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Walter G. Pfaus

Kindstod

Ein Baden-Württemberg-Krimi

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Walter G. Pfaus, Jahrgang 1943, verheiratet, drei Kinder, schrieb schon mit zwölf Jahren seinen ersten Roman. Er war Versicherungsvertreter, selbstständiger Buchhändler und Wirt einer Künstlerkneipe. Seit 1989 arbeitet er als freier Schriftsteller. Pfaus hat etliche Kriminalromane und mehr als hundert Theaterstücke verfasst. Er lebt in Blaubeuren und ist Mitglied in der Krimiautoren-Vereinigung »Syndikat«.

1. Auflage 2013

© 2013 by Silberburg-Verlag GmbH,

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1576-5

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Inhalt

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Motto

Anfang alles wertvollen geistigen Lebens ist der unerschrockene Glaube an die Wahrheit und das offene Bekenntnis zu ihr.

(Albert Schweitzer)

1

Jetzt ist doch noch was Schreckliches passiert. Ziemlich genau fünf Jahre bin ich nun Polizeichef hier im Dorf. Besondere Vorkommnisse hat es in der Zeit nicht gegeben. Vor meinem Antritt als Polizeikommissar im Ort ist allerdings schon mal ein Mord passiert. Da war ich noch Jungspund in Ehingen. Für Kapitalverbrechen war damals für unser Dorf die Kriminalaußenstelle Ehingen zuständig. Der Mordfall wurde ziemlich schnell aufgeklärt. Ich selbst hatte damit eher weniger zu tun. Eigentlich gar nichts.

Wie gesagt, besondere Vorkommnisse gab es in den letzten Jahren nicht. Was nicht heißt, dass mir langweilig gewesen wäre. Es gab genug zu tun. Streitende Betrunkene, kleine Ladendiebstähle, renitente Rathausbesucher, Störer bei Versammlungen, Streit unter Nachbarn, Verkehrsunfälle und noch einiges mehr. Nicht zu vergessen die Ehestreitigkeiten, die ein Polizist so im Laufe eines Jahres schlichten muss.

Ja, und dann war da noch die Hufnagel. Sie ist ungefähr so lästig wie Schnaken bei schwüler Hitze. Selbst der Pfarrer sagte mal seufzend: »Sie ist ein Prüfstein bei meiner Arbeit als Seelsorger dieser Gemeinde. Aber die Wege des Herrn sind halt unergründlich.«

Mich hat sie offensichtlich besonders ins Herz geschlossen. Sie sorgt ständig dafür, dass ich nicht von der Langeweile erschlagen werde. Eine Anzeige pro Woche ist die Regel. Oft gegen unbekannt. Allerdings gehe ich den wenigsten Anzeigen wirklich nach, weil, man kennt ja die Hufnagel. Die hat schon zwei Jungs angezeigt, weil diese sie erst freundlich gegrüßt und danach hämisch gelacht haben. Was soll man mit so einer Anzeige schon machen? Man wirft sie in den Papierkorb oder geht damit aufs Klo.

Am liebsten habe ich Streitigkeiten auf salomonische Art geklärt. Salomonisch deshalb, weil, die Oma Dodel behauptet immer, sie wäre mit dem Wilhelm Dodel verwandt, der von 1892 bis 1913 in dem schönen Städtchen Blaubeuren als Oberamtsrichter sein »Unwesen« trieb. Über die Landesgrenzen hinaus war der Dodel berühmt für seine salomonischen Urteile. In Juristenkreisen nannte man ihn sogar den »schwäbischen Salomon«, »Blautopfkretzer« und vor allem – wie er sich selbst nannte – »dr Dodel vo Blaubeure«. Weil zur damaligen Zeit das Vieh im Stall fast noch wichtiger war als die Ehefrau, erfand der Dodel auch den »Scharfen Eid«. So manchen Eidpflichtigen ließ er sagen: »Jetzt schwätzet Se mir noch: Wohr isch ond i lüg net. So wahr mir sonst mein ganzes Vieh verrecken soll.« Und weil meine Oma, Katharina Dodel, immer wieder davon erzählt hat, habe ich mir dann das Büchlein »Dodeldum« gekauft und die Geschichten über den schwäbischen Salomon gelesen. Das hat mir so gut gefallen, dass ich es unbedingt auch mal anwenden wollte. Der Erfolg war einfach umwerfend. So umwerfend gut, dass ich das zwischenzeitlich mindestens zehn oder gar schon zwölf Mal wiederholt habe.

Als Beispiel nehme ich mal am besten die Geschichte mit dem Richard und der Hufnagel. Die Hufnagel kümmert sich um das eine oder andere Grab auf dem Dorffriedhof, weil die Angehörigen des oder der Verstorbenen weit weg wohnen. Das macht sie, weil der Pfarrer ihr das geraten hat. Dafür bekommt sie von den Angehörigen ein bisschen Geld. Eines Tages kommt sie auf den Friedhof, um die Blumen der ihr anvertrauten Gräber zu gießen. Da sieht sie, wie der Richard Mager sich über das Grab der verstorbenen Frau Helfer beugt. In der Annahme, der Richard wolle Blumen klauen, hat sie ihm in ihrer furchtlosen Art aus ihrer Gießkanne Wasser ins Gesicht geschüttet. Nun sollte man annehmen, dass der Richard Anzeige erstattet hätte. Aber falsch. Die Hufnagel hat Anzeige gegen den Richard erstattet. Wegen Beleidigung. Ich habe die beiden in meine Amtsstube gebeten. Der Richard blieb bei seiner Aussage, er hätte die vom Regen herausgespülte Pflanze wieder in die Erde gedrückt. Plötzlich und völlig unerwartet wäre dann die Hufnagel neben ihm gestanden und hätte ihm Wasser ins Gesicht geschüttet. Daraufhin hätte er ganz anständig zu ihr gesagt, dass sie eine Sau sei.

Ich habe die Hufnagel in meiner salomonischen Art gefragt, ob sie glaubt, dass eine Sau eine Gießkanne halten und damit schütten könne. Was sie natürlich verneinte. Also habe ich ihr geraten, von der Anzeige Abstand zu nehmen. Weil, wenn eine Sau Wasser geschüttet hätte, könne man dagegen gar nichts machen. Wenn aber eine Frau einem Mann Wasser ins Gesicht schüttet, ist das ein tätlicher Angriff und das kann sogar mit Gefängnis bestraft werden. Das hat sie dann eingesehen. Sie ist aus dem Raum gestampft und hat die Tür so zugeschlagen, dass das Bild vom Polizeipräsidenten zu Boden gekracht ist. Noch Tage später habe ich Glassplitter vom Boden aufgesammelt.

Bei meinen Nachforschungen wegen der übrigen Hufnagel-Anzeigen kam nur wenig heraus. Auch nicht bei den Drohbriefen, die sie manchmal bekommt. Meistens wird sie darin nur beschimpft. Wobei Lompamensch, Planschkuah, Schnättergosch, Schnalle und Wetterhex noch die harmlosesten Ausdrücke sind.

Ansonsten geht es im Dorf im Großen und Ganzen recht gesittet zu. Da bleibt natürlich auch nicht aus, dass der eine oder andere schon mal bemerkt: »Du schiebst im Dorf doch eine recht ruhige Kugel.«

Alleine schiebe ich die »ruhige Kugel« allerdings nicht. Jedenfalls nicht immer. Aber meistens. Weil, mein Kollege Benno Holzer ist oft weg, auf Lehrgängen, Weiterbildungen und so. Er hat nicht vor, als Dorfpolizist zu versauern, sagt er immer. Er will weiterkommen, zur Kripo, und da am liebsten zur Mordkommission. Also bin ich doch oft alleine. Zur Verstärkung hole ich mir da sehr häufig und sehr gern eine Kollegin aus Blaubeuren. Die Marina Domino. Mit der arbeite ich am liebsten zusammen.

Das passt dem Kollegen Haberkorn natürlich gar nicht. Weil, so sagt er, wenn sie bei mir ist, fehlt sie bei ihm. In Kollegenkreisen munkelt man, wir beide, die Marina und ich, hätten was miteinander. Woher das Gerücht kommt, wissen wir nicht. Aber ich vermute sehr stark, dass der Haberkorn es in die Welt gesetzt hat. Dass das aber nicht der Wahrheit entspricht, wissen wir beide, die Marina und ich, wohl am besten. Freilich, ich mag sie sehr und sie mich auch. Das merkt man ja als Mann. Doch so richtig zusammen, also intim und so, waren wir noch nicht. Geküsst habe ich sie schon. Mehrmals. Eigentlich sogar sehr oft. Das bleibt ja auch nicht aus, weil, manchmal ist sie einfach zu süß. Mehr war aber noch nicht. Wenn es nach der Marina ginge, wären wir beide längst schon ein Paar. Irgendwann werde auch ich mal so weit sein, wenn ich meine Scheidung und das Trauma mit meiner Mutter verdaut habe. Aber im Moment traue ich mich noch nicht.

Ganz zum Leidwesen von Oma Dodel. Ich habe das Glück, in dem Dorf Polizist zu sein, in dem auch meine Oma wohnt. Oma Dodel ist die beste Köchin weit und breit. Gut, vielleicht liegt es auch daran, dass sie nur das kocht, was ihr Lieblingsenkel gern mag. Dass ich ihr einziger Enkel bin, wiegt natürlich doppelt, und dass sie ganz vernarrt in Marina ist, wiegt in dem Fall sogar dreifach.

Also so weit wäre alles in Ordnung. Nur das mit dem Telefon ist nicht in Ordnung. Es klingelt penetrant. Und das frühmorgens um zehn nach neun. Dabei habe ich mir vorgenommen, heute mal länger zu schlafen. Auch dem Polizeichef im Dorf steht das mal zu. Schließlich ist es gestern spät geworden. Sehr spät sogar.

Auch wenn ich gestern Abend nicht richtig im Dienst war. Ein bisschen Dienst war es doch. Weil nämlich der Siegfried Löhle, seines Zeichens erster Vorstand des Schützenvereins, mich gebeten hat, doch als zweiter Vorstand des Vereins zu kandidieren. Dass ich einstimmig gewählt werden würde, davon war er fest überzeugt.

Er konnte allerdings nicht verhehlen, welchen Zweck er mit meiner Wahl zum zweiten Vorsitzenden verfolgte. Obwohl er es nicht offen aussprach, war mir klar: Nicht der Privatmann Hanno Köberle, sondern der Polizist Köberle sollte in den Vorstand gewählt werden. Nach all den Amokläufen in der letzten Zeit sind die Schützenvereine bei einem Großteil der Bevölkerung ziemlich in Ungnade gefallen. Vor allem die Sache in Winnenden. Das hat die Menschen aufgewühlt, hat sie fast aggressiv gemacht. Aggressiv im Sinne von: Weg mit den Waffen! Tausende von Menschen im Ländle sind dem Aufruf auch gefolgt und haben freiwillig ihre Waffen bei der Polizei oder auf den Rathäusern abgegeben. Mit einem Polizisten als zweitem Vorsitzenden hofft der Verein nun, das unverschuldet ramponierte Image wieder aufpolieren zu können. Ich wünsche es dem Verein schon, weil ich ja selber schon seit vier Jahren Mitglied bin.

Die Hufnagel musste natürlich auch ihren Senf dazugeben. »Warum heißen Schützen Schützen, wenn sie nicht schützen, sondern schießen?«, hat sie gefragt. Ich habe das an den Löhle weitergegeben und der hat mir dann das Götz-Zitat an den Kopf geworfen, mit der freundlichen Aufforderung, es an die Hufnagel weiterzuleiten. Ich habe das aber nicht gemacht. Dafür habe ich sie bei ihrer nächsten Anzeige einfach ignoriert. Ich habe einen wichtigen Termin vorgeschoben und sie einfach stehen lassen. Das kann sie gar nicht leiden.

Gestern Abend bin ich also tatsächlich einstimmig zum zweiten Vorsitzenden gewählt worden. Danach habe ich viele Hände schütteln und auch viel Wein trinken müssen.

Trotz des viel zu viel genossenen Weines habe ich heute Morgen überraschenderweise einen klaren Kopf. Der Hiller hat mir das vorhergesagt. Der Hiller Manfred ist für den Einkauf beim Schützenverein zuständig. Er kauft nur guten Wein, hat er gesagt. Nur Württemberger Trollinger oder Trollinger mit Lemberger.

»Und nur von seinem Schwager in Heilbronn«, hat der Löhle grinsend erwähnt.

»Kannst du dich beschweren?«, hat ihn der Hiller fast beleidigt gefragt. »Erstens ist der Wein sehr gut und zweitens bekomme ich noch Rabatt.«

»Den Rabatt hast du uns ja noch gar nicht probieren lassen«, hat der Löhle darauf mit total ernstem Gesicht gesagt. Den Witz hat der Hiller dann nicht verstanden und ist einfach weggegangen. Er ist halt immer schnell beleidigt.

2

Alles wäre also an diesem Morgen wunderbar gewesen, wenn dieses blöde Telefon nicht so penetrant geläutet hätte. Und wenn ich nicht abgehoben hätte. Aber als pflichtbewusster Beamter nehme ich den Hörer halt doch aus der Station. Und damit war es endgültig vorbei mit der »ruhigen Kugel«. Von nun an würde im Dorf nichts mehr so sein, wie es einmal war.

»Köberle«, melde ich mich.

»Hab ich dich geweckt, Hanno?«, erkundigt sich der Störenfried. Die Stimme kommt mir zwar irgendwie bekannt vor, aber ich weiß im Moment nicht, wo ich sie einordnen soll.

»Und wer glaubt, mich geweckt zu haben?«, frage ich deshalb zurück.

»Ich bin es, Max.«

»Max? Max wer?«

»Na, Max.« Eine Weile war es still. Ich versuche mich zu erinnern, wie viele Leute mit Namen Max ich kenne. Da fährt er fort: »Max Hufnagel, der Stille mit der lauten Frau.«

»Ach, du bist es, Max! Tut mir leid, dass ich dich nicht gleich an deiner Stimme erkannt hab. Aber ich hab eine lange, feuchte Nacht hinter mir.«

»Ja, ich hab schon davon gehört, dass du dich zum zweiten Vorsitzenden des Schützenvereins hast wählen lassen. Du weißt ja, ›SIE‹ weiß alles und ›SIE‹ erzählt mir auch alles. Ich wette, du bist einstimmig gewählt worden.«

»Wette gewonnen. Aber deshalb holst du mich doch sicher nicht aus dem Bett. Und sag jetzt bloß nicht, dass deine Frau dich vorschickt, um eine Anzeige zu machen. Das würde ich dir dann schon sehr übel nehmen. Ich wollte mir nämlich heute mal einen freien Tag nehmen.«

»Den freien Tag wirst du dir ein anderes Mal nehmen müssen. Es liegt ein totes Kind in meiner Garage.«

»Ein totes Kind?«

»Ja. Sieht aus, als wäre es ein Neugeborenes. Ich habe mit so was zwar keine Erfahrung, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das Kind tot ist.«

»Und wie kommt ein totes Kind in deine Garage?«

»Das weiß ich doch nicht.« Es klang fast ein wenig ärgerlich. »Komm her und sieh es dir an.«

»Aber da muss ich doch erst die Kripo …«

»Das kannst du auch von hier aus machen«, drängte der Max jetzt. »Ich weiß nicht, wie lange ich die Leute noch von meiner Garage fernhalten kann.«

»Wieso wissen das schon andere Leute? Hat deine Frau wieder …«

»Sie hat doch das tote Kind in der Garage entdeckt. Und dann hat sie geschrien wie am Spieß. Das Geschrei hat schon die ganze Nachbarschaft angelockt und ich fürchte, es werden bald noch mehr kommen.«

»Halt die Stellung!«, befehle ich ihm. »Lass niemanden in die Garage. Ich beeile mich. Aber mit zwanzig Minuten musst du schon rechnen.« Ich warte erst gar keine Antwort ab, drücke das Gespräch weg und stelle mich kurz unter die Dusche. Dann wähle ich die Nummer der Kriminalaußenstelle Ehingen. Ich stelle auf Lautsprecher. Marion Meggle, die seit einigen Monaten die Anrufe entgegennimmt, meldet sich. »Köberle hier«, sage ich, während ich mich anziehe. »Kann ich den Chef sprechen?«

»Ist es dringend?«

»Sehr dringend. Wir haben ein unbekanntes totes Kind im Dorf.«

»Gut, ich verbinde.«

»Köberle!«, dringt kurz darauf die laute Stimme von Moosbauer aus dem Telefon. Moosbauer ist immer so laut. Als Chef muss man so laut sein, hat der Hirnbein mal gesagt. Und der Hirnbein muss es ja wissen, weil er mal Moosbauers Nachfolger werden will. »Was gibt es? Aber machen Sie es kurz. Ich bin gerade in einer wichtigen Besprechung.«

»Wir haben hier ein totes Kind. Jemand hat ein totes Neugeborenes in einer Garage abgelegt.«

»Sind Sie schon vor Ort?«

»Nein, noch nicht. Ich wurde eben erst benachrichtigt.«

»Von wem?«

»Von Max Hufnagel, dem Besitzer der Garage. Seine Frau Luise hat das Kind entdeckt.«

»Könnte sie selbst was damit zu tun haben?«

»Nicht direkt. Eher indirekt.«

»Geht das auch etwas genauer?«

»Das Ehepaar Hufnagel ist kinderlos. Er ist um die sechzig und Frührentner. Sie dürfte im selben Alter sein, also jenseits des gebärfähigen Alters. Dafür gebiert sie Klatsch in allen Variationen.«

»Dann meinen Sie also, jemand könnte ihr aus Rache das tote Kind in die Garage gelegt haben?«

Schnelle Auffassungsgabe hat er, der Chef, das muss man ihm lassen.

»Könnte durchaus sein«, sage ich. »Sie hat sich im Dorf eine Menge Feinde gemacht. Eine Anzeige pro Woche ist normal. Sie sieht anscheinend alles und weiß alles. Selbst wenn sie Hundescheiße auf dem Bürgersteig sieht, kann sie sagen, von welchem Hund die stammt.« Ich habe mich inzwischen in meine Uniform gezwängt.

»Na wunderbar«, sagt Moosbauer. »Dann wird sie doch auch wissen, wer ihr das tote Kind untergeschoben hat.«

»Ich fürchte, sie wird glauben, es zu wissen. Nur darf man ihr nicht alles glauben.«

»Köberle, Sie machen das schon.«

»Heißt das, ich kriege keine Unterstützung von euch oder so?«, erkundige ich mich.

»Ich schicke Ihnen die Spurensicherung aus Ulm. Mehr ist im Moment nicht drin. Ihr seid doch schon zu zweit.«

»Ich bin allein«, erkläre ich ihm. »Der Holzer liegt doch im Krankenhaus. Blinddarm.«

»Ach, so was hat der noch?«, witzelt Moosbauer.

»Ich habe so was auch noch«, sage ich.

»Dann müssen Sie eben vorerst ohne den Holzer klarkommen. Dafür haben Sie ja auch noch den Blinddarm.«

Hahaha. Es ist eine wahre Freude, so einen witzigen Chef zu haben. »Dann leihe ich mir die Domino aus.«

»Die hat Urlaub. Aber das wissen Sie doch.«

»Nein, das weiß ich nicht. Sie hat sich nicht bei mir abgemeldet. Muss sie ja auch nicht, oder?«

»Dann ist sie auch noch nicht weg«, höre ich den Moosbauer sagen. »Sie wird nicht in Urlaub fahren, ohne Ihnen Bescheid zu geben.«

»Dann glauben Sie also auch, was in Kollegenkreisen so herumfährt«, sage ich.

»Was fährt denn so herum?«, fragt Moosbauer. Es klingt, als wüsste er nichts. Aber ich weiß, dass er es weiß, und darum werde ich jetzt auch etwas lauter.

»Dass ich mit der Domino was hätte! Das ist durchaus nicht der Fall. Ich schätze sie als verlässliche Kollegin mit Spürsinn, Einfühlungsvermögen und Intuition. Und ich mag sie ja auch, das gebe ich gern zu. Mehr ist da aber nicht. Sollte jemals mehr daraus werden, informiere ich Sie.«

»Ich habe nichts anderes erwartet.«

»Ich wollte das nur mal gesagt haben. Vielleicht sollte man das mal an die Kollegen weitergeben.«

»Schon gut, Köberle. Darüber reden wir noch.«

»Falls die Domino noch zu Hause sein sollte, bin ich überzeugt, dass sie den Urlaub verschieben wird, wenn ich sie darum bitte. Aber vielleicht wäre es doch besser, wenn Sie mir …«

»Hören Sie, Köberle, wir haben im Moment wirklich einen personellen Engpass. Ich habe selbst Verstärkung aus Ulm angefordert. Ob ich welche kriege, entscheidet sich demnächst. Wir haben doch da den immer noch nicht geklärten Mord an dem Spielhallenbetreiber. Und dann ist da auch noch der Mann, der seine Frau mit einem Messer attackiert und schwer verletzt hat. Aber er streitet alles ab und die Frau ist noch nicht vernehmungsfähig. Es steht überhaupt noch nicht fest, ob sie durchkommt. Zwei Einbrüche sind auch noch zu klären und …«

»Gut, gut, ich mach’s alleine. Bei der Domino fahre ich gleich vorbei. Aber Sie sagen dem Haberkorn Bescheid, sonst macht der wieder einen Aufstand wie beim letzten Mal.«

»Ich rufe ihn an. Köberle, Sie machen das schon. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Moosbauer hat aufgelegt. Ich rufe noch kurz Oma Dodel an, dann besteige ich mein fast nagelneues Dienstfahrzeug.

3

Ich bin schon kurz davor, auf die B 492 einzubiegen, als mir einfällt, dass die Marina ja umgezogen ist. Sie hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen. »Hallo, Hanno! Marina hier. Wohne jetzt in Ehingen-Berkach, Nelkenweg 28.« Fertig. Mehr nicht. Und das ohne Vorankündigung. Ich hätte ihr ja beim Umzug helfen können. Aber vermutlich wollte sie das nicht. Ich drehe eine Runde auf dem neuen Kreisverkehr, fahre den Weg zurück und benutze den Schleichweg.

Als ich vor dem Haus Nummer 28 aus dem Wagen steige, fällt mir doch noch ein, dass sie mal nebenbei erwähnt hat, irgendwann umziehen zu wollen. Sie hat aber nicht gesagt, wann, und auch nicht, wohin. Und jetzt wohnt sie so nah bei mir. Gerade mal drei Kilometer entfernt. Das gefällt mir ausnehmend gut.

Sie öffnet mir im Schlafanzug. »Oh Gott.«

»Hanno. Hanno reicht.«

»Was führt dich so früh am Morgen zu mir?«, erkundigt sich Marina.

»Ist es dir zu früh? Soll ich später wiederkommen?«

»Entweder du machst mir jetzt einen Heiratsantrag oder du raubst mich aus. Für was anderes bin ich noch zu müde.«

»Wie wäre es mit einem Drink?«

»Wenn du nichts Besseres zu bieten hast?«

»Ich lege noch einen Kuss drauf.«

»Nicht mehr?«

»Mittagessen bei meiner Oma.«

»Bei diesem Angebot kann ich nicht nein sagen.« Marina ist hellhörig geworden. Mein Wunsch nach einem Drink am frühen Morgen, mein unangekündigtes Auftauchen in der neuen Wohnung – es musste etwas passiert sein. Sie macht Platz und ich gehe an ihr vorbei ins Wohnzimmer.

Es ist größer und heller als das in ihrer vorhergehenden Wohnung in Schelklingen. Die Eckcouch ist ganz neu. Der Fernseher ebenfalls. Ein Bücherregal ist auch noch dazugekommen. Bis jetzt hatte sie ihre Bücher immer in Kartons aufbewahrt. Nur der schöne Wohnzimmerschrank ist noch derselbe. Marina steht schon vor dem Schrank und hat die Tür zum reichhaltig gefüllten Barfach geöffnet. »Trinkst du noch den schottischen Malt?«

»Immer noch.«

»Aber du bist doch nicht nur wegen dem Drink gekommen.«

»Nein, wegen dir. Ich wollte dich mal wieder sehen.«

»Lügner. Eigentlich sollte ich dir keinen Drink geben.« Sie macht die Schranktür wieder zu. »Du hast lange gebraucht, um mich zu besuchen.«

»Du bist umgezogen.«

»Das dürfte nicht neu für dich sein. Ich habe es dir auf den Anrufbeantworter gesprochen.«

»Ach, du warst das?«

»Wie viele Frauen kennst du, die Marina heißen?«

Ich zähle an den Fingern auf acht. »Eine. Dich.«

»Na, siehst du. Warum bist du nicht früher gekommen?«

»Du weißt auch, wo ich wohne.«

»Ich war noch nie in deiner Wohnung.«

»Ich in der hier auch nicht. Was ist mit dem Malt?«

»Was ist mit dem Kuss?«

Ich küsse sie sanft auf den Mund.

Sie sieht mich an und wartet darauf, dass noch mehr folgt. Nachdem von mir aber nichts mehr kommt, sagt sie: »Das ist aber nur einen kleinen Drink wert.«

»Mehr darf ich auch nicht. Ich bin im Dienst.«

»Ich nicht. Ich habe Urlaub.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Was?«

»Ab sofort bist du im Dienst.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

Marina holt tief Luft. »Polizeioberkommissar Hanno Köberle, du wirst dir doch nicht schon wieder Schwierigkeiten einhandeln wollen.«

»Mit Schwierigkeiten dieser Art lebe ich recht gut.«

»Du brauchst mich wieder mal. Sehe ich das richtig?«

»Das siehst du richtig.«

»Ist Holzer wieder auf Schule?«

»Nein, Krankenhaus. Blinddarm.«

»Oh. Trotzdem …«

»Falls du Bedenken wegen dem Haberkorn hast, das erledigt der Moosbauer.«

»Der Moosbauer ist einverstanden, dass du mich zur Verstärkung anforderst?«, erkundigt sich Marina ungläubig.

»Dem Moosbauer geht es zur Zeit gar nicht gut«, sage ich grinsend. »Viel zu wenig Leute. Urlaub, Krankenstand und einige ungelöste Fälle. Das mag er gar nicht.«

»Und was hast du, dass du mich brauchst?«

»Ein totes Neugeborenes in der Garage von Max Hufnagel. Seine Frau hat das tote Kind entdeckt.«

»Ach du lieber Himmel! Auch noch dieses Klatschmaul. Um den Fall bist du nicht zu beneiden.«

»Wir«, verbessere ich sie. »Wir sind nicht zu beneiden. Ich kann doch mit dir rechnen?«

»Und was ist mit meinem Urlaub?«

»Ich lass mir was einfallen, als Entschädigung. Und jetzt zieh dich schon an. Der Max hat Probleme, die Leute von seiner Garage fernzuhalten.«

Sie geht ins Schlafzimmer. Gleich darauf steht sie nackt im Türrahmen. »Und warum glaubst du, dass ich die Richtige für diesen Fall bin?«

Ich sehe sie einen Augenblick an. Dann halte ich mir die Augen zu und wende mich ab.

»Was ist los?«, fragt Marina harmlos.

»Sieh in den Spiegel, dann weißt du, was los ist.«

»Ich weiß, was ich sehe, wenn ich in den Spiegel schaue. Ein alterndes Weib mit Orangenhaut auf Hüften und Oberschenkeln und hängender Brust.«

»Wirf den Spiegel weg. Er gibt ein falsches Bild von dir. Ich sehe ganz was anderes.«

»Du siehst gar nichts. Du hältst dir die Augen zu.«

»Ich will nicht von deiner Schönheit geblendet werden.«

»Hanno, ich sag’s noch mal: Du bist ein Lügner.« Ich höre, wie sie ins Schlafzimmer zurückgeht. »Aber du lügst immer an den passenden Stellen.«

»Was ist jetzt mit dem Malt?«, lenke ich ab. Das mache ich meistens, wenn ich mich aus einer für mich kritischen Situation herauswinden will. Natürlich wäre ich jetzt am liebsten zu ihr ins Schlafzimmer gerannt, hätte sie in den Arm genommen und hätte mich mit ihr in ihr noch warmes Bett gelegt.

Aber das kennt man ja. Dann ist nichts mehr so, wie es vorher war. Eigentlich wäre mir das ganz recht gewesen, und der Marina sicherlich auch, weil, sonst hätte sie sich mir ja nicht nackt unter der offenen Tür gezeigt. Wir zwei, die Marina und ich, ein Paar. Das wäre einfach wunderbar. Oma Dodel würde mir auch um den Hals fallen und die Marina noch mehr verwöhnen, als sie es ohnehin schon tut. Im Moment ist das aber nicht möglich, weil der Max Hufnagel sonst noch lange hätte auf uns warten müssen. Ich öffne die Schranktür zum Barfach und entdecke einen irischen Malt.

»Hast du schon gesehen?«, ruft Marina aus dem Schlafzimmer. »Ich habe eine neue Malt-Sorte, einen irischen. Tyrconnell.«

»Ich habe ihn schon entdeckt. Ich kenne ihn. Er ist hervorragend.«

»Ich wusste doch, dass du ihn mögen wirst.«

Ich schenke etwas von dem Whisky in zwei Gläser und warte. Nach knapp zehn Minuten kommt Marina angezogen aus dem Schlafzimmer. Sie sieht einfach umwerfend aus. Hübsches, rundes Gesicht, volle Lippen, schwarzes, schulterlanges Haar und braune Augen. Manchmal, wenn mich diese sanften braunen Augen ansehen, beginne ich sofort zu schmelzen. Ich muss dann immer sofort ablenken. Eines steht fest: Weit und breit kenne ich keine hübschere Polizistin. Wenn ich jetzt nicht in jeder Hand ein Glas gehalten hätte, wer weiß, was dann passiert wäre. Ich weiß nur: Irgendwann werde ich ihr zu Füßen liegen.

»Ist es dir recht, wenn ich in Uniform mitkomme?«

»Das machst du absichtlich«, sage ich fasziniert.

»Was?«

»So toll auszusehen.«

»Hanno, du bist ein Schmeichler. Aber ein lieber. Ich wünschte, es gäbe mehr Kollegen wie dich.«

»Ich bin froh, dass es nicht so viele gibt. Sonst würden eventuell meine Chancen bei dir sinken.«

»Die sinken auch, wenn du nicht bald über Nacht und zum Frühstück bleibst.«

»Jetzt trinken wir erst mal den kleinen Whisky und dann fahren wir zu der kleinen Leiche.«

Ich reiche ihr das Glas und wir trinken beide aus. Marina stellt die leeren Gläser auf den Tisch, legt die Arme um mich und küsst mich. Es wird diesmal ein etwas längerer Kuss.

»Los, komm jetzt«, sage ich. »Wir sind schon spät genug dran.« Wenige Minuten später fahren wir in den Hof von Max Hufnagel.

4

Eine Menge Leute stehen inzwischen vor dem Haus der Hufnagels. Einige halten Abstand, stehen am Straßenrand. Andere stehen im Hof herum und diskutieren. Max hat sich vor dem Garagentor aufgebaut und versucht, einen Mann daran zu hindern, das Tor zu öffnen.

Ich stelle mich neben Max. »Hat jemand die Garage betreten?«, frage ich ihn.

»Außer mir niemand«, sagt Max. »Aber der hier will unbedingt hinein.«

Es ist der Händele Martin, wie ich jetzt erst sehe. Er ist etwas größer als ich, schlank, Mitte vierzig, trägt einen speckigen Trainingsanzug, ist unrasiert und hat eine Säufernase. Ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse. Im Dorf nennt man ihn den Händelmate, weil er oft und gern Streit sucht.

»Warum wollen Sie unbedingt da rein?«, frage ich ihn. Er gehört zu den Leuten im Dorf, die ich nicht duze und die mich auch nicht duzen dürfen.

»Oifach so«, sagt er. »I will sehn, was da drin liegt. I bin halt neugierig wia de andere ao.«

»Dann gehen Sie jetzt da raus zu den anderen Neugierigen. Raus aus dem Hof.« Ich wende mich an die Leute im Hof. »Bitte machen Sie den Hof frei. Jeden Augenblick können die Leute von der Spurensicherung kommen. Die kommen meistens mit drei oder vier Autos. Es gibt ohnehin nichts zu sehen.«

Ein paar Vernünftige kommen meiner Bitte nach, andere nicht. Zusammen mit Marina gelingt es mir, den Hof freizuhalten. Nur der Händelmate braucht eine Extraaufforderung.

»Würden Sie sich bitte auch zu den anderen begeben«, sage ich überfreundlich.

»Wieso? Do isch doch Platz gnua.«

Für solche Fälle habe ich mir einen bestimmten, streng wirkenden Gesichtsausdruck zugelegt. Den habe ich so oft vor dem Spiegel und vor Marina geübt, bis er auf Anhieb sitzt. Dazu verleihe ich meiner Stimme einen Ton, der deutlich macht, dass ich keinen weiteren Widerspruch dulde. Und zur besseren Durchsetzung meiner polizeilichen Macht leihe ich mir eine Redewendung unserer Kanzlerin Angela Merkel aus, die diese benutzt, um glaubwürdig zu klingen.

»Sie wissen es vielleicht noch nicht, deshalb sage ich es Ihnen jetzt ›in aller Deutlichkeit‹: Ich sage ungern etwas zweimal!«

Es wirkte. Ich bin immer wieder überrascht, wie wirkungsvoll so ein Satz sein kann. Der Händelmate sieht mich einen Moment verblüfft an. Ein kurzes Aufflackern von Widerstand kommt dann doch noch. »I kann do stehn …«

»Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?«, fahre ich ihn an. Diesmal trollt er sich tatsächlich.

Ich hebe das Garagentor ein Stück hoch. Drinnen ist der blaue Ford Focus von Max zu sehen. Daneben, schräg an die Wand gelehnt und angekettet, lehnt das Fahrrad seiner Frau. Dahinter befindet sich an der rechten Wand ein Werkzeugschrank. Zwischen dem Schrank und der hinteren Garagenwand ist noch ein halber Meter Platz für einen Spaten und eine Hacke. Zwischen Garagenwand und Fahrrad liegt ein in ein Tuch eingewickeltes Etwas auf dem Betonboden.

»Schlüpf mal kurz rein«, sage ich zu Marina. »Aber sei vorsichtig. Verwisch keine Spuren.«

Marina bückt sich, geht hinein und kommt sofort wieder zurück. »Da muss man kein Arzt sein, um zu sehen, dass das Kind schon seit ein paar Stunden tot ist. Ich vermute, dass es schon tot zur Welt kam. Es ist sehr klein, richtig winzig. Könnte ein Frühchen sein.«

»Außer dir war sonst niemand in der Garage?«, frage ich den Max.

»Nur ich. Ich war aber nur kurz drin. Ich wollte sehen, ob das Kind vielleicht noch am Leben ist. Das musste ich doch machen, oder?«

»Sonst niemand?«

»Nicht, seit Luise das Kind entdeckt hat.«

»Deine Frau war also auch nicht drin?«

»Nein, sie hat nur hier an dem Platz gestanden und geschrien wie am Spieß.«

»Sie hat also das Garagentor aufgeschlossen und …«

»Wir schließen das Tor nie ab.«

»Und warum nicht?«

»Es lässt sich nur sehr schlecht schließen. Man braucht viel Kraft dazu. Die Luise hat die Kraft nicht. Also lehnt sie das Tor immer nur an. Ich schließe mein Auto immer ab und sie kettet in der Garage ihr Fahrrad an.«

Ich hebe das Garagentor noch mal kurz an. Es quietscht nur leicht in den Angeln.

»Ich weiß, ich hätte es längst richten sollen …«, versucht sich Max zu entschuldigen.

»Schon gut«, winke ich ab. »Kannst du dir vorstellen, wer das Kind ausgerechnet hier abgelegt haben könnte?«

»Meine Frau denkt …« Er bricht ab.

»Ja?«

»Du hast doch auch gehört, dass die Carmen Langer wieder im Dorf ist.«

»Ich hab so was gehört. Aber keiner wusste so recht, ob es stimmt, dass sie schwanger ist.«

»Meine Frau ist sich sicher. Sie hätte die Carmen gesehen, sagt sie, und die Carmen wäre hochschwanger gewesen.«

»Die Carmen ist wieder da?«, fragt Marina überrascht.

»Noch ist es ein Gerücht«, sage ich. »Gesehen wurde sie bisher nur von der Frau Hufnagel.« Ich sehe Max an. »Das stimmt doch, oder?«

»Nein. Auch die Frau Meringer soll sie gesehen haben«, sagt Max.

»Kennst du die Carmen näher?«, erkundige ich mich.

»Näher? Na ja, was heißt da schon näher. Ich habe sie öfter mit ihrem kleinen Hund spazieren gehen sehen. Einmal haben wir uns kurz unterhalten. Über ihren Hund. Er heißt Goliath, weil, wenn er schon klein ist, soll er wenigstens einen großen Namen haben, hat sie mir erklärt. Mehr war nicht. Aber das ist wirklich schon sehr lange her. Sie ist ja auch schon fast ein Jahr weg.«

»Kennt deine Frau die Carmen näher?«

»Das musst du sie schon selber fragen.«

»Und wo ist sie? Im Haus?«

»Meine Frau im Haus? Wo denkst du hin? Wo es so viel zu erzählen gibt, bleibt meine Frau doch nicht im Haus. Das solltest du eigentlich wissen.«

»Ja«, seufze ich. »Ich kann es mir denken. Hat sie gesagt, wo sie hinwill?«

»Sie wollte zum Pfarrer. Aber ob sie da noch ist?« Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht ist sie ja auch noch gar nicht bis zu ihm gekommen. Wenn sie heimkommt, erfahre ich es.«

»Die Carmen ist doch damals mit irgend so einem Kerl abgehauen«, sagt Marina.

»Ja, ich weiß«, antworte ich. »Auf die Bitte ihrer Mutter habe ich den Kerl mal überprüfen lassen. Er heißt Fred Dobermann. Die Kollegen in Ulm haben dem Dobermann dann auch einen Besuch abgestattet. Eine junge Frau, die sich als Carmen Langer ausgewiesen hat, war bei ihm. Er hat den Kollegen versichert, dass er mit der Carmen seine große Liebe gefunden hätte. Richtig glauben konnten es die Kollegen in Ulm nicht. Aber nachdem die Carmen ihnen bestätigt hat, dass sie freiwillig bei dem Mann ist, mussten sie wohl oder übel abziehen. Dobermann ist in Ulm kein Unbekannter. Man verdächtigt ihn, mit Rauschgift zu handeln. Außerdem soll er sich an Autoschiebereien beteiligt haben. Und er stand schon unter Mordverdacht. Er soll einen Autohändler umgebracht haben. Aber man hat ihm nie was nachweisen können.«

»Das klingt ja ziemlich beunruhigend«, sagt Max erschrocken.

»Das fand ich auch. Aber offensichtlich wurde er in den letzten Wochen und Monaten nicht mehr auffällig, sonst hätten mich die Kollegen informiert.«

»Ich frag mal die Barbara«, schlägt Marina vor. »Vielleicht weiß die mehr. Sie und Carmen waren doch mal befreundet.«

»Gut, mach du das«, sage ich.

In diesem Moment fährt Pfarrer Gottwald mit dem Fahrrad in den Hof. Er lehnt das Rad an die Hauswand. Der Pfarrer ist ein groß gewachsener, kräftig gebauter Mann mit dunkelblondem, schon etwas schütterem Haar und sympathischer Ausstrahlung. Er trägt eine schwarze Hose und einen hellgrauen Pullover.

»Ist das Kind da drin?«, fragt er Max und deutet auf das Garagentor.

»Da können Sie jetzt aber nicht rein«, sage ich abwehrend. »Wegen der Spuren. Schließlich wollen wir ja herausfinden, wer das Kind da abgelegt hat. Und die von der Spurensicherung waren noch nicht da.«

»Das Kind ist tot, Herr Pfarrer«, sagt Marina. »Die letzte Ölung kommt da zu spät.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer die Mutter des Kindes sein könnte?«, frage ich den Pfarrer.

»Ich könnte da jetzt das weitergeben, was mir die Frau Hufnagel erzählt hat …«

»Das wissen wir schon«, sage ich. »Sie kennen doch alle im Dorf. Wissen Sie, wer zurzeit schwanger ist?«

»Ich kenne nicht alle. Nur meine Schäfchen, also Katholiken. Und von denen sind nur die Helen Maurer und Christine Grassel schwanger. Die eine ist im sechsten, die andere im siebten Monat. Sonst wüsste ich im Moment keine. Sie kennen doch sicher mehr Leute, als Polizist.«

»Wir werden auf jeden Fall ein paar Besuche machen müssen«, sage ich.

»Könnte ich mich mal mit der Barbara unterhalten?«, wendet sich Marina an den Pfarrer. »Sie war doch mit der Carmen befreundet.«

»Ich weiß nicht«, sagt Pfarrer Gottwald zögernd. »Es geht ihr gerade nicht besonders. Sie hat wieder mal einen ihrer Migräne-Anfälle. Das nimmt sie immer ziemlich mit.«

»Ich werde sie nicht lange aufhalten.«

»Gut, wenn ich hier ohnehin nichts tun kann …« Er geht zu seinem Fahrrad. »Kommen Sie. Reden wir mit der Barbara. Ich fürchte nur, sie wird auch nicht mehr wissen.«

»Ich komme dann nach, wenn die von der Spurensicherung hier fertig sind«, sage ich.

Die beiden gehen weg. Pfarrer Gottwald schiebt sein Rad neben Marina her. Max und ich stehen jetzt blöd vor dem Garagentor herum. Der Händelmate ist schon wieder ein Stück näher gekommen. Aber so richtig traut er sich doch nicht.

Dann kommen sie endlich. Erst zwei Autos. Dann kommt noch ein weiteres hinterher. Die drei Autos spucken vier Männer und eine Frau aus. Ich kenne nur den Joachim Großmann. Kurz kläre ich ihn auf und ziehe das Garagentor hoch. Der Kollege, der zuletzt gekommen ist, hat eine Kamera dabei. Er macht eine Menge Fotos von dem toten Kind. Dann setzt er sich wieder in seinen Wagen und fährt weg.

»Mit Spuren ist da wohl nicht viel«, sage ich zu Großmann.

»Nein, Betonboden gibt nicht viel her. Wir werden uns auf das Kind und das Tuch beschränken müssen.«

»Wie hoch sind die Chancen, dass man herausfindet, wer die Mutter ist?«

»Das ist Arbeit der Kollegen in Ulm – und deine«, sagt Großmann.

»Vermutlich bleibt es an mir alleine hängen«, sage ich. »Die in Ulm haben im Moment Personalmangel.«

»Ich habe davon gehört. Aber ich denke, es ist ohnehin besser, wenn du das zunächst alleine machst. Du kennst doch die Leute hier. Und du weißt, wie du mit ihnen umgehen musst. Bisher hast du das doch immer gut hingekriegt. Außerdem, so viele Schwangere wird es sicher nicht geben.« Er deutet zur Garage. »Oder in diesem Fall: gegeben haben.«

»Könnte ja auch eine von auswärts sein«, vermute ich.

»Kann sein, kann auch nicht sein. Wenn du uns eine Verdächtige hast, können wir anhand der DNA schnell feststellen, ob sie die Richtige ist.«

»Was ist es denn? Mädchen oder Junge?«

»Mädchen. Vermutlich eine Frühgeburt. Näheres kann ich dir in zwei Tagen sagen.«

Ich verrate nicht, dass ich eventuell schon jemanden habe. Ich will nicht voreilig sein. Das ist nicht meine Art. Außerdem glaube ich grundsätzlich nichts, was von der Hufnagel kommt. Damit bin ich bisher recht gut gefahren.

Eine halbe Stunde später ist alles vorbei. Der Hof von Max Hufnagel ist wieder leer. Selbst der Martin Händele hat sich verzogen. Ich setze mich in meinen blau-weißen Dienst-Jaguar und fahre als Erstes zu Carmens Mutter.

5

Das Haus von Britta Langer steht am anderen Ende des Dorfes. Idyllisch gelegen an einem kleinen Bach. Es ist ein kleines, sehr altes Haus, das der Josef Haller immer wieder mal mit notdürftigen Reparaturen vor dem Zerfall rettet. Der Josef ist ein ortsansässiger Schreinermeister, der sich Chancen bei der Witwe Langer ausrechnet. Obwohl sie einige Jahre älter ist als er.

Die Britta Langer ist aber auch immer noch eine Augenweide. Sie ist dreiundfünfzig Jahre alt, wie sie mir mal sagte. Aber man sieht es ihr nicht an. Sie hat kastanienbraunes Haar und ist immer dezent geschminkt. Eine wirklich hübsche Frau.

Ich muss nicht klingeln. Sie öffnet schon die Tür, als ich auf das Haus zugehe. Natürlich ist sie wieder gestylt wie für einen Ball. »Sie ist nicht da«, empfängt sie mich, bevor ich was sagen kann.

»War sie denn da?«

»Das hat mich dieser … dieser Hund auch gefragt.«

»Sie meinen den Dobermann.«

»Sag ich doch, Hund!«

»Und?«

»Was und?«

»War sie da?«

»Nein. Seit sie damals mit dem Hund weggegangen ist, hab ich sie nicht mehr gesehen. Ein paar Mal hat sie angerufen, jedes Mal hat sie gesagt, dass es ihr gutgeht. Wenn Sie mir damals nicht erzählt hätten, dass sie in Ulm mit dem Hund zusammenlebt, wüsste ich nicht mal das.«

»Und warum sucht der Dobermann sie?«

»Fragen Sie ihn. Mir hat er es nicht gesagt.«

»Aber er sucht Ihre Tochter?«

»Fragen Sie den Hund. Ich weiß es nicht.«

»Die Carmen soll schwanger sein. Wussten Sie davon?«

»Nein … Das heißt ja. Ja und nein, also halb.«

»Die Hufnagel war bei Ihnen, stimmt’s?«

»Sie hat gesagt, sie hätte die Carmen gesehen. Hochschwanger. Und jetzt liege ein totes, neugeborenes Kind in ihrer Garage.«

»Jetzt vermutet sie wohl, dass Carmen das tote Kind in ihre Garage gelegt hat?«

»Ach, tut sie das? Mir hat sie gesagt, sie wäre sich ganz sicher. Dieses elende Weib! Wer die zur Frau hat, braucht keine Feinde mehr.«

»Sie mögen sie wohl nicht?«

»Ich mag sie wie das Dreckfressen.«

»Aber Frau Langer.« Ich versuche, meiner Stimme einen vorwurfsvollen Klang zu geben, was mir aber nicht gelingt.

»Ich sage, was ich denke.«

»Den Dobermann mögen Sie dann vermutlich auch nicht?«

»Wie Scheiße fressen.«

»Frau Langer«, tadele ich und verkneife mir ein Lachen. »Was ist das für eine Ausdrucksweise?«

»Keine Ausdrucksweise. Seine Sprache.«

Ich wende mich ab, will gehen, weil, darauf kann ich ihr nicht antworten. Ich hätte ihr Recht geben müssen. Aber als Polizeibeamter muss ich mich da ein wenig zurückhalten. Ich bin noch keine zwei Schritte weg, da hält mich ihre Stimme zurück und diesmal klingt sie besorgt, fast weinerlich.

»Glauben Sie, der Hund will ihr was antun?« Ihr Gesicht ist jetzt von Angst gezeichnet.

»Ich werde auf jeden Fall alles tun, um das zu verhindern«, verspreche ich.

»Danke.« Es ist fast nur ein Flüstern. Dann wendet sie sich um und geht ins Haus.

6

Das Pfarrhaus steht in der Mitte des Dorfes, etwas zurückgesetzt inmitten eines schönen Gartens. Ein breiter Weg führt über das Grundstück zu einer Garage und zum Haupteingang des Pfarrhauses. Um in das Besucherzimmer im Pfarrhaus zu gelangen, muss man erst durch einen kleinen Vorraum. Der dient manchmal als Warteraum, wenn sich mehrere Personen beim Pfarrer angemeldet haben. Und das kommt schon öfter mal vor, weil, unser Pfarrer Gottwald ist ja nicht nur für unser Dorf seelsorgerisch zuständig. Er betreut auch noch drei weitere, etwas kleinere Gemeinden.

Die Möblierung des Vorraumes besteht aus zwei gut erhaltenen und schön bemalten Bauernschränken. Dazwischen befindet sich eine Holzbank. An der gegenüberliegenden Wand steht ein kleiner Holztisch. Zwei Stühle mit lederbezogenen Sitzflächen dienen den Wartenden als Sitzgelegenheit. Vor zwei Jahren waren es nur einfache Holzstühle.

Im angrenzenden Besucherzimmer des Pfarrers höre ich schon die Stimme von Marina. Ich gehe, ohne anzuklopfen, hinein. Marina und der Pfarrer sitzen an einem großen Eichentisch. Rechts an der Wand steht ein mit Papieren überhäufter Schreibtisch. Daneben ein Aktenschrank mit mehreren beschrifteten Aktenordnern und zwei Reihen Büchern. Seitlich am Aktenschrank hängt eine Soutane. Barbara Seidel ist nicht da. »Konntest du schon mit ihr reden?«, frage ich Marina.

»Nein, sie schläft. Ich will sie jetzt nicht wecken.«

»Sie wird uns wahrscheinlich auch nicht viel sagen können«, vermutet der Pfarrer. »Wenn sie etwas wüsste, hätte sie es mir sicher schon gesagt.«

»Und die Carmen hat sich nie bei der Frau Seidel gemeldet?«, erkundige ich mich.

»Doch. Sie hat drei- oder viermal angerufen. Jedes Mal hat sie behauptet, es gehe ihr gut.«

»Das hat die Frau Langer auch gesagt.«

»Sie waren schon bei ihr?«, fragt der Pfarrer.

»Ja, gerade eben. Aber die Hufnagel war schneller. Sie hat der Frau Langer erzählt, das tote Kind in ihrer Garage hätte ihr bestimmt die Carmen hineingelegt.«

»Das geht jetzt aber zu weit!«, regt sich Pfarrer Gottwald auf. »Das kann sie doch nicht machen.« Er sieht mich an. »Können Sie denn nichts dagegen unternehmen?«

»Das versuche ich doch schon seit Jahren«, sage ich. »Aber vom Gesetz her ist nichts zu machen. Neugier und Mitteilungsbedürfnis sind nun mal nicht strafbar.«

In dem Moment kommt Barbara Seidel herein. Sie ist etwa Mitte dreißig, vollschlank, hat dunkles, halblanges Haar und ein hübsches Gesicht. Eigentlich. Aber jetzt sieht sie eher aus wie ein leicht übergewichtiges Häufchen Elend. Ihre Augen sind gerötet und die dunklen Ringe unter ihren Augen wirken wie aufgemalt. Sie hält mir ihr Handy hin.

»Eine SMS von der Carmen.« Ihre Stimme ist schwach.

»Bin geflohen«, lese ich laut. »Habe ein Gespräch belauscht und etwas Furchtbares über Fred und seinen Kumpan Schärf erfahren. Wenn er mich erwischt, bringt er mich um.«

»Klingt nicht gut«, sagt Marina nach einem Moment der Stille.

»Das klingt wirklich nicht gut«, sage ich. »Wir müssen sie finden, bevor Dobermann sie findet.«

»Ich hab ihr geantwortet«, sagt Barbara. Sie wirkt nach wie vor schwach und krank. »Ich hab ihr gesagt, sie soll hierherkommen. Hier ist sie am sichersten.« Sie sieht den Pfarrer an. »Das war doch richtig?«

»Das war schon richtig«, antwortet Pfarrer Gottwald. »Das Haus Gottes ist für jeden ein Zufluchtsort, der Hilfe braucht. Und da gehört das Pfarrhaus dazu.«

»War das die einzige Nachricht, die du bisher von ihr bekommen hast?«, frage ich Barbara.

»Sie hat in den letzten Monaten ein paar Mal angerufen und mir versichert, dass es ihr gutgeht.«

»Wann war der letzte Anruf?«

»Ich weiß nicht … Vor fünf oder sechs Wochen.«

»Und die SMS ist gerade erst gekommen?«

»Ja.«

»Gut«, sage ich. »Dann machen wir uns jetzt auf die Suche nach ihr. Falls sie hier bei euch ankommt, möchte ich das aber wissen.«