Das Buch

 

Die deutsche Autorin und Journalistin Annette Birschel lebt seit über fünfzehn Jahren unter Holländern und weiß: Das Leben hinter den Deichen hat seine besonderen Tücken. Man macht sich zum Beispiel äußerst verdächtig, wenn man Gardinen im Wohnzimmer aufhängt. Bei Geburtstagsfeiern sollte jeder Gast nur ein Stück Kuchen essen (und wirklich nur eins!). Und Sinterklaas, der holländische Nikolaus, kommt schon Mitte November in den Niederlanden an – und zwar auf einem Dampfschiff. Die Niederländer sind anders, als wir Deutschen denken, und dennoch sind sie uns ähnlich. Davon erzählt Annette Birschel. Es ist die Geschichte einer Liebe auf den zweiten Blick.

 

 

Die Autorin

 

Annette Birschel, geboren 1960 in Braunschweig, aufgewachsen in Bremen, lebt seit vielen Jahren als freie Korrespondentin in Amsterdam und arbeitet für deutsche Medien, unter anderem für den WDR Hörfunk und den Deutschlandfunk.

Annette Birschel

Mordsgouda

Als Deutsche
unter Holländern

Ullstein

 

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011

Umschlaggestaltung und Gestaltung

des Vor- und Nachsatzes: Sabine Wimmer, Berlin

Titelillustration: © Isabel Klett

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0026-9

Prolog

Irgendetwas war anders, das konnte ich riechen. Schon auf der Treppe. Fett. Der typische Amsterdamer Freitagabendgeruch. Und richtig, im Esszimmer von Jan und Hetty stand mitten auf dem Tisch die Fritteuse.

Eigentlich war das nichts Außergewöhnliches. So war es seit Jahren, jeden Freitag, wenn wir uns bei unseren Freunden zum borrel trafen mit Kind und Kegel, Mann und Maus. Den Mann gab es in meinem Leben zwar nicht mehr, aber die Tradition dieses geselligen Umtrunks zum Wochenabschluss war geblieben. Nun erklommen nur noch mein Sohn Marten und ich freitags um 18 Uhr die steile Treppe in den dritten Stock.

Sonst hatte sich eigentlich nichts geändert – nur dass die Fritteuse verschwunden war. Wahrscheinlich verstaubte sie im Schrank auf dem Boden. Obwohl, ich bin mir nicht sicher, ob Hetty und Jan nicht klammheimlich den Apparat hervorholten, wenn wir wieder abgezogen waren, um spätnachts doch noch in den Genuss der ein oder anderen kleinen Schweinerei zu kommen.

Denn was ist schon ein echter niederländischer Freitagabend-borrel ohne Fett: kleine Frühlingsröllchen, loempias, dicke kroketten und bitterballen. Immer wenn es gesellig werden soll, holt der Holländer die Fritteuse aus dem Schrank. Ob das nun auf dem Bauernhof in Drenthe ist, nach einem Gipfeltreffen in Den Haag oder eben im dritten Stock eines Wohnhauses in Amsterdam-Süd: zum stilvollen Abschluss einer Arbeitswoche gehört nun mal Frittiertes. Je fetter, desto geselliger.

In den letzten Wochen schien diese Art der Geselligkeit allerdings unangebracht gewesen zu sein, beinahe pietätlos, mussten sich meine Freunde gedacht haben. Schließlich war ich ja ein Häufchen Elend, glaubten sie zumindest, und so fütterten sie mich mit kalten italienischen Häppchen und Crackern mit französischem Weichkäse. Was mir zugegebenermaßen nicht ganz ungelegen kam.

Dazu schenkten sie mir einen guten alten Jenever ein, oder auch zwei. Der Aschenbecher stand in Reichweite, und es gab keine missbilligenden Blicke, wenn ich mal wieder zum Feuerzeug griff. Auch das war eine nicht zu verachtende Nebenwirkung meines neuen Status der Frisch-Entliebten.

Diese Phase schien nun unwiederbringlich vorbei zu sein. Das konnte ich zuerst riechen und dann auch sehen. Die Flasche Jenever stand nicht mehr vor meinem Teller, der Aschenbecher war auch nicht zu sehen. Und statt Provolone und Parmaschinken lagen nun blässlich-graue Röllchen, Bällchen und Stäbchen auf dem Tisch, und mittendrin stand die Fritteuse. Es sollte also wieder gesellig werden.

Marten hatte sich gleich zu seinen Freunden ins Wohnzimmer verzogen. In der einen Ecke des Sofas hing bereits Piet, seine langen Beine quer über den Couchtisch gelegt, in den Ohren die Stöpsel seines iPods. Und in der anderen lümmelte sein zehnjähriger Bruder Jip. Er hatte seine blonden Haare mit viel Gel straff nach hinten gekämmt, vermutlich in der Hoffnung, mindestens so erwachsen auszusehen wie die beiden anderen. Die waren immerhin schon zwölf.

Dazwischen saß nun also Marten in seinem rot-weißen Ajax-Amsterdam-Shirt. Mit seinen blonden Locken und den neiderregend langen Wimpern hätte man ihn glatt für einen Klon vom kleinen Lord halten können. Das funktionierte allerdings höchstens bei kurzsichtigen alten Damen.

Einträchtig stopften die drei Chips in sich hinein, tranken Cola und starrten gebannt auf den Fernseher, wo sich sprechende Mäuse mit gemeinen, aber dummen Katzen herumschlagen mussten. Sie schenkten mir einen kurzen und glasigen Blick, als ich hereinsah, murmelten kurz »Hallo« und wandten sich dann wieder den wichtigeren Dingen des Lebens zu.

Im Esszimmer stand Jan am Tisch und frittierte. Über seiner Jeans wölbte sich ein kleiner Bauch, von der Hitze der Fritteuse klebte das rotblonde Haar an seinem Kopf und war sein ohnehin etwas rosiges Gesicht nun fast schon rot. Mit seligem Lächeln warf er gekonnt ein paar panierte Fleischbällchen, bitterballen, in das kochende Fett. Dann holte er so einfühlsam, wie er sonst acht Stunden am Tag gefährliche Viren und Spam aus den Computern des Verkehrs- und Wasserministeriums fischte, lange, graue, fingerdicke Wurststengel aus ihrer Plastikhülle. Frikandellen. Als ich das Wort zum ersten Mal hörte, dachte ich an saftige dicke Buletten und bestellte gleich eine. Das kleine ›n‹ mitten in dem Wort hatte ich überhört. Den Fehler macht man nur einmal.

Was in so einer frikandel drin ist, weiß keiner so genau, und es will auch keiner wissen. Aus gutem Grund. Es ist wohl irgendeine Mischung aus Kuheutern und Kalbsgedärmen, angereichert mit feingeraspelten Schweineohren, naturidentischen, EU-geprüften Aromastoffen und Geschmacksverstärkern. Das wird dann in der Fabrik zu den langen viereckigen Stäben gepresst, die die Niederländer so unglaublich glücklich machen können. 600 Millionen frikandellen essen sie im Jahr, nicht ohne sie zuvor in Ketchup und Mayonnaise zu ertränken.

Zwei dieser Monster hielt Jan nun in den Händen und küsste mich: links, rechts, links, ein Küsschen auf die Wange. »Welkom, wir frittieren heute.«.

Na, das war ja schließlich nicht zu übersehen.

»Gezellig, oder?«

Zwölf Jahre Niederlande hatten mich gelehrt, dass es auf diese Frage nur eine Antwort gibt: »Sehr gesellig, sicher.«

»Wir haben auch kaassoufflés

Jan zeigte auf die kleinen viereckigen Teigpäckchen, die mit einer entfernt nach Käse schmeckenden Paste gefüllt sind und mit einem Soufflé so viel gemein haben wie der Papst mit Silvio Berlusconi. Dabei lächelte er so glückselig, dass ich auf einmal alles verstand: Der Verzicht auf frittierte Häppchen am Freitagabend musste für Jan und Hetty eine große Entbehrung gewesen sein. Und das nur meinetwegen! Ich spürte eine ungeheure Welle der Zärtlichkeit für meine Freunde aufkommen.

Wenn sie nun der Meinung waren, dass meine Zeit als klagendes Opfer vorbei sein sollte, dann war das gut so. Um ehrlich zu sein, ich hatte die kleinen bitterballen eigentlich auch vermisst. Die sind nämlich alles andere als bitter und heißen auch nur deswegen so, weil man sie früher zu einem Gläschen Kräuterbitter aß.

»Und? Hattest du eine schöne Woche?«, begrüßte Hetty mich munter, als sie aus der Küche kam, in den Händen die Schüssel mit den Fritten. Zur Begrüßung braucht man die auch nicht unbedingt. Die Hände natürlich. Der Niederländer küsst. Links, rechts, links.

Hetty hatte ihre langen braunen Haare straff zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihre Brille halb auf die Nase herabgeschoben. Fast ähnelte sie meiner Handarbeitslehrerin, hätten da nicht dicke Perlen lustig von ihren Ohren gebaumelt. Jetzt stellte sie die Pommes auf den Tisch und arrangierte Ketchup und Mayonnaise drum herum. Wir setzten uns.

»Nun sag mal«, meine Freundin sah mich mit ihren Schokoladenaugen auffordernd an, »was tust du jetzt? Gehst du zurück nach Deutschland?«

Um ihre Direktheit habe ich sie immer schon beneidet. Ohne Umschweife und überflüssigen Schnickschnack steuert sie auf ihr Ziel zu. Es ist ja auch außerordentlich zeitsparend.

»Nein, wieso? Warum sollte ich denn zurück?« Ich war verwirrt.

Die Balkontür stand halb offen, so dass einem die feuchte Kälte lustig in die Knochen kriechen konnte, die Kinder saßen mit Chips und Cola gemütlich vor dem Fernseher. Und ich steckte mir gerade einen heißen bitterbal in den Mund. Sehnsucht nach der Heimat hatte ich absolut nicht. Warum auch?

»Na, wo du jetzt keinen Mann mehr hast.«

»Was? Bin ich etwa nichts ohne Mann?«, schnaubte ich. »Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad.«

Ich war richtig stolz, dass mir just in diesem Moment der Emanzenklassiker eingefallen war. Nur – das hätte ich wissen müssen – dieses Argument prallte an Hetty ab wie eine Sturmböe an den Betonlocken von Königin Beatrix.

Nicht, dass meine Freundin ein Hausmütterchen wäre. Im Gegenteil.

Hetty ist Managerin, eine absolute Karrierefrau. Selbst an einem Freitagabend kann sie beinah verklärt von ihrer Arbeit sprechen, als könne sie den Montag und die Aussicht auf eine neue, vollgepackte 40-Stunden-Woche gar nicht erwarten. Nur verbindet sie mit Feminismus eben lila Latzhosen und BH-Verbrennungen vor dem Monument für die Opfer von Krieg und Gewalt auf dem Amsterdamer Dam, dem Platz mitten in der City.

»Das ist Quatsch. Sonst würdest du nämlich jetzt nicht hier sitzen.« Hetty blieb nüchtern und ungemein logisch, wie immer. »Schließlich bist du wegen eines Mannes hierhergekommen. Und jetzt ist der weg. Also kann es gut sein, dass du auch gehst.«

Genau in diesem Moment blieb mir der bitterbal im Halse stecken. Das heißt, die eine Hälfte. Die andere Hälfte fiel mir aus dem Mund, und das heiße Kalbfleischragout tropfte über meine linke Hand auf den blank polierten Esstisch.

»Shit«, sagte ich, und dann selbstverständlich gleich »Sorry« hinterher.

Beides sind ungemein wichtige Wörter.

Holländer lieben Schimpfwörter, vor allem, wenn sie die weiblichen und männlichen Geschlechtsteile umschreiben. Das sagt sich so lekker. Und sorry sagen sie sowieso immer. Wenn sie einem die Ladentür vor der Nase zupfeffern zum Beispiel. Sorry hat nichts, aber auch gar nichts mit ›Entschuldigung‹ zu tun. Sorry heißt so viel wie ›dumm gelaufen‹.

Und nun war ja wirklich etwas dumm gelaufen. Nicht nur, dass ich den Tisch meiner Freunde bekleckert hatte. Ich hatte mich zudem wieder mal zu einem emotionalen Ausbruch hinreißen lassen, hatte beinahe eine Grundsatzdebatte über den Wert der Frau in einer von Männern dominierten Welt vom Zaun gebrochen. Und nichts ist den Niederländern verhasster als heftige Streitgespräche an ihrem heiligen Freitagabend-borrel. Wer das tut, ist ungesellig.

Jan schlug mir kräftig mit der Hand auf den Rücken.

»Allmählich solltest du doch einen bitterbal essen können«, sagte er munter.

Ich hustete noch immer, mein Gesicht war knallrot und die Wimperntusche verschmiert.

»Ja, kann ich auch«, krächzte ich. »Sogar beim Neujahrsempfang von Königin Beatrix.« Ich trank einen Schluck Wein und der halbe bitterbal rutschte endlich dorthin, wo er schon längst hätte sein sollen. »Da passiert mir das nie. Da kann ich bitterballen vom Silbertablett nehmen, in Senf dippen und formvollendet verspeisen. Häppchen für Häppchen. Ohne zu kleckern. Und dabei kann ich auch noch mit dem charmanten Pressesprecher der Dame das deutsch-niederländische Verhältnis erörtern.«

Doch was ich absolut nicht kann, musste ich im Stillen zugeben, ist einen bitterbal essen und dabei angemessen auf eine typisch holländisch-direkte Frage antworten. Warum konnte ich auf eine direkte Frage nicht einfach eine ebenso direkte Antwort geben, ohne Hintergedanken zu vermuten, die die Holländer nun mal meistens nicht haben?

»Das mit dem Kleckern nehm ich dir nicht ab«, sagte Hetty und wischte den Tisch sauber. »Aber alles andere glaube ich dir aufs Wort. Reden kannst du immer.«

Ich nickte zerknirscht. »Es tut mir leid, ich wollte nicht so heftig …«

»Ist schon gut«, unterbrach mich Hetty. »Wir kennen dich ja allmählich.« Sie grinste frech und legte noch ein paar bitterballen auf meinen Teller. »Warum musst du gleich aus allem eine Prinzipienfrage machen?«

Ich nickte beschämt. Ich war meinem Ruf der streitsüchtigen Deutschen mal wieder mehr als gerecht geworden.

»Aber wie ist es denn nun? Gehst du zurück nach Deutschland, ja oder nein? Schließlich bist du für einen Mann hierhergekommen. Ohne den Friesen säßest du doch gar nicht an diesem Tisch.«

Hetty war nicht nur unerbittlich, sondern hatte auch noch recht. Der ›Friese‹, wie ich meinen Exmann nenne, hatte mich schließlich vor zwölf Jahren überhaupt hierhergebracht.

»Es hat ihn aber nicht viel Mühe gekostet, mich zu überzeugen. Amsterdam ist ja nicht gerade Salzgitter oder Islamabad«, protestierte ich leicht. »Außerdem bin ich kein Einzelfall. Jedes Jahr kommen schließlich Tausende von deutschen Frauen in die Niederlande, nur der Liebe wegen. Zwischen unseren Ländern verläuft die erotischste Grenze Europas.«

Jan sah mich auf einmal äußerst interessiert an.

»Und es sind längst nicht nur Deutsche«, sagte ich noch mit leichtem Triumph. »Denkt mal an Prinzessin Maxima. Die ist ja auch nicht wegen der Tomaten oder des überreifen Goudas in ein Land gezogen, das jederzeit von einer Flutwelle überrollt werden kann.«

»Maxima hat aber noch einen Mann, und du nicht.«

Das saß.

»Ohne Mann ist es ungesellig«, sagte Hetty.

Gesellig, da war das drohende Wort wieder. Ich wusste, dass ich nun meinen Mund halten musste.

Jan nickte zustimmend. »Oder hast du jetzt die Nase voll von holländischen Männern?«

Er klang doch leicht besorgt. Aber das sind Männer ja schnell, wenn es einem von ihrer Sorte an den Kragen geht.

»Nein, nein«, beruhigte ich ihn. »Der Friese war ein Einzelfall. Ich liebe Männer, und holländische ganz besonders.«

Jan wirkte erleichtert.

»Aber brauche ich unbedingt einen Mann, um weiterhin gesellig in Amsterdam zu leben?«

»Natürlich«, meinte Hetty. »Außerdem wird es Winter, und dann hast du es kalt im Bett.«

Ich murmelte etwas von einer Wärmflasche. Jan sah schon wieder etwas besorgt aus.

Als ich mir später am Abend zu Hause die letzten Reste der bitterballen von den Zähnen schrubbte, überdachte ich meine Lage. Irgendwie hatten Jan und Hetty ja recht. Ich hatte mir damals den Mann ausgesucht, nicht aber das Land. Musste ich mich nun nach zwölf Jahren auch von dem Land scheiden lassen und in die Heimat zurückkehren? Wenn es nach Jan und Hetty ginge, hatte ich wohl kaum eine Wahl, zumindest wenn ich mein bisheriges nettes holländisches Leben weiterführen wollte.

»Das wäre ja wohl gelacht«, sagte ich kämpferisch zu meinem Spiegelbild. »Dann lieber Fisch ohne Fahrrad.«

Doch das unbehagliche Gefühl verschwand nicht.

Wahrscheinlich auch deswegen, weil der Vergleich mit dem Fisch und dem Fahrrad in den Niederlanden nicht so ganz glücklich ist. Wenn man bedenkt, dass sich ganze Regierungskommissionen dafür einsetzen, jeden Querschnittsgelähmten und selbst Frauen in Burkas aufs fiets, das Fahrrad, zu bekommen, dann ist nicht ganz auszuschließen, dass nicht längst irgendwo ein Modell speziell für Fische kursiert. Ein Wasserrad natürlich.

›Ohne Mann ist es ungesellig.‹ Hettys Worte klangen noch in meinen Ohren. Geselligkeit ist der höchste Glückszustand für einen Niederländer. Arbeit, Politik, Wohnung – alles muss gezellig sein. Das gilt selbst fürs Bett, wird gemunkelt. Wenn ein niederländischer Mann der Geliebten nach einer heißen Liebesnacht zum Abschied sagt: ›Es war gesellig‹, dann ist das durchaus ein Kompliment.

Ein großes Elend ist dagegen die Ungeselligkeit. Die ongezelligheid muss unter allen Umständen vermieden werden. Das gilt für jede Ebene. Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber nach einem Treffen erklären, dass es nicht sehr gezellig war, kann man mit Massenstreiks rechnen. Das kommt aber eigentlich nie vor, weil sie sich dann doch immer wieder einigen und es sich wahrscheinlich bei ein paar bitterballen wieder so richtig nett machen.

Wenn ich also nicht in dieses tiefe Jammertal abgleiten wollte, dann blieb mir eigentlich gar nichts anderes übrig: Ein Mann musste her – ein holländischer, versteht sich.

Kapitel 1

Amsterdam zählt 90 Inseln, 550 000 Fahrräder, 1300 Brücken und 767 457 Einwohner. Einer davon bin ich. Und das seit zwölf Jahren. Ich besitze 43 Paar Schuhe, darunter ein paar rot-weiß-blaue Holzpantinen, klompen, ein Fahrrad, drei Käsehobel, einen Exmann, den Friesen, und natürlich habe ich einen echten Amsterdamer zu Hause: zwölf Jahre alt mit zwei Pässen und einer Ajax-Klubkarte. All die Jahre hatte es mir hier gefallen. Warum sollte ich also nach Deutschland zurück?

Zugegeben: Damals, vor meinem Umzug aus Genf, hatte ich davon geträumt, an einer idyllischen Gracht zu wohnen. Das blieb ein Traum. Dazu hätte ich mir schon einen anderen, lukrativeren Beruf oder einen anderen Mann suchen müssen. Gegen so ein altes malerisches Grachtenhaus macht sich unser behäbiger Wohnblock aus wie ein Opel Corsa gegenüber einem Jaguar. Aber der kann schließlich auch ganz behaglich sein.

Wir wohnen in einem dieser Viertel, die kluge Städteplaner vor knapp einhundert Jahren rund um den alten Grachtengürtel angelegt haben. Hier sind die Straßen umsäumt von alten Bäumen und die Bürgersteige so breit, dass die Kinder Fußball spielen können, ohne die Nachbarn zu nerven, die in der Sonne sitzen und ihre Zeitung lesen. Allenfalls die paar Dutzend Fahrräder kreuz und quer auf den Bürgersteigen und an den Bäumen geben dem Ganzen typisch holländisches Flair. Und natürlich die Fenster. So groß, dass sie nicht nur viel Licht in die Wohnung hineinlassen, sondern auch einen wunderbaren Einblick in das Leben der Nachbarn ermöglichen. Das ist ein großer Vorteil, wenn man in einem Land ohne Gardinen wohnt.

Heimweh hatte ich in all den Jahren eigentlich nie. Höchstens, wenn ich Anfang Dezember feststellte, dass mir das Lebkuchengewürz ausgegangen war oder ich am Samstagabend beim Brotkaufen nur noch zwischen Braun und Weiß wählen konnte.

Der einzige Unterschied ist die Farbe.

Niederländisches Brot hat die verblüffende Eigenschaft, dass man es zwischen zwei Fingern so zusammendrücken kann, dass das ganze, 50 Zentimeter lange Brot auf zwei Zentimeter schrumpft. Das Gummibrot haben die holländischen Kaufleute wahrscheinlich auch im 17. Jahrhundert als Erbe in Amerika hinterlassen, genau wie die Toleranz und ihren Nikolaus, den Sinterklaas.

Heimweh hatte ich an diesem wunderbaren Morgen jedenfalls nicht. Ich sah aus dem Wohnzimmerfenster. Es war einer jener strahlenden Herbsttage, die förmlich herausschreien: ›Nimm dein Rad, such dir ein schönes Café und trink ein letztes Bier in diesem Jahr draußen in der Sonne!‹

Nach tagelangem Regen sahen die roten Backsteinhäuser in unserer Straße wie frisch gewaschen aus. Ein kräftiger Wind wirbelte die bunten Blätter von den Bäumen und türmte die Blumenkohlwolken zu gigantischen Gebirgen auf.

Auf dem Rad werde ich später ordentlich strampeln müssen, dachte ich. Es ist eine dieser unerklärlichen holländischen Gesetzmäßigkeiten, dass man auf dem Fahrrad immer Gegenwind hat. Doch wer nur einmal unter so einem dramatischen Himmel über die Grachten geradelt ist, liebt jeden Wind und will nie wieder aus dieser Stadt weg.

Ich jedenfalls hatte noch nicht ein einziges Mal in all den Jahren daran gedacht. Sieht man von einem der ersten Tage ab.

Es war kurz nach dem Umzug. Alle Kisten waren ausgepackt, ich saß gemütlich auf dem Sofa und betrachtete meine neu renovierte Wohnung. Normalerweise bot unser Biedermeiersofa Platz für drei. Jetzt aber hätte sich auch mein nicht gerade breit gebauter Mann nur mit Mühe neben mich quetschen können. Neun Monate Schwangerschaft hatten mich dem Umfang einer Kuh ein deutliches Stück nähergebracht. Ich sah mit Wohlgefallen auf den glänzenden Parkettboden. Doch ich war nicht allein.

Da lief eine Maus. Das heißt, sie schlenderte fast, ganz gemütlich, als schaute sie mich dabei noch prüfend an, ob ich in Zukunft wohl anständig für ihr leibliches Wohl sorgen würde.

Die Absicht hatte ich nicht.

Ich schrie.

Der Friese dachte wahrscheinlich, dass das Baby nicht den ordnungsgemäßen Weg über stundenlange Wehen gewählt hätte, sondern plötzlich herausgefallen wäre. Jedenfalls war er sofort zur Stelle. Ich saß nicht mehr, sondern war, so schnell es meine Leibesfülle zuließ, auf das Sofa gestiegen und stammelte: »Eine Maus!«

Der Friese sah mich verständnislos an. »Natürlich. Wir sind in Amsterdam.«

Als ob Mäuse genauso zu der Stadt gehörten wie die Löcher zum Käse.

»Das ist nun mal so in einem alten Haus. Jeder hat Mäuse. Die kommen überall durch.« Die städtischen Kammerjäger hätten in den alten Stadtteilen den Kampf bereits aufgegeben, sagte er dann noch lapidar.

Ich hatte allerdings nicht die Absicht, meine ohnehin schon nicht sehr große Amsterdamer Wohnung auch noch mit der Maus und ihrer sicherlich umfangreichen Familie zu teilen.

Klaglos – ein sorgsamer Mann schlägt seiner hochschwangeren Frau schließlich nichts ab – war der Friese daraufhin zum Mäusebekämpfungsdienst angetreten. Regelmäßig und ohne Aufforderung stellte er die Fallen auf und präparierte sie mit pindakaas. Erdnussbutter schätzen nämlich nicht nur die zweibeinigen Holländer. Und was noch viel wichtiger war: Er entsorgte auch regelmäßig die Mäuseleichen. Diese Aufgabe hatte mein Sohn Marten widerspruchslos übernommen, als sein Vater ausgezogen war. Zumindest dazu brauche ich also keinen Mann, dachte ich zufrieden.

»Wieso Mann?« Marten sah argwöhnisch von seinem Nutellabrot auf. Den letzten Satz musste ich laut ausgesprochen haben. »Wozu brauchst du einen Mann? Du hast doch mich.«

»Eben«, sagte ich und behielt wohlweislich den kleinen nagenden Gedanken für mich, dass es Momente gab, in denen eine Mutter nicht nur Nudeln kochen und Fußballsocken waschen wollte. Ein lautes ›Schnapp‹ aus der Küche rettete mich vor bohrenden Nachfragen.

»Wieder eine gefangen«, sagte ich. »Und ich regle das mit der Leiche nicht.«

»Okay«, sagte er genervt und stiefelte in die Küche.

Als er wenig später wieder zurückkam, meinte er hoffnungsvoll: »Wir können uns doch eine Katze anschaffen. Hetty und Jan haben sogar zwei. Und Mäuse haben die jetzt nicht mehr.«

»Das wäre die Lösung«, stimmte ich zu. Doch Katze statt Mann, das war natürlich der Klassiker, und so weit war ich noch lange nicht. Laut aber sagte ich: »Das geht nicht. Dann müssten wir noch mehr staubsaugen.«

Wenn ich etwas zutiefst verabscheue, dann sind das Mäuse und Staubsaugen. Und Letzteres übernimmt Marten nur ungern und höchst selten. Er seufzte, zog seine Jacke an und nahm seinen Rucksack. Mit einem schnellen »Tschüs« zog er die Tür hinter sich zu. Ich war allein. Vor mir lagen zwei lange, kindfreie Tage. Es war Papawochenende, und dann traf ich mich abends immer mit meinen Freundinnen in der Stadt.

Vom Fenster aus sah ich, wie Marten wegradelte. Meine Nachbarin von gegenüber winkte mir zu. Sie hatte die Gymnastikmatte ausgerollt und begann gerade ihre morgendlichen Pilatesübungen. In mir regte sich das schlechte Gewissen. Ein paar Sit-ups könnten mir eigentlich auch nicht schaden, dachte ich, als ich mich so in der spiegelnden Fensterscheibe betrachtete. Eine Frau im mittleren Alter mit nach allen Seiten abstehenden Haaren, in einer alten Jogginghose und einem ausgeleierten T-Shirt mit der Aufschrift ›I AMsterdam‹. Ein Werbegeschenk.

Mein Blick fiel auf den Kaminsims. Da stand eine Ansichtskarte mit einer Mühle unter einem strahlend blauen Himmel. Rechts oben glitzerte in schwungvoller Schreibschrift Groetjes uit Holland. Es war der erste Gruß meiner neuen holländischen Familie vor zwölf Jahren gewesen. Den Text auf der Rückseite kannte ich auswendig, so oft hatte ich ihn voll Verwunderung gelesen. ›Welkom in ons kikkerlandje‹. Ich hatte die Karte auf den Kaminsims gestellt, wo Holländer alle Zeugnisse wichtiger Ereignisse in ihrem Leben ausstellen: Weihnachtskarten, Geburtstags- und Urlaubsgrüße. Das kikkerlandje gehörte unbedingt dazu.

Wer nennt nun sein eigenes Land ein kikkerlandje? Nach dem Dikke van Dale, dem niederländischen Duden, bedeutet das ›morastiges nasskaltes Ländchen‹. Der passende Lebensraum für kikker, Frösche eben.

Nasskalt – das heißt feucht und unangenehm. Ich muss meinen Friesen damals wohl sehr prüfend angesehen haben, als suchte ich nach grünen glitschigen Stellen.

»Aber das stimmt doch auch«, hatte er entgegnet. »Es ist kalt und nass, meistens jedenfalls. Das mit den Fröschen ist nur liebevoll gemeint, ein Witz eben.«

War ich in einem Land gelandet, das für die Eingeborenen ein Witz war? Einem Franzosen würde es doch nicht im Traum einfallen, von der petite nation zu sprechen.

»Wir lieben nun mal Verkleinerungen«, hatte er erklärt.

Damit hatte er nicht unrecht. Holländer trinken nicht einfach eine Tasse Kaffee, sondern ein Tässchen. Wenn das Sönnchen scheint, ist es ein leckeres Wetterchen, und sie fahren in ihrem Autochen zu einem Festchen.

»Aber alles ist auch für euch nicht niedlich«, wandte ich ein. »Ihr könnt zwar ein Grippchen haben, aber sicher kein Krebschen, Gott ist nie Gottchen, und Beatrix würde es sich sicher sehr verbitten, Königinnchen genannt zu werden. Selbst ihr kennt bei manchen Dingen also ein wenig Ehrfurcht.«

»Schon, aber warum sollten wir Ehrfurcht vor unserem Land haben?«, fragte der Friese fast schon entgeistert. »Es gehört doch uns. Bei allen anderen hatte Gott seine Finger im Spiel, aber unser Land haben wir geschaffen. Wir gehen eben anders damit um als ihr mit eurer Heimat

Das ›Heimat‹ betonte er so, als könne man es nur in Großbuchstaben schreiben. Holländer nennen Deutschland gerne auf deutsch ›Die Heimat‹, genau wie auch die deutsche Fußballnationalmannschaft für sie nur ›Die Mannschaft‹ ist. Das klingt dann gleich wie ein bombastischer Panzer, vor dem man sich hüten muss.

Dass Holländer so ohne weiteres zugeben, dass ihr Land zumindest recht übersichtlich ist, zeugt natürlich von einem gewissen Realismus. Ein Blick auf die Karte zeigt: Es ist klein, und überall ist Wasser. So weit hergeholt ist das mit dem Lebensraum für Frösche also auch wieder nicht.

Manchmal steckt ja sogar ein Prinz in so einem Frosch, auch wenn sich heutzutage niemand mehr darauf verlassen sollte. Zumindest für eine wurde das Märchen wahr: Die kleine argentinische Bankangestellte Maxima hatte sofort zugegriffen, als sie ihren Willem-Alexander traf – auch nicht gerade ein Typ wie George Clooney. Doch wenig später verwandelte er sich in einen Prinzen. Ob sie ihn zuerst an die Wand gepfeffert oder geküsst hat, wissen wir natürlich nicht. Tatsache ist, dass Maxima wenig später ein Krönchen auf ihren Kopf setzen durfte, und nun ist sie die prominenteste Importbraut des Landes.

Dass sich mein Friese am Ende nicht als Prinz entpuppt hat, lag vielleicht daran, dass ich ihn nicht auf einer Jetset-Party kennengelernt hatte, sondern am Ende der Welt in Australien. Dorthin waren wir gereist, um über eine Konferenz zu berichten, er aus Amsterdam, ich aus Genf.

Damals hatte ich ihn und seine beiden Kollegen sofort als Holländer erkannt. Holländer erkenne ich überall, selbst in einem sterilen Konferenzzentrum in Canberra. Und zwar nicht, weil sie selbst für deutsche Ohren mit überhöhter Lautstärke reden.

Ich gehe jede Wette ein, dass ich jede Nationalität nur anhand von Schuhen und Brillengestell bestimmen kann. Mein Sohn Marten hält das für eine schamlose Übertreibung, die weit über die normale Berufsdeformation von Journalisten hinausgeht. Ganz unrecht hat er ja nicht. Es ist schon noch eine Herausforderung, die Wallonen und die Franzosen auseinanderzuhalten. Doch Holländer kann ich mühelos von Deutschen unterscheiden.

Sie schauen jedem Fremden direkt, beinah schamlos in die Augen und dächten nie im Traum daran, ihre Nationalität zu verstecken, und schon gar nicht hinter so einer hypermodernen schmalen Brille, die – wie Deutsche aus unerfindlichen Gründen meinen – dem Träger ein kosmopolitisches und daher undeutsches Flair verleiht. Bei Holländern muss alles praktisch sein, eben normal; selbst die Brillengestelle.

An den Füßen tragen sie nicht etwa klompen, um mal gleich dieses große Missverständnis auszuräumen. Die Holzschuhe gehören zwar zum kulturellen Erbgut wie die Schokolade zur Schweiz, im täglichen Leben bevorzugen Frau Antje und Herr Henk aber lässige Treter, auf denen sie locker durch die Welt schlendern können. Deutsche dagegen wollen fest auf dem Boden stehen und forsch daherschreiten, und sie stellen ihr korrektes Bewusstsein auch gern am Fuße unter Beweis: mit zwar dezentem, aber sicherlich orthopädisch vertretbarem Schuhwerk.

Die drei Männer in Canberra hatten sich jedoch durch ihre Hosen geoutet. Es waren afritsbroeken, Hosen, von denen man die unteren Teile der Beine bei Bedarf mit einem Reißverschluss abkoppeln kann. Zwei in einer, sozusagen. Das Problem dieser ungemein urlaubsfreundlichen Hosen ist, dass die Beinteile nicht so oft getragen werden und daher nach ein paar Wäschen eine total andere Färbung haben. Ich habe allerdings noch nie einen Holländer getroffen, für den das ein Grund gewesen wäre, das gute Stück in die Altkleidersammlung zu geben.

Läuft einer Frau ein Mann in so einer mittelkurzen Hose über den Weg, dann kann man es ihr ja wohl kaum übelnehmen, wenn ihr Blick mit Wohlgefallen an den muskulösen Radlerbeinen hängenbleibt. Und wenn der dazugehörige Mann ihr auch noch frech grinsend in die Augen schaut, ist das schon die halbe Miete.

»Ich hatte eine ganz normale Hose an«, protestierte der Friese an dieser Stelle immer, wenn wir Freunden die Geschichte unseres Kennenlernens erzählten.

»Egal, ich wusste sofort, dass du Holländer bist.«

»Friese«, korrigierte er beleidigt.

»Es ist ja schon schlimm genug, dass ihr alle Niederländer ›Holländer‹ nennt. Schließlich sind das nur die Bewohner der zwei westlichen Provinzen um Amsterdam, Utrecht und Rotterdam.«

»›Holländer‹ ist aber kürzer und einfacher«, wandte ich ein.

Der Friese sah mich streng an. »Jahrhundertelang haben die Holländer bei uns alles bestimmt. Da kann man ja wohl verstehen, dass die restlichen zehn Millionen heute nicht immer nur mitgemeint sein wollen, wenn alle Welt von ›Holland‹ redet. Die Friesen sind natürlich sowieso eine besondere Kategorie«, fügte er dann noch mit einem gewissen Stolz hinzu. »Aber vergleicht uns bloß nicht mit euren Ostfriesen! Das sind bei uns die Brabander und Limburger. Die kann man erstens nicht verstehen und zweitens sind sie auch nicht ordentlich.«

Und das, so meinte er, müsse irgendwie mit ihrer katholischen Konfession zusammenhängen; der Friese war Calvinist. In erster Linie aber war er Friese, das sollte ich schnell lernen. Überall auf der Welt traf er andere Friesen und erkannte sie auch sofort. Entweder weil ihre Flagge mit den blauen Streifen und roten Seerosenblättern auf ihrem Caravan klebte oder weil sie die offiziell zweite Landessprache sprachen. ›Friese‹ ist fast schon ein Prädikat, und das wissen diese genau. Meiner ganz besonders.

»Wenn du uns ›Holländer‹ nennst, dann kann ich auch alle Deutschen als ›Bayern‹ bezeichnen!«

Damit war die Friese-Holländer-Debatte beendet. Denn diesem unschlagbaren Argument hätte ich als überzeugte Bremerin natürlich niemals zustimmen können.

»Damals konnte ich das alles aber noch nicht wissen, und deshalb habe ich euch einfach für Holländer gehalten«, verteidigte ich mich. »Aufgefallen seid ihr drei mir jedenfalls trotzdem. Und nicht nur wegen der unvermeidlichen Abreißhosen, die ihr ja sogar auf noblen Empfängen getragen habt.«

Der Friese verkniff sich eine bissige Bemerkung.

»Ihr wart so locker«, meinte ich versöhnlich. »Jeden habt ihr sofort geduzt, als ob es eine einzige große Party wäre. Für euch gab es keine Exzellenzen oder Generalsekretäre, sondern nur ›Bob‹ oder ›Jane‹. Und ihr wart die einzigen, die sich ständig amüsierten, selbst nach stundenlangem Durchackern von Hunderten Seiten Resolutionsentwürfen. Das fand ich toll.«

»Wir saßen einfach an der Bar nebeneinander, und so ist es passiert«, beschrieb der Friese den Moment unseres Kennenlernens nüchtern, war aber geschmeichelt. »Außerdem war es ja bei euch in der deutschen Ecke wirklich nicht sehr lustig.«

Dass ich seine Ehre als Friese nicht verletzen wollte, hatte ihn besänftigt. Außerdem ist Lockerheit ein Kompliment, von dem Holländer und auch Friesen nicht genug bekommen können. Schließlich bestätigt es ihre tief verwurzelte Ansicht, dass wir Deutschen ein steifes Siezvolk mit gebügelten Krawatten und geputzten Schuhen sind, das zum Lachen in den Keller geht.

In diesem Fall aber hatte er recht. Bei meinen deutschen Kollegen gab es tatsächlich wenig zu lachen. Sie wichen auch nie von den strengen Höflichkeitsformen ab, die ihren Umgang miteinander schon seit zwanzig Jahren Tag für Tag bestimmten. Frau Dr. Ingrid Meier-Wöhlbrandt zählte den ganzen Tag, wie viele Gläser Wasser sie getrunken hatte.

»Man sollte bei dieser Hitze nicht zu wenig trinken. Aber keinesfalls zu viel Koffein«, ermahnte sie mich, immer wenn ich mir wieder einen Kaffee holte. »Das hat mir mein Internist empfohlen.«

Den hatte sie extra vor der Australienreise konsultiert.

Herr Kopf pflichtete ihr bei. »Man kann ja nie wissen, wie man auf das australische Klima reagiert.«

Am Abend des dritten Konferenztages wechselte ich auf die holländische Seite. Als ich das Restaurant betrat, saßen Frau Dr. Meier-Wöhlbrandt und Herr Kopf schon an einem ruhigen Tisch im hinteren Teil, in gesunder Entfernung zur Klimaanlage, vor sich die Tagungsunterlagen. Die Holländer hingen vorne an der Bar herum.

»Setz dich doch zu uns«, hatten die drei gesagt. Die Entscheidung war schnell getroffen und mein Schicksal damit besiegelt.

»Where are you from?«, hatte der indische Wirt später am Abend gefragt. »Germany?«

Die drei Männer versteiften sich. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Niederländer, als im Ausland für einen Deutschen gehalten zu werden. Sie lachten gequält.

»No, we come from Holland.«

Keinem würde es einfallen, im Ausland diese Frage mit ›the Netherlands‹ zu beantworten. Dann ist die Chance auf entgeisterte Gesichter nämlich noch größer. Dem indischen Wirt aber sagte selbst ›Holland‹ nichts.

»Holland, the country of Heineken«, sagte der Friese schlagfertig.

Langsam schien es dem Wirt zu dämmern, dass es da um ein real existierendes Land gehen musste.

Dann spielte der Friese seinen besten Trumpf aus: »Johan Cruijff.«

Da lachte der Wirt auf, das indische Bier kam auf den Tisch, und der Abend wurde noch lang.