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Titelei.tif

Für Kerstin Meyer
und für Anna und Ben,
die die ganze Reise
auf dem Teppich mitgemacht haben.
Ach ja, für Luna natürlich auch, obwohl sie
kein bisschen wie Tristan aussieht.

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Die Flasche im Mondlicht

Emma liebte das Meer. Das Haus, in dem sie mit ihrer Familie wohnte, lag gleich hinter den Dünen, und nachts hörte man die Wellen auf den Sand rauschen. Für Emma war das das schönste Schlaflied der Welt. Aber ihre vier Brüder fanden, dass es wie das Brüllen eines Seeungeheuers klang, und träumten von Riesenkraken, die sie mit feuchten Armen aus den Betten zogen. Brüder sind schon seltsam. Tagsüber kämpfen und raufen sie und nachts lässt die Angst vor der Dunkelheit sie nicht schlafen. Fast jede Nacht kroch irgendeiner von Emmas Brüdern zu ihr ins Bett, um sich dort vor Seeungeheuern und Kraken zu verstecken. Und bald schnarchte er so laut in ihr Ohr, dass sie das Rauschen des Meeres nicht mehr hören konnte.

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In solchen Nächten zog Emma ihren Morgenmantel an, schlich sich aus dem Haus und stapfte durch die Nacht hinunter ans Wasser.

Der salzige Wind wisperte über den Wellen und der Strand streckte sich von einem Ende der Nacht zum anderen und gehörte ihr ganz allein. Das war wunderbar. Vier Brüder sind ziemlich anstrengend für ein einziges Mädchen. Da braucht man ab und zu ein bisschen Stille und Einsamkeit.

Die Dunkelheit machte Emma keine Angst. Schließlich hatte sie ja Tristan dabei. Seine Beine waren zwar kurz wie Bratwürste und sein Schwanz sah aus wie eine Zopfnudel, aber in seinem Maul hatte er jede Menge spitzer Zähne.

Im feuchten Sand zu sitzen ist nicht sehr gemütlich, deshalb nahm Emma immer ein Kissen mit an den Strand. Auf dem saßen sie und Tristan dann Seite an Seite, und das Meer atmete zu ihren Füßen wie ein großes Tier.

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In klaren Nächten, wenn der Mond eine silberne Straße aufs Wasser goss, stellte Emma sich vor, dass am anderen Ende das schönste, wundersamste Land der Erde lag. Auf Kamelen ritt man dort, und Palmen wiegten sich im warmen Wind. Brüder gab es da nicht, höchstens ein paar klitzekleine, die ganz friedlich waren und nur an Samstagen kämpfen wollten. Niemand ging zur Schule oder musste arbeiten. Die Sonne schien jeden Tag und Regen fiel nur gerade so viel, dass er die Oasen benetzte, die schimmernd wie Diamanten im Wüstensand lagen.

Wer weiß?

Vielleicht belauscht der Mond Mädchen, die nachts mit nudelschwänzigen Hunden allein am Meer sitzen? Vielleicht lauscht er ihren Träumen und versucht sie wahr zu machen. Vielleicht …

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Eines Nachts, als Emma wieder mal mit Tristan und ihrem Kissen an den Strand gestapft kam, trieb im mondsilbernen Meer eine Flasche. Nur ein paar Schritte entfernt vom Strand schwamm sie. Hinter dem grünen Glas schimmerte und flimmerte es, als hätte jemand tausend Glühwürmchen hineingesperrt. Emma versuchte die Flasche aus dem Wasser zu fischen, aber ihre Arme waren mindestens einen halben Meter zu kurz. Also trottete Tristan in die kalten Wellen.

»Was da wohl drin ist«, murmelte Emma, als er ihr die Flasche vor die Füße fallen ließ. »Meinst du, ich sollte sie aufmachen?«

Das Leuchten und Flimmern beunruhigte sie etwas, aber Tristan blickte sie an und schmatzte – was so viel bedeutete wie: »Natürlich sollst du sie aufmachen!« Bei »Besser nicht« hätte er ihr den Hintern zugedreht.

»Gut. Wie du meinst«, sagte Emma. »Aber wenn was Schlimmes passiert, bist du schuld.« Dann zog sie den Pfropfen aus dem Flaschenhals.

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Karîm

Kornblumenblauer Rauch quoll aus der Flasche, mehr und immer mehr. Emma stolperte erschrocken zurück und Tristan steckte den Kopf in den Sand.

Die blaue Rauchwolke bekam Arme und Beine und einen kahlen Kopf, auf dessen Glatze sich das Mondlicht spiegelte.

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»Sssssalaaaam alaikum!«, hauchte der Flaschengeist. »Sei gegrüüüüßt, o Befreierin! Mein Name ist Karîîîm, Karîm der Bartlose.« Und er verbeugte sich so tief, dass sein kahler Kopf den Sand berührte.

»Sehr … sehr erfreut!«, stammelte Emma und verbeugte sich ebenfalls (wenn auch nicht ganz so tief). Als sie sich wieder aufrichtete, stellte sie fest, dass der Flaschengeist gerade mal einen Kopf größer war als sie.

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»Entschuldigung«, sagte Emma (schließlich wusste sie nicht, ob Flaschengeister schnell beleidigt sind), »aber – wächst du noch? Ich mein … soweit ich mich erinnere, sind Flaschengeister in den Märchen immer riesengroß.«

Karîm seufzte so tief, dass der feuchte Sand aufwirbelte und seine nackten Zehen bedeckte. »Ooooh, du hast ja sooooo recht, Meisterin!«, rief er klagend. »Auch ich war einst viiiiiel größer! Ich konnte meinem Kalifen die Hand schütteln, wenn er auf dem höchsten Turm seines Palastes stand. Sein Dromedar legte sich in meiner Hand schlafen. Aber nun bin ich klein wie ein Wüstenigel und schwach wie eine Nasenschrecke.« Bei diesen Worten begann der Dschinn so heftig zu schluchzen, dass seine Tränen wie Regen auf den Strand prasselten.

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»Oje!«, sagte Emma mitfühlend. »Und wie bist du so klein geworden?«

Tristan zog den Kopf aus dem Sand und beschnüffelte Karîms Zehen, was Emma nicht sehr taktvoll fand.

»Nun, siehst du das denn nicht?«, schniefte der Dschinn. »Mein Nasenring ist fort! Heimtückisch geraubt! Ohne den Ring bin ich ein Nichts, eine Made, eine Spitzmaus, eine Schnecke, die die Sonne verbrennt!«