Einleitung

Obgleich die jüngste Publikationsliste über Korea wesentlich kürzer ausfällt als die über seine beiden großen Nachbarn China und Japan, gibt es Korea-Bücher in deutscher Sprache, die vielfältige Informationen über das Land bieten. Der vorliegende Band ist aber ein anderes Buch über Korea: Vor allem entstammt es den Federn zweier engagierter Autoren. Einer von ihnen hat mehrere Dekaden lang leidenschaftlich für Demokratie und die friedliche Wiedervereinigung des Landes gekämpft und dafür gelitten. Der Andere hat seit den 1980er Jahren den mutigen Kampf vieler Koreaner für eine gerechte Sache verfolgt und streckenweise hautnah miterlebt. Mit diesem „leidenden und solidarischen Geist“ haben die Autoren vielfältige Stimmen der Akteure in der turbulenten Geschichte eines Landes vernommen und dokumentiert, das in mehrfacher Hinsicht harte Schicksale erlitt. Eine grausame Kolonialzeit führte zur tragischen Teilung Koreas, das nach einem verheerenden Bürgerkrieg, der aufgrund seiner Internationalisierung fast zu einem Dritten Weltkrieg geführt hätte, brutale Militärdiktaturen und aufopferungsvolle Kämpfe für Demokratie und Wiedervereinigung erlebte.

Erfolgsgeschichten über Südkorea, das mit Hyundai-Autos und Samsung-Handys unverzichtbare Geräte einer globalisierten Welt produziert, und Gruselgeschichten über Nordkorea, die nur Hungersnöte und das Hantieren eines Diktators mit Atombomben zum Thema haben, sind die allgemein wahrgenommenen Informationen über das geteilte Land. Um solche grobschlächtigen Vereinfachungen zu vermeiden, präsentieren die Autoren facettenreiche Kontrastbilder inklusive vieler Kontrollfragen, sodass der vorliegende Band auch ein Buch über das andere Korea ist.

Um die Prozesse auf der koreanischen Halbinsel im historischen Kontext angemessen zu verstehen, ist es bedeutsam, sich auch und gerade auf Paradoxien einzulassen. Vieles in diesem Teil Nordostasiens mutet ebenso paradox wie surreal an. Einige Beispiele seien genannt:

Die „Koreanische Mauer“ ist das Ergebnis eines Ende Juli 1953 unterzeichneten Waffenstillstandsabkommens, das bis heute nicht in einen Friedensvertrag überführt wurde. Korea war weltweit der einzige Ort, wo ein US-amerikanischer General – in Personalunion Kommandeur der dort stationierten US- und UN-Truppen sowie der südkoreanischen Streitkräfte (mit Ausnahme der präsidialen Leibgarde) – als Oberbefehlshaber beziehungsweise Prokonsul residierte.

Betrug das jährliche Prokopfeinkommen im Südkorea der 1950er Jahre umgerechnet weniger als 100 US-Dollar, so ist man heute in Seoul stolz darauf, die 20.000-Dollar-Marke überschritten zu haben. Genoss die Bevölkerung im Norden langjährig eine im internationalen Vergleich gute (Aus-)Bildung, Gesundheitsfürsorge und Nahrungsmittelversorgung, so ist Nordkorea seit Ende der 1980er – nicht zuletzt durch den Zusammenbruch des Realsozialismus und mehrerer Naturkatastrophen – wirtschaftlich in eine schwere Dauerkrise (inklusive Hungersnöten) geraten.

Wurde Südkorea bereits 1996 nach Japan als zweites asiatisches Land in den erlauchten Klub der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aufgenommen und präsentiert sich dessen Hauptstadt Seoul als kosmopolitische Metropole und lärmender Moloch mit glitzernden Glas- und Betonfassaden, fühlt man sich in Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang in die Zeit der Großen Proletarischen Kulturrevolution in das China der 1960er Jahre zurückversetzt.

Wähnt sich die Zivilregierung in Seoul als aufgeklärt, offen und demokratisch, so stützt sie sich noch immer auf ein Nationales Sicherheitsgesetz, das archaisch zu nennen eine maßlose Untertreibung wäre. Bekennt sich Nordkorea offiziell zum „Sozialismus eigener Prägung“, so praktiziert seine Führung eine Politik, in der sich neokonfuzianische Verhaltenskodices, rigider Etatismus, Personenkult und Glorifizierung des Militärischen auf eigentümliche Weise verschränken.

Ein besonderes Paradox in der Dekade der „Sonnenscheinpolitik“ (1998-2008) bestand darin, dass eine südkoreanische Regierung auf Annäherung und Ausgleich mit dem Norden bedacht war, obwohl deren mächtigste Verbündete, die USA, diesen Prozess brüsk ausbremste. Während seit dem Amtsantritt von Barack Obama im Januar 2009 zumindest schrille Kriegstöne gegen Pjöngjang unterblieben, demonstrierte der im Februar 2008 als Südkoreas neuer Präsident vereidigte Lee Myung-Bak, weshalb sein Spitzname „der Bulldozer“ lautet.

Dieses Band ist kein lexikalisches Nachschlagewerk über das moderne Korea, sondern ein insgesamt sechs Kapitel umfassendes Buch über die politisch-historische Entwicklung des Landes mit seinen Kulminationspunkten im vergangenen Jahrhundert. Im ersten Kapitel wird skizziert, wie es Japan gelang, sich trotz widerstreitender Interessen westlicher Kolonialmächte als Regionalmacht in Ostasien zu etablieren und Korea als Kolonie (1910–45) zu annektieren. Werden im zweiten Abschnitt die Ursachen der Nachkriegsentwicklung behandelt, die 1948 zur endgültigen Spaltung des Landes in zwei Staaten und schließlich zum ersten „heißen Krieg“ während der Dekaden des Kalten Krieges führten, konzentriert sich das dritte Kapitel auf die Nachkriegsepoche, die geprägt war von Entfremdung, auseinandergerissenen Familien, tiefem Misstrauen und wechselseitigen Feindbildern.

Der vierte Teil geht ausführlich auf das Jahrzehnt einer „Sonnenscheinpolitik“ ein, in deren Verlauf versucht wurde, eine Annäherung beider Länder zu erwirken und den Streit um Nordkoreas Atomprogramm zu entschärfen. Im fünften Abschnitt erfährt man, warum dieser Prozess in den letzten Jahren in eine Sackgasse geriet. Das abschließende sechste Kapitel beleuchtet die Chancen für eine dauerhafte Friedensregelung auf der Halbinsel im Kontext der jeweiligen Interessen und Machtkalküle der VR China, Japans, Russlands und der USA. Vor dem Hintergrund des plötzlichen Todes des nordkoreanischen Führers Kim Jong-Il am 17. Dezember 2011 ist mehr denn je eine fundierte, nüchterne Analyse der Perspektiven in Korea und der nordostasiatischen Region vonnöten. Eine Nachbetrachtung mit dem Titel „Nordkorea verstehen – aber wie?“ soll dem Lesenden einen anderen Umgang mit der Volksrepublik vorstellen.

Chronologien und Landesübersichten über beide Korea runden den Band ab, der dem deutschsprachigen Leserkreis erstmalig ein tiefes Verständnis der komplexen Problemlage in Korea vermittelt.

Die Autorenschaft der Beiträge ist jeweils an deren Ende mit dem Kürzel „(DYS)“ für Du-Yul Song beziehungsweise „(RW)“ für Rainer Werning kenntlich gemacht. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und um zur vertiefenden Lektüre anzuregen, schließen die Texte jeweils mit einer Liste weiterführender Literatur und Links ab. Für den Gastbeitrag von Andreas Niederdeppe „Kampf im Äther“ und die Zusammenstellung „Republik Korea (Südkorea) im Überblick“ von Heiko Herold bedanken sich die Autoren herzlich. Besonderer Dank gebührt dem Korea-Verband e.V. (Berlin) für die finanzielle Unterstützung.

Die Transkription der koreanischen Namen erfolgt gemäß der revidierten Romanisierung. In Korea, Japan und China ist es überdies Usus, zuerst den Familiennamen und dann den Vornamen zu nennen.

Dieses Buch widmen die beiden Autoren zwei langjährigen Weggefährten und ebenso herausragenden wie unvergesslichen Persönlichkeiten – dem Komponisten Isang Yun (1917–1995) und dem Philosophen Günter Freudenberg (1923–2000). Während ihrer Lebzeiten engagierten sie sich leidenschaftlich für ein versöhntes und friedliches Korea und haben dafür auf je unterschiedliche Weise gelitten.

Berlin/Köln, im Februar 2012,
Du-Yul Song & Rainer Werning

Kapitel I 
Japans Aufstieg zur Regionalmacht in Ostasien –
Korea als Kolonie (1910–1945)

Führer Asiens

Ende des 19. Jahrhunderts begann Japans gewaltsamer Aufstieg zur Regionalmacht, der auch die koreanische Halbinsel prägen sollte.

Um 1850, nach drei Jahrhunderten westlicher Expansion, waren Süd-, Südost- und Ostasien in Kolonialgebiete der europäischen Staaten aufgeteilt. Mit zwei Ausnahmen: Das Königreich Siam (Thailand) vermochte als Puffer zwischen britischen und französischen Herrschaftsansprüchen seine Unabhängigkeit weitgehend zu wahren. In Japan hatten sich die seit 1192 nahezu ungebrochen herrschenden Shogune (Shogun = „der die Barbaren bezwingende große General“) gegenüber dem Ausland weitgehend abgeschottet. Lediglich auf der eigens aufgeschütteten Insel Dejima in der Bucht von Nagasaki war holländischen Kaufleuten von dem regierenden Tokugawa-Clan der Unterhalt einer Handelsniederlassung gestattet worden.

Der gesamte indische Subkontinent, einschließlich Ceylons und Burmas, bildete zusammen mit der Kronkolonie Hongkong, der malaiischen Halbinsel und dem an deren Südspitze gelegenen Singapur einen Teil des britischen Empires. Der daran angrenzende Riesenarchipel, der sich von Osten nach Westen über 5.000 Kilometer erstreckt, zählte als Niederländisch-Indien zum holländischen Imperium. Die andere Inselgruppe in Südostasien, die Philippinen, waren eine Domäne Spaniens. Dessen langjähriger Rivale Portugal kontrollierte auf dem chinesischen Festland die Enklave Macao und den östlichen Teil der zu Niederländisch-Indien gehörenden Insel Timor. Die Franzosen schließlich hatten sich in Vietnam, Laos und Kambodscha festgesetzt und nannten dieses Kolonialgebiet „Indochina“. China, zu jener Zeit politisch zu schwach, um sich wirksam gegen Übergriffe von außen zu wehren, stand im Mittelpunkt der Herrschaftskalküle sämtlicher damaliger Großmächte.

Als „Spätankömmlinge“ unter den Kolonialmächten trafen das Deutsche Kaiserreich und die Vereinigten Staaten von Amerika in Asien ein. Die USA entschieden sich erst nach hitzigen Kongressdebatten zwischen den sogenannten Isolationisten und den Interventionisten, in China und Südostasien Stellung zu beziehen, als sie 1898 Spanien als neue Kolonialmacht auf den Philippinen beerbten. Hatten die Isolationisten mit dem Argument, der nordamerikanische Binnenmarkt sei groß genug, gegen ein koloniales Engagement gestimmt, optierten die Interventionisten beziehungsweise Imperialisten im Gegenzug für eine offensive Kolonialpolitik. Die Philippinen sollten den USA als Sprungbrett dienen; von dort aus wollte man „die schier unermesslichen chinesischen Bodenschätze und Märkte erschließen“, wie es wiederholt Redner im amerikanischen Kongress formuliert hatten. Über eine Pazifikflotte verfügten die USA bereits, bevor sie die pazifischen Inseln Hawaii und Guam annektierten und US-Soldaten im Sommer 1898 siegreich in die philippinische Hauptstadt Manila einmarschierten.

Gewaltsame Öffnung Japans

Jahrhundertelang hatte sich Japan gegenüber dem Ausland abgeschottet, bis 1854 eine amerikanische Flotte unter dem Befehl von Kommodore Matthew C. Perry die selbst gewählte Isolation des Inselreiches gewaltsam beendete und das Land für den Außenhandel öffnete. Dieses Ereignis markierte den Anfang vom Ende des Feudalsystems der Tokugawa-Herrschaft, das durch eine waffentechnisch weit überlegene, neue aufstrebende imperialistische Macht im Pazifik ins Wanken gebracht wurde. Letztlich aber zerbrach die Feudalordnung auch aufgrund innenpolitischer Konflikte: Bauernaufstände, Missernten, die Ausbeutung der Bevölkerung durch hohe Steuern und ein erstarrtes Gesellschaftssystem mit rigider Etikette veranlassten reformorientierte junge Samurai (Kriegsadelige) aus verschiedenen Lehnsgebieten des Landes zum Aufstand. Zur Abwehr der Bedrohung aus dem Westen wollten sie sich dessen technologisches Wissen aneignen, um es zu einem späteren Zeitpunkt gegen ihn selbst zu kehren. Gleichzeitig drangen sie darauf, anstelle der Militärherrscher aus dem Hause Tokugawa die kaiserliche Macht wiederherzustellen. Nur kurz dauerten die Auseinandersetzungen zwischen den Samurai und Shogunen an, bis ab 1868 Kaiser Mutsuhito (1852–1912) als neuer Regent antrat. Seine Herrschaft stellte er unter die Devise der „erleuchteten Regierung“ (Meiji). Anstelle von Kioto wurde die Stadt Edo zur neuen Hauptstadt Tokio ernannt.

Was folgte, war ein beispiellos rascher und tiefgreifender Wandel in Wirtschaft, Politik und Technik. Zunächst wurden gezielt Kontakte mit dem Ausland geknüpft, um sich Ideen für die Umgestaltung des Staates zu suchen. In diesem Prozess der japanischen Filtrierung der westlichen Moderne war es folgerichtig, dass das Land auch und gerade systematisch den Rat und die Expertise von Ausländern suchte. Unter den um 1890 etwa 3.000 in Japan tätigen ausländischen Experten gab es deutsche Sachverständige für Universitäten und medizinische Schulen, amerikanische Helfer für Landwirtschaft, Postverkehr und Diplomatie, britische Berater für das Eisenbahnwesen und die Kriegsmarine, französische Fachmänner für Kriegführung und juristische Fragen und schließlich italienische Ratgeber für die westliche Kunst. Diese mit Bedacht getroffene Auswahl spiegelte einerseits die japanische Gesamtbeurteilung der damaligen Lage im Westen wieder. Andererseits zeigte sie auch den, wie der japanische Politologe Maruyama Masao es formulierte, „Teufelskreis von ‚Außen’-Universalismus und ‚Innen’-Bodenständigkeitsdenken“, in dem das Land gefangen war. Für Japan bedeutete die europäische Moderne zuallererst den Einsatz von Maschinen und neuen Techniken. Deren Weiterentwicklung bescherte dem Land eine rasante Industrialisierung, sodass Japan später nicht nur China, sondern auch Russland militärisch besiegen konnte und sich in Ostasien als neue hegemoniale Macht etablierte.

Kriegsregime

Der Aufbau des Kaiserreiches auf industrieller Grundlage (wie diese Politik offiziell genannt wurde) war möglich geworden, weil der in der Landwirtschaft geschaffene Mehrwert gezielt in den industriellen Bereich überführt wurde. Mit Steuergeldern, die der Staat als Grundsteuer Bauern und Pächtern abverlangte, wurden Handelshäuser und Industriebetriebe gegründet. Zunächst entstanden Betriebe der Leichtindustrie, die sich auf die Herstellung von Fasern, Textilien und Kleidung verlegten. Doch schon bald investierte der Staat auch in strategische Bereiche, wie den Schiffsbau, die Stahl-, Schwer- und Rüstungsindustrie. Die Gewerbefreiheit wurde ebenso garantiert wie die freie Berufswahl. Träger dieses Industrialisierungsprozesses war im Gegensatz zu Europa keine aufklärerisch-moderne bürgerliche Unternehmerschicht, sondern ein dem Kaiser ergebener Adel und die reichen Händler.

Um 1890 war das neue Herrschaftssystem so weit gefestigt, dass in der Verfassung die uneingeschränkte Macht des Kaisers festgeschrieben wurde und sich dieser auf ein stehendes Heer mit allgemeiner Wehrpflicht stützen konnte. „Der Kaiser ist heilig und unverletzlich“ hieß es in der Verfassung, und er wurde dazu legitimiert, als direkter Nachfahre der Sonnengöttin Amaterasu mit unbeschränkter Machtfülle zu regieren. Als Souverän des Landes stand der Tenno an der Spitze von Armee und Marine sowie von Exekutive und Legislative. Der Wahlspruch „Reiches Land, starke Armee“ offenbarte, wie herausragend künftig die Rolle des Militärs sein würde.

Im Gegensatz zum Westen hatte die Armee traditionell eine politische Führungsrolle inne und genoss innerhalb der Bevölkerung hohes Ansehen. Sie wurde weder von der Regierung kontrolliert noch vom Parlament. Dieses konnte nur sehr begrenzt Einfluss auf das Budget der Streitkräfte nehmen. Gemäß der japanischen Verfassung kommandierte der Kaiser Armee und Marine, während die militärische Kontrolle in der Vorkriegszeit dem Kriegs- und Marineminister sowie den Generalstabschefs beider Waffengattungen oblag, eine Stellung, die ihnen ein hohes Maß an Unabhängigkeit sicherte. Beide Minister gehörten zwar dem Kabinett an, sie durften aber jederzeit am Premier vorbei direkt beim Kaiser vorstellig werden. Darüber hinaus konnten sie mit einem Rücktritt gleichzeitig den Rücktritt des Premierministers und die Bildung einer neuen Regierung erzwingen. Denn laut Verfassung existierte kein funktionstüchtiges Kabinett ohne einen Kriegs- und einen Marineminister. Da diese in der Regel vom jeweiligen Generalstab vorgeschlagen wurden oder sich aus deren Rängen rekrutierten, konnte das Militär nicht nur jede zivile Opposition in Schach halten, sondern faktisch über Fragen von Krieg oder Frieden entscheiden.

Wirtschaftsboom und militärische Expansion

Ökonomisch erlebte die japanische Wirtschaft um 1900 eine Boomphase. Bis 1905 war der Prozess der Konzentration und Zentralisierung von Kapital zu Oligopolen so weit vorangeschritten, dass sich nahezu sämtliche Großbanken, Industriebetriebe und Verkehrsmittel des Landes im Besitz von einem halben Dutzend staatlich protegierten Großfamilien befanden (unter ihnen die Familien Mitsui, Mitsubishi, Satsume und Okura). Von diesen Unternehmen war außerdem eine Vielzahl kleiner und mittlerer Zulieferfirmen abhängig. Vom weiteren Aufbau der Schwerindustrie profitierten wiederum die Streitkräfte. Deren Sieg über die chinesischen und russischen Armeen (1894/95 bzw. 1904/05) sowie die Annexion Koreas 1910 (siehe nächster Text in diesem Kapitel – d. A.) rückte erstmals ins öffentliche Bewusstsein des Westens, dass Japan sich anschickte, zur Regionalmacht in Ost- und Nordostasien aufzusteigen.

Der Erste Weltkrieg bescherte Japan einen ungeheuren Wirtschaftsaufschwung, da unter anderem Europas Großmächte auf Kriegswirtschaft umgestellt und die asiatischen Märkte vernachlässigt hatten. Als Partner des französisch-englischen Bündnisses gegen Deutschland besetzte Japan die deutschen Kolonien und Pachtgebiete in China und baute seine Interessen in der Mandschurei aus.

In den 1920er Jahren erhielten die zivilen Kräfte in der japanischen Politik einen kurzzeitigen Schub. Nicht nur wurden Vertreter des Bürgertums gegenüber dem Militär in der Politik gestärkt. Es entstanden auch erste Arbeiterparteien, einschließlich der kommunistischen Partei, sowie radikale Gewerkschaftsverbände und Bauernbewegungen. Durch internationale Abkommen sollten die militaristischen Tendenzen eingedämmt werden.

Mit der Unterzeichnung der Washingtoner Verträge (1921-22) wurde der Status quo im Pazifik festgeschrieben. Ihre wichtigsten Punkte lauteten: Anerkennung der Souveränität und territorialen Integrität Chinas, Verbot des Baus zusätzlicher Befestigungsanlagen auf einigen pazifischen Inseln und eine Beschränkung bei der Schiffsproduktion.

Doch bereits zu Beginn der 1930er Jahre hatte sich die Lage grundlegend geändert und steuerte wieder auf Krieg zu. Die weltweite Wirtschaftskrise verschonte auch Japan nicht. In den Städten und auch auf dem Land gab es immer mehr Arbeitslose und es gärte in der Bauernschaft, da zahlreiche Bauern über Nacht zu verarmten Pächtern geworden waren. Wachsende Armut und Unzufriedenheit boten faschistischen und chauvinistischen Kräften eine Basis, um ihre Ziele lautstark zu propagieren. Dass die USA ab 1924 keine japanischen Immigranten mehr ins Land ließen, war Wasser auf ihre Mühlen.

1931 gelang es China, einen Teil seiner an Japan verlorenen Hoheitsrechte in der Mandschurei wiederzuerlangen, was in Japan, vor allem in der Armee, Besorgnis auslöste. Schließlich war die Mandschurei nicht nur reich an Bodenschätzen, sondern auch mit Blick auf Russland von strategischer Bedeutung. Ohne die politischen Verantwortlichen in Tokio konsultiert zu haben, schlug die in der Mandschurei stationierte Kwantung-Armee eigenmächtig zu und besetzte im September 1931 mehrere Großstädte in der Region. Mehr noch: Sie brachte den Rest der Mandschurei unter ihre Kontrolle, installierte dort ein Marionettenregime des Vasallenstaates „Mandschukuo“ und rüstete sich für den weiteren Vormarsch in die nördlichen Provinzen Chinas. Als dieses Vorgehen innerhalb des Völkerbundes auf Unmut stieß, verließ Japan im Jahre 1933 die internationale Staatengemeinschaft.

Die Ereignisse in der Mandschurei markierten einen Wendepunkt in der japanischen Politik. Die Armee war fortan die bestimmende Kraft in der Politik, da sie sowohl innerhalb wie außerhalb des Kabinetts auf keine nennenswerte Opposition stieß. Faktisch wurde auch das Parlament außer Kraft gesetzt, als Mitte Mai 1932 junge Armee- und Marineoffiziere Tokio einige Stunden lang terrorisierten und Premierminister Inukai Tsuyoshi ermordeten. Die Militärs verstießen in der Folge gegen zwei wichtige internationale Verpflichtungen: die Marine nicht weiter aufzurüsten und Chinas Souveränität und territoriale Integrität zu achten. Zwar regte sich im Jahre 1935 noch einmal Protest gegen den Kriegskurs der Streitkräfte, als eine Bewegung gegen Faschismus und Militarismus die Rückkehr zur parlamentarischen Regierungsform forderte. Liberale Kräfte im Parlament (Diet) attackierten öffentlich den Kriegsminister. Dies wurde zum Signal für Extremisten innerhalb der Armee, Revanche zu üben. Ende Februar 1936 kam es zur offenen militärischen Revolte gegen die Regierung, an der sich etwa 1.500 Soldaten beteiligten. Wenige Tage darauf kam eine armeefreundliche Regierung an die Macht. Fortan bestimmten ausschließlich militärstrategische Kalküle die Politik Japans.

Vier programmatische Leitlinien beschloss die japanische Regierung, um das Land in die Lage zu versetzen, unangefochten zur hegemonialen Macht in Asien aufzusteigen:

  1. Die Stärkung der Schwer- und Rüstungsindustrie.
  2. Die Integration der Mandschurei in die japanische Kriegswirtschaft.
  3. Eine „harte Haltung“ auf dem asiatischen Kontinent.
  4. Die Sicherung strategischer Rohmaterialien, um das Land autark zu machen.

Die zur Selbstversorgung benötigten Ressourcen sollten hauptsächlich aus dem insularen und kontinentalen Südostasien – vorrangig aus Ostindien (Indonesien) und Malaya sowie aus Indochina – herangeschafft werden.

Kriegswirtschaft

Dieses von der Armeeführung entworfene Programm bestimmte seit Mitte der 1930er Jahre die Politik Tokios. Der Begriff „harte Haltung“ war ein beschönigender Ausdruck dafür, Teile Chinas zu annektieren, sich der Rohstoffquellen in Südostasien zu bemächtigen und Russland als potenzielle Bedrohung in Schach zu halten. Das schloss die enge Kooperation mit Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien mit ein. Ende November 1936 unterzeichnete Japan mit beiden Ländern den Antikomintern-Pakt, der explizit gegen die Sowjetunion gerichtet war.

Im Juli 1937 nahm die japanische Armee einen Vorfall in der Nähe Pekings zum Anlass, in Nordchina einzumarschieren. Die USA und Großbritannien reagierten darauf mit ersten Sanktionen und stoppten den Export von Flugzeugen, Flugzeugausrüstungen und später auch die Ausfuhr von Waffen, Munition, Aluminium, Eisen und Öl nach Japan. Das bewog die japanische Regierung im Gegenzug zur sogenannten AAA-Propaganda: Sie bezeichnete sich fortan als „das Licht Asiens, der Beschützer Asiens und Führer Asiens“.

Von 1930 bis 1940 erlebte Japan ein phänomenales Wachstum seiner Wirtschaft. In diesem Jahrzehnt wuchs die Industrieproduktion um das Fünffache, wobei die Schwerindustrie davon über 70 Prozent ausmachte. Im selben Zeitraum war die jährliche Stahlproduktion von anfänglich 1,8 auf 6,8 Millionen Tonnen und die Fertigung von Automobilen und Flugzeugen von 500 beziehungsweise 400 im Jahre 1930 auf 48.000 beziehungsweise 5.000 im Jahre 1940 angestiegen. Ebenso rasant vergrößerte sich die Schiffsproduktion – bei Handelsschiffen von 92.093 (1931) auf über 405.195 Tonnen im Jahre 1937. Die Militärausgaben wuchsen ebenfalls überproportional. Gemessen am Gesamthaushalt Japans beliefen sie sich auf knapp 30 Prozent im Jahre 1931, erreichten ihren Höhepunkt 1938 (ein Jahr nach der groß angelegten Invasion gegen China) bei 75,4 Prozent, um sich danach bei mindestens zwei Drittel des Haushalts einzupendeln. Gleichzeitig stockte Japan seine Streitkräfte drastisch auf. Allein von 1936 bis 1941 verdoppelte sich die Zahl der Wehrpflichtigen, die Divisionsstärke stieg von 24 auf 50, von denen 27 Divisionen in China, zwölf in der Mandschurei und der Rest auf der koreanischen Halbinsel stationiert waren. Die Zahl der einsatzbereiten Soldaten überschritt rasch die Marke von sechs Millionen. 1941 verfügte Japan im Pazifik über eine Kriegsmarine, die stärker war als die vereinte amerikanisch-britische Streitmacht in der Region.

Die Wirtschaft war unter dem Kommando des Militärs in eine Kriegswirtschaft umgewandelt worden, wobei alles unternommen wurde, um ausreichend Vorräte strategisch bedeutsamer Rohstoffe anzulegen, die zum Großteil aus China und Korea sowie aus Niederländisch-Indien und Indochina stammten. Im August 1940 musste das französische Vichy-Regime der Forderung nachgeben, den Japanern Flugplätze und Marinebasen in Indochina zur Nutzung zu überlassen, von denen aus Japan den noch über die Burmastraße laufenden Nachschub für Tschiang Kai-schek und die chinesische Regierung in Chungking unterbinden wollte. Bis zum Sommer 1941 war Indochina mitsamt seinen bedeutsamen Rohstoffvorkommen (Gummi, Zinn, Kohle, Mangan, Bauxit und Nickel) ohne nennenswerten Widerstand Japan überlassen worden, wo seine Truppen jetzt nach Belieben schalten und walten konnten.

Je mehr die USA und Großbritannien ihren Druck auf Japan verstärkten, sich aus China und Indochina zurückzuziehen, desto vehementer warf die japanische Regierung ihnen vor, mit ihrer Embargo- und Sanktionspolitik das Land in die Knie zwingen zu wollen. Mit Blick auf Ost- und Südostasien reaktivierte und beschwor Japan seine pan-asiatische Vision – diesmal in Gestalt der „Größeren Ostasiatischen Gemeinsamen Wohlstandssphäre“. Deren reales Anliegen, als imperiale, doch rohstoffarme Regionalmacht dauerhaft in den Besitz von natürlichen und menschlichen Ressourcen zu gelangen und gleichzeitig den Führungsanspruch des westlichen Kolonialismus und Imperialismus zu unterminieren, nährte sich aus dem religiös-ideologischen Konstrukt des Shinto („Weg der Götter“).

Innerhalb des Systems des Staats-Shinto bestand keine Trennlinie zwischen mythisch verklärter und authentischer Geschichte; es beschwor die Größe der Nation und transportierte den unerschütterlichen Glauben an eine seit Menschengedenken bestehende nationale Familie – geführt vom Tenno, der seinerseits einer ununterbrochen regierenden Herrscherdynastie entstammte. In diesem Sinne war Kaiser Hirohito, dessen über 60-jährige Regentschaft (1926–89) als Showa-Ära („Weg des Friedens“) in die Geschichtsannalen einging, (mit-)verantwortlich für die Architektur eines Militarismus, der Ost- und Südostasien sowie den Pazifik mit Krieg und Zerstörung überzog. Doch nirgendwo waren die Auswirkungen der japanischen Herrschaft so systematisch und tiefgreifend wie in der von Japan 1910 unterworfenen Kolonie Korea. (RW)

Weiterführende Lektüre

Cohen, Jerome B. (1949): Japan’s Economy in War and Reconstruction. Minneapolis.

Hotta, Eri (2007): Pan-Asianism and Japan’s War 1931-1945. New York.

Ienaga, Saburo (1978): The Pacific War: World War II and The Japanese, 1931-1945. New York.

Maruyama, Masao (1988): Denken in Japan. Aus dem Japanischen von Wolfgang Schamoni und Wolfgang Seifert. Frankfurt a.M.

Maxon, Yale Candee (1957): Control of Japanese Foreign Policy: A Study of Civil-Military Rivalry, 1930-1945. Berkeley.

Reischauer, Edwin O. (1953): Japan. Berlin.

Saaler, Sven (2003): Pan-Asianismus im Japan der Meiji- und der Taisho-Zeit. Wurzeln, Entstehung und Anwendung einer Ideologie, in: Amelung, Iwo/et al. (Hg.): Selbstbehauptungsdiskurse in Asien. China-Japan-Korea. München.

Saaler, Sven/Koschmann, J. Victor (eds.) (2007): Pan-Asianism in Modern Japanese History. Colonialism, Regionalism and Borders. London/New York.

Seelmann, Hoo Nam (2011): Lautloses Weinen. Der Untergang des koreanischen Königshauses. Würzburg.

Song, Du-Yul (1990): Metamorphosen der Moderne – Betrachtungen eines Grenzgängers zwischen Asien und Europa. Münster.

Wetzler, Peter (1998): Hirohito and War. Imperial Tradition and Military Decision Making in Prewar Japan. Honolulu.

Unter der Herrschaft des Tenno

Von 1910–1945 herrschte Japan mit eiserner Faust über Korea. Sogar die eigene Sprache wurde den Bewohnern der Kolonie verboten.

„1930 bin ich in dem koreanischen Dorf Seonchon als japanischer Staatsbürger geboren worden. Meine Eltern haben mir den Namen Choi Changwha gegeben, doch für die Japaner, die unser Land 1910 zur Kolonie gemacht hatten und besetzt hielten, hieß ich Sai Shoka. Das war mehr als nur eine Namensänderung; es hat dem Plan der Besatzungsmacht entsprochen, die ethnische und kulturelle Identität der Koreaner und Koreanerinnen auszulöschen und sie zu Japanern zu machen. Schon vor dem Krieg sind wir in unserem eigenen Land gezwungen gewesen, vor dem Shinto-Schrein, dem Symbol unserer Unterdrückung, den Tenno, den japanischen Kaiser, anzubeten. Kurz vor Kriegsende hat die japanische Militärpolizei dann alle Koreaner in geheime Keller geschleppt und ihnen zwangsweise Fingerabdrücke abgenommen. Für mich war das ein Kotau vor dieser Macht; ich hätte hier meine ethnische Identität ablegen sollen.“

Hunderttausende Koreaner erlitten ein ähnliches Schicksal, nachdem sich der östliche Nachbar Japan das Land 1910 endgültig als Kolonie einverleibt hatte. Für Korea und seine Menschen dauerte dieses Martyrium 36 lange Jahre an. Zum Verhängnis war dem Land letztlich seine geographische Lage zwischen dem Großreich China und dem Großmachtambitionen hegenden Japan geworden.

Traditionsreiches Erbe

In der Jahrtausende alten Geschichte des Landes Korea, dessen mythologische Gründung am 3. Oktober 2333 vor unserer Zeitrechnung durch den ersten König Tangun erfolgt sein soll, bildete die Halbinsel ein Scharnier zwischen dem kontinentalen und insularen Ostasien. Kulturelle Neuerungen gelangten von China ebenso über Korea nach Japan wie im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung der Buddhismus. Für Japan stellte Korea, das im Westen allenfalls als „Einsiedler-Königreich“ wahrgenommen wurde, umgekehrt ein Sprungbrett dar, um selbst auf dem asiatischen Kontinent Fuß zu fassen.

Während in den folgenden Jahrhunderten verschiedene Dynastien auf der koreanischen Halbinsel um die politische Vorherrschaft wetteiferten, geriet das Land immer wieder unter ausländische Kuratel. Im 13. Jahrhundert waren es die Mongolen, die über Korea herrschten. Zwischen 1592 und 1598 wehrten Koreas Militärführer erfolgreich japanische Invasionsversuche ab. Und ab Mitte des 17. Jahrhunderts stand das Land unter Schutzherrschaft der chinesischen Qing-Dynastie. Ein Privileg, das das chinesische Kaiserreich mit seiner Niederlage im Japanisch-Chinesischen Krieg 1895 endgültig einbüßte. Zwischendurch gab es Phasen relativer politischer Ruhe, in denen das Land von der Außenwelt abgeschottet war.

In den Bereichen Kultur, Architektur sowie Seidenmanufaktur genossen Koreas Künstler hohes Ansehen. Zu weiteren außergewöhnlichen Leistungen zählten die Entwicklung des koreanischen Alphabets (Hangeul) auf Geheiß König Sejongs im Jahre 1446 und – lange vor Johannes Gutenbergs Erfindung – der Buchdruck mit beweglichen Metalllettern.

1876 erzwang Japan die Unterzeichnung eines Handelsvertrags mit Korea, das fortan seine Häfen für japanische Kaufleute öffnen musste. Ähnliche Handelsverträge Koreas wurden mit den USA, Großbritannien, Frankreich und Russland ausgehandelt. Ende November 1883 gelang sogar dem deutschen Kaiserreich der Abschluss eines Deutsch-Koreanischen Handels-, Freundschafts- und Schifffahrtsvertrages. Tatkräftig mitgewirkt hatte dabei der deutsche Jurist und Sinologe Paul Georg von Möllendorf. Er war ein Jahr zuvor als Berater des Königs an den koreanischen Hof geholt worden, brachte es dort zum Vize-Außenminister und später zum Chef der koreanischen Zollbehörde.

„Vor kaum 20 Jahren wußte man im großen Publikum über Korea nur, daß es eine weltentlegene Halbinsel Ostasiens sei“, schrieb 1901 der deutsche Handelsreisende C. Wolter im Rückblick auf die Jahre nach seiner Ankunft auf der Halbinsel in seinem Bericht „Korea, einst und jetzt“.

„So abgeschlossen ist Korea indessen nie gewesen, von Anfang des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts hatte in Busan, im Südosten des Reiches, eine japanische Niederlassung bestanden, in der ein reger Kleinhandel betrieben wurde. Desgleichen vermittelten die Plätze an der chinesisch-koreanischen Grenze, an der Straße zwischen Seoul, der Hauptstadt Koreas, und Peking, der Hauptstadt Chinas, einen regen Güteraustausch, von dessen Bedeutung noch heute die verfallenen Empfangsgebäude an diesem Wege Zeugnis ablegen. Diese Straßen benutzten auch die Karawanen, welche vom König von Korea gesandt immer von neuem den Pekinger Hof von der Ergebenheit des kleinen Herrn in Seoul überzeugen sollten und denen sich erwiesenermaßen manche Kaufleute anschlossen.“

Über die Einwohner Koreas hielt Wolter fest:

„Im Gegensatz zum Chinesen und Japaner ist der Koreaner von dem Landesherrn bis zum geringsten Kuli dem Europäer sehr freundlich gesinnt. Ich sage absichtlich nicht fremdenfreundlich, denn das würde die Japaner einschließen. Während der Chinese mit dem Koreaner fraternisiert, hat der hochmütige Japaner von jeher auf den Koreaner herabgesehen und sich ihm gegenüber bis in die letzten Jahre in einer Weise benommen, die nur dazu beitragen konnte, den im Volke steckenden Haß immer von neuem zu schüren. Die japanische Regierung hat daher vor einigen Jahren ihre Landsleute angewiesen, sich im eigenen Interesse besser zu benehmen, ein gewiß nicht unkluger Schritt.“

Die Annektion 1910

Als Japan gegen Ende des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich und militärisch erstarkte, geriet Korea immer stärker ins Visier des Nachbarn. Den ersten Waffengang unter der neuen Herrschaft des Tenno führten die japanischen Streitkräfte 1894/95 gegen das Kaiserreich China. Vorrangig ging es um die dauerhafte Vormachtstellung auf der koreanischen Halbinsel.

Korea war lange Zeit gegenüber dem chinesischen Kaiserhaus tributpflichtig und das eigene Königshaus durch interne Revolten und Intrigen geschwächt. 1893/94 brach in Korea der große Tonghak-Aufstand aus, als Endpunkt einer Zerfallskrise der seit 1392 herrschenden Yi-Dynastie. Diese war nicht fähig dazu, den Erfordernissen einer Modernisierung von Staat und Gesellschaft Rechnung zu tragen, zu der die wirtschaftlich-industrielle Entwicklung in der Region und das Eindringen ausländischer Mächte zwangen. Bereits in den 1860er Jahren hatte Choe Che-U (1824–1894) seine Lehre unter dem Namen „Tonghak“ („Östliches Lernen“) mit der Intention veröffentlicht, den unter Hungersnot und Armut, exorbitanten Steuern und politischer Unterdrückung leidenden Bauern einen Weg zur Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen zu weisen. Im Kern wandte sich die Tonghak-Revolte gegen die korrupte Regierung und die Kaste der Adeligen (Yangban) sowie gegen die Ausländer im Land und deren Gedankentum.

Die Ideologie des Tonghak stellte sich als Synkretismus taoistischer, konfuzianistischer, buddhistischer und erstmals auch christlicher Lehrinhalte dar. Wie zahlreiche seiner Landsleute war Choe der Meinung, ausländischen Einflüssen in Korea könne man einen Riegel vorschieben und den Regierungsstil radikal umkrempeln, indem demokratische Verhältnisse und sozialrevolutionäre Neuerungen durchgesetzt würden. Massenhaft beteiligten sich Bauern, denen sich später auch fortschrittlich gesinnte Yangban, Gelehrte und Nationalisten anschlossen, an antifeudalistischen, vielfach guerillaähnlichen Widerstands- und Protestaktionen, um eine neue Landverteilung, eine drastische Reduzierung der Steuern, Demokratie und Menschenrechte einzufordern.

Zwar gelang es dem koreanischen Herrscherhaus, den Tonghak-Aufstand mit Hilfe herbeigerufener chinesischer Truppen und später durch japanische und pro-japanische Kontingente niederzuschlagen. Doch von diesen Entwicklungen profitierten letztlich die waffentechnisch haushoch überlegenen Japaner, während China seinen Einfluss auf der koreanischen Halbinsel dauerhaft verlor und das koreanische Königshaus zur Marionette Japans geriet. Noch bevor Japan Korea annektierte und es in eine Kolonie verwandelte, war Kronprinz Yi Un, der Sohn des letzten koreanischen Königs Kojong, im Jahre 1907 als Geisel genommen und nach Japan gebracht worden. Dort wurde er im Frühjahr 1920 mit der japanischen Prinzessin Masako verheiratet, so wie auch die verbliebenen Mitglieder der koreanischen (allesamt in Japan residierenden) Königsfamilie generell gezwungen wurden, niedrigstehende Mitglieder der japanischen Kaiserfamilie zu heiraten. Japan entschied schließlich den Waffengang gegen China 1895 für sich und erhielt zusätzlich Formosa (Taiwan) als Kriegsbeute.

Interessenskonflikte in Korea und der Mandschurei zwischen Russland und Japan führten 1904/05 zum Russisch-Japanischen Krieg, aus dem Japans Heer und Marine neuerlich siegreich hervorgingen. Auch in diesem militärischen Konflikt war Korea der Zankapfel; es ging um die dauerhafte Kontrolle auf der Halbinsel. Einige Gesandte des koreanischen Königshauses hatten als Gegengewicht zur wachsenden japanischen Präsenz in Korea versucht, das zaristische Russland als Verbündeten zu gewinnen, das seinerseits Ambitionen in Fernost hegte.

1905 zum japanischen Protektorat erklärt, musste Korea seine diplomatischen Rechte an den übermächtigen Nachbarn abtreten. Als erster japanischer Generalgouverneur und faktisch oberster Herrscher Koreas bezog Ito Hirobumi in Seoul Quartier. In Japan galt der ehemalige Premierminister Ito als angesehene Persönlichkeit, die den Tenno in allen wichtigen innen- wie außenpolitischen Fragen beriet. Als glühender Befürworter eines größeren japanischen Reiches beteiligte sich Ito auch maßgeblich daran, die Autorität des koreanischen Königshauses zu untergraben.

So mächtig und angesehen Ito Hirobumi in Japan war, so verhasst blieb er unter der koreanischen Bevölkerung. Im Jahre 1909, während eines Aufenthalts in der mandschurischen Stadt Harbin, wurde Ito das erste prominente Opfer des antikolonialen Protests. Sein Attentäter, der Nationalist Ahn Joong-Geun, wurde am 26. März 1910 hingerichtet. Bis heute gilt Ahn in ganz Korea als Nationalheld, Preise und Ehrungen tragen nach wie vor seinen Namen.

Japan reagierte auf Itos gewaltsamen Tod mit einer noch direkteren Kontrolle Koreas. König Kojong musste zugunsten seines politisch schwächeren Sohnes abdanken, und am 22. August 1910 wurde mit der Unterzeichnung des Annexionsvertrages Koreas Kolonialstatus offiziell besiegelt. Nun hatten japanische Militärs das Sagen, während japanische Großunternehmen und mit dem kaiserlichen Hof liierte Firmen und Banken von Land und Leuten ihren Tribut einforderten. Die Erlöse aus Handel, Bergbau und Landwirtschaft transferierten sie ins „Mutterland“ Japan. Zwar wurde die Infrastruktur Koreas verbessert – so ließen die Japaner Straßen bauen und erweiterten das Schienennetz. Doch den Aufbau einer eigenständigen Wirtschaft und Industrie ließen die Besatzer nicht zu.

Protest und Widerstand

Die neue Kolonialmacht führte ein umfassendes Landvermessungsprogramm durch, um einen Überblick über die Eigentumsverhältnisse zu gewinnen. Die bäuerliche Bevölkerung musste innerhalb einer von den Kolonialbehörden gesetzten Frist den japanischen Beamten Lage und Größe ihrer Landparzellen melden. Die meisten Bauern verstanden diese Aufforderung nicht, da sie weder lesen noch schreiben konnten. Verpassten sie den Meldetermin (was die Regel war), verloren sie das Land, von dem ihre Familien seit Generationen gelebt hatten. Zur Abschreckung und Strafe wurden zahlreiche Bauern nach Japan verschleppt, um dort Zwangsarbeit zu leisten.

Sodann ordnete die Kolonialadministration an, dass großflächig Reis anzubauen sei. Der Großteil der Ernten wurde zur Versorgung der japanischen Bevölkerung verschifft, Korea sollte als Nahrungsmittellieferant die japanische Landwirtschaft weitgehend ersetzen. Versorgungsengpässe in Korea, wachsende Armut und Hungersnöte führten dazu, dass viele Bauern übers Land zogen oder im Nordosten Chinas, in der Mandschurei, Arbeit suchten.

Diese Maßnahmen ließen den Widerstand gegen die Kolonialherren erstarken. Nicht nur in Korea selbst, sondern auch in China, wohin zahlreiche Koreaner geflohen waren und in Shanghai eine provisorische Exilregierung gebildet hatten, erhielt die nationalistische Bewegung Zulauf. Ermutigt durch die „14-Punkte-Erklärung“ des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, die die nationale Selbstbestimmung der Völker proklamierte, übergaben am 1. März 1919 koreanische Oppositionelle der japanischen Regierung eine von namhaften Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnete Unabhängigkeitserklärung. Sie verlangten die Wiederherstellung der koreanischen Souveränität.

Diese politische Offensive wurde von massiven Straßenprotesten begleitet. Innerhalb der ersten drei Monate nach Verkündung der Unabhängigkeit registrierten die japanischen Behörden landesweit knapp 1.500 Großdemonstrationen in 217 Städten. Etwa 2 Millionen Menschen beteiligten sich daran – ein Zehntel der damaligen Bevölkerung Koreas. Die japanischen Besatzungstruppen benötigten ein ganzes Jahr, um das Land gewaltsam zu „befrieden“. Etwa 7.500 Koreaner wurden getötet, 16.000 verletzt und 46.000 Menschen ins Gefängnis gesperrt.

„Jederzeit aufopferungswillige Untertanen“

„Alles für den Kaiser“ – diese Devise galt nicht nur in Japan. Auch das japanische Generalgouvernement in Korea tat alles, um die Bevölkerung im Geiste des Tenno zu erziehen. Aus Koreanern sollten – so wörtlich – „gute, gehorsame und jederzeit aufopferungswillige Untertanen werden.“ Japan benötigte ergebene Soldaten für seine Invasionstruppen in China, Südostasien und im Pazifik.

Selbstbild Hier ist die Totenmaske irgendeines Landes. Es geht auch das Gerücht um, die Totenmaske sei gestohlen. Dieser Bart, ein nicht in die Reife gekommenes Grasland der Arktis, ist seiner Verzweiflung bewusst und pflanzt sich nicht fort. In einer Fallgrube, wo seit Äonen der Himmel für immer gefangen sitzt, sind Vermächtnisworte wie Grabsteine, heimlich versunken. Dann gehen an ihrer Seite unvertraute Handsignale, Fußsignale vorbei, wohlbehalten und reserviert. Da beginnt der einst erhabene Inhalt auf ein oder andere Weise zu knittern.

Die Unmöglichkeit, in der kolonialen Situation Subjektivität und menschenwürdige Existenz zu vereinen, war Yi Sangs beherrschendes Thema und gleichzeitig das Dilemma seiner Heimat. (RW)

Weiterführende Lektüre

Ch’oe, Che-U (1997): Das große Buch des Tonghak, Tonggyung Daechon. (Übersetzt und kommentiert von Kim Sung-Soo.) Frankfurt a.M.

Eggert, Marion/Plassen, Jörg (2005): Kleine Geschichte Koreas. München.

Hane, Mikiso/Perez, Louis G. (2009): Modern Japan: A Historical Survey. 4th ed. Boulder, CO.

Hielscher, Gebhard (1988): 38mal Korea. München.

Kleiner, Jürgen (1980): Korea – Betrachtungen über ein fernliegendes Land. Frankfurt a.M.

Rheinisches JournalistInnenbüro und Recherche International e.V. (Hg.) (2005): „Unsere Opfer zählen nicht“ – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg (darin das Kapitel zu Ost- und Südostasien). Berlin/Hamburg.

Yisang (2005): Mogelperspektive. Das poetische Werk. Aus dem Koreanischen und mit Nachworten von Marion Eggert, Matthias Göritz und Hanju Yang. Graz.