbst an Gegenliebe gar nicht gelegen ist, der demütigt den Anderen. Der amor benevolentiae ist nur Liebe, wenn er zugleich amor concupiscentiae ist. Und dasselbe gilt vice versa. Wer wirklich den Anderen begehrt, kann nur bekommen, wonach ihn verlangt, wenn er zu geben bereit ist. Das gilt schon für das sexuelle Begehren, das eine wirkliche Erfüllung nur findet, wenn der Andere sie auch findet. Aber es gilt auf jeder Ebene des Lebens. Epikur zeigt auf unvergleichliche Weise, dass ein glückliches Leben nur möglich ist für den, der einen guten Freund hat. Einen guten Freund aber kann man nur haben, wenn man selbst ein guter Freund ist. Ein wirklich guter Freund ist aber der, der bereit ist, sein Leben für den Freund zu geben. Wer also glücklich und zufrieden leben will, der muss bereit sein, sein Leben für den Freund zu geben. Die Weisheit des Hedonisten mündet also letzten Endes bei einem Satz des Evangeliums, falls der Hedonist nämlich die Dialektik des amor concupiscentiae verstanden hat.

Ich komme zu einer letzten Paradoxie im Begriff der Liebe, zur Paradoxie menschlicher Sexualität. Dass es zu den Aufgaben des Menschen gehört, seine Sexualität in personale Liebe zu integrieren, und dass das oft schwer gelingt, ist ein Topos der Moral. Es wird hier nämlich scheinbar Widersprechendes verlangt. Höchster Ausdruck personaler Liebe soll ausgerechnet das Unpersönlichste sein, das es gibt, der sexuelle Umgang. Der animalische Trieb, der dazu drängt, wird sogar mit gänzlich Unbekannten im Bordell befriedigt. Es ist ein Untertauchen im anonymen Strom sich perpetuierenden Lebens. Hier legt der Mensch die persona im antiken Sinn der sozialen Rolle ab. Darum verbirgt er sich dabei in der Regel vor den Augen Dritter. Und oft möchte er eine Barriere errichten zwischen dieser Sphäre und der bürgerlichen Welt. Was er hier sagt, schwört und verspricht, darf man nicht ernst nehmen. Es zählt nicht in der sozialen Welt. Und oft möchten Männer und Frauen, die miteinander »intim waren«, draußen nicht miteinander gesehen werden. Die europäische Antike war sexuell vergleichsweise freizügig. Aber zugleich hatte die antike Philosophie für diese Sphäre meistens eine gewisse Verachtung. Als Sphäre der Selbstvergessenheit ist sie dem Ideal vernunftbestimmten Lebens entgegengesetzt. Die Idee der Person im christlichen Sinn, die ihre höchste Verwirklichung in der Selbsttranszendenz der Liebe findet, war noch nicht geboren. Die Perversionen des Sadismus und des Masochismus leben von dieser Idee und finden ihre Lust darin, sie zu zerstören. Sie stürzen sich nicht selbstvergessen in den Rausch der Sinne, sondern zelebrieren die Verdinglichung und Entpersönlichung als Mittel für den Selbstgenuss des Ego.

Diese teuflischen Mysterien sind der extremste Gegensatz zum Fest der triumphalen Durchbrechung der Schamschranke durch die Liebenden. Dieses Fest der Liebe macht noch einmal die Paradoxie sichtbar, von der ich spreche. In ihm enthüllt sich auf besondere Weise das Wesen der Person. Personalität ist nicht identisch mit Vernunftbestimmtheit. Vernunft bildet zusammen mit der Triebnatur jene menschliche Natur, in der die Person zur Erscheinung kommt. Die personale Weise, eine Natur zu haben, ist die Vernunftbestimmtheit des Lebens. Das Eintauchen in den vorpersonalen Strom des Lebens kann und soll zum Symbol der Selbsttranszendenz werden, in der Personen sich verwirklichen. Die vorübergehende Aufgabe der Vernunftbestimmtheit, die im Deutschen sehr schön als »Beischlaf« bezeichnet wird, ist dann nicht Entpersönlichung, wenn sie eingebettet ist in jene bedingungslose, irreversible und exklusive gegenseitige Übereignung zweier Personen. Und zwar solcher, deren verschiedengeschlechtliche Physis bereits auf ein solches Einswerden hingeordnet ist. Personalität gibt es nur im Plural. Personsein heißt einen Platz einnehmen in der universalen, zeitübergreifenden Personengemeinschaft. Eingebettet in eine solche personale Einheit wird der Untergang des Selbst im Beischlaf zur symbolischen Realisierung personaler Selbsttranszendenz. Die Paradoxie ist das Kennzeichen der Überwindung der Abstraktion. Nur das Abstrakte unterliegt der Identitätslogik. Darum wird Gott im Christentum nicht als Person, sondern als Personengemeinschaft verstanden. Nur so hat der Satz »Gott ist Liebe« einen verständlichen Sinn. In der konkreten Einheit der Liebe verschwinden die Liebenden nicht, sondern steigern sich zu ihrer höchsten Möglichkeit. Und so auch wird die Gottesliebe im Christentum nicht verstanden als Aufgehen der Person in Gott wie der Tropfen im Meer. In dieser Metapher wird Gott nur als Substanz gedacht, in der alles Endliche verschwindet. Gewiss, wir vergleichen die Liebe mit dem Tod. Fortis ut mors dilectio, stark wie der Tod ist die Liebe, heißt es im Hohen Lied. Von Selbstüberwindung, Selbstverleugnung ist die Rede, und vom »Sterben mit Christus«. Fénelon hat diese Redeweise verteidigt, indem er zugleich verlangte, Psychologie und Ontologie zu unterscheiden. Was psychologisch als Selbstverleugnung erlebt wird, ist ontologisch Selbstverwirklichung und Steigerung der Person. Das Evangelium drückt die Paradoxie so aus: »Wer seine Seele retten will, der wird sie verlieren, wer sie aber verloren gibt, der wird sie retten.« Aber diese Selbsttranszendenz schließt die Bereitschaft auch zum wirklichen Tod ein. »Niemand hat eine größere Liebe, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde.« Leben lebt vom Opfer des Lebens.

 

Rede vor der Lumen Christi-Foundation München am 2962007

 

 

Anmerkungen

 

1 Friedrich von Spee: Güldenes Tugendbuch, hrsg. v. Th. van Oorschot, München 1968, S. 27.