Für Ben,

der Jacob und Will

zugleich ist.

1 Warten

Er war immer noch nicht zurück.

Ich bleibe nicht lange. Fuchs wischte sich den Regen vom Gesicht. Das konnte bei Jacob vieles bedeuten. Manchmal blieb er Wochen. Manchmal Monate.

Die Ruine lag verlassen da wie immer und die Stille zwischen den verbrannten Mauern ließ sie ebenso frösteln wie der Regen. Die Menschenhaut wärmte so viel schlechter, aber Fuchs verwandelte sich dennoch immer seltener in die Füchsin. Sie spürte inzwischen allzu deutlich, wie das Fell ihr die Jahre stahl – auch ohne dass Jacob sie daran erinnerte.

Er hatte sie zum Abschied so fest an sich gedrückt, als wollte er ihre Wärme mit hinübernehmen in die Welt, in der er geboren worden war. Etwas machte ihm Angst, aber natürlich gab er es nicht zu. Er war immer noch wie ein Junge, der glaubte, seinem eigenen Schatten davonlaufen zu können.

Sie waren hoch oben im Norden gewesen, in Sveriga und Norga, wo die Wälder selbst jetzt noch tief verschneit waren und die Wölfe vor Hunger in die Städte kamen. Davor waren sie so weit nach Süden gereist, dass die Füchsin immer noch Wüstensand in ihrem Fell fand. Tausende von Meilen … Länder und Städte, von denen sie nie zuvor gehört hatte, alles, um angeblich nach einem Stundenglas zu suchen. Doch Fuchs kannte Jacob zu gut, um das zu glauben.

Zu ihren Füßen sprossen die ersten wilden Primeln zwischen den zersprungenen Steinen. Der Tau, der von den Blüten perlte, als sie einen der zarten Stängel brach, war immer noch kalt. Es war ein langer Winter gewesen und Fuchs spürte die verstrichenen Monate wie Frost auf der Haut. Es war so viel seit dem letzten Sommer geschehen. All die Angst um Jacobs Bruder … und um ihn selbst. Zu viel Angst. Zu viel Liebe. Zu viel von allem.

Sie steckte sich die blassgelbe Blüte an die Jacke. Hände … sie entschädigten für die frierende Haut, die der Menschenkörper mit sich brachte. Fuchs vermisste es, die Welt mit den Fingern zu lesen, wenn sie das Fell trug.

Ich bleibe nicht lange.

Mit raschem Griff packte sie einen Däumling, der ihr die winzige Hand in die Jackentasche schob. Er ließ den Goldtaler erst los, als sie ihn so heftig schüttelte, wie die Füchsin es mit gefangenen Mäusen tat. Der kleine Dieb biss nach ihren Fingern, bevor er schimpfend davonhuschte. Jacob steckte ihr immer ein paar Goldtaler in die Tasche, bevor er fortging. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie inzwischen auch in der Menschenwelt gut ohne ihn zurechtkam.

Wovor hatte er Angst?

Fuchs hatte es ihn gefragt, nachdem sie tagelang von einem ärmlichen Dorf zum nächsten geritten waren, nur um schließlich unter dem verdorrten Granatapfelbaum eines toten Sultans zu stehen. Sie hatte ein weiteres Mal gefragt, als Jacob sich drei Nächte lang betrunken hatte, nachdem sie in einem verwilderten Garten nur einen ausgetrockneten Brunnen vorgefunden hatten. »Es ist nichts. Mach dir keine Sorgen.« Ein Kuss auf die Wange, das sorglose Lächeln, das sie schon mit zwölf durchschaut hatte. »Es ist nichts …«

Sie wusste, dass er seinen Bruder vermisste, aber da war noch etwas anderes. Fuchs blickte an dem Turm der Ruine hinauf. Die verrußten Steine schienen einen Namen zu flüstern. Clara. War es das?

Ihr Herz zog sich immer noch zusammen, wenn sie an den Bach dachte, in dem die toten Lerchen getrieben hatten. Jacobs Hand in Claras Haar, sein Mund auf ihrem Mund. So hungrig.

Vielleicht wäre sie deshalb fast mit ihm gegangen. Sie war Jacob sogar hinauf in den Turm gefolgt, aber vor dem Spiegel hatte sie der Mut verlassen. Sein Glas kam ihr vor wie dunkles Eis, in dem ihr das Herz erstarren würde.

Fuchs wandte dem Turm den Rücken zu.

Jacob würde zurückkommen.

Er kam immer zurück.

2 Die falsche Welt

Der Auktionssaal lag im dreißigsten Stock. Holzgetäfelte Wände, ein Dutzend Stuhlreihen und an der Tür ein Mann, der die Namen mit fahrigem Lächeln auf der Anmeldungsliste abhakte. Jacob nahm den Katalog entgegen, den er ihm reichte, und trat an eines der Fenster. Ein Wald von Türmen und hinter ihnen die Großen Seen, wie Spiegel aus Silber. Er war erst am Morgen aus New York nach Chicago gekommen, eine Strecke, für die er in einer Kutsche Wochen gebraucht hätte. Unter ihm fing sich das Sonnenlicht in Wänden aus Glas und vergoldeten Dächern. Diese Welt konnte es leicht an Schönheit mit der hinter dem Spiegel aufnehmen, aber Jacob hatte Heimweh.

Er ließ sich in einen der Stühle nieder und musterte die Gesichter, die ihn umgaben. Viele kannte er: Antiquitätenhändler, Museumskuratoren, Kunstsammler. Schatzjäger wie er, nur dass die Schätze dieser Welt keinen anderen Zauber als Alter und Schönheit besaßen.

Der Auktionskatalog zeigte die Flasche, deren Spur Jacob bis hierher verfolgt hatte, zwischen der Teekanne eines chinesischen Kaisers und der Silberrassel eines englischen Königssohns. Sie sah so unscheinbar aus, dass sie hoffentlich keine anderen Bieter finden würde. Ihr dunkles Glas schützte eine Hülle aus abgegriffenem Leder und der Hals war mit einem Wachssiegel verschlossen.

»Flasche skandinavischen Ursprungs, frühes 13. Jahrhundert«, hieß es unter dem Foto. Jacob hatte die Flasche selbst so beschrieben, als er sie einem Antiquitätenhändler in London verkauft hatte. Er hatte es damals für sehr amüsant gehalten, ihren Bewohner auf diese Art unschädlich zu machen. Hinter dem Spiegel konnte es tödlich sein, ihn zu befreien, aber in dieser Welt war er so harmlos wie eingefangene Luft, ein Nichts hinter dunkelbraunem Glas.

Die Flasche hatte mehrmals den Besitzer gewechselt, seit Jacob sie verkauft hatte. Es hatte ihn fast einen Monat gekostet, sie wieder ausfindig zu machen. Zeit, die er nicht hatte. Der Apfel, der alles heilte, der Brunnen der Ewigen Jugend … Er hatte viele Monate damit vertan, die falschen Dinge zu suchen, und auf seiner Brust nistete immer noch der Tod. Zeit, es mit einer etwas gefährlicheren Medizin zu versuchen.

Die Motte über seinem Herzen wurde mit jedem Tag dunkler: Siegel des Todesurteils, das die Dunkle Fee dafür verhängte, ihren Namen auszusprechen. Ihre Schwester hatte ihn Jacob zwischen zwei Küssen zugeflüstert. Kein Mann war je zärtlicher hingerichtet worden. Verratene Liebe … Das blutige Rot, das den Abdruck der Motte säumte, erinnerte daran, für welches Verbrechen er wirklich starb.

Aus der ersten Reihe lächelte ihm eine Händlerin zu, der er vor Jahren eine Karaffe aus Elfenglas verkauft hatte (sie hatte es für Glas aus Persien gehalten). Jacob hatte früher viel durch den Spiegel gebracht, um Wills Schulgelder oder die Arztrechnungen seiner Mutter zu bezahlen. Natürlich. Ohne dass seine Kunden je geahnt hatten, dass er ihnen etwas aus einer anderen Welt verkaufte.

Jacob warf einen Blick auf die Uhr und sah ungeduldig zu dem Auktionator hinüber. Nun komm schon. Verlorene Zeit. Er wusste nicht mal, wie viel ihm noch blieb. Ein halbes Jahr, vielleicht weniger …

Die Teekanne des chinesischen Kaisers erzielte einen lächerlich hohen Preis, aber die Flasche sorgte, wie erwartet, nicht für Aufregung, als sie auf den Auktionstisch gestellt wurde. Jacob war schon sicher, dass er der einzige Bieter sein würde, als sich ein paar Stuhlreihen hinter ihm eine weitere Hand hob.

Der Bieter war von fast so zierlichem Wuchs wie ein Kind. Die Diamantringe an seinen kurzen Fingern waren mehr wert als sämtliche Gegenstände, die zur Versteigerung anstanden. Sein kurzes Haar war schwarz wie das Gefieder eines Raben, obwohl er das Gesicht eines alten Mannes hatte. Und das Lächeln, mit dem er Jacob bedachte, schien etwas zu viel zu wissen.

Unsinn, Jacob.

Er hatte eine Handvoll Goldtaler für die Auktion eingetauscht. Das Bündel Geldscheine, das er dafür bekommen hatte, war ihm mehr als ausreichend erschienen. Schließlich hatte er selbst an der Flasche nicht allzu viel verdient. Doch jedes Mal, wenn er sein Angebot erhöhte, hob auch der Fremde die Hand, und Jacob spürte, wie ihm das Herz mit jeder neuen Summe, die der Auktionator ausrief, vor Ärger schneller schlug. Durch den Saal lief ein Raunen, als das Gebot den Preis der kaiserlichen Teekanne übertraf. Ein anderer Händler begann mitzubieten – und stieg wieder aus, als der Preis höher und höher kletterte.

Gib auf, Jacob!

Und was dann? Er wusste nicht, wonach er sonst noch suchen sollte, weder in dieser noch der anderen Welt. Seine Finger schlossen sich unwillkürlich um das Goldtuch in seiner Tasche, aber dessen Zauber existierte hier ebenso wenig wie der, den die Flasche gefangen hielt. Was soll’s, Jacob. Bis sie merken, dass du nicht bezahlen kannst, bist du längst wieder durch den Spiegel.

Er hob erneut die Hand, auch wenn ihm bei der Summe, die der Auktionator ausrief, übel wurde. Selbst für das eigene Leben war es ein stattlicher Preis. Er sah zu seinem Kontrahenten hinüber. Die Augen, die seinen Blick erwiderten, waren grün wie frisch gemähtes Gras. Er rückte sich die Krawatte zurecht, lächelte Jacob erneut zu – und ließ die beringte Hand sinken.

Der Hammer des Auktionators fiel, und Jacob war schwindlig vor Erleichterung, während er sich einen Weg durch die Stuhlreihe bahnte. In der vordersten Reihe bot ein Sammler zehntausend Dollar für die Silberrassel. Schätze, auf beiden Seiten des Spiegels.

Die Kassiererin schwitzte in ihrer schwarzen Jacke und trug zu viel Puder auf der teigigen Haut.

Jacob schenkte ihr sein freundlichstes Lächeln und schob ihr das Bündel Scheine hin. »Ich hoffe, das reicht als Anzahlung?«

Er legte drei Goldtaler dazu. Gewöhnlich waren die Münzen auch in dieser Welt ein gern gesehenes Zahlungsmittel. Die meisten Händler hielten ihn für einen Dummkopf, der nicht wusste, was antike Goldmünzen wert waren, und für die, die nach der Kaiserin auf der Münze fragten, hatte er eine abenteuerliche Geschichte parat. Aber die schwitzende Kassiererin warf den Talern einen misstrauischen Blick zu und rief einen der Auktionatoren zu Hilfe.

Die Flasche stand kaum zwei Schritte entfernt zwischen den anderen ersteigerten Gegenständen. Auch aus der Nähe verriet ihr Glas nichts über den, der sich dahinter verbarg. Für einen Moment war Jacob versucht, sich trotz der Wachen vor der Tür mit seiner Beute davonzumachen, aber ein Räuspern unterbrach diesen alles andere als vernünftigen Gedanken.

»Das sind interessante Münzen, Mister … wie war noch gleich der Name?«

Grüne Augen. Sein Kontrahent reichte Jacob kaum bis zur Schulter. Im linken Ohrläppchen trug er einen winzigen Rubin.

»Reckless. Jacob Reckless.«

»Ah ja.« Der Fremde schob die Hand unter die maßgeschneiderte Jacke und lächelte dem Auktionator zu. »Ich bürge für Mister Reckless«, sagte er, während er Jacob seine Karte reichte. Die Stimme war heiser, mit einem leichten Akzent, den Jacob nicht einordnen konnte.

Der Auktionator senkte ehrerbietig den Kopf.

»Wie Sie wünschen, Mister Earlking.« Er sah Jacob fragend an. »Wohin soll die Flasche zugestellt werden?«

»Ich nehme sie mit.«

»Natürlich.« Earlking lächelte. »Sie war schon viel zu lange am falschen Ort, nicht wahr?«

Der kleine Mann verbeugte sich, bevor Jacob etwas erwidern konnte. »Grüßen Sie Ihren Bruder von mir«, sagte er. »Ich kenne ihn und Ihre Mutter sehr gut.« Dann wandte er sich um und verschwand in dem gut gekleideten Gedränge.

Jacob blickte auf die Karte in seiner Hand. Norebo Johann Earlking. Nichts weiter.

Der Auktionator reichte ihm die Flasche.

3 Geister

Die falsche Welt. Der Sicherheitsbeamte am Flughafen begutachtete die Flasche so gründlich, dass Jacob ihm hinter dem Spiegel wohl irgendwann die Pistole auf die uniformierte Brust gesetzt hätte. Sein Flug landete verspätet in New York, und sein Taxi blieb so oft im Abendverkehr stecken, dass er sich nach einer Droschkenfahrt durch die verschlafenen Straßen Schwansteins sehnte. Vor dem alten Apartmenthaus spiegelte sich der Mond in schmutzigen Pfützen, und von der Backsteinmauer über dem Eingang starrten die grotesken Fratzen herab, die Will als Kind so eingeschüchtert hatten, dass er vor der Tür jedes Mal den Kopf einzogen hatte. Inzwischen hatten die Abgase sie so zerfressen, dass sie kaum von den steinernen Blüten zu unterscheiden waren, die sie umrankten. Jacob spürte ihren starren Blick trotzdem deutlicher als je zuvor, während er die Treppe vor der Eingangstür hinaufstieg, und seinem Bruder ging es sicher nicht anders. Die verzerrten Gesichter hatten einen ganz neuen Schrecken, seit Will eine Haut aus Stein gewachsen war.

Der Portier in der Eingangshalle war derselbe, der sie als Kinder aus dem Aufzug gezerrt hatte, wenn sie allzu oft damit auf und ab gefahren waren. Mister Tomkins. Er war alt und fett geworden. Auf dem Tresen, auf dem er die Post bereithielt, stand immer noch das Glas voll Lollis, mit denen er sie als Kinder bestochen hatte, die Botengänge für ihn zu erledigen. Jacob hatte Will irgendwann eingeredet, dass Tomkins ein Menschenfresser war, worauf er sich tagelang geweigert hatte, in den Kindergarten zu gehen, aus Angst, dabei an dem Portier vorbeizumüssen.

Vergangene Zeiten. In dem alten Haus nisteten sie in jedem Winkel. Hinter den Säulen der Eingangshalle, die Will und er zum Versteckspielen benutzt hatten, in den Kellern, in deren dunklen Gewölben er zum ersten Mal (und ohne Erfolg) nach Schätzen gesucht hatte, oder in dem vergitterten Aufzug, den sie je nach Bedarf zum Raumschiff oder zum Käfig einer Hexe erklärt hatten. Es war seltsam, wie sehr die Aussicht auf den eigenen Tod die Vergangenheit zurückbrachte – als wäre plötzlich jeder gelebte Augenblick präsent und flüsterte: Vielleicht ist das alles, was du bekommst, Jacob.

Die Tür des Aufzugs klemmte immer noch, wenn man sie aufstieß.

Siebter Stock.

Will hatte an der Wohnungstür eine Nachricht für ihn hinterlassen. Sind einkaufen. Essen im Kühlschrank. Willkommen zu Hause! Will

Jacob schob den Zettel in die Manteltasche, bevor er die Tür aufschloss. Er hatte mit seinem Leben für dieses Willkommen bezahlt, aber er hätte es noch einmal getan, für das Gefühl, wieder einen Bruder zu haben. Sie waren sich nicht mehr so nah gewesen, seit Will jede Nacht zu ihm ins Bett gekrochen und ihm noch geglaubt hatte, dass Portiers manchmal Menschenfleisch fraßen. Liebe ging furchtbar leicht verloren.

Die Dunkelheit, die Jacob hinter der Tür erwartete, war fremd und vertraut zugleich. Will hatte den Flur gestrichen und der Geruch der frischen Farbe mischte sich mit dem ihrer Kindheit. Seine Finger fanden den Lichtschalter immer noch blind. Die Lampe war neu, genau wie die Kommode neben der Tür. Die alten Familienfotos waren verschwunden, und die verblichene Tapete, auf der man auch nach Jahren noch hatte erkennen können, wo das Foto ihres Vaters gehangen hatte, war weißer Farbe gewichen.

Jacob stellte die Tasche auf das ausgetretene Parkett.

Willkommen zu Hause.

Konnte es das wirklich wieder sein, nach all den Jahren, in denen alles, was er hier hatte finden wollen, der Spiegel gewesen war? Auf der Kommode stand eine Vase mit gelben Rosen. Claras Handschrift. Die Aussicht, sie wiederzusehen, hatte ihn etwas nervös gemacht, bevor er durch den Spiegel gekommen war. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sein Herz nur der Erinnerung wegen schneller klopfte oder weil das Lerchenwasser immer noch wirkte. Aber es war alles gut. Es war gut, sie mit Will zu sehen, in dieser Welt, in die er selbst schon seit so langer Zeit nicht mehr gehörte. Offenbar hatte sie Will nichts von dem Lerchenwasser erzählt. Aber Jacob spürte, wie die Erinnerung daran sie beide verband, als wären sie im Wald verloren gegangen und hätten gemeinsam zurückgefunden.

 

Das Zimmer ihrer Mutter hatte Will bislang ebenso wenig verändert wie das Arbeitszimmer ihres Vaters. Jacob öffnete die Tür nur zögernd. Neben dem Bett standen ein paar Kisten mit Wills Büchern, und unter dem Fenster lehnten die Familienfotos, die im Flur gehangen hatten.

Das Zimmer roch immer noch nach ihr. Die Patchworkdecke auf dem Bett hatte sie selbst genäht. Die Stoffflicken waren überall in der Wohnung zu finden gewesen. Blüten, Tiere, Häuser, Schiffe, Mond und Sterne. Was immer die Decke über seine Mutter erzählte, Jacob hatte es nie enträtseln können. Sie hatten oft zu dritt darauf gelegen, wenn sie ihnen vorgelesen hatte. Ihr Großvater hatte ihnen die Märchen erzählt, mit denen er in Europa aufgewachsen war, bevölkert von den Hexen und Feen, deren Verwandte Jacob hinter dem Spiegel begegnet waren, aber die Geschichten ihrer Mutter waren die Amerikas gewesen. Der Kopflose Reiter, Johnny Appleseed, der Wolfsbruder, die Zauberfrau und der Seneca-Riese. Ihre Spuren hatte Jacob noch nicht hinter dem Spiegel entdeckt, doch er war sicher, dass sie dort ebenso existierten wie die Märchenfiguren seines Großvaters.

Auf dem Nachttisch seiner Mutter stand ein Foto, das sie mit ihm und Will unten im Park zeigte. Sie sah sehr glücklich darauf aus. Und so jung. Sein Vater hatte das Foto gemacht. Zu der Zeit hatte er wahrscheinlich schon von dem Spiegel gewusst.

Jacob wischte den Staub von dem Glas. So jung. Und so schön. Was hatte sein Vater gesucht, das er bei ihr nicht hatte finden können? Wie oft hatte er sich das als Kind gefragt. Er war so sicher gewesen, dass sie irgendetwas falsch gemacht haben musste – und so zornig auf sie. Zornig auf ihre Schwäche. Zornig, dass sie nicht aufhören konnte, seinen Vater zu lieben, und auf ihn wartete, wider besseres Wissen. Oder hatte sie vielleicht darauf gewartet, dass ihr ältester Sohn ihn eines Tages finden und zu ihr zurückbringen würde? Hatte er sich das nicht all die Jahre insgeheim ausgemalt? Dass er eines Tages mit seinem Vater zurückkehren und seiner Mutter all die Traurigkeit vom Gesicht wischen würde?

Hinter dem Spiegel gab es Stundengläser, die die Zeit anhielten. Jacob hatte lange für die Kaiserin nach einem gesucht. In Lombardien drehte sich ein Karussell, das aus Kindern Erwachsene und aus Erwachsenen wieder Kinder machte, und in Varangia besaß ein Fürst eine Spieluhr, die einen, wenn man sie aufdrehte, in die eigene Vergangenheit zurückbrachte. Jacob hatte sich oft gefragt, ob das den Lauf der Dinge tatsächlich änderte oder ob man am Ende doch nur wieder genauso handeln würde, wie man es schon einmal getan hatte: Sein Vater würde immer wieder durch den Spiegel gehen. Er würde ihm folgen und Will und seine Mutter blieben allein zurück.

Himmel, Jacob! Die Aussicht auf den eigenen Tod machte sentimental.

Es kam ihm vor, als hätte jemand sein Herz in den letzten Monaten wieder und wieder in die Schmelze geworfen wie einen Klumpen Metall, der einfach nicht die richtige Form annehmen wollte. Falls die Flasche sich als ebenso nutzlos erwies wie der Apfel und der Brunnen, war die Mühe umsonst gewesen, und er würde schon bald wie seine Mutter nur ein Foto in einem staubigen Silberrahmen sein. Jacob stellte ihr Foto auf den Nachttisch zurück und strich die Bettdecke glatt, als könnte seine Mutter im nächsten Moment ins Zimmer treten.

Jemand schloss die Wohnungstür auf.

»Jacob ist hier, Will.« Claras Stimme klang fast so vertraut wie die seines Bruders. »Da steht seine Tasche.«

»Jake?« In Wills Stimme klang nichts mehr nach dem Stein, der ihm die Haut gefärbt hatte. »Wo steckst du?«

Jacob hörte seinen Bruder den Flur herunterkommen, und für einen flüchtigen Moment stand er auf einem anderen Korridor, hinter sich Wills hassverzerrtes Gesicht. Es ist vorbei, Jacob. Nein, ganz würde es das nie sein, und das war gut so. Er wollte nicht vergessen, wie leicht er Will verlieren konnte.

Und da stand er auch schon in der Tür, kein Gold in den Augen, die Haut weich wie seine, nur wesentlich blasser. Schließlich war Will nicht wie er wochenlang durch eine gottverdammte Wüste geritten.

Er umarmte ihn fast so fest wie früher, wenn Jacob ihn auf dem Schulhof vor irgendeinem prügelwütigen Viertklässler gerettet hatte. Ja, es war den Preis wert, solange sein Bruder nur nichts von der Höhe der Bezahlung erfuhr.

Wills Erinnerungen an seine Zeit hinter dem Spiegel waren wie Scherben, aus denen er vergeblich versuchte, ein Ganzes zusammenzusetzen. Schließlich lebte niemand gern mit dem Gefühl, dass er sich an entscheidende Wochen seines Lebens kaum erinnerte. Wenn Will Clara und ihm Gesichter oder Orte beschrieb, wurde Jacob stets aufs Neue bewusst, wie viel sein Bruder hinter dem Spiegel allein erlebt hatte. Es war fast, als hätte Will einen zweiten Schatten, der ihm wie ein Fremder folgte – und ihn ab und zu erschreckte.

 

Jacob konnte es nicht erwarten, zurückzugehen, aber Clara bat ihn, zum Essen zu bleiben, und wer wusste schon, ob er sie und Will je wiedersehen würde. Also setzte er sich an den Küchentisch, in den er als Kind mit seinem ersten Messer seine Initialen geritzt hatte, und versuchte, so sorglos wie möglich zu erscheinen. Doch offenbar war ihm auch das Geschick abhandengekommen, seinem Bruder erfundene Geschichten als die Wahrheit zu verkaufen. Jacob fing sich mehrmals nachdenkliche Blicke von ihm ein, als er seinen Ausflug nach Chicago mit einem Fabrikanten aus Schwanstein und dessen Leidenschaft für Flaschengeister erklärte.

Bei Fuchs hätte er es mit der Geschichte gar nicht erst versucht. Er war während ihrer endlosen Suche nach den falschen Dingen oft kurz davor gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen, doch die Vorstellung, die eigene Angst auch auf ihrem Gesicht zu sehen, hatte ihn jedes Mal davon abgehalten. Er liebte Will, aber für ihn würde er zuallererst immer der ältere Bruder sein. Bei Fuchs war er einfach er selbst. Sie sah so viel von dem, was er vor anderen verbarg – auch wenn ihm das nicht immer gefiel und sie beide selten aussprachen, was sie voneinander wussten.

»Kennst du einen Norebo Earlking, Will?«

Sein Bruder runzelte die Stirn. »Ziemlich klein gewachsen? Mit einem seltsamen Akzent?«

»Derselbe.«

»Ma hat ihm einige von Großvaters Sachen verkauft, als sie Geld brauchte. Ich glaube, ihm gehören ein paar Antiquitätenläden hier und in Europa. Warum?«

»Er hat mir aufgetragen, dich zu grüßen.«

»Mich?« Will zuckte die Achseln. »Ma hat ihm nicht alles verkauft, was ihn interessierte. Vielleicht will er sein Glück nun bei uns versuchen. Er ist ein komischer Kauz. Ich war nie sicher, ob Ma ihn mag.« Will strich sich über den Arm. Er fuhr sich oft über die Haut, als wollte er sich vergewissern, dass die Jade tatsächlich verschwunden war. Clara hatte die Geste auch bemerkt. Geister … Will stand auf und goss sich ein Glas Wein ein.

»Was soll ich tun, wenn er mir ein Angebot macht? Der Keller ist voll mit altem Plunder. Da unten sieht es aus, als hätte unsere Familie nichts mehr fortgeworfen, seit dieses Haus gebaut wurde. Es ist kaum Platz für die Bilder, die wir von den Wänden genommen haben. Aber Clara braucht ein Arbeitszimmer und …« Will ließ den Satz unbeendet, als lauschten die Geister ihrer Eltern in den leeren Zimmern, die sie hinterlassen hatten.

Jacob fuhr mit dem Finger über die Initialen, die er in die Tischplatte geschnitzt hatte. Er hatte sich das Messer heimlich gekauft.

»Verkauf, was immer du willst«, sagte er. »Räumt einfach alles aus. Wenn ihr wollt, könnt ihr mein Zimmer auch benutzen. Ich kann auf dem Sofa schlafen, so selten, wie ich hier bin.«

»Unsinn. Dein Zimmer bleibt.« Will schob ihm ein Glas Wein hin. »Wann gehst du zurück?«

»Heute noch.« Es fiel ihm nicht mehr so leicht wie früher, die Enttäuschung auf dem Gesicht seines Bruders zu ignorieren. Er würde ihn vermissen.

»Ist alles in Ordnung?« Will sah ihn besorgt an. Ja, es war nicht mehr so leicht wie früher, ihn zu täuschen.

»Sicher. Es ist anstrengend, in zwei Welten zu leben.« Jacob versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen, aber Wills Gesicht blieb ernst. Es glich so sehr dem ihrer Mutter. Will runzelte sogar die Stirn auf dieselbe Weise wie sie.

»Du solltest hierbleiben. Es ist zu gefährlich!«

Jacob senkte den Kopf, damit Will sein Lächeln nicht sah. Es ist erst durch dich wirklich gefährlich geworden, kleiner Bruder. »Ich bin bald zurück«, sagte er. »Ganz sicher.«

Er war doch immer noch ein guter Lügner. Die Chancen standen tausend zu eins, dass der Bewohner der Flasche ihn nicht retten, sondern umbringen würde. Tausend zu eins gegen dich, Jacob. Er hatte schon höher gewettet.

4 Gefährliche Medizin

Zurück. Der Regen, den der Wind Jacob ins Gesicht trieb, als er aus dem Turm trat, schien für einen Moment derselbe zu sein, der am Fenster seiner Mutter heruntergeronnen war. Seine Augen suchten zwischen den eingestürzten Mauern nach der Silhouette einer Füchsin, aber es huschte ihm nur ein Heinzel vor die Füße, mager und hungrig, wie sie es am Ende des Winters meistens waren. Wo war sie?

Es kam selten vor, dass Fuchs nicht auf ihn wartete. Meist spürte sie Tage im Voraus, wann er zurückkam. Natürlich dachte er sofort an Fallen oder an die Flinte irgendeines Bauern, der seine Hühner beschützte. Unsinn, Jacob. Sie wusste besser auf sich aufzupassen als er selbst. Wenn er die Flasche öffnete, wollte er sie ohnehin nicht in der Nähe haben.

Die Stille, die ihn umgab, war nach dem Lärm der anderen Welt unwirklicher als der Heinzel, und seine Augen brauchten wie immer ein paar Sekunden, bis sie sich an die dunklere Nacht gewöhnt hatten. Im Lichtermeer der anderen Welt vergaß man so schnell, wie dunkel sie war. Er sah sich um. Er brauchte einen Platz, an dem der Bewohner der Flasche nicht bis in die Wolken wachsen konnte. Außerdem durfte er nicht riskieren, dass der Turm und der Spiegel zu Schaden kamen.

Die alte Schlosskapelle.

Sie war von dem Feuer, das das Schloss zerstört hatte, ebenso verschont geblieben wie der Turm und lag gleich hinter dem verwilderten Garten, der sich den Hang des Hügels hinabzog. Jacob musste sich einen Weg mit dem Säbel hindurchbahnen. Vermooste Treppen, zersprungene Statuen, Brunnen, in deren Marmorbecken moderndes Winterlaub trieb. Vor der Kapelle ragten Grabsteine aus dem ungemähten Gras: Arnold Fischbein, Luise Moor, Käthchen Grimm. Die Dienstbotengräber hatten das Feuer überlebt, aber von dem Mausoleum der Schlossbesitzer stand nur noch ein Ring verkohlter Steine.

Das Holz der Kapellentüren war so aufgequollen, dass Jacob sie kaum öffnen konnte. Das Innere bot einen trostlosen Anblick. Die bunten Glasfenster waren eingeschlagen, und die Bänke hatten längst ein paar kalte Hütten gewärmt, aber das Dach war noch intakt – und der Kirchenraum war kaum vier Meter hoch. Das musste reichen.

Ein Däumling lugte besorgt über den Rand des leeren Weihwasserbeckens, als Jacob die Lederhülle von der Flasche schob. Das braune Glas war so kalt, dass es ihm fast die Finger verbrannte. Ihr Bewohner kam nicht aus dem Süden, wo man Flaschengeister auf jedem Wüstenmarkt fand. Die Medizin, die Jacob brauchte, lieferten nur die nordischen Geister. Sie waren wesentlich seltener und ausgesprochen bösartig, weshalb die Männer, die sie jagten, zernarbter waren als Chanute. Der Geist, den Jacob zu befreien plante, hatte seinen Jäger so schlimm zugerichtet, dass er den Kampf mit ihm nur um ein paar Stunden überlebt hatte. Jacob hatte ihn selbst begraben.

Er scheuchte den Däumling nach draußen, bevor seine Neugier ihn umbrachte, und schloss die Türen.

›Sie sind alle Mörder, Jacob, vergiss das nie!‹ Chanute hatte ihn mehr als einmal vor den nordischen Flaschengeistern gewarnt. ›Sie wurden eingesperrt, weil sie gern töten, und sie wissen, dass sie zur Strafe für den Rest ihres unsterblichen Daseins jedem hergelaufenen Dummkopf dienen müssen, der in den Besitz der Flasche kommt. Der einzige Gedanke, der sie umtreibt, ist der, wie sie ihren Meister umbringen können, um die Flasche selbst in die Finger zu bekommen.‹

Jacob trat in die Mitte der Kapelle.

Das Muster, das in das Flaschenglas gefräst war, diente als Fessel für den, den sie gefangen hielt. Jacob zeichnete es auf die Innenflächen seiner Hände, bevor er das Messer zog. Es gab nur eines, was schwieriger war, als diese Geister zu fangen: sie ungeschoren wieder herauszulassen. Aber was hatte er schon zu verlieren?

Das Siegel, das den Flaschenhals verschloss, stammte von dem Richter, der den Geist zu ewiger Haft hinter dem braunen Glas verurteilt hatte. Jacob schälte das Wachs mit dem Messer von der Öffnung. Dann stellte er die Flasche auf die Fliesen und trat rasch zurück.

Der Rauch, der aus ihrem Hals stieg, war silbrig-grau wie die Schuppen eines Fisches. Er formte Finger, einen Arm, eine Schulter. Die Finger tasteten durch die kalte Luft und ballten sich zur Faust, und aus der Schulter schob sich ein Nacken, gezackt wie der einer Echse.

Vorsicht, Jacob!

Er duckte sich in den Rauch, der immer noch aus der Flasche stieg. Über ihm bildete sich ein Schädel mit niedriger Stirn und strähnigem schulterlangem Haar. Dann öffnete sich ein Mund in dem silbrigen Fleisch. Das Stöhnen, das ihm entwich, ließ die Mauern der Kapelle erzittern wie die Flanken eines Tieres. Die zerbrochenen Fenster barsten und Jacob atmete zersplittertes Glas. Es regnete in bunten Scherben auf ihn herab, während der Geist über ihm die Augen öffnete. Sie waren weiß wie die eines Blinden, mit Pupillen, die wie schwarze Einschusslöcher in ihrer Mitte schwammen. Als ihr lauernder Blick Jacob fand, hielt er die Flasche wieder in der Hand, die Finger fest um ihren Hals geschlossen.

Der riesige Körper duckte sich wie eine Katze vor dem Sprung.

»Sieh an.« Die Stimme des Flaschengeistes klang so heiser, als hätte er in seinem gläsernen Gefängnis das Sprechen verlernt. »Und wer bist du? Wo ist der andere, der mich gefangen hat?«

Er beugte sich zu Jacob herab. »Ist er tot? Ich erinnere mich, dass ich ihm die Rippen gebrochen habe. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich dem Richter antun werde. Ich habe es mir all die Jahre ausgemalt. Ich werde ihn zerpflücken wie eine Blüte, mir die Zähne mit seinen Knochen säubern, die Nase in seiner Haut schnäuzen …«

Die Kapelle füllte sich mit seiner heiseren Wut und das Muster auf Jacobs Handflächen bedeckte sich mit Frostkristallen.

»Hör auf mit der Angeberei!«, rief er zu dem Geist hinauf. »Du wirst nichts dergleichen tun. Du wirst mir dienen, bis ich dich leid bin, oder ich bring dich in eines der Gefängnisse, in denen sie deinesgleichen wie Weinflaschen lagern.«

Der Flaschengeist strich sich die strähnigen Haare aus der Stirn. Sie waren aus biegsamem Glas und in jedem Land hinter dem Spiegel ein Vermögen wert.

»Das war nicht sehr respektvoll!«, raunte er. Sein Gesicht war zernarbt und das linke Ohr zerfetzt. In ihrer kalten Heimat wurden sie oft in Kriegen eingesetzt.

»Gut. Was sind die Wünsche meines neuen Meisters?«, schnurrte er. »Das Übliche? Gold. Macht. Feinde, die wie zertretene Fliegen vor deinen Füßen liegen?«

Das Glas der Flasche war so kalt, dass es Jacobs Hände gefühllos machte. Halt sie fest, Jacob.

»Gib sie mir!« Der Flaschengeist beugte sich so tief herab, dass sein gläsernes Haar Jacobs Schulter streifte. »Gib mir die Flasche, und ich beschaffe dir, was du willst. Aber wenn du sie behältst, werde ich Tag und Nacht auf die Gelegenheit warten, dich zu töten. Ich habe zu lange nichts als braunes Glas gesehen, und deine Schreie würden die Stille vertreiben, die mir immer noch die Ohren betäubt.« Die Vorstellung zauberte ein entzücktes Lächeln auf sein verschlagenes Gesicht. Flaschengeister redeten gern, fast so gern, wie sie mordeten.

»Du kannst die Flasche haben!«, rief Jacob. Der Schwefelgestank, der von der grauen Haut aufstieg, war so stark, dass er sich beinahe übergeben hätte. »Für einen Tropfen von deinem Blut.«

Die Zähne, die der Geist entblößte, waren so grau wie sein Körper. »Mein Blut?« Sein Grinsen war unverhohlen schadenfroh. »Was bringt dich um? Gift? Eine Krankheit? Oder ein Fluch?«

»Was geht dich das an?«, gab Jacob zurück. »Sind wir uns handelseinig oder nicht?«

Das Grinsen wurde mörderisch. Gewöhnlich versuchten sie, einem den Kopf abzubeißen, sobald man ihnen die Flasche gab. Jacob wusste von zwei Schatzjägern, die so geendet waren. Flaschengeister hatten kräftige Zähne. Du wirst schnell sein müssen, Jacob. Sehr schnell.

Der Geist hielt ihm die Hand hin. »Wir sind uns einig.« Selbst sein kleiner Finger war länger als ein Menschenarm.

Jacob schloss die Faust fest um die Flasche, obwohl das Glas ihm die Haut verbrannte. »O nein. Zuerst dein Blut.«

Der Geist bleckte die Zähne und beugte sich höhnisch zu ihm herab. »Warum holst du es dir nicht?«

Darauf hatte Jacob gewartet.

Er packte eines der gläsernen Haare und zog sich daran hoch. Der Geist griff nach ihm, aber bevor er ihn zu fassen bekam, stieß Jacob ihm die Flasche tief in die Nase. Der Geist heulte auf und mühte sich ab, sie mit seinen groben Fingern herauszuziehen. Jetzt, Jacob. Er sprang ihm auf die Schulter und schlitzte ihm mit dem Messer das zerfetzte Ohrläppchen auf. Schwarzes Blut spritzte heraus. Jacob rieb es sich in die Haut, während der Geist immer noch vergebens versuchte, sich die Flasche aus dem Nasenloch zu ziehen. Sein Keuchen und Stöhnen ließ Eiskristalle in der Luft tanzen. Jacob sprang ihm von der Schulter. Er brach sich fast die Beine, als er auf den raureifbedeckten Fliesen landete. Auf die Füße, Jacob! Über ihm zerbarst das Dach der Kapelle, als der Geist in seiner Wut den gezackten Rücken dagegenstemmte. Er schlitterte auf die Tür zu.

Lauf, Jacob.

Er rannte auf die hohen Tannen zu, die hinter der Kapelle wuchsen, aber bevor er Schutz unter ihren Zweigen fand, packten ihn eisige Finger und hoben ihn in die Luft. Jacob spürte, wie sie ihm eine Rippe brachen. Gefährliche Medizin.

»Zieh sie heraus!«

Jacob schrie auf vor Schmerz, als der Geist fester zudrückte. Die riesigen Finger hoben ihn hoch, bis er die Hand in das gewaltige Nasenloch schieben konnte.

»Wenn du sie fallen lässt«, raunte der Geist ihm zu, »bleibt mir immer noch genug Zeit, dir die Knochen zu brechen!«

Wahrscheinlich. Aber er würde ihn auch töten, wenn er ihm die Flasche überließ. Nichts zu verlieren. Jacobs Finger fanden den Flaschenhals und klammerten sich um das kalte Glas.

»Zieh … sie … he…rauussss!« Die Stimme des Geistes hüllte ihn in frostige Mordlust.

Jacob hatte es nicht eilig. Schließlich waren es vielleicht die letzten Momente seines Lebens. Oben auf dem Hügel sah er den Turm der Ruine in den immer noch dunklen Himmel ragen und unter ihm fraß ein Marder die frischen Knospen eines Baumes. Es wurde Frühling. Leben oder Tod, Jacob. Wieder einmal.

Er zog die Flasche aus dem Nasenloch und schleuderte sie, so fest er konnte, gegen den First der Kapelle.

Der Wutschrei des Geistes ließ den Marder erstarren. Die grauen Finger schlossen sich so fest um Jacobs Körper, dass er glaubte, jeden Knochen brechen zu hören. Aber durch den Schmerz drang das Klirren von zersplitterndem Glas. Die riesigen Finger ließen los – und Jacob fiel.

Er fiel tief.

Der Aufprall nahm ihm den Atem, doch über ihm explodierte der Körper des Geistes, als hätte ihn jemand mit Sprengstoff gefüllt. Sein graues Fleisch zerstob in tausend Fetzen. Es regnete wie schmutziger Schnee auf Jacob herab und er lag da und leckte sich das schwarze Blut von den Lippen. Es schmeckte süß und brannte ihm auf der Zunge.

Er hatte bekommen, was er wollte.

Und er lebte noch.

5 Alma

In Schwansteins gaslichterleuchteten Straßen gab es schon seit Jahren keine praktizierende Hexe mehr. Hexen verkörperten die Vergangenheit und die Bewohner von Schwanstein glaubten an die Zukunft. Sie gingen lieber zu den Ärzten, die aus Vena zugezogen waren, statt sich auf Zauberei und bitter schmeckende Kräuter zu verlassen. Nur wenn ihnen die moderne Medizin nicht helfen konnte, machten sie sich auf den Weg in ein Dorf, das östlich des Schlosshügels lag.

Das Haus von Alma Spitzweg stand gleich neben dem Friedhof, auch wenn sie ihre Patienten gewöhnlich davor bewahrte, allzu früh dort zu enden. Offiziell betrieb sie eine gewöhnliche Arztpraxis. Alma schiente gebrochene Glieder wie die Mediziner aus der Stadt. Manchmal verschrieb sie sogar die gleichen Pillen, doch Alma verarztete Kühe und Heinzel mit derselben Sorgfalt wie ihre menschlichen Patienten, ihre Kleider wechselten die Farbe mit dem Wetter und ihre Pupillen waren schmal wie die ihrer Katze.

Almas Praxis war noch geschlossen, als Jacob an die Hintertür klopfte. Es dauerte lange, bis sie öffnete. Man sah ihr an, dass sie eine anstrengende Nacht gehabt hatte, doch bei seinem Anblick hellte ihr Gesicht sich auf. Sie sah an diesem frühen Morgen genauso aus, wie Jacob sich als Kind eine Hexe vorgestellt hatte, aber er hatte Alma schon mit vielen Gesichtern und in vielen Gestalten gesehen.

»Ich hätte dich heute Nacht brauchen können«, sagte sie, während ihre Katze ihn schnurrend willkommen hieß. »Der Stilz, der oben in der Ruine haust, hat versucht, ein Kind zu stehlen. Kannst du ihn nicht endlich vertreiben?«

Der Stilz … das erste Wesen, das ihm hinter dem Spiegel begegnet war. Jacob trug die Narben von seinen gelben Zähnen immer noch an der Hand. Er hatte dutzendmal versucht, ihn zu fangen, aber Stilze waren listig und Meister im Versteckenspielen.

»Ich werde es versuchen. Ich verspreche es.« Jacob nahm die schnurrende Katze auf den Arm und folgte Alma in den schmucklosen Raum, in dem sie die alte und die neue Medizin praktizierte. Sie schüttelte müde den Kopf, als er den Mantel auszog und sie das schwarze Blut auf seinem Hemd sah.

»Was war das nun wieder?«, fragte sie. »Kannst du nicht ein einziges Mal mit einer Grippe oder einem verdorbenen Magen zu mir kommen? Ich werde mir noch an meinem Todestag vorwerfen, dass ich dich nicht daran gehindert habe, bei Albert Chanute in die Lehre zu gehen.«

Alma hatte den alten Schatzjäger nie gemocht. Jacob war allzu oft bei ihr untergekrochen, nachdem Chanute ihn verprügelt hatte, und sie hielt wie alle Hexen nichts von der Schatzjagd. Jacob war ihr zum ersten Mal an der Ruine begegnet. Alma schwor auf die Kräuter, die dort wuchsen. ›Verflucht? Die halbe Welt ist verflucht‹, war ihr Kommentar zu den Geschichten, die man sich über die Ruine erzählte. ›Und Flüche verfliegen schneller als schlechte Gerüche. Alles, was es da oben gibt, sind verbrannte Steine.‹

Sie hatte nicht gefragt, was ein zwölfjähriger Junge mutterseelenallein zwischen den Mauern eines abgebrannten Schlosses tat. Alma stellte solche Fragen nicht, vielleicht, weil sie die Antworten ohnehin wusste. Sie hatte Jacob mit zu sich nach Hause genommen, ihm Kleidung gegeben, die ihm keine befremdeten Blicke eintrug, und ihn vor Däumlingen und Goldraben gewarnt. In seinen ersten Jahren hinter dem Spiegel hatte er bei ihr immer eine warme Mahlzeit oder einen Platz zum Schlafen gefunden. Alma hatte ihn verarztet, nachdem ihn zum ersten Mal ein Wolf gebissen hatte, seinen gebrochenen Arm geschient, als er versucht hatte, ein verhextes Pferd zu reiten, und ihm erklärt, von welchen Bewohnern dieser Welt man sich besser fernhielt.

Sie wischte etwas von dem schwarzen Blut von seiner Haut und roch daran. »Nordgeist-Blut.« Sie sah ihn beunruhigt an. »Wozu brauchst du das?«

Sie legte ihm die Hand aufs Herz. Dann öffnete sie sein Hemd und strich über den Abdruck der Motte.

»Dummkopf!« Sie stieß ihm die knochige Faust vor die Brust. »Du bist zu der Fee zurückgegangen! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich von ihr fernhalten?«

»Ich brauchte ihre Hilfe!«

»Und? Warum bist du nicht zu mir gekommen?« Sie öffnete den Schrank, in dem sie ihre Instrumente für die weniger moderne Heilkunst aufbewahrte.

»Es war ein Feenfluch! Du hättest mir nicht helfen können.« Keine Hexe konnte etwas gegen Feenzauber ausrichten. »Es ging um meinen Bruder«, setzte er hinzu.

»Ist dein Bruder es wert, dass du mit deinem Leben bezahlst?«

»Ja.«

Alma sah ihn einen Moment lang schweigend an. Dann nahm sie ein Messer aus dem Schrank und trennte Jacob eine Haarsträhne ab. Das Haar fing Feuer, sobald sie es zwischen den Fingern rieb. Hexen konnten die meisten Dinge mit bloßen Händen in Brand setzen.

Alma sah auf die Asche, die an ihren Fingerspitzen haftete – und blickte Jacob an. Ihre Finger waren weiß wie Schnee. Sie musste ihm nicht erklären, was das bedeutete. Er hatte sich schon einmal von einer Verwünschung befreit. Als er Alma damals hatte prüfen lassen, ob er den Fluch gebrochen hatte, war die Asche an ihren Fingerspitzen schwarz gewesen.

Das Flaschengeistblut hatte nichts bewirkt.

Er knöpfte sich das Hemd zu. Du bist ein toter Mann, Jacob.

Hatte die Rote Fee ihn all die Monate dabei beobachtet, wie sich eine Hoffnung nach der anderen als trügerisch erwies? Tat sie es jetzt? Die Feen hatten viele Wege, zu sehen, was sie wollten. Wahrscheinlich wartete sie auf seinen Tod, seit sie ihm den Namen ihrer Schwester zugeflüstert hatte. Nein, Jacob. Seit du sie verlassen hast.

»Wie lange noch?«, fragte er.

Das Mitleid in Almas Blick war schlimmer als ihr Zorn. »Zwei, drei Monate, vielleicht weniger. Wie hat sie dich verflucht?«

»Sie hat mich dazu gebracht, den Namen ihrer dunklen Schwester auszusprechen.«

Almas Katze strich ihm um die Beine, als wollte sie ihn trösten. Man sah ihr nicht an, dass sie sehr gefährlich werden konnte, wenn ihr ein Besucher nicht gefiel.

»Ich dachte, du weißt mehr über die Feen als ich. Hattest du vergessen, was für ein Geheimnis sie um ihre Namen machen?« Alma trat zu dem Apothekerschrank, dessen Schubladen mit allem gefüllt waren, was die Spiegelwelt an Heilmitteln lieferte.

»Den ihrer Schwester habe ich unzählige Male ausgesprochen.«

»Und? Bei der Dunklen ist vieles anders.« Die Wurzel, die Alma aus einer der Schubladen nahm, sah aus wie eine bleiche Spinne, die die Beine an den Leib zog. »Sie ist mächtiger als die anderen, aber sie lebt nicht wie sie im Schutz ihrer Insel. Das macht sie verletzlich. Sie kann sich nicht erlauben, dass jemand ihren Namen kennt. Wahrscheinlich hat sie ihn nicht einmal ihrem Geliebten verraten!« Sie zerrieb die Wurzel in einer Schale und füllte das Pulver in ein Säckchen. »Wie lange trägst du die Motte schon auf der Brust?«

Jacob schob die Hand unters Hemd. Der Abdruck war kaum zu spüren.

»Erst hat die Rote mir damit das Leben gerettet.«

Almas Lächeln war bitter. »Die Mühe hat sie sich wohl nur gemacht, damit du so stirbst, wie sie es geplant hat. Feen lieben es, mit Leben und Tod zu spielen … Und ich bin sicher, es hat ihr die Rache zusätzlich versüßt, dass sie ihre mächtige Schwester zu ihrer unfreiwilligen Helferin gemacht hat.« Sie hielt Jacob das Säckchen mit der zerstoßenen Wurzel hin. »Hier. Das ist alles, was ich tun kann. Nimm eine Prise davon, wenn der Schmerz kommt, denn er wird kommen.«

Sie füllte eine Schüssel mit dem kalten Wasser, das sie aus dem Brunnen hinter dem Haus schöpfte, und Jacob wusch sich das Blut des Flaschengeistes vom Körper, bevor es ihm die Haut verätzte. Das Wasser färbte sich so grau wie dessen Haut.

An seinem letzten Geburtstag hatte er ein Blatt Papier mit den Namen der Schätze gefüllt, die er im Laufe seines Lebens noch finden wollte. Es war sein fünfundzwanzigster Geburtstag gewesen. Älter wirst du nicht werden, Jacob.

Fünfundzwanzig.

Das Handtuch, das Alma ihm reichte, roch nach Minze.

Er wollte nicht sterben. Er liebte das Leben, das er lebte. Er wollte kein anderes, nur mehr davon.

»Kannst du mir sagen, wie es passieren wird?«

Alma stieß das Fenster auf, um das Wasser nach draußen zu gießen. Es wurde hell. »Die Dunkle wird das Siegel ihrer Schwester benutzen, um ihren Namen zurückzubekommen. Die Motte über deinem Herzen wird zum Leben erwachen. Das wird nicht angenehm sein. Wenn sie sich aus deinem Fleisch löst und davonfliegt, bist du tot. Vielleicht bleiben dir noch ein paar Minuten, vielleicht eine Stunde … aber es wird keine Rettung geben.« Sie wandte sich abrupt ab. Alma hasste es, wenn man sie weinen sah. »Ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun, Jacob«, sagte sie leise. »Aber die Feen sind mächtiger als ich. Unsterblichkeit bringt das mit sich.«

Die Katze blickte ihn an. Jacob strich ihr über das schwarze Fell. Sieben Leben. Er hatte immer geglaubt, dass er mindestens so viele besaß.

6 Was nun?

Auf dem Friedhof hinter Almas Haus stammten etliche Gräber aus der Zeit, als sich in Austrien viele Trolle angesiedelt hatten, um den kalten Wintern ihrer Heimatländer zu entkommen. Ihre magischen Fähigkeiten im Umgang mit Holz hatten den meisten ein Vermögen eingebracht, weshalb ihre Grabtafeln oft vergoldet waren. Jacob wusste nicht, wie lange er schon dastand und die kunstvoll geschnitzten Bilder anstarrte, die die Taten irgendeines toten Trolls beschrieben. Um ihn herum gingen Männer, Frauen und Kinder zur Arbeit. Karren holperten die schlecht gepflasterte Straße vor dem Friedhofstor entlang. Ein Hund bellte einem Lumpensammler nach, der seine Runde zwischen den einfachen Häusern machte, und er stand nur da, starrte die Gräber an und konnte immer noch nicht denken.

Jacob war so sicher gewesen, dass er einen Weg finden würde, sich zu retten. Schließlich gab es nichts, was er nicht finden konnte. Diese Überzeugung hatte ihn begleitet, seit er Chanutes Lehrling geworden war. Der beste Schatzjäger aller Zeiten … seit seinem dreizehnten Lebensjahr hatte er kein anderes Ziel gehabt – und keinen anderen Namen für sich selbst. Aber es schien, dass er am Ende nur die Dinge finden konnte, die andere begehrten. Was bedeutete ihm ein gläserner Schuh, der niemals endende Liebe brachte, ein Knüppel, der jeden Feind erschlug, eine Gans, die goldene Eier legte, oder eine Muschel, mit der man seine Feinde belauschen konnte? Er hatte der Mann sein wollen, der diese Wunderdinge fand, nichts weiter. Und er hatte sie alle gefunden. Doch sobald er für sich selbst nach etwas suchte, suchte er vergebens: So war es mit seinem Vater gewesen, und so war es nun mit dem Zauber, der ihm das Leben retten sollte.

Pech, Jacob.

Er kehrte den Grabtafeln und ihren vergoldeten Schnitzereien den Rücken zu. Die meisten zeigten Wirtshausschlägereien oder Trinkwettbewerbe – die Taten, auf die Trolle stolz waren, waren selten ehrenwert –, aber einige beschrieben, was der Tote aus Holz hatte machen können: lebende Marionetten, singende Tische, Kochlöffel, die man sich selbst überlassen konnte. Was wird dein Grabstein über dich sagen, Jacob? Jacob Reckless, geboren in einer anderen Welt, getötet durch den Fluch einer Fee … Er bückte sich und richtete einen winzigen Grabstein auf, unter dem ein Heinzel begraben lag.

Schluss mit dem Selbstmitleid.

Sein Bruder hatte seine Haut zurück.

Für einen Moment wünschte er sich so heftig, dass Will nie durch den Spiegel gekommen wäre, dass ihm übel wurde. Such dir ein Stundenglas, Jacob. Dreh die Zeit zurück und reite nicht zu der Fee. Oder zerschlag den Spiegel, bevor Will dir nachkommt.

Eine Frau öffnete das angerostete Tor in der Friedhofsmauer. Sie legte ein paar blühende Zweige auf ein Grab. Vielleicht dachte er bei ihrem Anblick an Fuchs, weil es das war, was sie tun würde. Allerdings würde sie ihm wohl eher einen Strauß wilder Blumen aufs Grab legen. Veilchen oder Primeln. Es waren ihre Lieblingsblumen.

Er wandte sich um und ging auf das Tor zu.