Biikebrennen

 

 

 

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Band 20

 

Biikebrennen

 

von Catalina Corvo und Logan Dee

nach einer Story von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Dario Vandis

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt. Auch von anderer Seite droht Asmodi Ungemach. Unzufrieden mit seiner Herrschaft, hat sich ein Geheimbund oppositioneller Dämonen gebildet, dessen Mitglieder maskiert in der Öffentlichkeit auftreten und Asmodi zum Rückzug auffordern. Da der Fürst dies strikt ablehnt, scheint ein offener Krieg unter den Dämonen unausweichlich.

In dieser Situation tötet Cocos Mutter Thekla Zamis unter dem Einfluss Asmodis die Dämonin Traudel Medusa – die nicht nur Michael Zamis' Geliebte war, sondern auch ein hohes Mitglied der Oppositionsdämonen. Die Oppositionellen rufen zum Rachefeldzug ... aber mit Cocos Hilfe gelingt es Michael Zamis, seine Unschuld zu beweisen. Dennoch sind die Oppositionellen nicht länger an seiner Unterstützung interessiert. Stattdessen ist es plötzlich Coco, die von ihnen hofiert wird. Als sie dem maskierten Anführer der Oppositionsdämonen bei einem Treffen in Rumänien klarmacht, dass sie kein Interesse an den politischen Intrigen der Dämonen hat, verpasst er ihr ungefragt ein »Permit« – ein magisches Tattoo in Form eines zweiköpfigen Adlers. Einst, wenn die Oppositionellen die Macht in der Schwarzen Familie übernommen hätten, werde ihr dieses Permit Schutz gewähren ...

 

 

 

 

Erstes Buch: Der Sohn des Dämons

 

 

Der Sohn des Dämons

 

von Catalina Corvo

nach einer Story von Uwe Voehl

 

1. Kapitel

 

Zu spät bemerkte Georg Zamis die zuckende Bewegung im Schatten. Bevor er in den schnelleren Zeitablauf wechseln konnte, wand sich die feuchte Schlinge schon um die Handgelenke und seinen Hals. Im nächsten Augenblick rann eine schleimige Flüssigkeit über sein Gesicht. Sie nahm ihm die Sicht und füllte seinen Mund, nistete sich ein und quoll immer wieder hervor wie Speichel. Je mehr er davon ausspuckte, umso mehr entstand neu. Der bittere Geschmack ließ ihn würgen. Eine weitere Fessel schnürte seinen Brustkorb und seine Beine ein, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Er verfluchte sich für seine Unvorsichtigkeit, aber es war zu spät.

Schließlich wisperte eine vertraute Stimme in sein Ohr. »Du hättest vorsichtiger sein sollen. Aber nun werden wir dir eine Lektion erteilen müssen.«

Georg spuckte aus. »Wieso hast du mich verraten?«, röchelte er. »Wir sind doch …«

»Verwandt?« Die Stimme lachte tonlos. »Blut ist dicker als Wasser, heißt es.«

Jemand zerrte Georg an seinen Fesseln in die Höhe. Dann kam er mit dem Rücken auf einem kalten, glatten Stein zu liegen.

»Das werde ich jetzt herausfinden. Wenn ich dich aufschneide. Dein Innenleben ist bestimmt sehr interessant.«

Zunehmend panisch kämpfte Georg mit dem Schleim, der mittlerweile seine Kehle hinabrann. »Du bist ja krank!«, röchelte er.

»Ich weiß. Und gegen manche Krankheiten gibt es nur eine Heilung.«

Warme Finger fuhren erstaunlich sanft über seine Wangen und seinen Hals, bevor dieselben zärtlichen Finger brutal auf seine Gurgel drückten, um ihm das Hemd aufzureißen.

»Den Tod …«

 

Wien, 31. Oktober 1926

Als die Uhren halb zwölf schlugen, schlummerte der Wiener Zentralfriedhof längst einen tiefen, traumlosen Schlaf. Nur ein einzelner, großer Mann schritt zwischen den Grüften entlang. Der hochgeschlagene Mantelkragen verbarg sein Gesicht weitgehend. Lediglich schwarzes Haar lugte unter dem Kragen seines modischen Hutes hervor. Ein schwarzer Schnauzbart überschattete die Mundpartie. Er trug feine Lederhandschuhe. In der Hand hielt er eine Ledertasche, darin wehrte sich etwas gegen die Enge. Immer wieder beulte sich das Leder aus.

Vor einer weiß schimmernden Marmorgruft hielt er inne. Wilder, blutroter Wein rankte sich an beiden Säulen hoch, die die vergitterte Eisentür flankierten. Der Besucher musterte den Türrahmen aufmerksam. »Gesegnet sei das Geschlecht Ihro Hochwohlgeboren der Grafen von Seydlak«, verriet ein edel gravierter Schriftzug den Familiennahmen der hier Bestatteten. Unvermittelt riss der Mann eine Weinranke ab und fand darunter die Reste einer kabbalistischen Zeichnung. Eine Bannglyphe, der aber längst keine Kraft mehr innewohnte. Zufrieden nickte er zu sich selbst. Er stellte die Tasche ab. Gerade machte er sich an dem schweren, eisernen Türschloss zu schaffen, da erklang hinter ihm ein Scharren und Kratzen.

Der Mann im Mantel fuhr herum. Nur wenige Schritte entfernt bewegte sich wie von selbst ein verwitterter Grabstein. Mit hypnotischer Langsamkeit schoben sich dürre Finger mit unnatürlich langen Krallen aus dem Erdreich. Eine Hand krallte sich um den moosbewachsenen Stein, eine zweite folgte. Dann brach der feuchte Boden auf und gab den aufgedunsenen, bleichen Kopf eines Ghouls frei. Erdklumpen klebten am Schädel und den einzelnen fetzengleichen Haarsträhnen. Eine dünne Zunge leckte blutleere Lippen. Der Leichenfresser zwinkerte und witterte. Seine Nasenflügel blähten sich unnatürlich weit, als sie den fremden, viel zu lebendigen Geruch des Besuchers einfingen. Noch war der Ghoul dem Erdreich nicht vollständig entstiegen. Ächzend zog er die Schultern nach. Dabei sah er sich um. Sofort blieb sein Blick an dem großen Fremden haften, der noch immer vor der Krypta stand. Seine Augen weiteten sich.

»Du …. bist …«

Mit einem einzigen Satz war der Fremde bei ihm, packte zu und riss den bleichen Kopf vom Rumpf. Morsche Knochen knackten leise wie trockenes Holz. Die Klauenhände fielen kraftlos zurück in die aufgelockerte Graberde. Der Fremde warf den Kopf dazu und stieß Körper und Haupt zurück in das Grab, dem sie entstiegen waren. Dann trat er die Erde wieder fest. Ärgerlich rieb er die Lederhandschuhe an seinem Mantel sauber, dann wandte er sich erneut der Gruft zu.

Unter seinen geschickten Händen gab das Schloss schnell nach. Die eisernen Scharniere stöhnten wie ein Chor gequälter Seelen, als sie den Weg in die Gruft freigaben. Ohne Zögern stieg der Fremde eine schmale Steintreppe hinab in die Dunkelheit.

Er verzichtete auf eine Lichtquelle, konnte er sich doch im Dunkeln besser orientieren als ein gewöhnlicher Mensch. Seine magisch verstärkten Sinne ließen ihn im kahlen Kryptaraum mehrere Särge erkennen. Marmorputten und Reliefs, die biblische Szenen darstellten, verzierten die letzten Ruhestätten derer von Seydlak.

Lediglich ein einziger Sarg kam ohne den Schmuck aus. Statt komplizierter Bilder wand sich eine einzelne Schlange aus schwarzem Marmor um die Seitenwände des Sarkophags. Ein kleines Messingschild trug den simplen Namenszug »Hochwohlgeboren Gloria von Seydlak«, ohne einen frommen Psalm oder einen Hinweis auf Gottes Gnade.

Der Eindringling hatte es auf diesen Sarg abgesehen. Ohne große Anstrengung schob er den schweren steinernen Deckel beiseite.

Im Inneren des Sargs ruhten die Überreste einer Frau. Ein weißes, prächtiges Totenkleid umhüllte die dürre Gestalt. Gesicht und Hände waren eingefallen. Wie ausgetrocknetes Pergament klebte die dünne Haut an morschen Knochen. Auf dem Schädel war kein Fleisch mehr, das ehemals lange Haar ausgefallen. Vorsichtig stieß der Fremde den Kopf an. Er rollte vom Kissen, auf dem er sorgfältig drapiert worden war. Der Schädel saß nicht mehr auf dem Rumpf.

Der Eindringling legte den Kopf sorgfältig an seinen Platz zurück. Dann entnahm er den Taschen seines Mantels Kreide, Kerzen und einige eindeutig schwarzmagische Paraphernalien. Mit einem Skalpell trennte er vorsichtig das Kleid auf und legte den Leichnam gänzlich frei. Außerdem schnitt er einige Hautfetzen von der Leiche ab, pulverisierte sie in einem Mörser und vermischte das Ergebnis mit Kräutern und Harzen zu einem Räucherwerk, das er zu guter Letzt in eine Messingschale füllte.

Schließlich erhellten sieben schwarze Kerzen den Raum. Komplexe Kreidezeichnungen an den Wänden verwirrten das Auge mit ihrem verschlungenen Muster. Blasphemische Zeichen riefen die Macht fremdartiger Dämonen herbei. Der Eindringling entzündete das Räucherwerk und intonierte dabei einen Singsang in der längst vergessenen Sprache der alten Sumerer. Der Ritus war uralt, gefährlich und doch führte der Fremde ihn mit absoluter Kaltblütigkeit aus. Er rief Tiamat, die Urschlange, die Ungeheuer gebar und sich in schwarzer Wollust ihre eigenen Kinder einverleibte. Die dunkle Verschlingerin. Mit dem angezündeten Räucherwerk in der Hand umschritt er achtmal den Sarg, rief immer wieder die dunkle Schöpfungskraft einer anderen, fernen Ebene herbei, bis eine undurchdringliche Dunkelheit die Krypta erfüllte und Stück für Stück die Kerzenflammen vereinnahmte, die am Ende nur noch in einem fahlen, schwachen Rot flackerten.

Schließlich blieb er am Kopfende des Sarges stehen. Dort hatte er zuvor die Tasche deponiert. Das Wesen darin strampelte nun heftig, als ahne es, was ihm bevorstand, ein leises, hilfloses Wimmern wehte durch die Nacht. Die Wände der Gruft warfen das Geräusch unbarmherzig zurück. Dieser Ort kannte keine Gnade.

Mit der Ruhe und Präzision eines Chirurgen öffnete der Fremde die Tasche und hob den Säugling in die Höhe. Dürre kleine Beinchen strampelten. Winzige Hände zuckten ein letztes Mal, dann erstarb das Weinen. Blut sickerte auf den Leichnam im Sarg herab, als der Mann den Sarg ein neuntes Mal umrundete. Er achtete sorgfältig darauf, keine Körperstelle auszulassen. Erst als die dunkle Flüssigkeit die Leiche gänzlich bedeckte, hielt er inne. Mit dem letzten Rest Blut, das der Kinderkörper hergab, bestrich er die schwarze Schlange an der Außenwand. Dann wartete er.

Die Dunkelheit verdichtete sich, von den Wänden her strebte sie auf ein Zentrum zu: den Sarg mit der blutbeschmierten Leiche. Die Kerzen lebten auf wie gewürgte Sklaven, die einer Fessel entkommen waren, und strahlten umso heller und verzehrender, als die Finsternis den Sarg einhüllte und in ihn hineinkroch wie ein lebendes Wesen. Plötzlich zuckte die Schlange. Sie riss ihr Maul auf. Und löste sich vom Stein.

Ein dunkles Grollen erfüllte die Kammer. Der gerufene Dämon war erschienen und nahm das Opfer an. Das schwarze Schlangenwesen richtete sich auf, glitt ebenfalls in den Sarg hinein, über die Leiche hinweg, badete gierig im frischen Blut. Erst als der Seidenstoff wieder das übliche, vergilbte Grau zeigte, löste sich der Dämon mit einem letzten ohrenbetäubenden Brüllen auf. Dort, wo sich die Schlange eben noch gewunden hatte, lag nun eine schöne Frau in der Blüte ihrer Jahre. Die pergamentene Haut schimmerte nun wieder wie zartes Elfenbein, die eben noch eingefallenen Wangen waren voll und rosig, helle Augen blickten verwirrt und ein wenig verloren in die Welt.

Langsam richtete die Frau sich auf.

Der Fremde beugte sich über sie. Sie erkannte ihn und lächelte. »Du bist hier«. Ihre vollen Lippen schimmerten verlockend im Kerzenschein, ihr langes Haar hatte einen warmen Schimmer. Die Frau streckte die Arme nach dem Fremden aus; er erwiderte die Geste.

»Wärme mich!«, hauchte die Frau. »Erfülle mich mit neuem Leben.«

Er lächelte zufrieden und zog den jungen Leib näher. Sie gab sich seinem Drängen willig hin.

 

Gegenwart

Ich beobachtete meinen Bruder argwöhnisch. Er saß ganz unschuldig am Küchentisch und löste ein Kreuzworträtsel, als wüsste er ganz genau, dass ich ihn im Auge behielt. Obwohl er sich den Anschein von Normalität gab, spürte ich, dass irgendetwas in ihm vorging.

Seit einigen Tagen benahm sich Georg merkwürdig. Selbst meine ignorante Schwester Lydia, die seit einigen Tagen aus London zurückgekehrt war, hatte das mitbekommen. Ständig war er außer Haus, kam und ging zu den ungewöhnlichsten Tageszeiten. Auch wirkte er häufig abwesend, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders.

Vorgestern hatte ich um vier Uhr morgens die Haustür gehen hören. Ich hatte unruhig geschlafen und war aufgeschreckt. Als ich hinunter ins Erdgeschoss geschlichen war, um nachzusehen, wer da so spät oder auch so früh heimkehrte, hatte Georg seinen Mantel auf den Garderobenhaken gehängt. Er sah müde aus und gleichzeitig beschwingt. Natürlich hatte er mich sofort bemerkt. Ich hatte vorgegeben, mir ein Glas Milch aus dem Kühlschrank holen zu wollen. Er hatte die Augen zusammengekniffen, aber nichts gesagt. Als ich ihn gefragt hatte, wo er um diese Zeit herkam, war er mir ausgewichen.

»Disco«, hatte er gemurmelt. Disco! Das glaubte er doch selbst nicht. Georg war nicht der Typ für so etwas. Zu Lydia passten durchfeierte Nächte, aber Georg? Nein.

Lydia, die das Tratschen nicht lassen konnte, lieferte mir schließlich eine Erklärung, die mich nur noch mehr verwirrte. Einer ihrer zahlreichen Verehrer aus den niederen Rängen der Schwarzen Familie wollte Georg mit einer jungen Frau gesehen haben. Erst hatte er sie in einem Café getroffen, dann war er mit ihr in ein Taxi gestiegen. Ich konnte es kaum glauben. Mein trockener, emotionsloser Bruder auf Freiersfüßen?

»Und weißt du, was daran wirklich krass ist?« Lydias Augen funkelten vor Vergnügen am Skandal, den sie witterte.

»Was denn?«, fragte ich brav.

Lydia neigte sich zu mir und senkte die Stimme. »Niemand kennt diese Tussi. Sie soll hübsch sein. Na ja, nicht so hübsch wie ich, aber …«

»Komm zur Sache«, drängte ich. Ich hasste es, wenn meine Schwester sich in geistlosem Geschwätz verlor.

»Niemand kennt sie.«

»Und?«, fragte ich. Er traf sich mit irgendeiner unbekannten Hexe, was war daran so schockierend?

Lydia grinste. »Sie ist kein Mitglied der Schwarzen Familie.«

Das war allerdings alarmierend.

»Ich werde mal besser Paps Bescheid sagen.« Lydia schien sehr froh zu sein, sich bei unserem Vater, der sie kaum beachtete, wichtigmachen zu können. »Sonst haben wir demnächst zwei Menschenfreunde im Haus«, fügte sie noch hinzu.

Ich ignorierte die Provokation. Der andere Menschenfreund war ja eindeutig ich. Schließlich wusste jeder, dass ich mir schon des Öfteren mehr aus Menschen gemacht hatte, als das in unserer Familie üblich war.

»Tu, was du nicht lassen kannst«, gab ich betont uninteressiert zurück. Gleichzeitig beschloss ich, Georg zu warnen. Ich wusste nur zu gut, wie unangenehm es war, wenn man von Vater heranzitiert und ausgefragt wurde. Ich wollte Georg zumindest die Chance geben, sich darauf vorzubereiten. Vielleicht hatte er ja gute Gründe für sein Verhalten.

Ich setzte mich neben ihn an den Tisch. Georg schlug die Zeitschrift mit dem Kreuzworträtsel zu. Er hatte mir einmal gesagt, dass ihn diese kleinen Denkspiele amüsierten.

»Was ist?«, fragte er schroff.

»Lydia will mit Vater über dein Verhalten sprechen«, erklärte ich unverblümt.

»Ach so?« Das war alles, was er dazu zu sagen hatte? Ich schüttelte den Kopf. Georg war also entschlossen, sich dumm zu stellen. Ich wusste aus Erfahrung, dass das bei unserem Vater nicht funktionierte. »Einer ihrer Freunde hat dich gesehen. Mit einer Frau. Einem Menschen«, fügte ich eindringlich hinzu.

Ich ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Tatsächlich kniff er ganz leicht die Augen zusammen. Obwohl er den Unbeteiligten sehr gekonnt mimte, wusste ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Irgendetwas musste an der Geschichte dran sein. Aber Georg war nicht gewillt, damit herauszurücken. »Seit wann glaubst du Lydia?«, fragte er nur. Dann schlug er das Kreuzworträtsel auf. Das Thema war für ihn erledigt. Frustriert winkte ich ab.

»Ganz wie du meinst.« Wenn er unbedingt in sein Verderben laufen wollte, bitte. Ich hatte ihn gewarnt.

Vater war erwartungsgemäß weniger freundlich. Er setzte Georg beim gemeinschaftlichen Abendessen ganz schön unter Druck. Lydia lauschte triumphal, Mutter mit verkniffenem Ausdruck. Sie hielt sich raus, wie das meistens der Fall war. In den letzten Monaten hatte ich meine Mutter immer wieder auch anders kennengelernt. Nicht als die still duldende Frau an der Seite meines Vaters, sondern als das Heft in die Hand nehmende Tochter Asmodis, die sie nun einmal auch war. Wenngleich der Fürst der Finsternis im Laufe seines Lebens sicherlich unzählige Töchter gezeugt haben dürfte. Dennoch zog sich meine Mutter jederzeit wieder in die zweite Reihe zurück, sobald es die Umstände erlaubten.

»Wer ist das Weib?«, fragte mein Vater bereits zum zweiten Mal. Die steile Falte zwischen seinen Brauen verhieß nichts Gutes. Sein Blick war eisern. Die Art, wie Georg die Serviette zerknüllte, verriet, dass er Vaters unerbittliches Starren nicht gerade genoss. Die ganze Szene kam mir reichlich bizarr vor. Es war ungewohnt, Vaters vertraute Strenge zu beobachten und das peinliche Schweigen am Tisch zu spüren, ohne im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Normalerweise war das immer mein Job. Ich war schon aus purer Gewohnheit nervös und fühlte mich unbehaglich. Jeden Augenblick erwartete ich, dass mein Vater zu mir herüber sah und so etwas wie »Und nun zu dir, Tochter« sagte, bevor sein Zorn auf mich umschwenkte.

Aber er blieb bei Georg. Mein Bruder schwieg. Er stritt nichts ab, aber er gab auch nichts zu. Ich bewunderte ihn dafür. Gleichzeitig rollte ich innerlich mit den Augen. Georg musste doch aus meinem Beispiel wissen, dass Vater sich Trotz von seinen Kindern nicht bieten ließ.

»Zwing mich nicht, es selbst herauszufinden«, drohte mein Vater nun. Er sprach ganz sachlich und kühl. Das war einschüchternder als jeder Wutanfall. Georg wurde bleich. Aber er schwieg auch weiterhin. »Das Ergebnis würde weder dir noch deiner kleinen Freundin gefallen«, fuhr er fort. Und mit einem Seitenblick auf mich: »Frag Coco, die kann dir das bestätigen.« Wahrscheinlich spielte er auf meinen Jugendfreund Rupert Schwinger an, den seine Zuneigung für mich in die Fänge der Schwarzen Familie getrieben hatte. In diesem Augenblick hätte ich meinen Vater am liebsten erwürgt. Er war brillant darin, alte Wunden aufzureißen.

»Sie ist nicht meine Freundin«, sagte Georg bleiern. Er hielt Vaters Blick stand. »Ich bin nicht so dumm wie Coco. Ich kann auf mich aufpassen.«

Danke Bruder, wie liebenswürdig. Und dir wollte ich helfen! Vaters Weinglas zersprang in seiner Hand. Der einzige Ausdruck seines Zorns, den er sich erlaubte. Die Scherben spritzten über den Tisch und ließen uns alle zusammenzucken.

»Wie du meinst, mein Junge«, fuhr er dann ganz beiläufig fort. »Du hast Glück, dass ich im Augenblick wichtigere Angelegenheiten habe, aber wag es ja nicht, in nächster Zeit Sterbliche ohne zwingenden Grund zu treffen. Diese Angelegenheit wird so oder so ein Nachspiel haben, sei dir dessen gewiss.«

Georg nickte schicksalsergeben. »Ich weiß, was ich zu tun habe«, brummte er.

»Hoffen wir es.« Vater sah nicht völlig überzeugt aus, aber er ließ Georg in Ruhe. Ich beneidete meinen Bruder. Ich wäre in dieser Situation nicht so gut weggekommen, da war ich sicher. Lydia schmollte enttäuscht. Wahrscheinlich hatte sie sich einen ordentlichen Krach erhofft, der ihrer destruktiven Natur entsprach.

»Und nun zu dir, Coco.«

Ich hatte es gewusst. Es war so unausweichlich wie ein Naturgesetz. Was hatte er nun wieder an mir auszusetzen?

»Du musst für mich endlich einen Kontakt zu den Oppositionsdämonen herstellen.«

Diese Forderung meines Vaters war für mich nichts Neues, erwartete er doch immer wieder, dass ich als sein Sprachrohr fungierte. Vor allem seit sie mir gegen meinen Willen den zweiköpfigen Adler, ihr Permit, verliehen hatten, erfüllte ich in Vaters Augen die Rolle des Diplomaten.

Seitdem hielt der Rest meiner Familie die Oppositionsdämonen für meine besten Freunde. Dass ich auch nicht schlauer war, was dieses Permit anging und weder besondere Kontakte noch ein Interesse an der Verschwörung gegen Asmodi hatte, glaubte mir niemand. Vielleicht klammerte sich Vater auch aus purem Trotz an die Idee, über mich wieder Einfluss bei der Opposition zu gewinnen, nachdem Traudel Medusas Tod ihm dazwischen gefunkt hatte. Er nahm ein »Nein« ebenso wenig hin wie Asmodi oder die Oppositionsdämonen selbst.

»Ich kann dir nicht helfen, Vater«, wiederholte ich meine endlose Litanei. »Bis auf das eine Mal hat sich der Adler nicht mehr gezeigt und ich wüsste nicht, wie ich zu den Oppositionsdämonen sprechen sollte. Ich weiß auch nicht, wie sie gerade zur mir oder unserer Familie stehen.«

»Mir ist egal, wie du es machst«, entfuhr es Vater. »Hauptsache du tust es bald.«

Hatte er mir überhaupt zugehört? Innerlich gab ich auf. Diskussionen mit Vater liefen ohnehin immer sehr einseitig ab, damit hatte ich mich längst abgefunden.

»Ich weiß nicht, wie. Wirklich nicht«, beteuerte ich trotzdem.

Diesmal schwieg er, aber sein verächtlicher Blick schrie mir ein einziges Wort entgegen. Wertlos.

Weil eine weitere Diskussion völlig fruchtlos war, marschierte ich auf mein Zimmer. Vaters Verachtung und Lydias gehässiges Kichern folgten mir trotzdem.

Ich verbrachte einen langweiligen Abend, den mir auch die Bücher und Zeitschriften, die mich von meinem unmöglichen Auftrag ablenken sollten, nur unzureichend versüßten. Darum beschloss ich, früh schlafen zu gehen. Zum Ausgehen hatte ich keine Lust und nach häuslicher Zerstreuung stand mir der Sinn auch nicht.

Unter der molligen Wärme meiner Bettdecke dämmerte ich schon halb weg, da hüllte mich jäh ein seltsamer Nebel ein. Mit einem Schlag war ich hellwach. Ich spürte das magische Flimmern, das von der Wolke ausging, wie ein unangenehmes, stechendes Prickeln auf meiner Haut. Es kam aus der Beuge meines Arms und kroch wie tausend elektrische Käfer über meinen Körper. Die Tätowierung glühte in einem fahlen, grünen Licht. Bevor ich um Hilfe rufen oder einen Zauber wirken konnte, verdichtete sich die Nebelwolke zu einer Form. Es war die des doppelköpfigen Adlers. Die Köpfe wandten sich mir zu. Beide Schnäbel öffneten und schlossen sich synchron. Dazu erklang eine Stimme, ein einziges Flüstern und Zischen. War es ein besonders heiserer Sprecher oder ein geisterhafter Chor, der mir zuflüsterte? Ich vermochte es nicht zu sagen.

»Richte Michael Zamis aus, dass er noch eine allerletzte Chance erhält, uns seinen Wert zu beweisen«, krächzte der Adler. »Doch versagt er auch dieses Mal, wird es keine weitere Chance geben.«

»Und was für eine Aufgabe soll das …«

Der Adler ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Auf bald, Coco«, zischten die Schnäbel. Dann war der Spuk vorbei.

Ich fragte mich, ob ich das alles nur geträumt hatte. Aber mein Arm schmerzte wie bei einem leichten Muskelkater, und ich konnte auch noch die Feuchtigkeit des Nebels auf meinem Schlafanzug und der Bettdecke spüren.

Sofort sprang ich aus den Federn, um Vater von dem Erlebnis zu berichten. Mein Rapport stimmte ihn zumindest ein bisschen freundlicher, aber woher der plötzliche Sinneswandel der Oppositionsdämonen stammte, vermochte er nicht zu sagen. Wir mussten wohl einfach abwarten und den Dingen ihren Lauf lassen.

 

 

2. Kapitel

 

Berlin, 27. Februar 1933

In der Nacht, in der ich lernte, dass ich anders war, schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Vater war nach Hause gekommen. Sein nach kaltem Fett riechender Bauchladen stand auf dem Küchentisch. Sofort roch ich den bitteren Kindl-Gestank. Ich hatte eine feine Nase. Helga legte ihre Hände auf meine Schultern. Sie war auch wach geworden und hatte Angst. Er war immer wütend, wenn er früh heimkehrte. Wir hatten die Tür zu unserem Kinderzimmer einen Spaltbreit geöffnet und linsten in die Küche unserer Dreizimmerwohnung.

Hinter uns schliefen Fritz und Wolfgang unbeeindruckt weiter in ihren Betten. Die besaßen Papas Sturheit. Selbst ein berstender Ofen hätte sie nicht aufgeweckt. Helga und ich waren wie Mama, die spürte jeden Lufthauch und war auch oft ängstlich. Wegen uns Kindern und weil Papa sie immer anschrie.

Das machte er auch diesmal wieder. Das Geschäft war nicht gut gewesen. Er hatte in den Kneipen nicht so viele Buletten verkauft wie gehofft. Er war laut. Helga fing an zu weinen. Obwohl sie die Älteste von uns war. Helga wurde bald elf. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, damit Papa sie nicht hörte. Ich fragte mich, ob er jetzt Mama wieder schlagen würde. Mama war aufgestanden. Sie sagte ihm, dass er leise sein sollte. Wegen Helga und Fritz, weil die ja am nächsten Tag in die Schule mussten. Papa zog Mama zum anderen Ende des Zimmers, wo ich sie nicht sehen könnte. Dann krachte etwas laut. Zweimal. Mama schrie auf.

Helga wollte mich festhalten, aber es war schon zu spät. Ich stieß die Tür auf. Jetzt rieb sich sogar Wolfgang schlaftrunken die Augen. Mama kniete über ihrem kaputten Webstuhl. Den hatte sie immer geliebt. Großmutter hatte ihr den als Aussteuer mitgegeben. Nun war der Rahmen zerbrochen. Sie weinte. Papa hatte sie an den Haaren gepackt und holte aus, um ihr ins Gesicht zu schlagen, da sagte eine Stimme »Nein.«

Erst als er zu unserem Versteck hinstarrte, merkte ich, dass es meine eigene gewesen war. Über dem Herd schepperten plötzlich die Emailleschüsseln. Papa ließ Mutter los. Er kam auf mich zu. So wütend hatte er noch nie ausgesehen. Helga nahm mich in die Arme.

»Lass ihn«, bat sie. »Er ist doch erst sieben.«

Die Schüsseln schepperten lauter. Ich rührte mich nicht. Plötzlich wurden Papas Augen ganz klein. Er packte mich am Oberarm.

Da fielen die Schüsseln vom Herd. Obwohl niemand in der Nähe war. Mamas Zuckerdose klirrte auf dem Fußboden. Das Nudelholz sauste gegen die Wand.

»Nein«, sagte ich noch einmal. In dieser Nacht hatte ich gar keine Angst wie sonst. Ich redete mit Papa ganz ruhig wie mit meinem kleinen Bruder Wolfgang.

Die Schubladen beim Herd klapperten. Plötzlich sausten Gabel und Löffel durchs Zimmer und die Reste von Mamas Webstuhl, als hätte sich ein Flaschengeist aus dem Morgenland in unsere Stube verirrt. Helga wimmerte. Mama heulte. Wolfgang floh unter die Decke. Ich machte gar nichts. Ich wusste einfach, dass ich vor den Sachen keine Angst haben musste. Stattdessen trafen sie alle Papa. Er taumelte zurück und hob die Arme vor den Kopf. Dann stolperte er über Mama. Plötzlich hatte er ein Küchenmesser in der Hand.

»Schaff das Balg raus!« Er brüllte Helga an wie ein großer, böser Riese. »Schaff ihn raus, oder ich bring ihn um. Der hat den bösen Blick!« Papa sah um sich wie ein beißwütiger Hund.

Danach bekam ich erst wieder mit, was passierte, als ich mit Helga auf den Treppenstufen vor unserem Haus saß. Sie zitterte. Ich fror nicht, obwohl meine nackten Füße im harschen Schnee von gestern scharrten und der Wind durch das Treppenhaus pfiff. Ich lehnte mich an Helgas Schulter. Da merkte ich erst, dass sie weinte.

»Er schläft immer schnell ein, wenn er wütend ist«, beruhigte ich sie. »Dann können wir wieder hoch.«

Helga schluchzte. Sie fuhr sich mit dem Ärmel ihres Schlafanzugs über die Augen. »Ich hab so Angst, dass er Mama oder uns was tut, Georg. Wenn er so böse ist, macht er mir Angst.«

»Wir könnten bei der Witwe Blumenthal klopfen. Vielleicht lässt sie uns bei sich schlafen«, schlug ich vor.

Helga sah mich mit großen Augen an. »Wie machst du das, Georg? Dir fällt immer was ein. Er hätte dich fast verprügelt. Aber dir macht das gar nichts aus. Du hast nie Angst, oder?«

Ich stand auf. Sorgen machte ich mir nur um Helga. Sie war die Einzige, die immer zu mir hielt. »Du frierst. Komm. Die Witwe macht uns bestimmt auf.«

Gerade als Helga mir folgen wollte, zog ein großer Schatten über uns hinweg. Ich starrte zum Himmel. Einen Moment lang erloschen die Sterne, und der Mond wurde bleich wie der Leichnam vom alten Schusterwilli, als sie den letzte Woche in seiner Wohnung gefunden hatten. Dennoch war keine einzige Wolke am Himmel. Plötzlich erfasste mich ein kalter Schauer. Aber er kam nicht vom Wind. Und er war auch nicht unangenehm. Nur fremd. Und aufregend. Ein Versprechen von etwas, das kommen würde. Wut. Größer als die von Papa. Viel größer. Unaufhaltsam. Unausweichlich. Eine dunkle Verschlingerin.

Urplötzlich verschwand die Dunkelheit und mit ihr meine Empfindung. Die Sterne schimmerten wieder wie zuvor. Ebenso der Mond.

»Hast du das gesehen?«, fragte ich Helga.

»Was denn?«

»Den Himmel. Der war auf einmal so komisch. So dunkel.«

Helga sah nach oben. »Nee, da ist nichts.«

»Aber da war was«, beteuerte ich.

Sie lächelte mich beruhigend an. »Das war sicher nur Fabrikrauch.«

Ich schüttelte den Kopf. Was ich gesehen hatte, hatte ich gesehen. Es war zu gleichmäßig gewesen für Rauch. Etwas Großes warf seine Schatten voraus. Etwas Böses. Aber wie Helga gesagt hatte, verspürte ich keine Angst. Bloß Neugier.

Als Helga am nächsten Tag aus der Schule kam, brachte sie eine Erklärung für meine Beobachtung mit.

»Es war doch Rauch«, verkündete sie triumphierend. »So ein paar Kommunistenschweine haben den Reichstag angezündet.«

 

Gegenwart

Der Taxifahrer folgte Georgs Wagen in die Währinger Straße. Dort parkte er und stieg aus. Ich blieb noch einen Augenblick im Taxi sitzen, bevor ich zahlte und die Verfolgung meines Bruders aufnahm.

Sein seltsames Verhalten ließ mir keine Ruhe. Er steuerte direkt auf das Josephinum zu. Der große Gebäudekomplex mit den klassizistischen Fassaden gehörte zur medizinischen Universität Wien und beherbergte nach Aussagen der wissenschaftlichen Fachwelt angeblich die größte medizinische Sammlung Europas. Zielstrebig marschierte Georg durch den Torbogen zwischen zwei hohen Sockelsäulen, der in den Innenhof führte.

Es fiel mir nicht schwer, ihm heimlich zu folgen, liefen doch jede Menge Studenten und Besucher über das Gelände.

Die Prachtbauten des Josephinums beeindruckten mich mit ihrer zeitlosen, verschwenderischen Größe, die an den Reichtum Wiens zu Zeiten der Habsburger erinnerte.

Wie zufällig schloss sich mein Bruder einer Gruppe junger Studenten an und schlüpfte mit ihr in ein mehrstöckiges Gebäude. »Sammlung anatomischer und geburtshilflicher Wachsmodelle«, verkündete das vornehme Schild neben dem Eingang. Ich folgte der Gruppe ebenfalls in einigem Abstand. Drinnen erwarteten mich altmodische hohe Flure und eine Menge Schaukästen.

An einer Kasse zahlte ich meinen Eintritt. Georg war nicht mehr zu sehen. Ich würde durch die Ausstellung gehen müssen, um ihn wiederzufinden. Was wollte er hier zwischen Wachsmodellen von Organen und anderen Körperteilen? Möglichst unverdächtig, den Kopf über Schautafeln und Vitrinen gebeugt, schlenderte ich durch die Säle. Verstohlen sah ich mich immer wieder nach meinem Bruder um. Die Schautafeln informierten mich, dass viele Modelle ihren Ursprung im achtzehnten Jahrhundert in Florenz hatten. Von dort hatte sie Joseph der Zweite als Anschauungsmaterial für Wiens Medizinstudenten über tausend Exponate herbeischaffen lassen. Na, wenn das kein Sinn fürs Morbide war. Zum Glück lag mein Frühstück schon ein paar Stunden zurück.

Ich arbeitete mich durch die Abteilungen »Bänder und Muskeln« weiter zu den »Herzen und Eingeweiden«. Die Präparate waren täuschend echt. Ein Herz in einer achteckigen Glasvitrine begann zu pulsieren, als ich davor stehen blieb. Für einen Augenblick erwartete ich, dass gleich Blut herausspritzte. Ein nicht ganz unattraktiver junger Mann Anfang zwanzig, der sich gerade über einen Schaukasten mit Blutgefäßen beugte, nickte mir anerkennend zu. Er trug einen weißen Kittel. Freche Sommersprossen und grüne Augen lachten mich an.

»Sie sind aber nicht mehr im ersten Semester.«

Ich fragte mich, ob das irgendeine seltsame Anspielung auf mein Alter sein sollte.

Er grinste verschwörerisch und senkte spaßhaft die Stimme. »Oder waren Sie schon mal hier?«, fragte er mit Blick auf die Herzattrappe, und ich verstand.

»Nein«, entgegnete ich. »Mich interessieren Menschen im Ganzen mehr als in Einzelteilen.«

Er lachte. »Aha. Dann sind Sie schon mal kein Chirurg. Und Sie haben sich gut im Griff. Das Herzchen hier heißt nicht umsonst Erstsemester-Killer. Hier gab es schon einige Schreckensschreie und Ohnmachtsanfälle.«

»Medizinerhumor«, stellte ich trocken fest.

»Sie sind keiner?«, fragte er neugierig.

»Nein, aber ich bin einiges gewöhnt.«

»Sani?«

»Schriftstellerin«, log ich schnell. »Ich schreibe Krimis und löse in meiner Freizeit rätselhafte Geschichten.«

»Ach, und da sind Sie auf Recherche?« Er umrundete den Schaukasten und kam zu mir herüber. »Ich heiße Martin«, stellte er sich vor. Es stand aber auch auf seinem Kittel. Martin Dornhofen. »Ich arbeite hier als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Chirurgischen. Ich bin oft hier, um Seminare vorzubereiten. Falls Sie eine kleine Führung bräuchten … auch außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten, wenn Sie wollen.«

Sein Lächeln wurde mir eine Spur zu interessiert. Für einen Flirt hatte ich keine Zeit. Und auf eine Verabredung zwischen Lunge und Milz konnte ich auch gut verzichten. »Nein, ich komme klar.«