Kurt Tucholsky

Hering ist gut, Schlagsahne ist gut. Wie gut muss erst Hering mit Schlagsahne sein –!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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© HörGut! Verlag, 2012

 

Start

Wir sind fünf Finger an einer Hand.

Der auf dem Titelblatt und:

Ignaz Wrobel. Peter Panter. Theobald Tiger. Kaspar Hauser.

Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden – das war damals, als meine ersten Arbeiten in der ›Weltbühne‹ standen. Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal denselben Mann in einer Nummer haben, und so erstanden, zum Spaß, diese homunculi1. Sie sahen sich gedruckt, noch purzelten sie alle durcheinander; schon setzten sie sich zurecht, wurden sicherer; sehr sicher, kühn – da führten sie ihr eigenes Dasein. Pseudonyme sind wie kleine Menschen; es ist gefährlich, Namen zu erfinden, sich für jemand anders auszugeben, Namen anzulegen – ein Name lebt. Und was als Spielerei begonnen, endete als heitere Schizophrenie.

Ich mag uns gern. Es war schön, sich hinter den Namen zu verkriechen und dann von Siegfried Jacobsohn solche Briefe gezeigt zu bekommen:

»Sehr geehrter Herr! Ich muss Ihnen mitteilen, dass ich Ihr geschätztes Blatt nur wegen der Arbeiten Ignaz Wrobels lese. Das ist ein Mann nach meinem Herzen. Dagegen haben Sie da in Ihrem Redaktionsstab einen offenbar alten Herrn, Peter Panter, der wohl das Gnadenbrot von Ihnen bekommt. Den würde ich an Ihrer Stelle . . . «

Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein – denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schriftsteller Humor? dem Satiriker Ernst? dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lustige Verse? Humor diskreditiert.

Wir wollten uns nicht diskreditieren lassen und taten jeder seins. Ich sah mit ihren Augen, und ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter, einen beweglichen, kugelrunden, kleinen Mann; Tiger sang nur Verse, waren keine da, schlief er – und nach dem Kriege schlug noch Kaspar Hauser die Augen auf, sah in die Welt und verstand sie nicht. Eine Fehde zwischen ihnen wäre durchaus möglich. Sie dauert schon siebenunddreißig Jahre.

Woher die Namen stammen –?

Die alliterierenden2 Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors3 aus Berlin. Der amtierte stets vor gesteckt vollen Tischen, und wenn der pinselblonde Mann mit den kurzsichtig blinzelnden Augen und dem schweren Birnenbauch dozierte, dann erfand er für die Kasperlebühne seiner ›Fälle‹ Namen der Paradigmata4.

Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozessordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. Seine Alliterationstiere mordeten und stahlen; sie leisteten Bürgschaft und wurden gepfändet; begingen öffentliche Ruhestörung in Idealkonkurrenz mit Abtreibung und benahmen sich überhaupt recht ungebührlich. Zwei dieser Vorbestraften nahm ich mit nach Hause – und, statt Amtsrichter zu werden, zog ich sie auf.

Wrobel – so hieß unser Rechenbuch; und weil mir der Name Ignaz besonders hässlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens.

Kaspar Hauser braucht nicht vorgestellt zu werden.

Das sind sie alle fünf.

Und diese fünf haben nun im Lauf der Jahre in der ›Weltbühne‹ gewohnt und anderswo auch. Es mögen etwa tausend Arbeiten gewesen sein, die ich durchgesehen habe, um diese daraus auszuwählen – und alles ist noch einmal vorbeigezogen . . . Vor allem der Vater dieser Arbeit: Siegfried Jacobsohn.

 

Fruchtbar kann nur sein, wer befruchtet wird. Liebe trägt Früchte, Frauen befruchten, Reisen, Bücher . . . in diesem Fall tat es ein kleiner Mann, den ich im Januar 1913 in seinem runden Bücherkäfig aufgesucht habe und der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat, bis zu seinem Tode nicht. Vor mir liegen die Mappen seiner Briefe: diese Postkarten, eng bekritzelt vom obern bis zum untern Rand, mit einer winzigen, fetten Schrift, die aussah wie ein persisches Teppichmuster. Ich höre das »Ja –?«, mit dem er sich am Telefon zu melden pflegte; mir ist, als klänge die Muschel noch an meinem Ohr . . . Was war es –?

Es war der fast einzig dastehende Fall, dass dem Gebenden ein Nehmender gegenüberstand, nicht nur ein Druckender. Wir senden unsere Wellen aus – was ankommt, wissen wir nicht, nur selten. Hier kam alles an. Der feinste Aufnahmeapparat, den dieser Mann darstellte, feuerte zu höchster Leistung an – vormachen konnte man ihm nichts. Er merkte alles. Tadelte unerbittlich, aber man lernte etwas dabei. Ganze Sprachlehren wiegt mir das auf, was er ›ins deutsche Übersetzen‹ nannte. Einmal fand er eine Stelle, die er nicht verstand. »Was heißt das? Das ist wolkig!« sagte er. Ich begehrte auf und wusste es viel besser. »Ich wollte sagen . . . « erwiderte ich – und nun setzte ich ihm genau auseinander, wie es gemeint war. »Das wollte ich sagen«, schloss ich. Und er: »Dann sags.« Daran habe ich mich seitdem gehalten. Die fast automatisch arbeitende Kontrolluhr seines Stilgefühls ließ nichts durchgehen – kein zu starkes Interpunktionszeichen, keine wilde Stilistik, keinen Gedankenstrich nach einem Punkt (Todsünde!) – er war immer wach.

Und so waren unsere Beiträge eigentlich alle nur Briefe an ihn, für ihn geschrieben, im Hinblick auf ihn: auf sein Lachen, auf seine Billigung – ihm zur Freude. Er war der Empfänger, für den wir funkten.

Ein Lehrer, kein Vorgesetzter; ein Freund, kein Verlagsangestellter; ein freier Mann, kein Publikumshase. »Sie haben nur ein Recht«, pflegte er zu sagen, »mein Blatt nicht zu lesen.« Und so stand er zu uns, so hat er uns geholfen, zu uns selbst verholfen, und wir haben ihn alle lieb gehabt.

Wir beide nannten uns, nach einem revolutionären Stadtkommandanten Berlins, gegenseitig: Kalwunde.

»Kalwunde!« sagtest du, wenn du dreiunddreißig Artikel in der Schublade hattest, »Kalwunde, warum arbeitest du gar nicht mehr –?« Und dann fing ich wieder von vorne an. Und wenn das dicke Kuvert mit einem satten Plumps in den Briefkasten fiel, dann hatte der Tag einen Sinn gehabt, und ich stellte mir, in Berlin und in Paris, gleichmäßig stark vor, was du wohl für ein Gesicht machen würdest, wenn die Sendung da wäre. Siehst du, nun habe ich das alles gesammelt . . . Und du kannst es nicht mehr lesen . . . »Mensch!« hättest du gesagt, »ick wer doch det nich lesen! Ich habe es ja alles ins Deutsche übersetzt –!«

Das hast du.

Und so will ich mich denn mit einem Gruß an dich auf den Weg machen.

Starter, die Fahne –! Ab mit 5 PS.

Kurt Tucholsky

Peter Panter · Theobald Tiger

Ignaz Wrobel · Kaspar Hauser

 

liebt: hasst:
das Militär Kampf
die Vereinsmeierei jeden tapfern Friedenssoldaten
den Mann, der immer in der Bahn die Zeitung mitliest Kampf
Lärm und Geräusch die Haarfarbe der Frau, die er gerade liebt
>Deutschland< Deutschland

Vorsätze

Ich will den Gänsekiel in die schwarze Flut tauchen. Ich will einen Roman schreiben. Schöne, wahre Menschen sollen auf den Höhen des Lebens wandeln, auf ihrem offenen Antlitz soll sich die Freiheit widerspiegeln . . .

Nein. Ich will ein lyrisches Gedicht schreiben. Meine Seele werde ich auf sammetgrünem Flanell betten, und meine Sorgen werden kreischend von dannen ziehen . . .

Nein. Ich will eine Ballade schreiben. Der Held soll auf blumiger Au mit den Riesen kämpfen, und wenn die Strahlen des Mondes auf seine schöne Prinzessin fallen, dann . . .

Ich will den Gänsekiel in die schwarze Flut tauchen. Ich werde meinem Onkel schreiben, dass ich Geld brauche.

Mikrokosmos

Dass man nicht alle haben kann –!

Wie gerne möcht ich Ernestinen

als Schemel ihrer Lüste dienen!

Und warum macht mir Magdalene,

wenn ich sie frage, eine Szene?

Von jener Lotte ganz zu schweigen –

ich tät mich ihr als Halbgott zeigen.

Doch bin ich schließlich 1 Stück Mann . . .

Dass man nicht alle haben kann –!

 

Gewiss: das Spiel ist etwas alt.

Ich weiß, dass zwischen Spree und Elbe

das Dramolet5 ja stets dasselbe,

doch denk ich alle, alle Male:

entfern ich diesmal nur die Schale –

was wird sich deinen Blicken zeigen?

Was ist, wenn diese Lippen schweigen?

Nur diesmal greifts mich mit Gewalt . . .

(Gewiss: das Spiel ist etwas alt.)

 

Dass man nicht alle haben kann –!

Das lässt sich zeitlich auch nicht machen . . .

Ich weiß, jetzt wirst du wieder lachen!

Ich komm doch stets nach den Exzessen

zu dir und kann dich nicht vergessen.

So gib mir denn nach langem Wandern

die Summe aller jener andern.

Sei du die Welt für einen Mann . . .

weil er nicht alle haben kann.

Blick in die Zukunft

Du schläfst bei mir. Da plötzlich, in der

Nacht, du liebe Dame,

Bist du mit einem Laut mir jäh erwacht –

War das ein Name?

 

Ich horche. Und du sagst es noch einmal –

im Halbschlaf: »Leo . . . «

Bleib bei der Sache, Göttin meiner Wahl!

Ich heiße Theo.

 

Noch bin ich bei dir. Wenn die Stunde

naht, da wir uns trennen:

Vielleicht lernt dich dann ein Regierungs-

rat im Teeraum kennen.

 

Und gibst du seinen Armen nachts dich preis,

den stolzen Siegern: –

Dann flüstre einmal meinen Namen leis

und denk an Tigern.

Lied fürs Grammophon

Gib mir deine Hand,

Lucindy!

Du, im fernen Land –

Lucindy!

Wie die Ätherwellen6 flitzen

über Drähte, wo die Raben sitzen,

saust meine Liebe dir zu . . .

du –

tu – tu – tu – mmm –

 

Wenn du mich liebst, so singt dein Blut,

Lucindy!

Ach, wenn du nicht da bist, bin ich dir so gut,

Lucindy!

Dein, dein Lächeln lässt mir keine Ruh . . .

Man kann von oben lächeln,

man kann von unten lächeln,

man kann daneben lächeln –

wie lächelst du?

tu – tu – tu – mmm –

 

Meine, die will mich verlassen,

Lucindy!

Deiner, der will dich fassen,

Lucindy!

Kehr zu ihm zurück!

Vielleicht ist das das Glück . . .

Ich guck in den Mond immerzu –

oh, so blue – mmm –

 

Wie man auch setzt im Leben,

Lucindy!

man tippt doch immer daneben,

Lucindy!

Wir sitzen mit unsern Gefühlen

meistens zwischen zwei Stühlen –

und was bleibt, ist des Herzens Ironie . . .

Lucindy!

Lucindy!

Lucindy –!

Liebespaar am Fenster

Dies ist ein Sonntag vormittag;

wir lehnen so zum Spaße

leicht ermüdet zum Fenster hinaus

und sehen auf die Straße.

Die Sonne scheint. Das Leben rinnt.

Ein kleiner Hund, ein dickes Kind . . .

Wir haben uns gefunden

für Tage, Wochen, Monate

und für Stunden – für Stunden.

 

Ich, der Mann, denke mir nichts.

Heut kann ich zu Hause bleiben,

heute geh ich nicht ins Büro –

. . . an die Steuer muss ich noch schreiben . . . .

Wieviel Uhr? Ich weiß nicht genau.

Sie ist zu mir wie eine Frau,

ich fühl mich ihr verbunden

für Tage, Wochen, Monate

und für Stunden – für Stunden.

 

Ich, die Frau, bin gern bei ihm.

Von Heiraten wird nicht gesprochen.

Aber eines Tages will ich ihn mir

ganz und gar unterjochen.

Die Dicke, daneben auf ihrem Balkon,

gibt ihrem Kinde einen Bonbon

und spielt mit ihren Hunden . . .

So soll mein Leben auch einmal sein –

und nicht nur für Stunden – für Stunden.

 

Von Kopf zu Kopf umfließt uns ein Strom;

noch sind wir ein Abenteuer.

Eines Tages trennen wir uns,

eine andere kommt . . . ein neuer . . .

Oder wir bleiben für immer zusammen;

dann erlöschen die großen Flammen,

Gewohnheit wird, was Liebe war.

Und nur in seltenen Sekunden

blitzt Erinnerung auf an ein schönes Jahr,

und an Stunden – an glückliche Stunden.

Es ist

Es ist so viel unverbrauchte Zärtlichkeit in Hotelzimmern,

wo sie allein liegen:

ein Mann, oder eine Frau, oder ein angebrochenes junges Mädchen –

in leiser Lächerlichkeit liegen wir allein.

Es ist eine Einsamkeit, umflossen