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Herzzeit
Ingeborg Bachmann
Paul Celan
Der Briefwechsel



Mit den Briefwechseln
zwischen Paul Celan und Max Frisch
sowie zwischen Ingeborg Bachmann
und Gisèle Celan-Lestrange



Herausgegeben und kommentiert von
Bertrand Badiou, Hans Höller,
Andrea Stoll und
Barbara Wiedemann

Suhrkamp

Koordination sowie Übersetzung der französischen Briefe:

Barbara Wiedemann



ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002, 2003, 2004

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

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www.suhrkamp.de

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73090-4

Briefwechsel
Ingeborg Bachmann – Paul Celan

1 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Gedicht und Widmung in Matisse-Bildband, Wien, 24.(?)6.1948

In Aegypten

Für Ingeborg



Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser!

Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen.

Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noemi! Mirjam!

Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst.

Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden.

Du sollst zu Ruth, zu Mirjam und Noemi sagen:

Seht, ich schlaf bei ihr!

Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken.

Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam

und Noemi. 

Du sollst zur Fremden sagen:

Sieh, ich schlief bei diesen!



Wien, am 23. Mai 1948.





Der peinlich Genauen,

22 Jahre nach ihrem Geburtstag,

Der peinlich Ungenaue

2 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, Weihnachten 1948, nicht abgesandt

Weihnachten 1948.

Lieber, lieber Paul!

Ich habe gestern und heute viel an Dich, wenn Du willst, an uns gedacht. Ich schreibe Dir nicht, weil Du wieder schreiben sollst, sondern weil es mir jetzt Freude macht und weil ich will. Auch hatte ich vor, Dich in diesen Tagen in Paris irgendwo zu treffen, aber dann hat mich mein dummes eitles Pflichtbewußtsein hier festgehalten und ich bin nicht weggefahren. Wie ist das nur: irgendwo in Paris? Ich weiß ja garnichts, aber irgendwie wäre es schon schön gewesen!

Vor drei Monaten hat mir plötzlich jemand Deinen Gedichtband geschenkt. Ich wußte nicht, daß er herausgekommen war. Das war so..., der Boden war so leicht und schwebend unter mir, und meine Hand hat ein bisschen, ganz, ganz wenig gezittert. Dann war wieder lange nichts. Vor einigen Wochen hat man sich in Wien erzählt, daß Jenés nach Paris gefahren sind. Da bin ich auch wieder mit auf Reisen gegangen.

Ich weiß noch immer nicht, was der vergangene Frühling bedeutet hat. – Du weißt ja, daß ich immer alles ganz genau wissen will. – Schön war er, – und die Gedichte, und das Gedicht, das wir miteinander gemacht haben.

Ich hab Dich heute lieb und so gegenwärtig. Das will ich Dir unbedingt sagen, – damals hab ich es oft nicht getan.

Sobald ich Zeit habe, kann ich auf ein paar Tage kommen. Würdest Du mich auch sehen wollen? – Eine Stunde, oder zwei.

Viel, viel Liebes!

Deine

Ingeborg.

3 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Paris, 26. 1. 1949

31, Rue des Ecoles

Paris, den 26. 1. 1949.

Ingeborg,

versuche einen Augenblick lang zu vergessen, daß ich so lange und so beharrlich schwieg – ich hatte sehr viel Kummer, mehr als mein Bruder mir wieder nehmen konnte, mein guter Bruder, dessen Haus Du gewiß nicht vergessen hast. Schreibe mir so als würdest Du ihm schreiben, ihm, der immer an Dich denkt und der in Dein Medaillon das Blatt eingeschlossen hat, das Du nun verloren hast.

Laß mich, laß ihn nicht warten!

Ich umarme Dich

Paul

4 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 12.4.1949

Wien, am 12. April 1949

Lieber, Du,

ich bin so froh, dass dieser Brief gekommen ist, – und nun hab ich Dich auch wieder so lange warten lassen, ganz ohne Absicht und ohne einen unfreundlichen Gedanken. Du wirst selbst wissen, dass das manchmal so kommt. Man weiss nicht warum. Zwei- oder dreimal hab ich einen Brief an Dich geschrieben und dann doch nicht weggeschickt. Aber was bedeutet das, wo wir aneinander denken und es vielleicht noch sehr lange tun werden.

Ich spreche nicht allein zu Deinem Bruder, heute beinahe nur mit Dir, denn durch Deinen Bruder hindurch hab ich ja Dich lieb, und Du darfst nicht denken, dass ich an Dir vorübergegangen bin. – Bald ist der Frühling wieder da, der im Vorjahr so seltsam war und so unvergesslich. Ich werd gewiss nie mehr durch den Stadtpark gehen, ohne zu wissen, dass er die ganze Welt sein kann, und ohne wieder der kleine Fisch von damals zu werden.

Dass Du Kummer gehabt hast, hab ich die ganze Zeit gespürt, – lass mich wissen, ob es Dir helfen könnte, mehr Briefe zu bekommen!

Im Herbst haben mir Freunde Deine Gedichte geschenkt. Das war ein trauriger Augenblick, weil sie von Fremden kamen und ohne ein Wort von Dir. Aber jede einzelne Zeile hat es wieder gutgemacht.

Es wird Dich vielleicht freuen, wenn ich Dir erzähle, dass manchmal nach Dir gefragt wird, vor einiger Zeit musste ich sogar wildfremden Leuten aus Graz Deine Adresse geben, um sie zufriedenzustellen. Und die kleine Nani und Klaus Demus machen noch immer verklärte Augen, wenn sie von Dir sprechen.

Heute versteh ich gut, dass es für Dich richtig war, nach Paris zu gehen. Was würdest Du sagen, wenn ich im Herbst plötzlich auch dort wäre? Ich soll nach dem Doktorat ein Stipendium für Amerika oder Paris bekommen. Ich kann noch garnicht dran glauben. Es wäre zu schön.

Ueber mich gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe sehr viel Arbeit, das Studium geht dem Ende zu, daneben schreibe ich für Zeitungen, für den Sender etc., mehr als früher. Ich versuche, nicht an mich zu denken und mit geschlossenen Augen hinüberzukommen zu dem, was eigentlich gemeint ist. Sicher stecken wir alle in der grossen Spannung, können uns nicht lösen und machen viele Umwege. Aber ich bin manchmal so krank davon, dass ich fürchte, es wird einmal nicht weitergehen.

Ich möchte Dir zum Schluss noch sagen, – das Blatt, das Du in mein Medaillon gegeben hast, ist nicht verloren, auch wenn es schon lange nicht mehr drinnen sein sollte; ich denk an Dich und hör Dir noch immer zu.

Ingeborg.

5 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, Ende Mai / Anfang Juni 1949 (?), abgebrochener Briefentwurf

Paul, lieber Paul,

ich hab Sehnsucht nach Dir und unserem Märchen. Was soll ich tun? Du bist so weit weg von mir, und Deine Kartengrüsse, mit denen ich bis vor kurzem so zufrieden war, sind mir nicht mehr genug.

Gestern bekam ich durch Klaus Demus Gedichte von Dir, die ich nicht kannte, auch drei aus letzter Zeit. Ich kann's kaum ertragen, dass sie auf solchem Umweg zu mir gekommen sind. Bitte, bitte lass das nicht zu. Es muss doch irgend etwas auch für mich da sein.

Ich kann sie besser lesen als die andern, weil ich Dir darin begegne seitdem es keine Beatrixgasse mehr gibt. Immer geht's mir um Dich, ich grüble viel darüber und sprech zu Dir und nehm Deinen fremden, dunklen Kopf zwischen meine Hände und möchte Dir die Steine von der Brust schieben, Deine Hand mit den Nelken freimachen und Dich singen hören. Es ist nichts mit mir geschehen, das mich mit einem Mal heftiger an Dich denken lässt. Alles ist wie immer, ich habe Arbeit und Erfolg, Männer sind irgendwie um mich aber es bedeutet wenig: Du, Schönes und Trübes verteilt sich auf die dahinfliegenden Tage

6 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Paris, 20.6.1949

Paris, am 20. Juni 49.

Ingeborg,

›ungenau‹ und spät komme ich in diesem Jahr. Doch vielleicht nur deshalb so, weil ich möchte, daß niemand außer Dir dabei sei, wenn ich Mohn, sehr viel Mohn, und Gedächtnis, ebensoviel Gedächtnis, zwei große leuchtende Sträuße auf Deinen Geburtstagstisch stelle. Seit Wochen freue ich mich auf diesen Augenblick.

Paul

7 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 24.6.1949

Wien, am 24. Juni 1949.

Du Lieber,

weil ich so garnicht daran gedacht habe, ist heute, am Vortag – im vergangenen Jahr war es doch auch so – Deine Karte richtig angeflogen kommen, mitten in mein Herz, ja es ist so, ich hab Dich lieb, ich hab es nie gesagt damals. Den Mohn hab ich wieder gespürt, tief, ganz tief, Du hast so wunderbar gezaubert, ich kann es nie vergessen.

Manchmal möchte ich nichts, als weggehen und nach Paris kommen, spüren, wie Du meine Hände anfasst, wie Du mich ganz mit Blumen anfasst und dann wieder nicht wissen, woher Du kommst und wohin Du gehst. Für mich bist Du aus Indien oder einem noch ferneren, dunklen, braunen Land, für mich bist Du Wüste und Meer und alles was Geheimnis ist. Ich weiss noch immer nichts von Dir und hab darum oft Angst um Dich, ich kann mir nicht vorstellen, dass Du irgend etwas tun sollst, was wir andern hier tun, ich sollte ein Schloss für uns haben und Dich zu mir holen, damit Du mein verwunschener Herr drin sein kannst, wir werden viele Teppiche drin haben und Musik, und die Liebe erfinden.

Ich habe oft nachgedacht, »Corona« ist Dein schönstes Gedicht, es ist die vollkommene Vorwegnahme eines Augenblicks, wo alles Marmor wird und für immer ist. Aber mir hier wird es nicht »Zeit«. Ich hungre nach etwas, das ich nicht bekommen werde, alles ist flach und schal, müde und verbraucht, ehe es gebraucht wurde.

Mitte August will ich in Paris sein, ein paar Tage nur. Frag mich nicht warum, wozu, aber sei da für mich, einen Abend lang oder zwei, drei.. Führ mich an die Seine, wir wollen so lange hineinschauen, bis wir kleine Fische geworden sind und uns wieder erkennen.

Ingeborg.

8 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Paris, 4.(?)8.1949

Ingeborg, liebe,

nur ein paar Zeilen, in aller Eile, um Dir zu sagen, wie sehr ich mich freue, daß Du kommst.

Hoffentlich kommt dieser Brief noch rechtzeitig genug, und Du schreibst, wann Du eintriffst: darf ich Dich erwarten? Oder darf ich es nicht, weil ich ja auch nicht nach dem Warum und Wozu Deiner Reise fragen darf?

Ich bin voller Ungeduld, Liebe.

Dein Paul



Hier ist meine Telephonnummer:

DAN 78-41

9 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Paris, 20.8.1949

31, Rue des Ecoles

Paris, den 20. August 49

Meine liebe Ingeborg,

Du kommst also erst in zwei Monaten – warum? Du sagst es nicht, Du sagst auch nicht, für wie lange, sagst nicht, ob Du Dein Stipendium bekommst. Inzwischen können wir ja, schlägst Du vor, ›Briefe wechseln‹. Weißt Du, Ingeborg, warum ich Dir während dieses letzten Jahres so selten schrieb? Nicht allein, weil Paris mich in ein furchtbares Schweigen gedrängt hatte, aus dem ich nicht wieder freikam; sondern auch deshalb, weil ich nicht wußte, was Du über jene kurzen Wochen in Wien denkst. Was konnte ich aus Deinen ersten, flüchtig hingeworfenen Zeilen schließen, Ingeborg?

Vielleicht täusche ich mich, vielleicht ist es so, daß wir einander gerade da ausweichen, wo wir einander so gerne begegnen möchten, vielleicht liegt die Schuld an uns beiden. Nur sage ich mir manchmal, daß mein Schweigen vielleicht verständlicher ist als das Deine, weil das Dunkel, das es mir auferlegt, älter ist.

Du weißt: die großen Entschlüsse muß man immer allein fassen. Als jener Brief kam, in dem Du mich fragtest, ob Du Paris oder die Vereinigten Staaten wählen solltest, hätte ich Dir gern gesagt, wie sehr ich mich freuen würde, wenn Du kämest. Kannst Du einsehen, Ingeborg, warum ich es nicht tat? Ich sagte mir, daß wenn Dir wirklich etwas (das heißt, mehr als etwas) daran läge, in der Stadt zu leben, in der auch ich lebe, Du mich nicht erst um Rat gefragt hättest, im Gegenteil.

Ein langes Jahr ist nun verstrichen, ein Jahr, in dem Dir sicherlich manches begegnet ist. Aber Du sagst mir nicht, wie weit unser eigener Mai und Juni hinter diesem Jahr zurückliegen..

Wie weit oder wie nah bist Du, Ingeborg? Sag es mir, damit ich weiß, ob Du die Augen schließt, wenn ich Dich jetzt küsse.

Paul

10 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 24.11.1949

Wien, am 24. Nov. 1949.

Lieber, lieber Paul,

jetzt ist es November geworden. Mein Brief, den ich im August geschrieben habe, liegt noch da – alles ist so traurig. Du hast vielleicht auf ihn gewartet. Nimmst Du ihn heute noch?

Ich fühle, dass ich zu wenig sage, dass ich Dir nicht helfen kann. Ich müsste kommen, Dich ansehen, Dich herausnehmen, Dich küssen und halten, damit Du nicht fortgleitest. Bitte glaub daran, dass ich eines Tages komme und Dich zurückhole. Ich sehe mit viel Angst, wie Du in ein grosses Meer hinaustreibst, aber ich will mir ein Schiff bauen und Dich heimholen aus der Verlorenheit. Du musst nur selbst auch etwas dazutun und es mir nicht zu schwer machen. Die Zeit und vieles ist gegen uns, aber sie soll nicht zerstören dürfen, was wir aus ihr herausretten wollen.

Schreib mir bald, bitte, und schreib, ob Du noch ein Wort von mir willst, ob Du meine Zärtlichkeit und meine Liebe noch nehmen kannst, ob Dir noch etwas helfen kann, ob Du manchmal noch nach mir greifst und mich verdunkelst mit dem schweren Traum, in dem ich licht werden möchte.

Versuche es, schreib mir, frag mich, schreib Dir alles weg, was auf Dir liegt!

Ich bin sehr bei Dir

Deine Ingeborg.

10.1 Beilage

Wien, am 25. August 1949.

Liebster,

dieser Brief wird nicht leicht; fraglos und antwortlos ist ein Jahr vergangen, mit wenigen, aber sehr zärtlichen Grüssen, ganz kleinen Versuchen zu sprechen, aus denen bis heute noch nicht viel geworden ist. Erinnerst Du Dich noch an unsere ersten Telephongespräche? Wie schwer das war; mich hielt immer etwas erstickt, ein Gefühl, das dem nicht unähnlich war, das unsere Briefe bisher trug. Ich weiss nicht, ob Du es gleich siehst, aber ich will es einmal annehmen.

Dein Schweigen war sicher ein andres als meines. Für mich ist es selbstverständlich, dass wir jetzt nicht über Dich und Deine Beweggründe sprechen wollen. Sie sind und werden mir immer wichtig sein, aber wenn etwas auf die Waagschale gelegt werden soll, dann nichts, was Dich betrifft. Für mich bist Du Du, für mich bist Du an nichts »schuld«. Du musst kein Wort sagen, aber ich freue mich über das kleinste. Mit mir ist das anders. Ich bin wohl der Einfachere von uns beiden, und doch muss ich mich eher erklären, weil es für Dich schwerer zu verstehen ist.

Mein Schweigen bedeutet vor allem, dass ich die Wochen behalten wollte, wie sie waren, ich wollte nichts, als eben ab und zu durch eine Karte von Dir die Bestätigung bekommen, dass ich nicht geträumt habe, sondern alles wirklich war, [wie] es war. Ich hatte Dich lieb gehabt, ganz unverändert, auf einer Ebene, die »jenseits der Kastanien« war.

Dann kam der heurige Frühling und alles wurde stärker, sehnsüchtiger und trat aus dem Glassturz hervor, unter den ich es gestellt hatte. Viele Pläne entstanden, ich wollte nach Paris, Dich wiedersehen, aber ich kann Dir nicht sagen zu welchem Zweck und Ziel. Ich weiss nicht, warum ich Dich will und wozu. Darüber bin ich sehr froh. Ich weiss das sonst zu genau.

Es war sehr viel in diesem Jahr für mich, ich bin ein Stück weitergekommen, ich hatte viel Arbeit, ich habe ein paar erste Sachen weggeschrieben, mit sehr vielen Zweifeln, Hemmungen, Hoffnungen.

Weisst Du noch, wie verzweifelt Du immer ein bisschen über meine Offenheit in manchen Dingen warst? Ich weiss nicht, was Du jetzt wissen willst und was nicht, aber Du wirst Dir ja denken können, dass die Zeit seit Dir für mich nicht ohne Beziehungen zu Männern vergangen ist. Einen Wunsch, den Du damals diesbezüglich hattest, habe ich Dir erfüllt; das habe ich Dir auch noch nicht gesagt.

Aber nichts ist zur Bindung geworden, ich bleibe nirgends lang, ich bin unruhiger als je und will und kann niemandem etwas versprechen. Wie lange wohl unser Mai und unser Juni hinter all dem zurückliegen, fragst Du: keinen Tag, Du Lieber! Mai und Juni ist für mich heute abend oder morgen mittag und noch in vielen Jahren.

Du schreibst so bitter, wie merkwürdig ich mich verhalten hätte, als ich vor der Alternative Paris oder Amerika stand. Ich verstehe Dich zu gut, und es tut mir jetzt auch sehr weh, dass das so zu Dir gekommen ist. Was immer ich auch darauf antworte, wird falsch sein. Vielleicht wollte ich damit nur sehen, ob Dir noch an mir liegt, nicht überlegt, eher unbewusst. Damit wollte ich auch nicht zwischen Dir und Amerika wählen, sondern etwas abseits von uns. Dann kommt dazu, dass ich Dir schwer begreiflich machen kann, wie oft sich Pläne von einem Tag auf den anderen erledigen und ein anderes Gesicht bekommen. Heute sind es Stipendien, die morgen nicht mehr in Frage kommen, weil man sich zu einem bestimmten Termin bewerben müsste, den man nicht einhalten kann, dann fehlen Bestätigungen, die man nicht erbringen kann. Heute bin ich so weit, dass ich zwei Empfehlungen habe, eine für ein Stipendium nach London, eine für eines nach Paris, aber ich kann nicht sicher sagen, was daraus wird und ich betreibe diese Ansuchen ohne einen bestimmten Gedanken, nur in der Hoffnung, dass eines sich irgendeinmal realisiert. Ausserdem will mich jemand auf eine private Reise nach Paris mitnehmen. Ich bin ziemlich sicher, dass das einmal zustande kommt, weil es einmal schon knapp daran war. Im Augenblick bin ich selbst das Hindernis, weil meine Schlussprüfungen für das Doktorat sich derart in die Länge ziehen, dass ich es nie für möglich gehalten hätte.

Du wirst nach allem schliessen, dass ich Dir sehr fern wäre. Ich kann Dir nur eines sagen, so unwahrscheinlich es mir selbst erscheint, ich bin Dir sehr nah.

Es ist eine schöne Liebe, in der ich mit Dir lebe, und nur weil ich Angst habe, zu viel zu sagen, sage ich nicht, dass sie die schönste ist.

Paul, ich möchte Deinen armen schönen Kopf nehmen und ihn schütteln und ihm klarmachen, dass ich sehr viel damit sage, viel zu viel für mich, denn Du musst doch noch wissen, wie schwer es mir fällt, ein Wort zu finden. Ich wünsche mir, dass Du alles aus meinen Zeilen herauslesen könntest, was dazwischen steht.

11 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 10.6.1950

Wien, am 10. Juni 50

Lieber,

in wenigen Tagen fährt Nani Maier nach Paris, und ich werde sie bitten, was ich schwer in einem Brief sagen kann, mit Dir zu besprechen.

So will ich nur viele, viele Gedanken vorausschicken und hoffen, daß wir bald auf ein Wasser sehen, das wieder an Indien grenzt und an die Träume, die wir einmal geträumt haben.

Aber wenn Du nicht mehr kannst oder schon in ein nächstes Meer getaucht bist, hol mich, mit der Hand, die man für andere frei hat!

Ich will Dir sehr danken,

Ingeborg.

12 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 6.9.1950

Wien, den 6. Sept. 1950.

Liebster,

nun, da unsere Freunde, Nani und Klaus, zurück sind und ich einen Abend lang mit ihnen sprechen konnte, sehe ich erst, wie viele Mißverständnisse sich zwischen uns gelegt haben. Glaub mir, ich habe, zumindest bewußt, nicht die Fehler gemacht, die mich Dir so entfernt und entfremdet haben. Ich war in den vergangenen Wochen sehr krank; ein Nervenkollaps mit allen Begleiterscheinungen hat mich gelähmt und unfähig gemacht, richtig zu reagieren und etwas zu entscheiden. Zudem meinte ich, – nur eines der Mißverständnisse – daß ich nicht Dir selbst schreiben solle.

Verzeih mir, wenn Du kannst und hilf mir dennoch von hier wegzukommen! Magst Du versuchen, mir eine Einladung zu schicken? Ich könnte im Oktober fahren und werde, bis dahin, auch wahrscheinlich genug Geld haben, um die erste Zeit in Paris zu überbrücken, so daß ich Dir nicht allzu sehr zur Last fiele.

Lieber Paul, mehr zu schreiben fällt mir schwer, weil ich fühle, daß alles erst wieder gut werden könnte, wenn ich Gelegenheit habe, Dir gegenüberzustehen, Deine Hand zu halten und Dir alles, alles zu erzählen.

Laß mich nicht auf Deine Antwort warten, wie immer sie auch ausfallen mag!

Ich umarme Dich und bin mit vielen Gedanken bei Dir!

Ingeborg.

13 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Paris, 7.9.1950

Paris, den 7. September 1950.

Meine liebe Ingeborg,

hier ist der Brief, in dem Frau Dr. Rosenberg Dich nach Paris einlädt: ich hoffe, er wird zur Erlangung des französischen Visums genügen. Bitte unternimm sofort die notwendigen Schritte und laß mich wissen, ob alles seinen normalen Verlauf nimmt. Säume nicht, Ingeborg: wenn Du wirklich nach Paris willst, so komm am besten gleich. Du brauchst Dir wegen Deines Hierseins keine Sorgen zu machen, in keiner Hinsicht. Ich freue mich, daß Du kommst, und Du wärest jetzt vielleicht schon hier, wenn Du Nanis Brief rechtzeitig beantwortet hättest. Hoffentlich schiebt das Konsulat die Visumsangelegenheit nicht auf die lange Bank, jedenfalls wirst Du wohl ein wenig dahinter hersein müssen. Klaus, der französische Verhältnisse kennt, wird Dir vielleicht den einen oder andern Wink geben können.

Soviel ich aus Nanis mündlichen und nun auch schriftlichen Berichten entnehmen konnte, hast Du Kummer gehabt, Ingeborg. Das tut mir leid. Aber ich glaube, daß Paris Dir diesen Kummer nehmen kann: gerade diesen Kummer. Und vielleicht kann ich Paris dabei behilflich sein. Siehst Du, ich habe lange ringen müssen, ehe Paris mich richtig aufnahm und mich zu den Seinen zählte. Du wirst nicht so allein sein wie ich, nicht so vereinsamt und ausgestoßen wie ich es war. Denn das erste Recht, das man sich hier erkämpft, ist gerade dieses: seine Freunde vor den Dingen zu schützen, denen man selbst so lange schutzlos, ja ahnungslos gegenüberstand.

Klaus und Nani werden Dir erzählt haben, wie schön Paris ist: ich werde froh sein, dabei zu sein, wenn Du es merkst.

Gib mir rasch Antwort. Ich umarme Dich

Paul

Viele Grüße an Klaus und Nani.

14 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, nach dem 7.9.1950

Liebster,

für Deinen lieben Brief, die Einladung und alles, was Du für mich tust, danke ich Dir sehr, sehr. Ich habe sogleich alles in die Wege geleitet, war am Konsulat und warte nun sehnsüchtig auf das Visum. Wann es so weit sein wird, daß ich fahren kann, weiß ich im Augenblick noch nicht, aber ich hoffe, daß ich in der ersten Oktoberwoche abreisen kann.

Es gibt natürlich viel zu tun vor einer so großen und entscheidenden Reise, ich mache mir viele Sorgen, wie ich hier – und wie weit – meine Zelte abbrechen soll. Zudem warte ich noch immer, wie die Entscheidung über mein Buch bei S. Fischer ausfallen wird; aber ich werde, auch ohne Nachricht von Dr. Bermann, wegfahren, sobald ich dazu in der Lage bin. Damit ich Dir nicht allzu erschöpft in die Arme sinke bei meiner Ankunft, will ich in Innsbruck und Basel, je einen Tag oder eine Nacht, bei Bekannten, bleiben, – und um ausgeruht nach Paris zu kommen. Es fällt mir schwer, jetzt mehr zu schreiben; wir wollen uns alles aufheben für die vielen gemeinsamen Tage, die vor uns liegen.

Sobald ich mehr weiß, die Abreise oder Ankunftszeit vor allem, schreibe ich wieder.

Lasse bitte, unbekannterweise, Frau Dr. de Rosenberg meinen herzlichsten Dank sagen!

Bald ganz

Deine

Ingeborg.

15 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 27.9.1950

Liebster,

ich habe so große Sehnsucht nach ein wenig Geborgenheit, daß ich beinahe Angst habe, sie bald zu finden. Du wirst viel Geduld mit mir haben müssen – oder aber es sehr einfach mit mir haben. Ich bin verloren, verzweifelt und verbittert und weiß, daß ich mir von Paris allein nicht die Lösung aller dieser inneren Schwierigkeiten erwarten darf, sondern daß viel auf mich und viel auf unsere Beziehung ankommen wird.

Ich freue und fürchte mich abwechselnd auf das Kommende; die Furcht überwiegt noch. Versuche bitte, gut zu mir zu sein und mich festzuhalten! Manchmal glaube ich, alles ist ein verworrener Traum, und es gibt Dich gar nicht und Paris nicht und nur die mich zermalmende, schreckliche, hundertköpfige Hydra Armut, die mich nicht loslassen will.

Mein Visum soll ich am 5. Oktober abholen; hoffentlich ist es dann wirklich fertig. Wenn dazu auch das nötige Geld einträfe, hätte ich, nach langer Zeit, wieder Grund, glücklich zu sein.

Ich umarme Dich, Lieber, und gebe Dir bald Nachricht von meiner Abreise!

Deine

Ingeborg.

Den 27. September 1950.

16 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Paris, am oder nach dem 14.10.1950

Liebe Ingeborg,

es ist halb fünf, und ich muß nun zu meinem Schüler. Es war unser erstes Rendezvous in Paris, mein Herz klopft ganz laut, und Du bist nicht gekommen.

Ich muß heute noch zwei Stunden geben, habe weit zu fahren und bin erst gegen drei Viertel neun zurück.

Der Steckkontakt für Dein Bügeleisen steckt in der Lampe; sei aber vorsichtig und schließ die Tür gut zu, damit sie im Hotel nicht merken, daß Du bügelst. Schreibe auch Deine Briefe. Auf Briefe warten ist schwer.

Und denk ein wenig an das, was über mich strich, als ich zu Dir sprach.

Paul

17 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, wohl Paris, nach dem 14.10.1950 oder nach dem 23.2.1951

Liebe Inge,

ich [bin] ungefähr um 1Uhr 45 zurück – kannst Du bitte so lange warten

Paul

18 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 4.7.1951

Liebster Paul,

heute abend fährt Klaus nach Paris; ich möchte ihm diesen und noch andere, vor langer oder weniger langer Zeit geschriebene Briefe mitgeben. Auch wenn Du keine Zeit finden solltest, mir zu schreiben, werde ich hoffentlich bald von Klaus wissen, wie es Dir geht.

Bitte, überlege Deiner Gedichte wegen alles genau; ich glaube, daß es kein Fehler wäre, durch Jünger und durch Doderer etwas in Gang zu bringen.

Nimm mir vor allem nicht übel, daß ich die wichtigsten Briefe immer mit der Maschine geschrieben habe. Das Tippen ist mir so zur Gewohnheit – oder viel mehr als das – geworden, daß ich kaum mehr fähig bin, Worte, die mir am Herzen liegen, mit Tinte aufs Papier zu malen.

Heute war ich im Institut Fran¢ais; dort brachte ich in Erfahrung, daß ich vielleicht doch schon zum nächsten Sommersemester (Februar oder März 1952) nach Paris könne. Klaus habe ich sehr lieb gewonnen: wir haben einander in letzter Zeit oft gesehen und gesprochen, und es wäre schön, wenn wir vier einander nie ganz aus den Augen verlieren würden.

In Liebe

Deine

Ingeborg.

Wien, den 4. Juli 1951.

18.1 Beilage

März 51.

Paul, Lieber,

es ist Ostermontag, und ich bin zum ersten Mal aufgestanden, nach einer Krankheit, die nicht sehr arg war, die mir aber sehr wichtig war, die mir fast wunderbar zu Hilfe gekommen ist. Denn ich wusste nicht mehr, wie ich es hier und wie ich es hier mir recht machen sollte. Der erste Fehler war, dass ich eine Woche mein altes Wiener Leben weiterspielte, genau so, als wäre nichts gewesen, dann plötzlich verzweifelt und hysterisch abbrach und nicht aus dem Haus wollte und dabei doch wusste, dass es so nicht immer bleiben könne, und dann kam noch von aussen etwas dazu, das sehr schlimm war und fast schlimmer als alles bisher. Dann kam meine Schwester und dann diese Grippe. Jetzt ist es so still wie nach den Bombenabwürfen im Krieg, wenn sich der Rauch verzogen hatte und man entdeckte, dass das Haus nicht mehr stand und nichts zu sagen wusste; was hätte man auch sagen sollen?

Morgen werde ich vielleicht schon ausgehen, eine Arbeit suchen. Es findet sich immer etwas. Das Telephon ist heute schon ganz still – wie in einem heimlichen, heiteren Einverständnis.

Im Herbst komme ich vielleicht nach Paris. Es hat sich jedoch noch nichts entschieden. Aber auch, wenn ich hierbleiben muss, will ich nicht traurig sein. Ich habe soviel gehabt, soviel genommen, dass es noch lange reichen könnte; aber auch, wenn es nicht reicht – man kommt mit so wenigem aus. Später einmal werden wir sowieso nur wenig Gepäck mitnehmen dürfen, vielleicht überhaupt keines.

Du erwartest ja nicht, dass ich heute schon etwas zu »uns« beiden sage, ich kann jetzt nicht gut denken, ich muss zuerst wegkommen von allem, nur fürchte ich, dass ich dann auch von Dir zu weit weg sein werde.

Schreibe mir bitte zuweilen. Schreibe mir nicht zu vag, erzähle ruhig, dass der Vorhang vor unserem Fenster schon wieder abgebrannt ist und uns die Leute zusehen von der Strasse –

Von Herzen

Deine

Ingeborg

Lass die Nani innig grüssen von mir.

Milo Dor hat sich sehr gefreut.



4. Juli: Ich lege diesen Brief nur bei, – er ist einer von vielen, die meisten sind aber schon zerdrückt – damit Du Dich ein bisschen auskennst.

18.2 Beilage

Juni 1951

Lieber, bitte, kann ich Deine Gedichte von Klaus haben oder kannst Du sie mir bald schicken; ich habe jetzt endlich eine günstige Verbindung mit Deutschland, noch dazu von einem Mann, der Deine Sachen kennt und sehr dran interessiert ist. Ich will alles versuchen und ihn sehr bearbeiten. Es müsste aber ein Manuskript bis Mitte oder Ende August in meinen Händen sein! (Es ist der Heimito von Doderer, vom Beck-Verlag, dem zweitältesten Verlag [in] Deutschland, nach Cotta, – wir haben schon lang über Dich gesprochen).

18.3 Beilage

Wien, den 27. Juni 1951.

Lieber, lieber Paul,

in wenigen Tagen fährt Klaus nach Paris; er soll die vielen Briefe mitnehmen, die ich Dir geschrieben habe, die falschen und die richtigen, ich habe nie den Mut gehabt, sie abzuschicken. Er wird Dir am besten das Wichtigste, was es von hier zu erzählen gibt, sagen können, auch ein wenig von dem anderen, viel Wichtigeren, das man schwer oder überhaupt nicht sagen kann.

Ich weiss nicht, ob ich es versuchen soll.

Ich sehne mich so, so sehr nach Dir und ich bin manchmal fast krank davon und wünsche mir nur, Dich wiederzusehen, irgendwo, aber nicht irgendwann, sondern bald. Aber wenn ich mir vorzustellen versuche, wie und was Du mir darauf antworten könntest, wird es sehr dunkel, es stellen sich die alten Missverständnisse ein, die ich so gerne wegräumen möchte.

Weisst Du eigentlich noch, dass wir doch, trotz allem, sehr glücklich miteinander waren, selbst in den schlimmsten Stunden, wenn wir unsre schlimmsten Feinde waren?

Warum hast Du mir nie geschrieben? War Frau Jené denn noch nicht in Paris? Warum spürst Du nicht mehr, dass ich noch zu Dir kommen will mit meinem verrückten und wirren und widerspruchsvollen Herzen, das ab und zu noch immer gegen Dich arbeitet? – Ich fange ja langsam zu verstehen an, warum ich mich so sehr gegen Dich gewehrt habe, warum ich vielleicht nie aufhören werde, es zu tun. Ich liebe Dich und ich will Dich nicht lieben, es ist zuviel und zu schwer; aber ich liebe Dich vor allem – heute sage ich es Dir, auch auf die Gefahr hin, dass Du es nicht mehr hörst oder nicht mehr hören willst.

Vor dem Herbst kann ich aus Wien keinesfalls weg, ich habe sehr viel Arbeit und kann es mir nicht leisten, die Stelle aufzugeben, die ich angenommen habe. Dann werde ich vielleicht nach Deutschland gehen, um mich umzusehen oder um einige Zeit dort zu bleiben. Mein Pariser Stipendium hingegen wurde auf das Jahr 1952 verschoben. Wie ich das aushalten werde, weiss ich noch nicht, am liebsten möchte ich, um die Zeit zu überbrücken, bis dahin nach Amerika gehen. – Aber alle diese Pläne, von denen ich Dir hier erzähle, sind sehr vage; es kann auch ganz anders kommen – es könnte sein, dass ich hierbleiben muss und nichts von all dem erreiche, was ich in diesem Jahre zu erreichen wünsche.

Lass Dir alles Liebe und alle Liebe von mir geben, die vielen Küsse und Umarmungen, die Du nicht nehmen kannst, lass mich einen Gedanken lang bei Dir sein...

Deine

Ingeborg

19 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Levallois-Perret, 7.7.1951

Paul Celan

p/A Dr. W. Adler

14, Villa Chaptal

Levallois-Perret

(Seine)

Levallois, den 7. Juli 1951.



Meine liebe Inge,

vor einer Woche brachte mir Frau Jené Dein Päckchen, und gestern kam Klaus mit einem weiteren Geschenk von Dir – vielen, vielen Dank für all das! Herzlichen Dank auch für die Briefe: den ersten den ebenfalls Frau Jené mir überbringen sollte, erhielt ich noch vor Wochen, Frau Jené war so liebenswürdig gewesen, ihn noch in Wien aufzugeben, da sie mit einem längeren Aufenthalt an der Saar rechnete und mich nicht warten lassen wollte.

Es ist schwer, diese Briefe zu beantworten, Ingeborg, das weisst Du, Du weisst es sogar besser als ich, weil Du die Situation, in der wir uns nun befinden, von einer Seite her übersehen kannst, die für ihr Entstehen massgebend (um nicht zu sagen: verantwortlich) war. Ich will damit sagen, dass Dir die Umrisse Deiner eigenen Person deutlicher erscheinen dürften als mir, der ich – nicht zuletzt durch Dein allzu beharrliches Schweigen – vor Problemen stehe, deren Lösung nur ein weiteres Problem ergibt und zwar eines von der Art jener, die dadurch entstehen, dass man sie so lange mit Sinn und Signifikanz speist, bis man zu guter Letzt als Absurdum vor ihnen steht, unfähig die Frage zu stellen, wie man dahin gelangt ist. Wäre ich unbeteiligt – wie faszinierend wäre es da, wie sinnvoll auch, dieses doppelseitige Über-sich-hinausgreifen zu verfolgen, diese dialektisch potenzierte Schemenhaftigkeit unserer dennoch mit Blut gespeisten Wirklichkeiten! Indes, ich bin beteiligt, Inge, und so habe ich kein Auge für das, was Du in jener sorgfältig durchgestrichenen, aber doch nicht bis zur Unleserlichkeit getilgten Stelle in einem Deiner Briefe das »Exemplarische« unserer Beziehung nennst. Wie sollte ich auch an mir selber Exempel statuieren? Gesichtspunkte dieser Art sind nie meine Sache gewesen, mein Aug fällt zu, wenn es aufgefordert wird, nichts als ein Auge, nicht aber mein Auge zu sein. Wäre dies anders, ich schriebe keine Gedichte.

Da, wo wir zu stehen glaubten, Inge, da reden die Gedanken den Herzen das Wort, nicht aber umgekehrt. Daß nun aber gerade das Gegenteil sich ereignete, kann eine Handbewegung, mag sie auch die einzige sein, die einem ein schwerer Augenblick noch zugesteht, nicht ungeschehen machen. Nichts ist wiederholbar, die Zeit, die Lebenszeit hält nur ein einziges Mal inne, und es ist furchtbar zu wissen, wann und für wie lange.

Es ist schwer, Dir, gerade Dir vor Augen zu halten, was längst zu Deinen eigensten Beständen gehört, – aber sag, hältst Du es denn für richtiger, durch ein leichthin in die Ferne geflüstertes Wort die Welt noch undurchdringlicher zu machen, als sie ohnehin schon ist?

Ich wäre froh, mir sagen zu können, dass Du das Geschehene als das empfindest, was es auch wirklich war, als etwas, das nicht widerrufen, wohl aber zurückgerufen werden kann durch wahrheitsgetreues Erinnern. Dazu – und nicht nur dazu – brauchst Du Ruhe, Ingeborg, Ruhe und Gewissheit, und ich glaube, Du erreichst sie am besten, wenn Du sie bei Dir und nicht bei andern suchst. Es ist Dir ein Stipendium in Aussicht gestellt worden, Inge, arbeite also diesem Stipendium entgegen und versuche nicht, die Zeit, die Dich von Paris noch trennt, durch eine Reise nach Amerika zu überbrücken. Warum auch Amerika? Kommt es denn wirklich darauf an, gerade da Erfahrungen zu sammeln, wo man sie so gern am Erfolg misst?

Du hast bisher mehr vom Leben gehabt, Inge, als die meisten Deiner Altersgenossen. Keine der Türen ist Dir verschlossen geblieben, und immer wieder tut sich Dir eine neue Tür auf. Du hast keinen Grund, ungeduldig zu sein, Ingeborg, und wenn ich eine Bitte äussern darf, so ist es gerade diese: denk, wie rasch alles Dir zu Gebote steht. Und sei nun ein wenig sparsamer mit Deinen Ansprüchen.

Du hast auch mehr Freunde, mehr Menschen, die um Dich bemüht sind, als wir andern. Vielleicht zu viele. Oder vielmehr: zu viele, die zu wissen glauben, wohin Dein Weg führt. Wo sie doch wissen müßten, daß ihr eigener Weg, der von ihnen bereits beschrittene, sie keineswegs dazu berechtigt, Übersichten von der Art zu gewinnen, die nottut, wenn man Freunde beraten will. Ich habe das Gefühl – und dieses Gefühl wird mir von mehreren Seiten bestätigt –, daß man in Wien nur in den allerseltensten Fällen wirklich auch das ist, was man zu repräsentieren vorgibt. Ich will damit sagen, daß viele der Menschen, die in Wien den Ton angeben, in den meisten Fällen ein verschanztes Ohr haben und einen vorlauten Mund. Diese Feststellung, Du kannst es mir glauben, macht mich ebenso bitter wie Dich, denn ich hänge an Wien, trotz allem. Ich sage Dir all das, weil ich Dich vor einem gewissen Erfolg warnen möchte: er kann nur sehr kurzlebig sein, und Menschen, die wie Du im Schweren beheimatet sind, sollten ihn zu umgehen wissen.

Aber nun genug der guten Ratschläge! Ein Wort noch: Du weißt, ein wie schweres Erlebnis hinter ihnen steht.

Von mir ist nicht viel zu berichten. Ich werde jetzt etwa sechs Wochen bei Bekannten wohnen, an der Peripherie der Stadt, in einem kleinen Häuschen, aus dessen Fenstern man auf drei Lindenbäume hinausblickt. Kein Straßenlärm, keine bummelnden Studenten, keine Amerikaner, die »Paris by night« erleben ... und eine Schreibmaschine. Ich habe wieder ein paar Apollinaire-Gedichte übersetzt, vielleicht bringt sie der ›Merkur‹.

Für Deine Bemühungen um meine Gedichte danke ich Dir besonders. Ich erinnere mich sehr gut an Heimito von Doderer – kannst Du mir seine Adresse schicken? Hattest Du Gelegenheit, Hilde Spiel zu sehen? Sie hat meine im Almanach veröffentlichten Gedichte in der Münchner ›Neuen Zeit‹ auf das liebenswürdigste besprochen – ich hätte ihr so gern persönlich gedankt. Ist Dir bekannt, ob sie nach Paris kommt?

Liebe Inge, ich schließe nun. Ich schließe mit der Bitte, mir öfter und regelmäßig zu schreiben.

Alles Liebe und Schöne!

Paul

20 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 17.7.1951

Wien, den 17. Juli 1951

Lieber Paul,

es macht mich sehr froh, Deinen Brief in den Händen zu halten, und ich hoffe, dass wir damit in ein Gespräch gekommen sind, an dem uns – verzeih, wenn ich das, trotz allem, annehme – vielleicht beiden liegt. Was Du auf das Intimste meiner Briefe zu antworten hast, weht mich sehr kühl an, aber ich verstehe und respektiere Dich zu sehr, um Bitterkeit in mir aufkommen zu lassen, und ich will versuchen, dort fortzufahren, wo Du aus dem allzu Vagen und dem »in die Ferne Geflüsterten« Feststellbares herausgeschält hast, über das sich sprechen lässt.

Ich muss mich wohl etwas unklar ausgedrückt haben, wenn Du annehmen konntest, dass ich an ein »ungeschehen-machen-Können« glaube, und ich bin heute, ganz in Deinem Sinne, für das wahrheitsgetreue Erinnern. In einem Winkel meines Herzens bin ich jedoch eine romantische Person geblieben; das mag Schuld daran tragen, dass ich mir etwas, in wenn auch unbewusster Unredlichkeit, verschönt zurückbringen wollte, was ich einmal, weil es mir nicht schön genug schien, fallen liess.

Deinen Ratschlägen stehe ich ein wenig hilflos gegenüber; was Du von einer Amerikareise hältst – die übrigens kaum zustandekommen dürfte – erschiene mir sehr wichtig, aber ich weiss eben nicht, wie weit Klaus Dir die Voraussetzungen dazu auseinanderlegen konnte – ich denke jedenfalls nicht daran, in Amerika Erfahrungen zu sammeln, meine Einstellung diesem Land gegenüber dürfte sich sehr mit der Deinen decken, ich erwarte mir nichts davon, als die Gelegenheit, mein Englisch zu verbessern. Das hat man mir hier nahegelegt, und man würde mir den Weg ebnen, wenn meine Kenntnisse dann der »Firma« zugute kämen, bei der ich hier beschäftigt bin – zudem würde sich eine Besserstellung finanziell günstig auswirken. Gerade in dieser Beziehung habe ich es hier sehr schwer, und ich weiss eigentlich nicht, was ich mehr fürchten soll: meine Stelle zu verlieren, denn damit muss man immer rechnen, oder sie zu behalten. Das Leben in Österreich ist in diesem letzten Jahr um so vieles härter, um so vieles hoffnungsloser geworden, dass man sehr viel Mut braucht, um sich, jeden Tag von neuem, hineinzufinden. Was Du daher meine Erfolge nennst, denen Du immer – und ich heute eigentlich nicht weniger – skeptisch gegenübergestanden bist, ist mir sehr fragwürdig geworden, dass ich mich fragen muss, worum man mich beneidet. Versteh mich recht, ich will mich nicht bemitleiden und nicht bemitleidet werden – ich möchte es nur klarstellen. Dass ich Ansprüche stelle, vielleicht zu hohe, mag ich mir nicht übel nehmen, das stimmt von all dem, was Du mir vorwirfst, auch dass ich ungeduldig und unzufrieden bin, aber meine Unruhe treibt mich, dessen bin ich gewiss, nicht Wegen zu, auf denen man sich verliert. Ich war einige Male daran, mich gegen mich zu entscheiden, und es ist möglich, dass ich noch einmal und immer wieder zu wählen haben werde zwischen mir und etwas sehr Klarem, das immer mit mir gewesen ist, zwischen einem Menschen, der es sich leicht machen will, der Bequemlichkeit sucht, gefallsüchtig ist und noch vieles mehr, und zwischen dem anderen, von dem und durch das ich wirklich lebe und von dem ich, zuletzt, um nichts in der Welt – ich kann es nur so banal sagen – lassen werde.

Wien ist – wie vielleicht kein anderer Ort – ein Boden für Halbheiten, und man muss sich wirklich hüten, geistig nicht auszurutschen; aber hier kommt mir, das klingt paradox, gerade jetzt mein seltsamer Beruf zu Hilfe (der Ausdruck »job« wäre wirklich besser am Platz), der es mir so deutlich macht, was ich mit der wenigen Zeit, die mir bleibt, zu tun habe, wie sparsam ich sein muss, und das planlose Ausgeben, zu dem man manchmal verleitet wird, reduziert sich gleichsam von selbst auf Weniges, auf Wichtiges.

Von Hilde Spiel weiss ich im Augenblick wenig, sie war im April in Wien und ist vor wenigen Wochen bestimmt noch in London gewesen – das konnte ich einer deutsch-englischen Zeitschrift entnehmen, die ein Interview mit ihr brachte. Ihre Adresse ist Mrs. H. Spiel de Mendelssohn, 20, Wimbledon Close, London SW 20.

Heimito von Doderer bleibt noch den ganzen August in Österreich, er fährt heute auf das Land, will aber jede Woche nach Wien kommen und nach Post und dergl. sehen. Seine Adresse ist: Wien VIII., Buchfeldgasse 6.

Ich wünsche Dir viel Schönes für die stillen Wochen in Levallois. Hast Du Gelegenheit, Nani und Klaus zu sehen? Und kehrst Du dann wieder in die Rue des Ecoles zurück?

Du schreibst gar nicht, ob Du Deinen Plan, nach Österreich zu kommen, fallen gelassen hast. Unlängst sind in der Wiener Sezession Gedichte von Dir gelesen worden. Ich habe das Gefühl, dass Dein Name hier immer weitere Kreise zieht.

Schreib mir, bitte, auch, ob ich Deine Gedichte, die Klaus mir überlassen hat, an Doderer weitergeben soll, oder ob Du selbst sie ihm schicken willst.

Ich bleibe den Sommer über in Wien, vielleicht kann ich fünf Tage Urlaub bekommen und meine Schwester in St. Wolfgang besuchen. Du kannst mir also immer in die Gottfried Kellergasse schreiben – bitte tu es!

Ingeborg

21 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, St. Wolfgang, 30.8.1951

St. Wolfgang, den 30. August.

Lieber Paul,

hoffentlich hast Du meinen Brief diesmal bekommen; ich habe, damals, die Adresse verwendet, die Du auf das Kouvert geschrieben hattest, und erst später entdeckte ich die vollständigere im Brief selbst.

Inzwischen bin ich ins Salzkammergut gefahren. Mein Urlaub ist sehr kurz, eine Woche lang nur, aber ich bin nicht traurig, denn die Tage sind so schön, und in Wien erwartet mich eine neue, bessere Arbeit, die zwar viel von mir verlangen wird, aber in jeder Beziehung zufriedenstellender ist als die bisherige. Ich werde, ziemlich selbständig, im Sender Rot-Weiss-Rot die wissenschaftlichen Sendungen einrichten und im sogenannten Script Department an den Hörspielen mitpfuschen; immerhin könnte das einer Berufsausbildung gleichkommen, und, soweit man überhaupt an Sicherung denken darf, mir die Jahre bis zu meiner Rückkehr an die Universität sichern.

Obwohl ich nun mit der eigentlichen literarischen Abteilung nichts zu tun habe, möchte ich Dich fragen, ob ich aus Deinen neuen Gedichten, die mir Klaus gab, eine Sendung zusammenstellen darf. Ich habe mit Dr. Schönwiese (Salzburg) schon gesprochen, der sie dann in seine Abteilung übernehmen würde. Von dort würden sie dann wieder ins Studio nach Wien zurückgehen und gesendet werden. (Ob ich allerdings Edith Mill als Sprecherin bekomme, weiss ich nicht.)

Klaus hat mich, von Millstatt kommend, sogleich besucht; ich war sehr glücklich drüber, denn ich habe ihn sehr lieb gewonnen, und wenn nun auch noch Nani da sein wird, ist mir weniger bang vor dem Niemandsland Wien.

Das Pariser Stipendium wird von all den Neuerungen nicht berührt, ich werde, wahrscheinlich, Ende September und Anfang Oktober erfahren, ob die Entscheidung auf mich gefallen ist.

Lieber Paul, wenn ich mich heute nach meinen Wünschen frage, meinen wirklichen Wünschen, dann zögre ich, mir Antwort zu geben, ja vielleicht bin ich sogar zur Einsicht gekommen, dass es uns nicht zusteht zu wünschen, dass wir nur ein gewisses Pensum an Arbeit zu erledigen haben, dass, was wir immer tun, ohne Wirkung ist, dass man dennoch zwischen acht Uhr früh und sechs Uhr abends so tun muss, als sei es wichtig, auf ein Blatt Papier einen Beistrich oder einen Doppelpunkt zu setzen.

Um aber nochmals auf die Wünsche zurückzukommen – weil nicht nur ich mir etwas wünsche, sondern auch andere; glaubst Du, dass es Dir möglich wäre, im kommenden Winter, zu Weihnachten etwa, nach Oesterreich zu kommen? Du müsstest Dir für die Zeit Deines Hierseins keine Sorgen machen, Du sollst einmal ausspannen, Dich als Gast fühlen, zu Hause fühlen. Lass jede Empfindlichkeit still sein, ich sage das nicht nur von mir aus, sondern auch im Namen von Klaus, von Nani, von noch einigen anderen, die sich sehr wünschen, Dich hier zu haben, ich spreche ein »bisserl«, so hoffe ich, für Oesterreich, das seine Verpflichtungen Dir gegenüber noch nicht eingelöst hat, und ich spreche zu Dir als dem Dichter und Menschen, der mir, nach allem, noch geblieben ist.

Mit Grüssen und vielen Gedanken!

Ingeborg

22 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, London, 10.9.1951

10.9.51

Liebe Inge, Dein zweiter Brief erreicht mich in London, wo ich noch zwei Tage bleibe (dann ist meine Adresse wieder die alte: 31 rue des Ecoles). Ich freue mich über Deine Erfolge und danke Dir herzlich für Deine so lieben Bemühungen um die Gedichte. Ich schreibe Dir ausführlich aus Paris.

Alles Schöne!

Paul

23 Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Wien, 25.9.1951, nicht abgesandt

Wien, den 25. September 1951

Lieber Paul,

dieser Tage will ich Dir den Ring zurückschicken, den Du mir im vergangenen Jahr gegeben hast; ich weiss nur noch nicht, ob ich [ihn] ohne weiteres der Post anvertrauen kann oder ob ich zuwarten muss, bis jemand nach Paris fährt. Sobald ich mich erkundigt habe, will ich Dir schreiben, ob ich den ersten, einfacheren Weg wählen kann.

Ich muss vorausschicken, dass ich jetzt endlich Gelegenheit hatte, Nani einmal allein zu sehen; es kam also Verschiedenes zur Sprache, Verschiedenes, an dem mir lag, es zu wissen.